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Petra Steps (Hrsg.)

Glück Auf – oje du fröhliche

24 kriminelle Geschichten aus dem Weihnachtsland

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Zum Buch

Tot statt fröhlich! Der Annaberger Weihnachtsmarkt lässt einen jungen Mann zum Racheengel werden, in Schwarzenberg bahnt sich eine Katastrophe an. Das eher ruhige Bad Schlema erlebt einen undurchsichtigen Showdown mehrerer Interessengruppen. In Glashütte verschwindet eine kostbare Uhr, in Chemnitz fällt ein Nebenbuhler nicht ganz zufällig vom Dach. Ein Wolkensteiner will ein Computerprogramm überlisten. Selbst mit Oederan und dem Heilig-Ohmd-Lied haben die Schreibtischtäter kein Erbarmen.

24 Geschichten von elf gestandenen und aufstrebenden Krimi-Autoren sorgen für Spannung rund um das Fest des Friedens. Die mörderische Spur zieht sich quer durch das Erzgebirge sowie das Erzgebirgsvorland und macht auch vor Chemnitz und Zwickau nicht halt. Wie nebenbei werden Sie dabei an die schönsten Plätze der Region geführt, die unserem kriminellen Treiben den weihnachtlichen Rahmen geben.

Mit Beiträgen von Roland Spranger, Friederike Schmöe, Maren Schwarz, Susanne Ziegert und vielen anderen.

Petra Steps ist eine waschechte Vogtländerin, wurde jedoch 1959 im Kuckucksnest Zwickau geboren. Sie ist Diplomphilosophin und Hochschulehrerin, Journalistin, Herausgeberin und Autorin. Ihre Kurzkrimis finden sich in verschiedenen eigen Anthologien und Bänden anderer Herausgeber. Außerdem schreibt sie an verschiedenen Regionalia und Projekten mit. Für den Förderverein Schloss Netzschkau e.V. veranstaltet sie die KrimiLiteraturTage Vogtland.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Kurbäder im Herzen Europas (2019, mit Friederike Schmöe & Carsten Steps)

Mörderische Prachtbäder (Hrsg. 2018, mit Friederike Schmöe)

Mörderisches Erzgebirge (2017)

Lieblingsplätze zum Entdecken: Vogtland hoch Vier (2016, mit Carsten Steps)

Wer mordet schon im Vogtland? (2015, Hrsg.)

Mords-Sachsen 2 (2008, Hrsg.)

Mords-Sachsen 1 (2007, Hrsg.)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © goldpix / stock.adobe.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6184-2

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Inhalt

Wir warten auf’s Christkind

Gaunerzinken

Nach traditioneller Art

Blutige Loipe

Gegen das Vergessen

Weihnachtsmannjagd

Die nackte Wahrheit

Das Weihnachtsei

Glück auf, der Steiger stirbt

Das Geschenk

Die Hüter von Tharandt

Madame Wendis WeihnachtsOrakel

Herbei, o ihr Gläubiger

Wer andern eine Grube gräbt

Oh, du schreckliche …

Heilig-Ohmd-Lied in Oederan

Vom Verschwinden der Schönen

Machine Killing

Gegen den Baum

Kalt

Nicht mit Malte

Krav Maga unterm Weihnachtsstern

Tödliches Neunerlei

Schöne Bescherung

Lesen Sie weiter …

Einfach mal durchatmen

406166.pngWir warten auf’s Christkind

Roland Spranger (Bad Schlema)

»Ich hasse Weihnachtsmärkte. Ich kann keine überdimensionierten Weihnachtspyramiden mit Glühweinausschank im Erdgeschoss mehr sehen. Von Glühwein wird mir schlecht. Und von Punsch auch. Weihnachten macht mich krank. Vor allem der Geruch nach Zimt und Bratäpfeln überall.«

»Weihnachten gilt immerhin als Fest des Friedens.«

»Frieden? Bei mir erzeugt der Anblick Tausender Nussknacker und Räuchermännchen Beklemmungszustände.«

»Ich frage mich, wie Sie durch die psychologische Eignungsprüfung gekommen sind, Merkel. Weihnachten ist im Belastungstest immerhin eine eigene Kategorie.«

»Stimmt schon, Schröder. Ich bin ungeeignet für Weihnachten. Genau genommen bin ich davon vollkommen traumatisiert. Mein großer Bruder hat mir mit einem Nussknacker mehrere Finger gebrochen, als ich sechs Jahr alt war.«

»Schlimm. Und was hat es mit den Räuchermännchen auf sich?«

»Vor drei Jahren habe ich mit einem Einsatzteam einen Giftgasanschlag verhindert, der mittels Räuchermännchen auf einem Weihnachtsmarkt erfolgen sollte. Ein paar gute Leute sind dabei draufgegangen.«

»Klopfen Sie sich die Schuhe ab, wenn Sie ins Auto steigen, Merkel.«

»Der Schnee nervt.«

Bevor Merkel den Wagen startet, holt er eine Packung Zigaretten aus der Manteltasche.

»Sie wollen hier drin aber nicht rauchen, oder?«, fragt Schröder. »Rauchen tötet. Außerdem macht es impotent. Als Level-drei-Agent, der Angst vor Räuchermännchen hat, sollten Sie das wissen.«

»Schon gut.«

Merkel steckt die Zigarettenpackung weg.

»Sie müssen nicht die ganze Zeit raushängen lassen, dass Sie Level zwei sind, Schröder.«

»Tu ich doch gar nicht.«

Merkel startet das Auto und fährt sportlich aus der Parklücke. An der nächsten Kreuzung läuft eine Handvoll Weihnachtsmarktbesucher mit weiß-roten Zipfelmützen volltrunken auf die Straße, ohne auf den Verkehr zu achten. Merkel legt eine Vollbremsung hin.

