Über das Buch

Wien in den 1930er Jahren. »Die Gelbe Straße« ist die Straße der Lederhändler und ein Kosmos der jüdischen Welt: Die Trafik, an der es Tabak und Tratsch gibt, das Kaffeehaus, in dem die Männer die »Weiber fangen«, die Seifenhandlung und das Waisenhaus. Mit zärtlicher Anteilnahme und bissigem Spott beschreibt Veza Canetti eine untergehende Welt am Vorabend der großen Katastrophe.

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Veza Canetti

Die Gelbe Straße

Roman

Mit einem Vorwort von Elias Canetti und einem Nachwort von Helmut Göbel

Carl Hanser Verlag

Elias Canetti
Veza

Die Bücher, die ich bis zum Jahre 1980 schrieb, mit einer einzigen Ausnahme, sind Veza gewidmet. Zu ihren Lebzeiten, als es noch wenige waren, hätte sie das nicht geduldet. Sie starb 1963, und ich holte nach, was sie verhindert hätte. Alles Frühere, das wieder erschien, alles Neue, auch Übersetzungen in fremde Sprachen, tragen vorne ihren Namen. Ich wollte damit das überwältigende Maß an Dankbarkeit ausdrücken, das ich ihr schulde.

Mit zwanzig, als ich sie kennenlernte, war ich in einem häuslichen Kampf begriffen, der mich an den Rand des Wahnsinns brachte. Ohne sich selbst zur parteiischen Kämpferin in diesem Zwist zu degradieren, hat sie mich durch ihr bloßes Dasein daraus errettet. Um der hitzig abgründigen Gespräche willen, die wir führten, nahm sie die schlechten Gedichte ernst, die ich ihr während einiger Jahre brachte. Sie wußte es besser und nahm sie doch ernst, so sicher war sie, daß anderes nachkommen würde. Als es dann kam, erschrak sie, denn es drohte uns zu zerstören: sie, mich selbst, unsere Liebe, unsere Hoffnung. Um sich nicht aufzugeben, begann sie selber zu schreiben, und um die Geste des großen Vorhabens, die ich brauchte, nicht zu gefährden, behandelte sie ihr Eigenes, als wäre es nichts.

Veza hatte Bewunderung für abseitige Naturen. In den Geschichten, die sie während der nächsten Jahre schrieb, kamen solche Menschen oft vor. Meist waren es Opfer, solche, denen von anderen Unrecht geschah, Hilflose, Verstümmelte, wenig Geschickte, am liebsten aber schrieb sie von Frauen, die im Dienst an anderen oder in einer schlechten Ehe zugrundegingen. Solche Opfer verherrlichte sie, indem sie ihre Schönheit glaubhaft machte, und obwohl kein einziges dieser Geschöpfe ihr selbst nachgebildet war, obwohl keines von ihnen ihr auch im Geringsten nur glich, war es doch, als hätte sie sie immer um einen gleichen Kern, den ihrer eigenen Unantastbarkeit, geformt.

Zwei Hauptgesinnungen waren es, die Veza im Widerstreit gegen ihre Schwermut am Leben erhielten: die eine war ein Glaube an Dichter, so, als wären es eigentlich diese, die die Welt immer neu erschafften, als müßte die Welt verdorren, sobald es keine Dichter mehr gäbe. Die andere war die unerschöpfliche Bewunderung für alles, was eine Frau vorstellen kann, wenn sie es verdient, eine zu sein. Schönheit und Reiz gehörten nicht weniger dazu als Stolz und eine andere Art von Klugheit als die übliche, von Männern vertretene, die die in der Welt herrschende geworden war. Ihre Überzeugungen waren nicht weit von solchen entfernt, wie man sie heute vielfach und militant unter Frauen findet, aber sie hatte sie damals. Sie hatte sie auch nicht in der aufsässigen Form, die zu Absonderungen und aggressiven Formationen führen, denn sie gab nichts von ihrer Bewunderung für Schönheit, Verführung und Hingabe auf. Eine Dienerin, die es aus Liebe für die war, denen sie diente, stellte sie so hoch, daß sie für ihre Schriften als Pseudonym Veza Magd wählte. Es stand für Hingabe in jeder Form; für den Geliebten, für Schutzbefohlene, aber auch für solche, die durch ihre Geburt oder durch die Niedertracht anderer benachteiligt waren. Es war hinreißend, sie zu sehen, wie sie vom einen ins andere wechselte, wie ihre biblische Lobpreisung in nicht weniger biblischen Zorn umschlug.

