Juni 53

Frank Goldammer

Juni 53

Kriminalroman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Frank Goldammer

Frank Goldammer, 1975 in Dresden geboren, ist Handwerksmeister. Mit Anfang zwanzig begann er zu schreiben und verlegte seine ersten Romane im Eigenverlag. Mit den Bänden seiner historischen Kriminalroman-Reihe über den Dresdner Kommissar Max Heller landet er regelmäßig auf den Bestsellerlisten. Er ist alleinerziehender Vater von Zwillingen und lebt mit seiner Familie in Dresden.

 

Mehr über den Autor www.frank-goldammer.de

Über das Buch

Sommer 1953: Der Alltag in der noch jungen DDR ist beschwerlich. Nach wie vor fehlt es an allem. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung wächst, und die Zahl derer, die das Land verlassen, steigt unaufhörlich. Die SED-Regierung setzt mit harter Hand ihre Forderungen durch und verfolgt gnadenlos ihre Kritiker. Am siebzehnten Juni eskaliert die politische Lage. Es kommt landesweit zu gewalttätigen Protesten. Genau in dieser Nacht wird Oberkommissar Max Heller zu einem Dresdner Isolierungsbetrieb gerufen. Der ehemalige Eigentümer ist brutal ermordet worden: Der Mann wurde mit Glaswolle erstickt. Ist er ein Opfer der Aufständischen geworden? Aber Heller hat einen anderen Verdacht. Während er inmitten der Wirren des Volksaufstandes einen unberechenbaren Mörder sucht, drängt Karin auf eine Entscheidung: Sollen auch sie ihre Heimat aufgeben und in den Westen gehen oder sollen sie bleiben?

 

Von Frank Goldammer sind bei dtv außerdem erschienen

Der Angstmann

Tausend Teufel

Vergessene Seelen

Roter Rabe

Impressum

Originalausgabe 2020

2. Auflage 2020

© 2020 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung und Artwork: Isabelle Hirtz, Inkcraft

 

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eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43601-4 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-26232-3

 

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Copyright für das Buch

ISBN (epub) 9783423436014

18. Juni 1953, früher Morgen

Heller stand am Küchenfenster, schob die Gardine ein wenig beiseite und warf einen vorsichtigen Blick auf die Straße. Langsam wurde es hell, die Nacht zog weiter gen Westen. Es war still draußen.

»Max, willst du jetzt alle fünf Minuten hinaussehen?«, fragte Karin. Sie war gerade dabei, Annis Schulbrote in Zeitungspapier einzuschlagen.

Heller ließ die Gardine los und setzte sich an den Küchentisch. Er betrachtete die Kaffeetasse vor sich. Echter Kaffee. Nach längerer Zeit hatte es mal wieder echten Kaffee im HO gegeben. Trotzdem hatte er noch nicht einmal daran genippt. Er hatte schlecht geschlafen. Es wollte einfach keine Ruhe einkehren in seinem Kopf.

Die folgenden Worte, die ersten seit dem Guten Morgen, wollten gut überlegt sein. »Karin, ich will, dass du heute daheimbleibst. Und Anni auch.«

Karin gab ein leises Geräusch von sich, eine Art Seufzen, als hätte sie schon damit gerechnet und doch gehofft, sich diesen Dialog zu ersparen.

»Ich glaube, das ist nicht nötig Max. Ich gehe zur Arbeit und Anni zur Schule. Es ist das Beste, wenn alles seinen gewohnten Gang geht.«

»Es ist zu gefährlich!«

»Max, du hast es selbst gesehen gestern. Die Männer sind einfach nur die Straßen entlanggelaufen und haben sich unterhalten. Alles blieb ruhig.«

Heller griff nach seiner Tasse, doch er hob sie nicht an. Ja, er hatte sie gesehen. Die wütenden Männer. Beim Sachsenwerk. Karin arbeitete dort in der Buchhaltung. Zuerst waren es ein paar Hundert gewesen, dann ein paar Tausend, dann waren sie zu den ABUS-Werken gezogen. Schließlich sollten es nach Schätzungen der Polizei zwanzig-, dreißigtausend gewesen sein, und auf ihrem Zug durch die Stadt hatten sich ihnen immer mehr angeschlossen. Es war friedlich geblieben, bis auf ein paar Handgreiflichkeiten.

Doch Karin wusste nicht alles. Er war erst spät in der Nacht heimgekommen, da hatte sie schon geschlafen.

»In Leipzig waren hunderttausend auf der Straße. Sie haben das Volkspolizeikreisamt und das Funkhaus angegriffen, FDJler verprügelt. Es hat Tote gegeben. In Halle und Magdeburg waren es an die fünfzigtausend. Es gab viele Tote, auch Polizisten hat es getroffen. In Berlin sowieso, es gab Straßenschlachten, angeblich sogar MG-Feuer.« Heller fuhr sich nervös durchs Haar. »Karin, das ist kein Jux, glaub mir. Hier blieb es nur ruhig, weil die Sowjets gleich mit Panzern und die KVP unter schwerer Bewaffnung ausgerückt sind. Und wir wissen noch nicht, ob es Tote gab. Überall wird zum Generalstreik aufgerufen.«

»Ich weiß doch, dass das kein Spaß ist, Max.« Karin verschränkte trotzig die Arme und lehnte sich an die Anrichte. Seine Worte hatten die Wirkung auf sie nicht verfehlt. Doch Heller kannte seine Frau, so schnell gab sie sich nicht geschlagen.

»Wenn ich nicht zur Arbeit gehe, dann streike ich ja mit. Und Anni? Was denkt ihre Lehrerin?«

»Du weißt, das ist nicht dasselbe«, mahnte Heller. Noch immer hingen ihm die Bilder des Vortages nach. Diese Menschenmasse. Und so viel Hass und Wut, die entweichen wollten. Die Leute waren zu allem bereit.

»Sie wollen doch nur ein besseres Leben«, sagte Karin. »Immer wird nur geredet und geredet. Acht Jahre nach dem Krieg stehen wir nach Brot an. Jetzt ist Stalin tot und die Leute haben gehofft, alles wird besser.«

»Ich weiß doch, Karin«, fuhr Heller auf, »aber darum geht es jetzt nicht. Du weißt selbst, dass so etwas in Anarchie umschlagen kann. Denk nur an das Chaos neunzehnachtzehn. Gestern haben sie die Einheit Deutschlands gefordert, die Oder-Neiße-Grenze soll zurückgenommen werden. In Leipzig und Halle haben sie das Deutschlandlied gesungen.«

»Dem sollte man nicht so viel Bedeutung beimessen. Damit wollten sie doch nur ihren Gefühlen Ausdruck geben.«

»Weißt du das so genau, Karin? Ich will den Arbeitern nichts Böses unterstellen. Aber wenn eine solche Bewegung erst einmal eine Eigendynamik bekommt, dann gibt es Bürgerkrieg. Und die Russen werden sich ihren Teil Deutschlands nicht nehmen lassen.« Heller war aufgestanden. »Ich bestehe darauf, dass ihr daheimbleibt, heute und die nächsten Tage. Auch wegen Frau Marquart.«

Karin sah ihn herausfordernd an und kniff die Lippen zusammen. »Wenn es sein muss: heute«, sagte sie dann.