»Weihnachten geht mir echt auf den Lebkuchen, Schröder.«

»Schön, dass Sie gebremst haben, Merkel.«

Zurück im Kurhotel Bad Schlema checkt Schröder mit seiner Anti-Wanzen-App das Hotelzimmer. Merkel legt sich auf das Bett und reinigt zuerst seine Handfeuerwaffe, dann das Scharfschützengewehr.

»Das haben Sie doch erst heute Morgen erledigt«, sagt Schröder.

Während Merkel antwortet, setzt er konzentriert seine Arbeit fort.

»Was sollen wir sonst tun? Tagelang zusammengepfercht in so einem Zimmer kriegt man ja den Lagerkoller.«

»Bitte, Merkel: Die Unterkunft ist nicht mal so schlecht. Die Einsatzleitung hat keine Kosten gescheut. Immerhin haben wir ein Doppelzimmer Komfort

»Weil die wissen, dass man in einem Doppelzimmer Klassik sehr viel schneller durchdreht.«

»Ich werde den Fernsehapparat anmachen.«

»Warum?«

»Um Sie aufzumuntern.«

»Wenn ›Der kleine Lord‹ läuft, zerschieße ich das Gerät.«

Stattdessen präsentiert Carmen Nebel ›Die schönsten Weihnachtshits‹. Schröder setzt sich zu Merkel aufs Bett. Während die Überlebenden von Boney M. zu ›Mary’s Boy Child‹ asynchron die Lippen bewegen, schauen die beiden Agenten schweigend auf den Monitor. Als Andrea Berg auftritt, schraubt Merkel seinen Schalldämpfer auf die Pistole. Schröder drückt auf die Power-Taste der Fernbedienung. Die beiden Männer glotzen noch eine Weile auf das schwarze Display des Fernsehapparats.

»Wir könnten etwas unternehmen«, schlägt Schröder vor.

»Was unternehmen?«

»Ja. Zusammen. Wie gestern, als wir beim Hutznohmd waren.«

»Ein Abend, an dem gesungen und geklöppelt wird, reicht erst mal.«

»Heute gäbe es Country-Weihnacht im Kulturhaus ›Aktivist‹.«

»Tritt da eine Dolly-Parton-Imitatorin auf? Dann hätte ich vielleicht Interesse.«

»Soll das eine Anspielung sein?«

»Nein.«

»Laut Programmheft ist es ein Westerntanzabend

»Schon gut. Machen Sie den Fernseher wieder an.«

Andreas Gabalier singt in Lederhosen »Es wird scho glei dumpa«. An sein Mikrofon ist ein Geweih montiert.

»Wahrscheinlich gehört es zu unserem Berufsbild, dass man sich ständig erniedrigt«, sagt Merkel.

»Zumindest ist es nicht darauf ausgelegt, ständig im Rampenlicht zu stehen.«

»Wollen Sie mir nicht endlich sagen, was wir in diesem Kaff eigentlich machen?«

»Bitte. Es ist immerhin ein Kurort.«

»Wollen Sie mir nicht endlich sagen, was wir in diesem Kurort eigentlich machen?«

»Wir warten.«

»Schon klar. Und wenn wir genug gewartet haben?«

»Erhalten wir einen Datenstick. Es muss möglichst unauffällig geschehen.«

»Von wem kriegen wir den?«

»Von einem Level-Null-Agenten.«

»Wow. Und woran erkennen wir den?«

»Er wird sich zu erkennen geben, wenn es so weit ist.«

»Und was ist auf dem verdammten Stick?«

»Das interessiert uns überhaupt nicht.«

»Nein?«

»Ich habe Aufgabe, jeden zu eliminieren, der etwas über den Inhalt erfährt.«

»Scheiß drauf. So sehr interessiert es mich auch nicht.«

»Sagen Sie es.«

»Was?«

»Sagen Sie: Es interessiert mich nicht so sehr, dass ich mich deswegen mit einem Level-Zwei-Agenten anlegen würde.«

»Machen Sie den scheiß Fernseher wieder an, Schröder.«

Schröder und Merkel spazieren durch den verschneiten Kurpark.

»Glauben Sie, dass wir hier unsere Kontaktperson treffen?«, fragt Merkel.

Schröder schaut sich um.

»Wenn, dann werden wir sie jedenfalls schon von Weitem sehen. Das ist ja ein sehr aufgeräumter Kurpark.«

»Wussten Sie, dass hier im Kalten Krieg Uran für die sowjetischen Atombomben abgebaut wurde? Oberflächennah. Deshalb senkte sich die Landschaft ab, und Bad Schlemas gesamter Ortskern wurde 1952 abgerissen. Hier der renaturierte Kurpark …«

»Woher haben Sie das Wort renaturiert

»Wikipedia.«

»Dachte ich mir.«

»Hier der renaturierte Kurpark, das waren früher Uranhalden. Das ganze radioaktive Zeug lag einfach in der Landschaft. Die Kinder warfen sich das Erz an die Birne. Und die Leute sammelten Mutantenpilze, die dreimal so groß waren wie gewöhnliche Pilze.«

»Durch diese radioaktiven Pilzgerichte und durch die Bestrahlung bei der Arbeit unter Tage verwandelte sich ein junger Bergmann namens Elmar Schmauch in den Ostzonen-Hulk. Das wirklich grünste Monster aller Zeiten, das es später sogar in das Superheldenteam der Sowjet-Rächer schaffte.«

»Sehr witzig.«

»Glauben Sie nicht? Ich hätte es gar nicht erzählen dürfen. Das sind natürlich Top-Secret-Informationen, die erst ab Level zwei zugänglich sind.«

»Sie sind ein Arschloch, Schröder.«

Im »Actinon«-Bad relaxen Merkel und Schröder erst einmal im radon- und solehaltigen Wasser des Außenbeckens. Nackenduschen, Massagedüsen, Bodensprudler. Der ganze durchtrainierte Agentenkörper wird durchgeschüttelt.