Ihre Parteilichkeit für Frauen hatte nichts von den räuberischen Zügen männlicher Herrschsucht. Sie schlug sich nicht etwa von einer Seite auf die andere, das Unrecht, das sie anderen vorhielt, nahm sie nicht, wie es unter Zeloten üblich ist, für sich und irgendwelche eigenen Zwecke in Anspruch. Alles was sie tat, war, im Gegenteil, daß sie höhere Ansprüche an Frauen stellte, weil sie so hoch von ihren Möglichkeiten dachte.

Es ist unnatürlich, daß heute über Vezas Schreiben nichts bekannt ist. Sie hat gleich gut begonnen, sie schrieb mit Witz und Schärfe. Ihre Erzählungen, obschon sie von Mitgefühl für benachteiligte Menschen diktiert schienen, waren zu knapp und zu scharf, um sentimental zu wirken. Sie hatte Heines Witz und war von seiner Prosa beeinflußt. Sie mochte kurze, pointierte Sätze, ihr Stil war aphoristisch, selbst in ihren Erzählungen war unverkennbar, was sie am liebsten las. Sie, die Leidenschaft und Überschwang für viele hatte, trachtete danach, im Schreiben möglichst wenig davon merken zu lassen. Nur wenn es um spanische Gegenstände ging, für die sie eine Art von konstitutioneller Schwäche hatte, ließ sie sich ungescheut gehen und trug Gefühlsfarben auf, die sie sich sonst nie erlaubt hätte.

Die Ferdinandstraße der Wiener Leopoldstadt, wo sie wohnte, war die Straße der Lederhändler. Da war ein Grossist an dem anderen, sie standen in der Tür an ihren Lagern, als wären sie mit nichts beschäftigt. Die Art, wie das ganze Leben der Straße sich um sie drehte, hatte nicht im Aussehen, wohl aber im Wesen etwas Orientalisches. Veza erfuhr alles, was in der Straße vorging, durch die Leute, die um Hilfe zu ihr kamen. Sie wies niemanden ab, das war bekannt. Wenn sie sich eines Menschen einmal angenommen hatte, ließ sie nie mehr locker und war dann von den Leuten so erfüllt, daß sie über sie schreiben mußte. Es ging ihr um wirkliche Dinge, wie sie sagte, um Leute, die sie kannte. Ihre Sache sei es nicht, zu erfinden, das überlasse sie mir. Sie wolle ihren Leuten helfen und darum schreibe sie Geschichten über sie. Es geschah aber etwas sehr Merkwürdiges: alle ihre Figuren wirken, als wären sie erfunden. Zu jeder einzelnen von ihnen fällt mir, wenn ich in der »Gelben Straße« lese, das Vorbild ein, aber ich hätte jede von ihnen vergessen, wenn sie sie nicht auf ihre spitze, springende Weise erfunden hätte.

Die Erzählungen, die heute die »Gelbe Straße« ausmachen, erschienen ursprünglich in Fortsetzungen in der Wiener »Arbeiter-Zeitung«. Diese Zeitung war nicht nur von Bedeutung als das Organ der Partei, die Wien regierte und auf neuartige und ideenreiche Weise verwaltete. Sie galt damals auch als die bestgeschriebene Zeitung Wiens. Vezas Erzählungen fanden großen Anklang. Während das Bild der Straße mit jeder von ihnen reicher und lebendiger wurde, überkam sie die Lust, sie zum »Roman einer Straße« zusammenzufügen. Das ist ihr mit geringfügigen Änderungen gelungen. Doch durch die Februar-Ereignisse des Jahres 1934 wurde das Erscheinen des Buches unmöglich.