Heller stellte sich dicht vor Karin. Sie drehte ihren Kopf ein wenig zur Seite und wich seinem Blick aus. Heller kannte diese Haltung an seiner Frau und wusste, sie ärgerte sich. Er nahm sie sanft bei den Schultern.

Schließlich gab Karin ihren Widerstand auf und lehnte sich an ihn.

»In welchen Zeiten leben wir nur?«, sagte Heller leise. »Es scheint, als ob es niemals friedlich sein kann.«

Karin seufzte. »Ja, aber so kann es auch nicht weitergehen. Was soll ich denn dem Kind erzählen? Ich will nicht, dass sie Angst bekommt.«

»Ich weiß nicht. Sag ihr …«, murmelte Heller und verstummte dann wieder. Im Flur begann das Telefon zu klingeln. Heller hob ratlos die Hände und suchte weiter nach einer Erklärung.

Karin erlöste ihn. »Na, geh schon, ich werde mir etwas einfallen lassen.«

 

Im ehemaligen Ministeriumsgebäude am Königsufer, in dem sich seit sechsundvierzig das Polizeipräsidium befand, herrschte trotz der frühen Stunde Hochbetrieb. Leute eilten durch die Gänge. Telefone schrillten in beinahe jedem Zimmer. Die Türen standen offen. Einige Kollegen nickten Heller zu, keiner hatte Zeit für ein Gespräch.

Auch die Tür zu Niesbachs Zimmer stand offen. Frau Schindler, Niesbachs Sekretärin, hatte sich den Telefonhörer zwischen Hals und Ohr geklemmt, blätterte währenddessen in Karteikarten und hakte etwas mit Bleistift ab. Heller wartete höflich und beobachtete, wie die Frau mit dem Zeigefinger auf die Gabel drückte, um sogleich die nächste Nummer zu wählen. Dann bemerkte sie Heller, winkte ihn herein und bedeutete ihm, in Niesbachs Büro durchzugehen.

»Ihr Kollege ist schon drin«, sagte sie noch schnell und bekam dann ihre Verbindung. »Schindler hier, Kriminalamt, Genosse Appelt braucht dringlich eine Anwesenheitsliste von Ihrer Abteilung. Ab sofort gilt Urlaubssperre. Die im Urlaub befindlichen Kollegen sollen informiert und zum Dienst bestellt werden«, sagte sie in den Hörer.

Appelt. Heller hatte den Namen schon einmal gehört. Doch warum telefonierte Frau Schindler in seinem Namen? Er betrat Niesbachs Büro, wo sich Oldenbusch bereits aus dem Stuhl erhob. Die Männer reichten sich wortlos die Hände, vor sieben Stunden hatten sie sich erst verabschiedet. Werner Oldenbusch setzte sich wieder und rieb sich mit beiden Händen über die Wangen. Anlässlich seiner Hochzeit vor acht Monaten hatte er sich von seinem Vollbart verabschiedet und sich noch nicht ganz daran gewöhnt. Heller ging es da genauso. Oldenbusch hatte ein wenig abgenommen, aber noch immer war er von eher stämmiger Figur.

»Weißt du Neues?«, fragte Heller seinen Kollegen.

Oldenbusch schüttelte den Kopf. Doch er deutete auf Niesbachs leeren Stuhl und verzog das Gesicht, als befürchtete er das Schlimmste. Heller setzte sich und erhob sich gleich wieder, als sich schnelle Schritte näherten. Ein kleiner Mann mit grauem Haar und streng gekämmtem Scheitel eilte in den Raum. Er trug einen zivilen Anzug, strahlte jedoch etwas Militärisches aus, als sei er früher Wehrmachtsoffizier gewesen. Das lag durchaus im Bereich des Möglichen, wusste Heller. Der Mann nahm den Platz hinter dem Schreibtisch ein.

»Appelt ist mein Name, Adolf Appelt, Kommandeur der VP. Ich bin interimsmäßig als Leiter der Kriminalabteilung Bezirk Dresden eingesetzt. Angesichts der Lage kann ich mich jetzt nicht mit weiteren Einzelheiten aufhalten. Durch ein Rundschreiben aus der Bezirksleitung werden Sie umgehend und umfassend informiert.« Er blickte stirnrunzelnd auf Heller. »Und Sie waren jetzt noch mal wer?«

Heller wollte es dem Mann zugutehalten, dass sie sich noch nie begegnet waren. Doch immerhin hatte er ihn einbestellt und sollte eigentlich wissen, wen er zu sich befohlen hatte.

»Oberkommissar Heller«, antwortete er und deutete auf Werner Oldenbusch neben sich. Doch Appelt ließ ihn nicht weiter zu Wort kommen.

»Ja, ich weiß schon, die Genossen Heller und Oldenbusch. Verzeihen Sie meine lange Leitung.«

»Ich bin kein Genosse!«, nutzte Heller den kurzen Augenblick, den Appelt benötigte, um fortzufahren.

»Bitte?« Für eine Sekunde schien der neue Chef irritiert.

Heller drückte den Rücken durch. »Ich will nur allen Missverständnissen vorbeugen. Ich bin kein Genosse.«

»Nun, das tut im Moment nichts zur Sache!«, erwiderte Appelt. Er hatte sich schnell gefangen. »Es verhält sich wie folgt: Vorerst sind sämtliche Genossen der Kriminalabteilung bis auf Weiteres der Leitung des Krisenstabes unterstellt. Unterkommissar Salbach wurde für unbestimmte Zeit abkommandiert. Diese Weisung kommt aus dem Präsidium. Für den heutigen Tag sind wieder Zusammenrottungen zu erwarten. Unsere erste Aufgabe ist es, dieses zu unterbinden. Größere Ansammlungen sollen, wenn nötig auch mit Waffengewalt, gesprengt werden. Es soll gezielt nach Rädelsführern gesucht werden. Die neuralgischen Punkte dieser Stadt sind von der kasernierten Volkspolizei und den Streitkräften unserer sowjetischen Freunde besetzt. Trotzdem müssen wir mit massiver Gewalt der aufgehetzten Menge rechnen. Wiederholt kam es gestern in der Republik zur Erstürmung von Untersuchungsgefängnissen und Zuchthäusern. Inhaftierte Spione, Agenten aber auch Kriminalstraftäter wurden befreit. In Berlin wurden die Streitkräfte der Sowjetarmee angegriffen. Es gab Tote und Verletzte.«

Heller fragte sich, welche Aufgabe ihm zufallen sollte und vor allem, wo sich sein Sohn Klaus befand. Ob er sich in Zivil unter die Massen mischte? Jetzt erst wurde ihm wirklich bewusst, dass Klaus sich durchaus in Gefahr befand.