Danach setzen sich Merkel und Schröder in die afrikanische Sonnensauna. Während sie bei circa 100 Grad trockener Lufttemperatur zu schwitzen beginnen, schauen sie sich die Wandbilder an. Wüste. Pyramiden. Savanne. Giraffen. Dabei lauschen sie den typisch afrikanischen Klängen von Elefanten und Löwen, dem leisen Rauschen des Savannengrases, einem Sommergewitter oder dem Zirpen der Grillen. Plötzlich werden sie von einem Blöken aufgeschreckt.

»Was war das?«, fragt Merkel.

»Eine Giraffe«, antwortet Schröder.

»Bisher wusste ich nicht mal, dass Giraffen Geräusche machen. Die kauen doch immer nur.«

»War eine junge Giraffe. Erwachsene Giraffen kommunizieren im Infraschallbereich, also so tief, dass es für das menschliche Ohr nicht hörbar ist.«

»Cool. Jetzt wird es dunkel. Es gibt sogar einen Tag-Nacht-Zyklus. Ich mag die afrikanische Sonnensauna.«

»Mir fehlen die Aufgüsse. Vor allem die mit Minze.«

»Ich würde Sie gerne mal etwas Persönliches fragen.«

»Das ist meistens keine gute Idee.«

»Sie heißen doch nicht wirklich Schröder, oder?«

»Nein. Sie heißen doch auch nicht wirklich Merkel.«

»Stimmt, ich heiße …«

»Pssst. Besser, Sie sagen das niemandem.«

Merkel und Schröder hören noch eine Weile dem Rauschen des Savannengrases und dem Zirpen der Grillen zu. Die Sonne geht wieder auf. Das merkt man daran, dass es heller wird in der Sauna.

Danach nehmen Merkel und Schröder noch eine afrikanische Ganzkörpermassage mit Mafutaöl. Das Gewebe wird gelockert, die Blutversorgung gefördert und das Gewebe entschlackt. Stressbedingte Verspannungen und Energielosigkeit sowie Verstimmungen und Überreiztheit werden abgebaut. Man hat das Gefühl, alles im Griff zu haben.

Der Tisch ist festlich gedeckt. In einer Vase stehen Mistelzweige. Auf einem Adventskranz flackern LED-Kerzen. Merkel und Schröder schauen sich unauffällig um.

Im Restaurant des Kurhotels sitzt eine vitale Rentnerin, die sich ihrem Handy widmet. Ein mittelaltes Paar mit Rentiermützen. Und eine japanische Reisegruppe, bestehend aus zwei Damen und drei Herren, die sich flüsternd über die Speisekarten beugt.

»Erstaunlich wenig los«, stellt Merkel fest.

»Ja«, antwortet Schröder.

»Was essen wir noch mal?«

»Neunerlei. Eine Tradition zur Weihnachtszeit im Erzgebirge. Neun Speisen, die alle eine Bedeutung haben. Sauerkraut steht dafür, dass einem das Leben nicht sauer wird. Linsen sollen dafür sorgen, dass einem das Kleingeld nicht ausgeht. Bratwürste helfen Herzlichkeit und Kraft zu erhalten. Klöße …«

»Ist schon gut. Das ist so eine erzgebirgische Ayurveda-Nummer. Ich hab’s begriffen.«

Als Erstes stellt der Kellner einen Heringssalat mit Rote Bete vor die Herren.

»Das ist schlimm«, sagt Merkel, »von Heringen und Rote Bete hast du nichts gesagt.«

»Du hast mich nicht ausreden lassen, aber den Japanern schmeckt’s.«

»Die essen ja auch Sushi und Fischsuppe zum Frühstück.«

Während der Kellner eine Semmelmilch mit Nüssen serviert, betritt eine Frau die mit Tannenzweigen und Glaskugeln geschmückte Mini-Bühne in einem Eck des Raums. Unter einem roten Mantel mit weißem Pelzbesatz trägt sie eine rote Korsage, Strapse und rote Strümpfe. Mit einem Blick auf ihre karminroten High Heels sagt Merkel:

»Sie trägt keine Stiefel. Ein Weihnachtsmann sollte Stiefel tragen.«

Die Frau beginnt auf einer Ukulele zu klimpern und »Last Christmas« zu singen.

»Ihre Stimme ist nicht mal so schlecht.«

Schröder nickt.

»Wir müssen jetzt sehr aufmerksam sein.«

»Ich bin ja aufmerksam.«

»Ich meinte nicht ihre Titten.«

Statt einer Antwort gibt Merkel nur ein Röcheln von sich, weil er gerade von einem Rentiermützen-Träger mittels einer Klaviersaite erdrosselt wird. Schröder greift die Vase mit Mistelzweigen und schlägt sie der Frau hinter sich auf die Rentiermütze. Die Vase splittert. Der Agent zerrt die Hand, in der die Angreiferin das Kampfmesser trägt, nach vorn und klatscht sie in den Heringssalat. Dann rammt er mit aller Gewalt seine Gabel durch die Handknochen. Die Frau schreit. Merkel röchelt, während er vergebens versucht, Finger zwischen den Draht und seinen Hals zu bekommen. Immerhin denkt die Weihnachts-Strapsmaus auf der Bühne mit und feuert aus ihrer modifizierten Ukulele. Ein gezielter Schuss in die Stirn knapp unterhalb des weißen Saums der Rentiermütze setzt den Kerl außer Gefecht, der gerade dabei war, Merkel die Funktionsweise einer Garotte nahezubringen.