Heute, zu meiner Freude, sehe ich, daß es Kenner gibt, die diesem Buch Gerechtigkeit widerfahren lassen. Wer jene Zeit vor sechzig Jahren in Wien erlebt hat, finddet sich wieder in ihr wie in keinem anderen Buche. Daß schwere Dinge sich so leicht und schwebend sagen lassen, daß sie dadurch dringlicher werden, ist eine Überraschung. Ich möchte es die »seitliche« Methode nennen, die das Wichtige in scheinbarer Eile streift, ohne es ganz auszusprechen. Sie streift es aber so geschickt, daß man’s ohne es zu merken, mitnimmt. Ich glaube, die »Gelbe Straße« ist nicht nur ein Zeugnis. Sie besteht auch für sich zu Recht. Sie handelt — verborgen — von der Unantastbarkeit des Menschen auch in seiner größten Gefährdung.

Der Unhold

I.

Eines Tages, als die Runkel im Kinderwagen über die Straße geführt wurde, überkam sie eine solche Verzweiflung über ihr elendes Leben, daß sie nichts anderes wünschte, als ein schwerer Lastwagen, ein Viehwagen, eine Tausend-Kilo-Walze oder eine vierfache Straßenbahn möge über ihren fürchterlichen Körper fahren und ihn zermalmen. Sie gab daher dem Dienstmädchen Rosa, das sie seit Jahren betreute, pflegte, vom Wagen in die Wohnung trug, von der Wohnung in den Wagen, ganz sinnlose Zeichen, fahrige, nervöse Zeichen, wie sie die Straße überqueren sollte, sie verwirrte sie durch zornige Zwischenrufe derart, daß sie wirklich in ein herbeirasendes Motorrad hineinfuhr. Nur zermalmte dieses Motorrad nicht die Runkel, sondern das Dienstmädchen Rosa, denn die treue Seele schob buchstäblich im letzten Augenblick ihres Lebens den Wagen mit dem Krüppel rasch vor, schützte ihn mit ihrem Leib und holte sich den Tod. Die Runkel aber lag auf dem Boden und hatte beide Arme gebrochen, zum zwölften Mal in ihrem Leben hatte sie einen Gliederbruch, gewöhnlich waren es die Beine, die ganz kurz und leblos herunterhingen, wie bei einem Hampelmann.

Die Runkel lag auf der Erde und konnte sich nicht rühren und nur das eine Auge sah starr mit an, was geschah. Es geschah, daß Passanten herbeiliefen und Wachleute und Geschäftsdiener und alle bemühten sich um das Dienstmädchen Rosa, das bald in einen Sanitätswagen befördert wurde.

»Hat sich ausgezahlt«, hörte die Runkel, als sie auf eine Tragbahre gelegt wurde, doch dann fiel sie in Ohnmacht und erwachte erst, als ihre beiden Arme in einem Gipsverband lagen. Sie sah ihre Freundin, die Weiß, sie sah ihre Mutter weinen und erfuhr, daß die Rosa tot war. Und dann richtete sie ihr schreckliches Gesicht auf die Weiß und sagte: »Hat sich ausgezahlt.«

»Sprich nicht so!« schrie die Weiß sie tapfer an, »jeder Mensch hat seinen Kummer, du stehst nicht allein da!«

Und bei sich dachte sie, »stehst« ist nicht das richtige Wort, sie kann ja nicht stehen, sie kann nur sitzen und das einzige, das sie gebraucht, sind die Arme, und die sind ihr jetzt gebrochen, wer weiß, ob es noch zu heilen geht bei ihren mürben Knochen, bei ihr heilt alles viel schwerer, und jetzt ist sie schon sechsunddreißig, und das Gesicht! Das Gesicht! Es ist wirklich ein großes Opfer, daß ich das immer mitansehe.