»Sie beide habe ich aus einem anderen Grund zu mir bestellt. Im Zusammenhang der Proteste kam es gestern unter anderem auf der Hamburger Straße zur Erstürmung der Betriebsgelände des VEB Schreibmaschinenwerke Dresden und des VEB Rohrisolation Dresden. Es wurde in Betriebsgebäude eingebrochen. Sie haben Maschinen zerstört, Brände gelegt und Inventar entwendet. Betriebsangehörige wurden gewalttätig angegriffen, Gewerkschaftsfunktionäre und Parteigenossen.« Appelt musste sich kurz sammeln, bevor er fortfuhr. »In der Nacht meldete dann die Frau des Betriebsleiters des VEB RID, Ingeborg Baumgart, ihren Mann als vermisst. Nach intensiver Suche fand man ihn vor etwa einer Stunde im Lager seines Betriebes. Tot. Außerdem wird, ebenfalls seit gestern, der Funktionär der Betriebsparteiorganisation, Genosse Gerd Kruppa, vermisst. Sie beiden werden sich an Ort und Stelle begeben und der Sache nachgehen. Vor Ort wartet ein Offizier des Ministeriums für Staatssicherheit, Genosse Hermann Bech. Wir gehen zurzeit von einem Lynchmord aus. Ihre Aufgabe ist es, der Staatsanwaltschaft Indizien für eine Anklage zu liefern. Der Bevölkerung der DDR muss vor Augen gehalten werden, welcher Art die Proteste wirklich sind, mit denen gerade versucht wird, unser Land ins Chaos zu stürzen. Wir müssen deutlich machen, wie diese Aktionen von westlicher Hand initiiert und gelenkt sind, dass wir es mit Mördern und Halsabschneidern zu tun haben. Die nötigen Informationen wird Ihnen Frau Schindler aushändigen.« Appelt erhob sich, hob die Faust neben dem Kopf. »Rot Front!«

 

»Auch noch einer aus dem Rote Frontkämpferbund«, murmelte Oldenbusch auf dem Gang. »Von Honecker und Mielke sagte man ja auch, sie seien Rotfrontkämpfer gewesen.«

Heller erwiderte nichts, bis sie ausreichend Abstand hatten und sich im Treppenhaus befanden. Sie liefen langsam nebeneinander her, Heller bestimmte das Tempo. Noch weigerte er sich, einen Stock zu benutzen, doch der Zustand seines rechten Knöchels hatte sich auffallend verschlechtert. Bald würde er ohne Unterstützung nicht mehr auftreten können.

»Niesbach kämpfte in Spanien, vermutlich war der auch beim RFB, aber das hat dich bis jetzt auch nicht gestört«, sagte Heller leise.

»Der hat mich auch nie mit der erhobenen Faust konfrontiert.« Oldenbusch warf Heller einen kurzen Blick zu und beließ es bei dem Thema. »Was nur mit Niesbach ist? Haben sie den abgesägt? Von einem Tag auf den anderen? Der sah schon länger so weiß im Gesicht aus, als wüsste er, das was passieren wird!«

»Was soll er denn gewusst haben, Werner?«, flüsterte Heller und verstummte einen Moment, weil ihnen Leute entgegenkamen. »Die Sache hat sich doch spontan entwickelt, seit diesem Kommuniqué vor sechs Tagen. Die Arbeiter hören nur neue Sprüche, alles soll besser werden. Aber keiner sagt, wie das gehen soll. Und was sie wirklich wollten, nämlich dass die Arbeitsnormen wieder gesenkt werden, davon ist nicht die Rede.« Wieder schwieg Heller, weil jemand an ihnen vorbeiging. Er grüßte mit einem Nicken. Immer mehr Leute waren jetzt um sie herum, deshalb schwiegen sie, bis sie im Innenhof standen, wo Oldenbusch den Wagen abgestellt hatte.

Auch hier herrschte Hochbetrieb, ständig hob und schloss sich die Schranke. Polizeifahrzeuge kamen herein, lieferten inhaftierte Männer und Frauen ab. Ein Lastwagen nach dem anderen fuhr an ihnen vorbei. Es war noch nicht einmal acht Uhr am Morgen. Einige der Inhaftierten trugen noch Schlafanzüge. Die Zellen in der Untersuchungshaftanstalt waren längst überbelegt.

»Eigentlich brauchen sie sich nicht zu wundern«, begann Oldenbusch, als sie im Wagen saßen und er den Motor angelassen hatte. »Die Zwangskollektivierung der Bauern, die Normsteigerungen für die Arbeiter, die Verschärfung der Steuerpolitik den privaten Unternehmern gegenüber. Weißt du, dass man denen die Lebensmittelkarten entzogen hat? Damit sind sie gezwungen, in den HO-Läden einzukaufen.«

In den HO-Geschäften waren die Preise in den letzten Jahren stetig angestiegen. Die Entprivatisierung hatte Zehntausende die Existenz gekostet. Allein im letzten Jahr hatte sich die Zahl der Republikflüchtlinge zum Vorjahr verdreifacht, wusste Heller. Das Land blutete aus.

»Noch dazu die unleidigen Stromsperren. Und immer sind die Regale leer!«

»Werner, wem erzählst du das«, sagte Heller leise.

Daraufhin schwieg Oldenbusch betroffen.

»Fahr lieber den Umweg über die Marienbrücke«, schlug Heller vor. Oldenbusch folgte seinem Rat, und Heller merkte, wie er dabei doch immer wieder einen schnellen Blick zu ihm hinüberwarf.

»Das macht dir zu schaffen, nicht wahr, was Appelt gesagt hat«, fing Oldenbusch das Gespräch wieder an. »Dass es ein Lynchmord war.«

Heller zögerte nicht mit seiner Antwort. »Die Vorgaben von ganz oben sind schon gemacht. Ich frage mich, ob sich diese Geschichte in immer kürzeren Abständen wiederholt, nur immer unter anderem Namen. Die wollen ein Exempel statuieren, als ob nicht schon genügend Exempel statuiert worden sind. Unsere Gefängnisse waren schon vor dem gestrigen Tage voll. Weißt du, was aus dem Lehrer geworden ist, der letzten Winter beim Diebstahl von einem Dutzend Brikett erwischt wurde?«

»Acht Jahre Zuchthaus, wegen Sabotage und Schädigung der Volkswirtschaft«, murmelte Oldenbusch, als hätte er das Urteil gesprochen.

Heller war es nicht recht, dass er sich selbst zu diesem Gefühlsausbruch hatte hinreißen lassen, und beschloss daher, besser zu schweigen. Doch eines wusste er: Er würde sich nicht zum Handlanger dieser Willkür machen lassen.

 

Vom VEB Rohrisolation Dresden hatte Heller bisher noch nie etwas gehört. Er staunte über das große Areal, die verschiedenen Lagerhallen und Produktionsstätten. Auf dem gepflasterten Gelände standen überall verteilt große Behälter und Transportboxen. Eine dicke Fernwärmeleitung zog sich über das Grundstück, die an den Stellen, an denen die Laster fahren mussten, zu hohen Durchfahrten aufgerichtet war. Dort, wo sonst sicherlich an die hundert Leute arbeiteten, herrschte jetzt Stille und Leere. Doch es war sichtbar, dass etwas geschehen war. Watteartige weiße Flocken bewegten sich träge mit dem schwachen Wind über das Pflaster. Zwei der allgegenwärtigen großen Kampfplakate, für die extra Holzgerüste konstruiert werden mussten, lagen verkohlt am Boden, andere waren mit Dreck und Farbe beworfen. Auf einem stand Freiheit!, mit schwarzer Farbe geschrieben. In Nischen und an den Materialstapeln hatten sich Papierfetzen und Blätter gesammelt wie Laub. Pakete mit fertigen Isolierrohren waren aufgerissen, der Inhalt auf dem Boden verstreut, unbrauchbar gemacht. Größere Behälter waren ausgebrannt, längst ausgekühlt, doch noch immer lag der Geruch verschmorter Plaste über allem. Heller bückte sich nach einer der Flocken, hob sie auf, ließ sie aber gleich wieder fallen.