Schröder kippt den Tisch um. Seine Angreiferin wird mit darüber katapultiert. Und von einer Salve Kung-Fu-Sternen getroffen.

»Runter«, brüllt Schröder.

Merkel geht mit ihm hinter dem Tisch in Deckung.

Wieder schlagen Kung-Fu-Sterne ein. Einige durchstoßen das Holz.

Die Frau im Weihnachtsmann-Outfit spurtet über die Tische. Die vitale Rentnerin widmet sich nicht mehr ihrem Handy, sondern ist gerade dabei, eine Uzi aus ihrer Handtasche zu ziehen. Die Strapsmaus nimmt Anlauf, springt und der Absatz ihres rechten High Heels bohrt sich in das Auge der Dame. Der Körper zuckt. Ungesteuerte Maschinenpistolensalven zerlöchern die Decke und Lampen, bis Oma endgültig in Pension geht.

Mittlerweile nimmt ein Kellner mit einer Shotgun Merkel und Schröder unter Feuer. Große Holzsplitter werden aus dem umgekippten Tisch gestanzt und fliegen durch den Raum. Die Mitglieder der japanischen Reisegruppe rennen in Ninja-Outfits die Wände entlang und schwingen Nunchakus und Schwerter.

»Wie haben die sich so schnell umgezogen?«, keucht Merkel aus seiner malträtierten Luftröhre.

»Keine Ahnung«, antwortet Schröder, springt blitzschnell auf und erledigt mit einem gezielten Schuss den Shotgun-Berserker. Inzwischen hat sich das Weihnachts-Babe die Maschinenpistole der Oma geschnappt und holt die Ninjas mit großzügigem Beschuss von der Wand und aus der Luft.

»Sie lädt verdammt schnell nach, wenn es sein muss«, sagt Merkel anerkennend.

»Sie ist ein Level-Null-Agent«, antwortet Schröder.

Die Frau kommt auf Merkel und Schröder zu. Die Hüften bewegen sich locker hin und her. Der Weihnachtsmannmantel schwingt um sie wie ein Cape. Die High Heels klacken auf dem Fliesenboden. Einer der roten Strümpfe hat eine Laufmasche.

»Sie ist auf jeden Fall eine Agentin und kein Agent«, sagt Merkel.

Breitbeinig bleibt sie vor Merkel und Schröder stehen. Die Maschinenpistole raucht noch aus dem Lauf.

»Parole?«, fragt sie.

Schröder räuspert sich, dann sagt er sehr feierlich:

»Die Art des Gebens ist wichtiger als das Geben selbst.«

Die Agentin greift ins weihnachtlich offenherzige Dekolleté, holt zwischen ihren Brüsten einen winzigen Speicherchip hervor und gibt ihn Schröder.

»Gut, dass Sie ihn nicht verloren haben«, sagt Merkel. Sie schaut ihn verständnislos an. Merkel zuckt mit den Schultern.

»Sorry, ich mein ja nur, weil er so klein ist.«

»Ich hab ihn festgetackert.«

Grußlos geht sie aus dem Restaurant. Durch die geborstenen Scheiben des Wintergartens beobachten Merkel und Schröder, wie die Kollegin in einen Ford Mustang steigt, der in der Einfahrt wartet.

»Weißt du, wie sie heißt?«, fragt Merkel.

»Vermutlich Adenauer«, antwortet Schröder.

»Sehr witzig.«

»Lass uns weitermachen, damit wir den Stick abliefern, bevor er sich selbst zerstört.«

»Selbst zerstört?«

»Ja, ist mir schon dreimal passiert. Blöd, wenn du ihn in der Hosentasche hast.«

Merkel schaut sich um.

»Wer macht hier eigentlich sauber?«

»Das wollen wir gar nicht wissen.«

Schröder macht das Licht aus.

406190.pngGaunerzinken

Manfred Köhler (Scharfenstein)

Gernot war seit Jahren nicht in Scharfenstein gewesen. Und er wäre nicht zurückgekommen, hätte er nicht gehört, dass die alte Traudel gestorben war. Ihr Haus wäre ideal für ihn.

Auch wenn das Freibad im Winterschlaf lag und das Zeiss-Planetarium heute geschlossen war, kamen Erinnerungen hoch, ganz automatisch, als Gernot, von Ehrenfriedersdorf kommend, durch Drebach und an den Schildern nach Venusberg vorbei Richtung Scharfenstein tippelte. Aber der Schmerz fühlte sich alt und verschorft an.

Und noch etwas hatte sich geändert: Burg Scharfenstein war für ihn immer ein Ort kämpferischer, Freiheitsgefühle aufwühlender und revolutionärer Gedanken gewesen. Die Legende vom Stülpner Karl hatte sein Leben von Kind an geprägt, als er die erste Burgführung mit einem der Wilderer-Darsteller mitgemacht hatte.

Aber jetzt, da er unfreiwillig etwas geworden war wie ein Stülpner dieser Zeit, wenn auch eine rein aufs Negative beschränkte und unheldenhafte Version des Volkshelden, hasste er es. So wollte er nicht sein.

Gernot schaute hoch zur Burg und sah einen Lastwagen den Burgberg herabfahren. Vermutlich wurde da oben gerade der Weihnachtsmarkt abgebaut, nach einem letzten Besucheransturm am zurückliegenden vierten Adventswochenende. Nun freuten die Leute sich auf den Heiligabend.

Der Gedanke weckte Aufbruchstimmung. Etwas musste geschehen. Gernot wusste nicht, was, aber war entschlossen, die Heimkehr zu nutzen, um wieder in die Spur zu kommen.