»Glaswolle«, kommentierte er und wischte sich die Finger an seiner Hose ab.

»Da kommt jemand«, brummte Oldenbusch und deutete mit dem Kinn auf einen Mann, der aus einiger Entfernung auf sie zusteuerte. »Bestimmt dieser Blech!«

»Bech!«, korrigierte Heller automatisch, sah dem Mann entgegen, bewegte sich aber nicht vom Fleck.

»Hat deine Frau etwas erzählt, blieb ihr Geschäft unbehelligt?«, fragte er Oldenbusch, um nicht schweigend herumzustehen und abzuwarten, bis der Mann bei ihnen angelangt war.

»Ihr Verkaufsstellenleiter hatte vorsorglich schließen lassen. Ein Teil der Demonstranten war direkt vor ihnen vorbeimarschiert. Aber es ist nichts passiert, keine Plünderung, kein Angriff. Der Große hat erzählt, dass in der Schule manche sagen, Ulbricht sei verschwunden, dem Pieck hätten sie auf der Flucht die Beine abgeschossen und Grotewohl habe sich vergiftet.«

»So was habe ich schon vor zwei, drei Tagen mal gehört«, seufzte Heller. Er konnte wieder nur den Kopf schütteln über diese Gerüchteküche. Nur einmal würde er gerne dabei sein, wenn so ein Gerücht entstand, nur um mal zu sehen, wie es sich verbreitete. Und am Ende waren es dann doch der RIAS und die anderen Westsender, die gezielt solchen Unsinn verbreiteten. In deren Augen war es dem Bestreben des Westens sicherlich dienlich, mochte den Widerstand und den Freiheitswillen befeuern, was ihnen so nötig erschien, aber es war gleichzeitig unverantwortlich. Hier, auf dieser Seite, kostete so etwas buchstäblich Menschenleben.

»Die Genossen Heller und Oldenbusch?«, fragte der Mann, als er endlich vor ihnen stand.

Nun ging Heller ihm leicht humpelnd doch ein paar Schritte entgegen. Sein Fuß schmerzte.

»Hauptmann Bech«, stellte der Mann sich vor, reichte den Männern nacheinander die Hand. Heller registrierte, dass er etwas älter als sein Sohn sein musste, Mitte dreißig vielleicht, und er stand zwei Dienstgrade über Klaus. Klaus galt als Leutnant, seit man im letzten Jahr militärische Dienstgrade beim Ministerium für Staatssicherheit eingeführt hatte. Bech wirkte sportlich, durchtrainiert unter seinem Alltagsanzug, der Schlips locker gebunden, die Ärmel der Jacke sahen leicht zerknittert aus, als würde er sie häufig nach oben schieben. Seine Haare lagen sauber gescheitelt. Unter seinem linken Jochbein war eine leichte Schwellung zu erkennen. Er machte den Eindruck, als ginge er keiner Handgreiflichkeit aus dem Weg. Schneidig sah er aus. Das war das Wort, das Heller beim Anblick des Mannes in den Sinn kam. So hätte man zumindest früher gesagt. Bestimmt kannten Klaus und er sich.

»Wir müssen in dieses Gebäude.« Bech deutete hinter Heller. »Ich war nur bei den Werkstätten, um nach dem Rechten zu sehen. Der Leichenfundort wird von einigen Genossen der KVP gesichert.«

»Das ganze Gelände, soweit ich sehe«, bemerkte Heller. Die Tore und die Türen des Verwaltungsgebäudes waren mit bewaffneten Polizisten besetzt.

Bech überhörte Hellers leisen Vorwurf. »Fassen Sie bloß nichts unnötig an, rate ich Ihnen. Das Zeug juckt wie die Pest. Tagelang.«

Heller und Oldenbusch folgten Bech zu dem auf der anderen Seite liegenden Gebäude. Es war eine Lagerhalle, ähnlich den anderen Hallen auf dem Gelände, ein Bau, der so provisorisch wirkte wie viele Nachkriegsgebäude. Zweckdienlich, hoch, in seiner Gestaltung den Baumaterialien angepasst, die zur Verfügung standen, teils aus Ziegel, teils aus Blech und Asbest.

Aus einer Tür, dem Hintereingang der Halle, an der ebenfalls ein mit Maschinenpistole bewaffneter Polizist stand, trat ein Mann. Er war höchstens vierzig, lief aber leicht gebeugt, als leide er an Rückenschmerzen oder an einer verkrümmten Wirbelsäule. Er trug eine starke Brille, und sein Haar war bereits dünn geworden, notdürftig über die lichten Stellen auf seinem Kopf gekämmt. Er trug ein Hemd und darüber einen Westover. Ganz offensichtlich fühlte er sich unwohl und wusste nicht, wohin mit seinen Händen, steckte sie in die Hosentasche, nahm sie wieder hervor, verschränkte sie auf dem Rücken, dann vor der Brust.

»Das ist Genosse Reimann, Eduard Reimann. Er ist Direktor der Buchhaltungsabteilung«, stellte Bech den Mann vor.

Heller nickte ihm zu. Reimann nickte freundlich zurück, wirkte aber unruhig, zerfahren. Hinter dem dicken Glas seiner Brille sahen seine Augen feucht aus. Angegriffen von der Glaswolle oder von seinen Gefühlen, fragte sich Heller unwillkürlich.

»Haben Sie den Toten gefunden?«, sprach Heller den Mann an.

»Nein, einer der Lagerarbeiter. Er kam auf die Idee, mit Stangen in die Behälter zu stechen.«

»In die Behälter zu stechen?« Heller konnte sich kein Bild davon machen.

»Ich zeige es Ihnen gleich.«

»Der Mann, der ihn fand, wie heißt der?«

»Walter Steffens.«

Heller notierte sich den Namen und deutete Reimann an, voranzugehen. Sie gingen durch die Tür und fanden sich in einer großen zugigen Halle wieder. In langen Reihen, auf stählernen Untergestellen, in zwei Etagen übereinandergestapelt, standen auf stählernen Gestellen mannshohe schwere Pappbehälter, deren Kanten gefalzt und geklammert waren. Heller stellte sich auf die Zehenspitzen, um in einen von ihnen hineinzublicken. Er war bis oben gefüllt mit Glaswolle.

Als Heller sich zu Oldenbusch umdrehte, sah er in einem schmalen Lichtkegel, der durch ein Loch in der Blechfassade fiel, Millionen winziger Glasfasern in der Luft tanzen. Unwillkürlich hielt er den Atem an, musste aber natürlich nach wenigen Sekunden wieder Luft holen. Er überlegte kurz, ob er sich den Jackenkragen vor Mund und Nase halten sollte. Doch was würde das für einen Eindruck machen auf die Männer? Keiner von den anderen Anwesenden schien auch nur einen Gedanken an die Fasern zu verschwenden.

»Gibt es keine Masken?«, fragte er dann doch. Schon der Anblick der Fasern hatte ein Kratzen in seinem Hals verursacht.

»Die Arbeiter haben welche, benutzen sie aber ungern. Sie sind sehr eng und man schwitzt schnell«, erklärte Reimann. »Aber es ist weniger schlimm als man denkt, man gewöhnt sich schnell daran.«

Heller ließ es darauf beruhen, aber ihm war nicht wohl bei dem Gedanken. Er wollte hier möglichst schnell wieder raus.

»Der Tote?«, fragte er, und Reimanns Gesicht entgleiste für einen kurzen Augenblick. Er deutete auf den anderen Teil der Halle, wo sich die Tore befanden, in welche die Laster einfuhren.

»Geh schon mal mit, Werner!«, ordnete Heller an, denn Bech hatte ihm ein Zeichen gemacht, dass er ihn zu sprechen wünschte.

Bech gab sich sehr wichtig. »Heller, dieser Reimann ist auf unserer Seite. Er soll uns später zur Hand gehen, Namenslisten aufstellen und anderweitig durch den Betrieb führen. Gestern hat man ihm übel mitgespielt. Er hat uns schon bei der Identifizierung einiger Rädelsführer des Streiks geholfen.«

»Sind wir hier wegen eines Toten oder wegen des Streiks?«, fragte Heller.

»Wegen des Mordes, natürlich!«

»Noch wissen wir nicht, ob es Mord war.«

 

Man hatte neben einem der großen Behälter einen Stuhl aufgestellt, mitten hinein in die lose Glaswolle. Auf dem Stuhl stand Oldenbusch. Als er Heller herankommen sah, warf er ihm einen bedeutsamen Blick zu. In dem Augenblick kam Reimann, der einen zweiten Stuhl geholt hatte, um ihn neben dem anderen zu platzieren. Nun stieg Heller auf die hölzerne Sitzfläche des Stuhls neben Oldenbusch, um ebenfalls einen Blick in den Behälter zu werfen. Etwa die Hälfte des Inhalts hatte man aus dem Behälter geschaufelt und einfach auf den gepflasterten Boden geworfen. Inmitten der restlichen Glaswolle lag ein Mann. Er war mit Hose und kurzärmeligem Hemd bekleidet, der Schlips war fest um den Hals gezurrt. Er hatte ein ähnliches Alter wie Reimann, um die vierzig, schätzte Heller. Er schien groß zu sein, seine Arme wirkten muskulös, als hätte er Sport mit Gewichten betrieben. Man konnte meinen, er habe es sich in dem weichen Wattebett gemütlich gemacht, dachte Heller, wären da nicht die freien Hautflächen, gerötet und gereizt von Millionen mikroskopischen Nadelstichen, und die verstopften Ohren, Nasenlöcher und Augen, in denen die Glaswolle klebte, und vor allem der Mund, aus dem die Flocken quollen.

Heller wusste nicht, ob sich wirklich jemand die Mühe gemacht und nach Lebenszeichen an dem Mann gesucht hatte. Vielleicht hätte man ihn noch herausholen und retten können. Jetzt aber war er tot, daran gab es keinen Zweifel. Die Finger waren verkrampft und hatten Kratzspuren an den festen Pappwänden des Behälters hinterlassen. Im letzten Todeskampf hatte der Mann wohl noch versucht, sich mit den Fingern die Glasfasern aus dem Mund zu klauben, hatte sich den Hemdkragen zerrissen beim verzweifelten Versuch, Luft zu bekommen. Womöglich hatte er sich selbst dabei versehentlich mit dem Schlips stranguliert.

Heller nahm die Hand vom Behälterrand, rieb sich die Finger in der Handfläche, fühlte das Stechen und Jucken, fühlte es am Halskragen und an den Ärmelbünden. Nur um ganz sicher zu sein, langte er nach dem Handgelenk des Opfers, fühlte die Kälte und die beginnende Totenstarre. Der Mann war also spätestens in der Nacht gestorben, vielleicht schon im Laufe des vorherigen Tages.

»Ich muss hier baldmöglichst raus«, murmelte er. Kaum vorstellbar, dass man sich daran gewöhnen konnte. Bestimmt gab es Schutzkleidung, Handschuhe, Mundschutz, Brillen. Doch die Fasern waren allgegenwärtig flirrten durch die Luft, setzten sich an jedem Schweißtropfen fest, bohrten sich in die Hautporen.

»Stell dir nur vor, Max, du bekommst das Zeug in den Hals gestopft.« Oldenbusch schauderte und sprang von seinem Stuhl herunter.

Heller stieg vorsichtig hinunter, stützte sich dabei mit einer Hand auf Oldenbuschs Schulter ab.

»Der Mann muss zu Doktor Kassner.«

»Wer ist das?«, fragte Bech umgehend.

»Er arbeitet im pathologischen Institut des Krankenhauses Friedrichstadt unter Doktor Scheid und hat sich in den letzten Jahren als Rechtsmediziner einen Namen gemacht. Ich plädiere schon seit Jahren dafür, dass er ausschließlich für die Belange der Kriminalpolizei zuständig ist, leider vergeblich.«

»Müssen wir den Mann denn noch untersuchen lassen?«, fragte Bech. Heller zögerte einen Moment, ehe er antwortete.

»Ich denke, wenn Sie im Institut auf die Priorität dieses Falles hinweisen, wird Kassner den Leichnam umgehend in Augenschein nehmen und bei Bedarf obduzieren. Dann haben wir einen gesicherten Bericht in wenigen Stunden.«

»Also gut«, meinte Bech, »holen wir ihn da raus.« Im nächsten Moment pfiff er laut und winkte zwei Beamte der kasernierten Volkspolizei herbei. Er gab ihnen Anweisungen, und Heller sah schweigend zu, wie sie sich, auf den Stühlen stehend, abmühten, den Leichnam aus dem Behälter zu heben. Zwar gelang es ihnen, den toten Körper zu bewegen, jedoch nicht, ihn über den Rand zu heben. Erschöpft gaben sie nach einigen Versuchen auf. Heller drehte sich zu Oldenbusch um, der entnervt die Augen verdrehte.

»Und wenn wir den Zuber einfach kippen?«, fragte einer der jungen Uniformierten. Bech war das egal. Heller wollte schon einschreiten, da hob Reimann die Hand. Er sah unglücklich und leidend aus, seine Finger zitterten. »Wollen wir ihn mit dem Kran herausheben?«, fragte er leise und zeigte dann auf einen Laufkran, dessen Schiene an einem der Querträger des Daches entlanglief. »Ich hole einen Hubkarren.«

Bech nickte, und Reimann ging mit hängenden Schultern los, um aus einer hinteren Ecke einen Hubwagen zu holen. Mit großer Mühe zerrte er den Wagen heran. Dessen Räder quietschten und ratterten über das Pflaster, die Hebelstange war leicht verbogen, doch die Hydraulik schien noch zu funktionieren. Oskar Krieger GmbH las Heller auf einer Plakette.