Allerdings musste er erst mal die Nacht überleben und die nächsten Tage. Dafür musste er es schaffen, die Unterkunft zu beziehen, wegen der er sich auf den Weg gemacht hatte, und sich ein bisschen Geld besorgen. Eine Idee hatte er schon. Brauchte er nur noch ein Opfer.

Es war die Frau, die sich um Gernot kümmerte.

Der Mann hätte ihn vermutlich verletzt liegen gelassen.

»Jetzt hol doch mal Verbandszeug. Der arme Kerl blutet!«

»Die Polizei sollte ich rufen!«

»Wir wissen doch noch gar nicht, was passiert ist.«

Gernot sah den Moment gekommen, sich zu erklären:

»Drei jugendliche Punks wollten Ihren Briefkasten abfackeln. Als ich sie verjagt hatte und das Feuer löschen wollte, ist plötzlich was explodiert.«

»Punks. Hier in Scharfenstein. In einem bürgerlichen Wohngebiet.«

Der Mann kontrollierte trotz seiner lautstark geäußerten Zweifel sofort den Briefkasten.

»Verdammter Mist! Da hat es wirklich gebrannt.«

»Ich muss aufstehen. Die Kälte. Entschuldigung.«

Die Frau ließ nicht von seiner verletzten Hand ab, half ihm aber schließlich umständlich mit hoch. Es hatte ihn wirklich ganz schön aufs Steißbein gesetzt vor Schreck. Und der Chinaböller hätte ihm fast den Zeigefinger abgerissen. Die Wucht hatte er anders in Erinnerung gehabt. Eher wie einen festen Schlag. Nicht mit einer solchen zerstörerischen Sprengkraft.

»Wir stehen tief in Ihrer Schuld«, sagte die Frau.

»Blödsinn!«, fuhr ihr der Mann ins Wort. »Die Geschichte stinkt.«

»Hören Sie nicht auf ihn. Sollen wir Sie wirklich nicht ins Krankenhaus fahren?«

»Nein, nein, danke. Es hat auch schon aufgehört zu bluten.«

»Können wir sonst irgendwas für Sie tun? Haben Sie Obdach, heute … am Heiligabend?«

Die Betonung aufs letzte Wort schleuderte sie ihrem Mann entgegen. Der fauchte zurück:

»Lass dir bloß nicht einfallen, den zu uns einzuladen!«

»Aber eine finanzielle Anerkennung bekommt er.«

Sie sagte das ihrem Mann zugewandt mit besonderem Trotz.

»Dann aber von deinem Taschengeld. Ich hab keinen Cent für dieses Affentheater übrig.«

»So ein Geizhals. Bitte entschuldigen Sie. Machen Sie es sich mal besonders schön heute Abend.«

Sie zog 50 Euro aus ihrem Geldbeutel. 30 Euro mehr als Gernot maximal erwartet hätte. Der Mann geriet außer sich.

»Das war lauter Werbemist. Nur leicht angekohlt. Der Böller hätte gar nichts gemacht.«

»Du kannst dir heute deinen Gänsebraten selbst zubereiten«, sagte die Frau, lächelte Gernot verschwörerisch zu, als er sich schon schleunigst davonmachen wollte, und rief noch: »Gesegnete Weihnachten. Und alles Gute für Ihre Hand.«

Gernot hatte es sich in seinem gerade bezogenen Häuschen so weihnachtlich-gemütlich gemacht wie es nur ging ohne Strom, Heizung und fließendes Wasser. Er war es seit Jahren gewohnt so, in immer wieder anderen Bruchbuden. Früher kannten die Leute es gar nicht anders, als überwiegend kalt und mühevoll zu wohnen, das Wasser von draußen hereinzuschleppen. Ganz bewusst suchte er sich leer stehende, einsame Häuser mit Kamin aus und alten Kohleherden, sodass er wenigstens mit Holz aus dem Wald ein bisschen Wärme hereinbekam und auch mal was kochen konnte. Traudels Haus war dafür ideal. Wasser holte er aus dem Bach, genug Licht kam an diesem Abend von den Weihnachtskerzen auf dem ebenfalls im Wald geschlagenen Baum. Die Kerzen waren bezahlt, der Baum natürlich nicht.

An einen richtigen Weihnachtsbraten war nicht zu denken gewesen ohne Backofen. Aber aus der Not war eine echte Tugend geworden, als er den Spirituskocher auf dem Speicher des Häuschens fand. Mit einem alten, gründlich gereinigten Topf, einer Flasche Sonnenblumenöl, diversem plastikverpacktem Billigfleisch, Ketchup und drei Brötchen zauberte er sich ein Fondue, das ihm seine besseren Tage wirklich zurückbrachte, statt nur an sie zu erinnern. Woran auch das Sixpack Weizenbier gehörig Anteil hatte. Wenn Gernot eines drauf hatte, dann das Beste aus allem zu machen. Anders wäre ein Leben wie seines auch gar nicht so lange möglich gewesen.

Seine zweite Überlebenseigenschaft war sein Instinkt. Als es nebenan leise quietschte und gleich darauf etwas knarrte, hatte er sich das alte Brotmesser schon unters Hosenbein in den Socken geschoben, ehe ihm die Widersinnigkeit klar wurde.

Jemand war ins Haus eingedrungen. Gequietscht hatte die Eingangstür, geknarrt eine der alten Dielen im Flur. Das Kerzenlicht war durch den Türspalt zu sehen. Entweder verdrückte er sich in den dunklen Nebenraum und dort notfalls durchs Fenster – oder er trat dem Eindringling mit gezücktem Messer entgegen.