»Der ist ja uralt!«, bemerkte er, langte aber helfend nach dem Griff.

»Martins Vater hat ihn aus den Trümmern unserer alten Firma gezogen.«

»Martin?«, fragte Heller. Reimann nickte und deutete auf den Glaswollebehälter, in dem der Tote lag.

»Sie waren befreundet?«

»Im Prinzip waren wir wie Geschwister«, sagte Reimann und schob sich die Brille die Nase hoch.

»Wir sprechen noch«, bestimmte Heller und beobachtete Reimann, wie dieser die Gabel des Hubwagens zwischen die Stahlfüße unter dem Behälter schob und mit pumpenden Bewegungen der Deichsel versuchte, sie anzuheben.

»Ich schaffe das nicht«, sagte er nach wenigen Sekunden und gab auf. »Hab es mit dem Rücken, schon immer.«

Nun griffen die Polizisten zu und hoben den Behälter so weit an, dass man den Wagen bis unter die Kranschiene ziehen konnte. Reimann lief unterdessen zu dem Bedienelement und betätigte die Hebel, woraufhin die Laufkatze sich in Bewegung setzte. Über dem Behälter ließ er den Haken hinunter. Einer der Polizisten stieg in den Pappcontainer, machte ein Seil an dem Toten fest und hakte es ein.

»Hoch!«, rief er.

Heller hatte schon einige Male beobachtet, wie man aus den Trümmern der barocken Gebäude Dresdens Skulpturen geborgen hatte. Welche Mühe man sich machte, die steinernen Putten, Heiligen und Könige aus dem Schutt zu befreien, wie sie, manchmal grotesk verstümmelt, ohne Arme, Beine, Flügel oder Köpfe in die Luft schwebten, auf die Ladeflächen der Laster, mit denen sie weggebracht und irgendwo gelagert wurden, bis man es sich vielleicht irgendwann leisten konnte, die alten Gebäude wieder aufzubauen. Sofern es jemals dazu kam, denn die Regierenden gingen wenig zimperlich mit dem Erbe um. Sie sprengten lieber, um Platz zu schaffen, ließen zerfallen, was hätte gerettet werden können. Und genauso wie die barocken Figuren an den Flaschenzügen der Bauarbeiter, erhob sich nun Baumgarts Leichnam in die Höhe, grotesk verrenkt, starr. Reimann ließ die Laufkatze ein Stück zurückfahren und senkte den Haken dann ab, bis der Tote den Boden berührte und auf dem Rücken abgelegt wurde.

Heller bückte sich, zog sich einen Handschuh über und begann dem Toten das Gesicht abzuwischen Die Augen des Toten waren völlig verklebt von den Glasfasern, waren gerötet, zerstochen, so wie das ganze Gesicht. Heller entfernte so viele Fasern wir nur möglich. Auch die Haare hatte die Wolle verfilzt, die Ohren- und Nasenlöcher verstopft. Heller zögerte kurz und begann dann, die Glaswolle aus Baumgarts Mund zu entfernen. Der Kiefer des Toten war gerade so weit geöffnet, dass ein Finger hineinpasste. Reimann, der herangekommen war, stöhnte auf und wich langsam wieder zurück. Auch Bech hatte ein wenig von seinem Schneid verloren. Selbst die zwei Uniformierten, die den Toten gerade noch an Händen und Füßen gepackt hatten, wurden ganz still. Die Menge Wolle, die Heller aus der Mundhöhle des Toten herauszog, schien schier unerschöpflich zu sein.

»Taschenlampe!«, befahl Heller, und Oldenbusch hielt sie schon parat. Heller leuchtete in Baumgarts Mund. Oldenbusch beugte sich interessiert hinunter, und Heller machte ihm Platz.

»Das war kein Unfall, den hat jemand gestopft wie eine Mastgans«, flüsterte Oldenbusch. Doch in der Stille hatte selbst Reimann, der zehn Meter entfernt stand, die Worte verstanden und rannte jetzt würgend aus der Halle

Heller stieß Oldenbusch tadelnd gegen den Arm. Dass dem Mann solche Kommentare einfach nicht auszutreiben waren. Trotzdem verband ihn eine inzwischen recht lange Freundschaft mit Werner Oldenbusch. Allerdings nicht auf diese enge Weise, dafür war ihr Altersunterschied zu groß. Zehn, zwölf Jahre deutsche Geschichte hatte Heller erlebt, die Oldenbusch fehlten, was ihn manches nicht verstehen ließ. Zum Beispiel, warum sich Heller nach wie vor vehement gegen den Parteieintritt wehrte, selbst jetzt noch, da er bei Beförderungen zweimal übergangen worden war. Oldenbusch war längst zum Oberkommissar ernannt worden und stand damit dienstlich auf derselben Stufe wie Heller.

Jetzt hatte Oldenbusch etwas an der Leiche entdeckt, das auch Heller schon aufgefallen war. Die Ecken der Schneidezähne des Opfers waren abgebrochen. Heller richtete sich auf und verzog dabei das Gesicht, weil er zu viel Gewicht auf seinen rechten Fuß gelegt hatte.

»Hauptmann Bech, bringen Sie den Leichnam zu Kassner. Genosse Oldenbusch wird Sie begleiten, die Herren kennen sich gut. Ich bleibe hier, nehme Zeugenaussagen auf.«

»Wollen Sie mich loswerden?«, fragte Bech sehr direkt. Er war so groß wie Heller und sah ihm unverwandt und ohne zu blinzeln in die Augen.

Heller erkannte Ehrgeiz und Streitlust in ihnen, versteckt unter aufgesetzter Zuversicht.

»Ich fürchte nur, Ihr Beisein schüchtert die Leute hier ein«, antwortete er etwas lahm.

»Keine falsche Rücksicht«, mahnte Bech und ging, ohne weiter zu diskutieren. »Bringen Sie mal die Trage hierher!«, wies er einen der KVPs noch an. »Dann raus auf den Laster mit ihm.«

Doch dann ging er noch einmal zu Heller zurück. »Reimann hat eine Liste sämtlicher Mitarbeiter. Versuchen Sie mit ihm herauszufinden, wer gestern hier war, wer gearbeitet hat und wer in den Streik getreten ist. Das ist viel, aber es ist machbar. Einige Männer der Belegschaft sind seit gestern in Haft und bleiben es auch. Ich lasse sie Ihnen zuführen. Mal sehen, ob sich jemand an etwas erinnern kann.«

Heller erwiderte nichts. Es blieb ihm sowieso keine andere Wahl, denn er musste die Alibis des gesamten Kaders prüfen.

»Und warum soll ich mit?«, fragte Oldenbusch leise, nachdem Bech sich einige Schritte entfernt hatte.

»Kassner soll nach den abgebrochenen Zahnstücken suchen. Ich will nur sicher sein, dass die Zähne nicht vorher schon kaputt waren. Wenn ihm jemand die Glaswolle in den Rachen gerammt hat, müssten die Bruchstücke im Hals stecken.« Heller hob den Kopf und sah sich um. »Niemand fasst irgendwelche Besenstiele an oder sonst irgendetwas. Dieser Steffens, ist der noch da?«

Bech, der am Tor stehen geblieben war, um auf Oldenbusch zu warten, meldete sich wieder zu Wort. »Alle, die in der Nacht und heute Morgen auf dem Gelände waren, um Baumgart zu suchen, sind im Verwaltungstrakt. Es gibt da einen Aufenthaltsraum. Auf dem Hof hinten haben sich inzwischen auch ein paar Leute versammelt. Ich weiß noch nicht, ob sie von der Belegschaft sind oder von dem Schreibmaschinenwerk nebenan. Vielleicht weder noch. Ich habe Verstärkung angefordert. Sie bleiben hier, Heller. Ich komme wieder.«

18. Juni 1953, früher Vormittag

Es schien eine gewisse Dissonanz zu herrschen zwischen den Verwaltungsangestellten in Zivil und den Arbeitern, die sich gemeinsam im großen Frühstücksraum aufhielten. Sie hatten sich getrennt voneinander hingesetzt. Doch auch unter den Arbeitern war die Stimmung gemischt. Mürrisch schienen die einen zu sein, aufgeregt die anderen, manche wirkten zurückhaltend. Es waren etwa dreißig Leute, auch Frauen unter ihnen. Einige rauchten. Andere aßen Stullen und tranken Muckefuck. Richtigen Kaffee hatte Heller nicht gerochen. Am Tisch der Verwaltungsleute befanden sich zwei Frauen, die leise, aber unaufhörlich weinten. In einem Punkt schienen sich alle einig zu sein: Alle bereuten es, hier zu sein.

Heller stand am Fenster und wartete auf Reimann. Vom ersten Obergeschoss blickte er hinunter auf den Lagerplatz, wo Wracks mehrerer ausgebrannter Fahrzeuge standen. Draußen hatte sich schon wieder eine ganze Anzahl Männer versammelt. Bestimmt mehr als es Angestellte in diesem Betrieb gab. Die Hände in den Taschen warteten sie, sprachen kaum, rauchten. Weder Transparente noch Schilder hatten sie dabei und wussten anscheinend nicht, ob sie arbeiten oder streiken sollten. Es fehlte ihnen ein Anführer. Ein Furchtloser, ein Held oder Märtyrer würden die einen sagen, ein Einpeitscher und Hetzer die anderen.

Immer schien sich alles zu wiederholen, dachte sich Heller.

Es juckte ihn, buchstäblich, im Hemdkragen, auf dem Rücken, an den Händen, zwischen den Fingern. Seine Augen brannten. Bestimmt war ein Teil davon nur Einbildung, doch er hatte die Fasern in der Luft fliegen sehen. Bestimmt war hier alles voll davon. Was für ein qualvoller Tod musste es gewesen sein, versunken in diesem Behälter mikroskopisch kleiner Glasnadeln, die Lunge voll davon, der Hals, die Augen. Man konnte Baumgart nur wünschen, dass er schon tot gewesen war oder wenigstens bewusstlos.

Heller rieb sich die Schultern im Jackett. Endlich erschien der Buchhalter, unter dem Arm einen Ordner. Einige der Arbeiter gaben bei Reimanns Anblick abschätzige Geräusche von sich. Reimann tat, als würde er das nicht bemerken.

»Wir können«, sagte er zu Heller.

»Gehen wir nach nebenan!«

Heller durchquerte den großen Raum und spürte die Blicke der Anwesenden auf sich gerichtet. Zehn bewaffnete Uniformierte waren inzwischen auf dem Gelände, einer stand unten im Erdgeschoss an der Tür. Heller glaubte sich nicht in Gefahr. Er hatte absichtlich in diesem Raum gewartet, hatte sich als Kriminalpolizist vorgestellt, der den Tod des Betriebsleiters aufklären sollte, wollte ihnen zu verstehen geben, dass sie in einem Boot saßen.

 

Langsam durchquerten sie den langen Gang, vorbei an Brandflecken auf dem Boden, an eingetretenen Türen, durch die Heller verwüstete Zimmer sehen konnte, an umgeworfenen Schränken und überall verteiltem Papier. In einem Büro weiter hinten, außer Hörweite der Angestellten, setzten sie sich. Reimann an den Schreibtisch, Heller auf einen gepolsterten Stuhl seitlich davon.

»Ist das Ihr Büro?«, fragte Heller und betrachtete die Wimpel von SED, FDGB und FDJ, eine kleine Fahne der DDR und eine der UdSSR auf dem Schreibtisch, einige Fotos an der Wand: Pieck, Grotewohl, Stalin mit Trauerflor.

War Hitlers Tod vielen nicht einmal mehr ein Schulterzucken wert gewesen, so hatte Stalins Tod manchem entsetzt den Atem stocken lassen, bei anderen wiederum Hoffnungen geweckt. Sie sollten sich alle getäuscht haben. Denn hatte man bis dahin geglaubt, die Regierung der DDR agierte unter der Knute Stalins, war in den letzten Monaten offenkundig geworden, dass sie stellenweise eine noch viel härtere Gangart als die Sowjets an den Tag legte. Das eilige Zurückrudern in den letzten Tagen, in denen der Aufstand eskaliert war, schien vielen der reinste Hohn.

In diesem Zimmer war jedenfalls nicht gewütet worden, stellte Heller fest.

»Das ist Kruppas Büro«, sagte Reimann, »der ist Parteifunktionär.«

»Seit wann genau ist Herr Kruppa überfällig?«

»Gestern Nachmittag sah man ihn zum letzten Mal.« Reimann nahm die Brille ab, legte sie auf den Tisch, rieb sich die Nasenwurzel. »Darf ich …?«, fragte er und verstummte gleich wieder.

Heller wusste nicht, worauf diese Frage hinauslaufen sollte und schwieg.

»Darf ich offen reden?«, fragte Reimann leise.

»Jederzeit.«

»Es musste so weit kommen«, sagte Reimann fast flüsternd. »Ich frage mich, wie blind und taub man eigentlich sein kann. Wir selbst, Martin und ich, sprechen seit Jahren schon bei Parteisitzungen die Probleme der Arbeiter an, die Versorgungsnot, die Verteuerung der Lebensmittel. Niemand wollte das hören! Es wurden immer nur die neuen Beschlüsse nach unten weitergegeben. Von unseren Zulieferern wussten wir, dass die Transportunternehmen zwangsverstaatlicht wurden. Nicht offiziell, aber man verteuerte ihnen den Treibstoff oder wies ihnen zu wenig zu. Und nach den neuen Steuergesetzen blieb ihnen kaum noch Gewinn. Den Besitzer von Voss-Transporte haben sie sogar eingesperrt, wegen Veruntreuung und Bereicherung. Das sollte eine Abschreckung sein. Und uns sehen die Arbeiter an, als seien wir daran schuld!«

»Sie und Baumgart?«

»Ja, wir waren dann auch diejenigen, die den Leuten die Normerhöhungen beibringen mussten. Kruppa war da nicht sehr hilfreich.«

»Kruppa ist der Leiter der Betriebsparteiorganisation?«

»Ja, eigentlich ist er ja Ingenieur, aber mit der Parteiarbeit ist er vollkommen ausgelastet.«

»Wie stehen die Leute zu ihm?«

»Er ist nicht sehr beliebt. Sämtliche freiwillige Arbeitseinsätze sind von ihm initiiert. Es vergeht kaum eine Woche ohne Sitzungen oder Parteiveranstaltungen. Letztlich entscheidet er über Einstellung, Entlassung und Urlaub. Angeblich war er es, der beim Rat des Bezirkes vorgeschlagen hat, Lohnkürzungen vorzunehmen, weil die Normen wiederholt nicht erfüllt werden konnten. Zehn Prozent mussten wir den Leuten abziehen. Zweiunddreißig Mark. Sie können sich denken, dass die nicht gerade begeistert waren.«

»Wir müssen also mit einem zweiten Toten rechnen?« Heller sah Reimann unverwandt an.