Gernot ließ es, denn sein Instinkt war dem Verstand auch diesmal voraus. Zum Verdrücken war es zu spät, die Tür vom Flur her ging bereits auf; und ein gezücktes Messer hätte ihn dieser einzigen Waffe umgehend beraubt, wenn nicht gleich das Leben gekostet. Denn der Eindringling schob eine langstielige Axt voraus. Und seine hasserfüllte Fratze ließ keinen Zweifel an der nötigen Entschlossenheit, sie ohne jede Rücksicht zu gebrauchen.

»Nette Nummer am Briefkasten«, sagte der Mann. »Wundert mich, dass du nicht gebührender feierst.«

»Das Geld muss eine Weile reichen«, antwortete Gernot. Ehrlichkeit schien ihm in dieser plötzlichen Gefahrenlage noch die sicherste Bank.

»Ach ja, wofür denn?«

Der Mann schaute sich angewidert in dem kargen ehemaligen Wohnraum um, der seit Gernots Einzug zumindest kein Lost Place mehr war. Von Wohnlichkeit war die Bude dennoch weit entfernt. Die Leere des Raumes stand in rührendem Kontrast zu dem kleinen Weihnachtsbaum, dessen einziger Schmuck die Kerzen waren. Und das auch nur, weil Gernot Kerzenhalter auf dem Dachboden gefunden hatte. Kaufen wäre nicht drin gewesen.

»Essen«, antwortete Gernot verspätet auf die provozierende Frage.

»Und saufen«, warf ihm der Mann mit Blick auf die Bierdosen vor. Eine war geöffnet, die anderen fünf hingen noch am Trageriemen.

»Eine pro Abend. Mein einziger Luxus.«

»Denk bloß nicht, dass ich auf die Mitleidsmasche reinfalle!«

»Ich sag bloß, wie es ist«, blieb Gernot fest. Die plötzliche Wut des Mannes verebbte, er räumte ein:

»Wie ein Säufer siehst du wirklich nicht aus. Sonstige Drogen?«

Gernot schüttelte stumm den Kopf.

»Hattest irgendwann mal ein normales Leben, oder?«

Dem Mann waren die wenigen Besitztümer aufgefallen, die Gernot von Haus zu Haus mit sich führte, darunter ein kleiner Bilderrahmen mit einem typischen gestellten Familienfoto, der auf dem Kaminsims stand.

»Aber jetzt lebst du illegal in fremden Häusern und bescheißt Leute. Wem gehört die Bude hier?«

Gernot räusperte sich.

»Traudel, einer alten Frau«, antwortete er schließlich. »Sie ist kürzlich gestorben und hatte keine Erben, also ist das Haus an den Staat gefallen.«

»Dem Staat liegst du also hier auf der Tasche. Da weiß ich doch gleich, wie ich dir eins auswischen kann.«

»Ihre Frau hat mir das Geld gegeben. Was wollen Sie also von mir?«

»Na was wohl? Deine Herausforderung annehmen. Außerdem war das mein Geld. Die Alte ist doch nur Hausfrau.«

»Welche Herausforderung denn?«, fragte Gernot und hätte zu gern noch was zum Thema Ausbeutung einer Hausfrau mit schäbigem Taschengeld gesagt. Aber mit dem Typen eröffnete er mal lieber keine Nebenkriegsschauplätze.

»Dass du diese Nummer abziehst, du Arsch. Trotz der deutlichen Warnung am Haus.«

»Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen.«

Gernot hatte die ganze Zeit weiter am Tisch gesessen und beobachtet, wie der Mann durchs Zimmer schlurfte, immer mal schmerzvoll das Gesicht verzog und alles genau anglotzte. Als er nun einen der modrigen Vorhänge zur Seite schob, um nach draußen zu spähen, wollte Gernot aufstehen und sich in eine strategisch günstigere Position bringen.

»Schneit noch«, sagte der Kerl, fuhr herum und hob drohend die Axt. »Hocken bleiben!«

»Schon gut.«

Gernot setzte sich wieder, schob aber den Stuhl ein Stück zurück, um nicht so am Tisch eingekeilt zu sein.

»Was ich meine?«, fragte der Kerl. »Den Gaunerzinken natürlich.«

Gernot glaubte, nicht richtig zu hören. Der wusste von dem Zeichen! Was wurde hier bloß gespielt? Er beschloss, sich nun doch besser dumm zu stellen.

»Von so was hab ich keine Ahnung. Ihr Briefkasten brannte …«

»Die drei angeblichen Punks, jaja. Solche Geschichten kannst du dämlichen Gutmenschen wie meinem Hausdrachen auftischen. Ich weiß da besser Bescheid. Also?«

»Hören Sie, ich hab noch etwa 35 Euro übrig. Den Rest kann ich Ihnen …«

»Ich will das Scheißgeld nicht!«

Der Kerl holte unvermittelt aus und zertrümmerte mit einem einzigen Axthieb den alten Wohnzimmertisch. Das heiße Öl aus dem Kochtopf spritzte durchs Zimmer und verbrühte Gernots rechten Arm, mit dem er nach dem Messer in seinem Socken hatte greifen wollen. Die linke Hand war noch vom zu stark gewählten Böller außer Gefecht. Somit war er praktisch wehrlos.

»Scheißdreck!«, fluchte der Mann, als der umgekippte Spirituskocher den Boden in Brand setzte. Hektisch trampelte er die Flammen aus und sorgte dabei für zusätzliche Verwüstung. Die kleine Weihnachtswelt, die Gernot sich mit wenig Geld und viel Liebe geschaffen hatte, war zerstört.