Reimann setzte die Brille wieder auf. »Ich weiß es nicht. Auf dem Gelände kann er eigentlich nicht mehr sein. Wir haben alles abgesucht. Alles. Daheim ist er aber auch nicht. Möglich, dass er geflohen ist.«

»In den Westen?«

»Nein, das glaube ich nicht. Er versteckt sich vielleicht und wartet ab, wie sich die Lage entwickelt. Es war nicht ungefährlich gestern. Da waren einige dabei, denen hätte ich alles zugetraut.«

»Von Ihrer Belegschaft?«

»Nein, das waren Fremde …« Reimann sah zum Fenster, in ihm arbeitete es »… aber auch von unseren Leuten waren welche dabei.«

»Tat sich jemand besonders hervor?«

Reimann nickte, und ohne, dass Heller ihn dazu aufgefordert hatte, erhob er sich und brachte ihm ein Blatt, auf dem einige Namen standen. Dann setzte er sich wieder.

Heller las die Namen, legte den Zettel dann vor sich auf den Tisch und tat Notizbuch und Stift dazu. Er versuchte das unerträgliche Jucken zu ignorieren. Doch es wurde schlimmer mit jedem Mal, wenn er daran dachte.

»Herr Reimann, beginnen wir von vorn. Berichten Sie mir, was gestern hier auf dem Gelände geschah.«

Reimann zuckte mit den Schultern. »Eigentlich ist das schnell erzählt. Zuerst lief der Betrieb ganz normal, wie jeden Morgen. Man spürte zwar, dass es in den Leuten gärte, aber das tat es schon lange. Einige wussten, dass es in Berlin und anderswo schon Streiks gegeben hatte. Aber zur Frühstückszeit erfuhr jemand, dass es im Sachsenwerk eine spontane Versammlung gegeben hatte. Von den Sachsenwerkern waren wohl einige als Delegierte in Berlin gewesen und hatten die Proteste dort gesehen. Gegen neun, halb zehn kam eine Gruppe Arbeiter aus der Schreibmaschine zu uns rüber. Mitten hinein in die Produktion und begannen zu diskutieren. Manche wollten zu den Sachsenwerkern rüber, man hatte gehört, sie wollten losmarschieren. Einigen war das zu weit, sie fürchteten, zu wenige zu sein, und hatten Sorge, die Sowjets würden sie unterwegs zusammenschießen. So versammelten sie sich hier, und es wurden immer mehr. Martin und ich saßen im Büro und überlegten, was zu tun sei.« Reimann hielt jetzt inne, aber Heller machte umgehend eine auffordernde Handbewegung, damit er weitersprach.

»Kruppa rief im Rathaus an und forderte bewaffnete Polizei. Er weigerte sich, mit den Leuten zu reden, auch als man ihn seitens der Partei dazu aufforderte. Also gingen wir hinüber, Martin und ich.« Reimann unterbrach wieder. Stockend sprach er weiter.

»Wir versuchten die Leute zu beruhigen. Wir sagten ihnen, dass wir auf ihrer Seite stünden, aber man ließ uns kaum zu Wort kommen. Ein paar von den Männern waren entschlossen zu handeln, und aus der Menge rief sogar jemand, man solle uns aufhängen. Wir gingen weg. Also … wir sind nicht geflohen, falls Sie das denken.« Reimann sah Heller an. »Wir haben uns einfach zurückgezogen, unsere beiden Sekretärinnen haben wir heimgeschickt. Kruppa war dann weg. Er kam erst viel später noch einmal, nachmittags. Ich weiß nicht, wo er gewesen ist, aber ich glaube, er hat sich versteckt gehalten.«

Heller sah Reimann wieder auffordernd an. »Und dann? Was geschah dann?«

»Die Stimmung heizte sich immer mehr auf, spätestens als vorn an der Hamburger zwei Laster der KVP hielten. Martins Auto wurde zertrümmert, mit Hämmern und Eisenstangen, Kruppas Wagen haben sie umgekippt. Dann gingen sie auf die Straße, den Polizisten entgegen, wollten mit denen reden. Das war wohl schon Mittag. Dann hieß es auf einmal, dass ein oder zwei große Demonstrationen auf dem Weg in die Stadt waren. Also sind die meisten los. Martin und ich sind gleich rüber in die Produktionshalle. Da hatten sie ein paar Maschinen zerschlagen, sonst aber nichts.«

Reimann fuhr sich über das Gesicht, als müsse er seinem Erinnerungsvermögen auf die Sprünge helfen. »Nach ein, zwei Stunden kamen die Leute wieder. Und da waren noch mehr dabei, keine Ahnung, die hatten sich denen angeschlossen. Es hieß, jemand sei erschossen worden. Das stimmt wohl nicht, aber die Leute haben es geglaubt und waren wütend und haben uns hier belagert. Ein paar Scheiben wurden eingeworfen und sie drohten uns, das Haus anzuzünden. Sie waren auch drüben im Schreibmaschinenwerk. Kamen wieder zurück. Viele Jugendliche waren dabei. Manche noch Kinder, die haben sich da eine Gaudi daraus gemacht. Martin sagte am frühen Abend, er müsse heim, und ich habe ihn noch gefragt, wie er nach Hause kommen wolle, sein Auto war ja zerstört, aber er meinte, das werde schon irgendwie gehen. Ich wollte hierbleiben und nach dem Rechten schauen. Ich war ja nicht ganz allein.«

»Wann ging Baumgart?« Heller juckte es mittlerweile am ganzen Körper und es bedurfte seiner gesamten Beherrschung, um sich nicht überall zu kratzen. Wie sollte er das bis zum Abend aushalten, ohne sich die Kleider vom Leib zu reißen? Ob das den Leuten hier gar nichts mehr ausmachte? Entwickelte man eine Resistenz, wenn man jahrelang mit diesem Werkstoff arbeitete? Was geschah mit den Fasern in der Lunge, wenn man sie einatmete?

»Noch einmal, bitte«, bat er Reimann, der schon geantwortet hatte. Er musste sich konzentrieren.

»Gegen sechs am Abend.«

»Und das war das letzte Mal, dass Sie ihn gesehen haben?«

Reimann nickte.

»Und als er ging, wie war da die Lage?«

»Es war viel los auf dem Hof, da waren viele verschiedene Leute.«

»Was meinen Sie, ist geschehen?«