»Betrachte das als erste kleine Strafe«, sagte der Typ, als er sich wieder beruhigt hatte. Er zog sich den zweiten Stuhl heran, der in der anderen Ecke des Raumes hinter der Tür gestanden hatte, und nahm die Axt auf den Schoß. Nicht zum ersten Mal fiel Gernot auf, wie schief der Kerl die Schulter hielt – im Sitzen noch stärker als im Stehen.

»Wie fing das bei dir an?«, fragte er.

»Was?«

»Du weißt schon, das Klauen.«

»Ich klaue nicht. Niemals. Ich … na ja, nehme Geschenke an.«

»Haha. Geschenke, die aufgrund von Täuschung und Betrug gegeben werden. Als ob die was anderes wären als Diebesgut.«

»Es gibt Grauzonen.«

»Gibt es nicht.«

»Na gut. Nehmen wir an, im Supermarkt wird Ihnen falsch rausgegeben. Auf 50, obwohl Sie mit 20 gezahlt haben. Was tun Sie?«

»Dasselbe, als wenn’s umgekehrt wäre. Das Richtige.«

»Nehmen wir zweitens an, bevor Ihnen das passiert, haben Sie den Getränkebon im Automaten stecken lassen. Für um die 100 Flaschen. Jemand anders hat ihn eingelöst.«

»Selbst schuld.«

»Sie wurden geblitzt an einer Stelle, wo sonst nie eine Radarfalle steht. Ihr Nachbar hat Ihnen beim Schneiden seiner Hecken auch gleich noch Ihre geliebten Beerensträucher bis zum Boden abgeratzt. Und ein Idiot blockiert Ihren Parkplatz, Sie müssen über Nacht woanders stehen, wo dann ein Marder reingeht. Über 200 Euro Reparaturkosten weg.«

»Na und?«

»Das sind nur ausgedachte Beispiele. In Wirklichkeit kann das Leben noch viel grausamer sein.«

»Noch mal: Na und!«

»Das Leben nimmt, und das Leben gibt. So hab ich das sehen gelernt. Und dabei geht es niemals gerecht zu. Nach menschlichen Maßstäben.«

»Alle Gauner legen sich das so zurecht.«

»Nein. Es ist einfach nicht richtig, die Geschenke des Lebens zurückzuweisen. Die ungerechtfertigten Hiebe und Ohrfeigen muss man ja auch einstecken.«

»Blödsinn. Du willst doch bloß Stunk machen. Was ist mit dem Gaunerzinken? Deswegen hast du mich doch ausgesucht.«

Gernot musste lächeln und resignierte.

»Na gut, das stimmt.«

»Und deswegen bin ich hier. Herausforderung angenommen.«

»Welche Herausforderung denn?«

»Leg dich nicht mit den Leuten in diesem Haus an. Das bedeutet der Gaunerzinken. Wer es doch tut, kriegt die Axt.«

Gernot schaute ihn ungläubig an, musste grinsen und verbiss es sich, als er die Wirkung sah. Der Typ begann sofort wieder auszuflippen.

»Mach dich nicht auch noch über mich lustig, du Arschloch!«

»Mach ich nicht, wirklich. Wenn, dann …«

»Was? Raus damit!«

»Dann hat das der Typ gemacht, von dem Sie den Gaunerzinken verpasst bekommen haben. Dass Sie überhaupt davon wissen, also … und dann so völlig falsch über die Bedeutung informiert sind.«

»Was ist denn die Bedeutung deiner Meinung nach? Ich hab das Zeichen extra gelassen, um geschützt zu sein.«

»Die Bedeutung ist: Die da drin sind leichte Beute. Ein Wunder, dass nicht längst so richtig bei Ihnen eingebrochen wurde.«

»Woher willst du wissen, dass nicht?«

»Weil, na ja – das stünde dann da auch.«

Der Typ machte das blödeste Gesicht, das Gernot je gesehen hatte. Das befeuerte seinen Heiterkeitsausbruch, der wohlkalkuliert zum Einsatz kam. Der Eindringling reagierte wie erwartet. Und jetzt wusste Gernot auch, warum er die Axt links hielt, obwohl er sich beim Briefkastenöffnen als Rechtshänder erwiesen hatte. Die Schulterhaltung ließ sich lesen wie ein offenes Buch.

In einer fließenden Bewegung zog Gernot das Messer aus dem Socken, verbiss sich die Schmerzen am verbrühten Arm und trat seinem Widersacher die Axt aus der Hand. Der hatte es nicht mal geschafft, zur Gegenwehr aufzuspringen. Gernot drückte ihm das Messer an die Kehle und sah wie in Zeitlupe eine Schweißperle auf der Stirn des Bedrohten aus der Haut hervortreten.

»Was machst du beruflich?«, fragte Gernot. Ganz bewusst ging er zum Du über. Das Kommando hatte gewechselt.

»Verwaltungs…fachangestellter«, krächzte der Mann.

»Und in deiner Freizeit folterst du Landstreicher, oder wie?«

»Nein! Bitte, ich hätte Ihnen nie was getan, wirklich. Ich war nur so … extrem verärgert über Ihre Betrugsmasche, deshalb bin ich Ihnen nachgeschlichen.«

»Halt die Klappe. Ich weiß, was Revierverhalten ist. Wie steht dein Bildschirm?«

»Was? Bildschirm?«

Zwei weitere Schweißperlen rannen dem Mann über die Stirn. Gernot wusste, das verkrampfte Gesicht kam nicht nur von der Angst.

»An deinem Arbeitsplatz. Steht dein Bildschirm direkt vor dir oder hältst du den Kopf beim Arbeiten schräg? Und nach welcher Seite?«

»Links«, sagte der Mann nach einer kurzen Bedenkpause.

»Alles klar.«

Gernot nahm sein Messer von der Kehle des Mannes, warf es beiseite, packte blitzschnell den fremden Kopf mit beiden Händen und renkte den völlig verspannten Nacken ein.

Der Gesichtsausdruck veränderte sich total. Fassungslos verdaute der Mann den Einrenkungsschmerz und begriff dabei, dass seine langjährigen Dauerschmerzen weg waren. Und damit auch seine mürrische Griesgrämigkeit, seine Angriffslust, Streitsucht und hoffentlich sein Menschenhass. Den Trick, in Jahren verhärtete Fehlstellungen mit einem einzigen Ruck zu korrigieren, hatte Gernot bei einer Chiropraktiker-Fachtagung in einem kleinen Hotel am Bodensee gelernt und seit Jahren nicht angewandt. Es tat so gut, es nun endlich mal wieder umgesetzt zu haben.

»Gehen Sie«, sagte er streng. »Die Axt bleibt hier. Behandeln Sie Ihre Frau ab jetzt freundlicher. Und platzieren Sie Ihren Bildschirm frontal zur Sitzhaltung.«

Der Mann stand auf, wackelte ungläubig mit dem Kopf, schien noch etwas sagen zu wollen, aber ließ es. In der nächsten Sekunde war er draußen im Flur, in der übernächsten fiel die Haustür ins Schloss.

Gernot fügte im Schein des herunterbrennenden Kaminfeuers den zertrümmerten Tisch wieder einigermaßen zusammen. Er hob den lädierten kleinen Christbaum vom Boden, stellte ihn zurück auf seinen ursprünglichen Platz, erneuerte die Kerzen und zündete sie an. Den Stuhl rückte er so zwischen Kamin und Christbaum, dass er den Schneeflocken draußen beim Tanzen vor dem nachtblauen Himmel zusehen konnte.

Zum ersten Mal, seit seine damals vierjährige Tochter überfahren worden war, seit seine Frau ihn im gegenseitigen Trauer-Terror verlassen hatte und er wegen zunehmender Depressionen aus der eigenen Praxis geflogen war, fühlte er so etwas wie Hoffnung und Freude auf ein neues Jahr.

406206.pngNach traditioneller Art

Maren Schwarz (Schneeberg)

Obwohl Anita schon lange kein Kind mehr war, wärmte der Gedanke an das bevorstehende Weihnachtsfest ihr Herz. Sie liebte die Zeit der Pfefferkuchen, des Stollens und des Kerzenscheins. Nicht zu vergessen, des Räucherkerzchendufts, der in ihrer Heimat, dem Erzgebirge, genauso zur Weihnachtszeit gehörte wie Glühwein und gebrannte Mandeln. Wenn sie, umhüllt von all diesen Düften, über den Schneeberger Weihnachtsmarkt schlenderte und dabei der Schnee wie Puderzucker aus dem Himmel über die Stadt rieselte, konnte sie sich dem Zauber der Weihnachtszeit kaum noch entziehen. Egal, wie trostlos ihr Leben ansonsten auch sein mochte.

Dabei war es jedes Jahr dasselbe. Während die einen es kaum erwarten konnten, dass die Regale in den Supermärkten wieder mit Plätzchen und Schokoladenweihnachtsmännern gefüllt waren und sie auf Geschenkejagd gehen konnten, wurden andere von den bevorstehenden Festtagen regelrecht überrumpelt. Dann wurden Einkaufszentren und Weihnachtsmärkte gestürmt, um noch in letzter Minute ein Geschenk für seine Liebsten zu ergattern. Wenigstens muss ich mir darum keine Sorgen mehr machen, schoss es Anita durch den Kopf. Schon deshalb nicht, weil es, von ein paar wenigen Freunden abgesehen, niemanden mehr gab, den sie hätte beschenken können. Dafür gab es aber auch niemanden, von dem sie ein Geschenk zu erwarten hatte. Der Gedanke stimmte Anita traurig. So traurig, dass sie die Weihnachtsfeiertage am liebsten aus ihrem Kalender gestrichen hätte. Daran konnten auch all die lieb gewonnenen Traditionen nichts ändern, die sich für sie mit diesem Fest verbanden. Beginnend mit dem alljährlichen Aufstellen der Weihnachtsdekoration bis hin zum Krippenspiel am Heiligabend und den Metten am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages. Bräuche waren schließlich dazu da, um gepflegt zu werden. Ein weiterer, der mittlerweile nicht mehr aus ihrem Leben wegzudenken war, bestand darin, ihrer alten Schule einen Besuch abzustatten. Immer, wenn am zweiten Adventswochenende die Fakultät für Angewandte Kunst in Schneeberg zum Tag der offenen Tür einlud, war Anita zur Stelle, um Erinnerungen an ihre leider viel zu kurze Studienzeit aufzufrischen. Obwohl seither schon ein paar Jahre vergangen waren, traf sie auf ihrem Rundgang durch die Werkstätten jedes Mal wieder auf vertraute Gesichter. So auch heute. Anita liebte es, sich mit ehemaligen Kommilitonen oder Lehrkräften über aktuelle Trends in der Textilbranche auszutauschen. Wenn sie dazwischen mal eine kleine Stärkung brauchte, lenkte sie ihre Schritte in das liebevoll dekorierte Café im Textilhaus, wo es neben einer Tasse Kaffee immer auch ein Stück Kuchen gab. Selbst gebackenen noch dazu. Von den Studentinnen aus dem siebten Semester. Darauf freute Anita sich schon das ganze Jahr. Genauso wie auf das für den Nachmittag auf dem Plan stehende Theaterstück. Dasselbe galt für die Modenschau, auf der sie sich ein Bild von den neuesten Entwürfen der Modedesignstudenten machen konnte.