»In drei Wochen bist du geheilt!« schrie sie dabei, »mach keine Faxen, in drei Wochen sitzt du wieder in deinem Geschäft, zwei Geschäfte hast du, beide gehen, wer macht dir das nach, alle zwei hat dir dein Vater hinterlassen, weil du ein Teufel bist, sitzt in deinem Seifengeschäft und bewachst deine Trafik, wer macht dir das nach! Aber das sag ich dir, jeden Abend läßt du dich ins Kino fahren, da wird nicht gespart, du Dreckfresserin! Du sparst zu viel! Was weinst denn, Frieda!«

»Ich weiß, was du denkst«, sagte die Runkel, ihr Gesicht war entschlossen zu sterben.

Der Arzt trat ans Bett, er hatte den letzten Satz der Weiß gehört und wunderte sich, daß dieses Wesen da im Bett Frieda hieß, und daß man es weinen nannte, wenn von zwei leeren Scheiben Tropfen über ein Dreieck liefen. Dann gewöhnte er sich daran, daß dies doch ein Mensch war, er hatte sogar die Arme in Schienen gelegt und bandagiert und sah jetzt zu, daß alles heilte, und wenn man sprach, antwortete sie ja wirklich, diese Mißgeburt, nur war die Stimme ebenso unangenehm wie das Gesicht.

»Ja, das wird bald repariert sein«, sagte er auf einen Blick der Weiß hin, »in einigen Wochen sind Sie gesund.« Und mehr brachte er nicht heraus, er fand es schon viel, daß er gesagt hatte: »sind Sie gesund.« Er hob die Decke und ließ sie gleich fallen und ging mit einem Gruß zur Mutter der Runkel, denn die war normal gewachsen und machte einen nicht nervös mit ihrer Übertriebenheit.

Nach ihm kam die Tante herein, sie kam herein, setzte sich ans Bett und fing zu jammern an, »du armes Geschöpf, nicht genug wie du ausschaust und gehn kannst du auch nicht, jetzt muß noch das Unglück geschehn, wer weiß, wann das heilt, und die Rosa, die arme Rosa, was wirst du ohne die Rosa machen! Nur sie hat dich hinauftragen können, wer wird das noch können!«

Was schwatzt diese dumme Gans! Was hat sie mich zu bedauern! Häng ich vielleicht von ihr ab! Wer hängt von mir ab?! Die Mutter, denn die Geschäfte sind auf meinem Namen, die Alte, die Cousine, die Großmutter, die Rosa ist tot, aber die Anna, der Alois, die Lina, ja, alle hängen von mir ab!

»Geh sofort und laß das Geschäft nicht allein!« befahl die Runkel plötzlich, und die Mutter, eine hochgewachsene Frau mit milden Zügen, stand gehorsam auf und ging.

»Gib ihr zwanzig Schilling«, sagte die Runkel und zeigte verächtlich mit der Braue auf die alte Tante.

In zwei Monaten war sie geheilt.

II.

Pilatus Vlk ist in Iglau geboren, ledig und wohnt in der Gelben Straße No. 31. Er geht jeden Morgen Punkt dreiviertel sieben aus dem Haus und tritt in die Trafik ein. Hier kauft er die Presse. Dann begibt er sich ins Kaffee Planet und nimmt sein Frühstück. Er liest alle Zeitungen bis Mittag und geht ins vegetarische Restaurant. Nach Tisch geht er heim und um vier begibt er sich ins Panoptikum im Volksprater. Hier bleibt er bis sieben Uhr abends und nimmt im Kaffee Planet sein Nachtmahl ein. Um neun ist er wieder zu Hause. In der ganzen Woche gab es nur eine einzige Abweichung, indem Herr Vlk am Freitag, statt in den Volksprater ins Kino in der Gelben Straße ging. Herr Vlk ist Hausbesitzer und bekommt seine Zinsen aus Iglau zugeschickt. Er lebt weit unter seinem Vermögensstand. Zutritt in seine Wohnung hat nur eine alte Bedienerin, die ihn als sehr pedantisch schildert. Im Haus ist er mit niemand bekannt und grüßt niemand.

Herr Vlk las diesen Bericht eines Auskunftsbüros über sich selbst und verbreiterte dabei seine schwarzen Nasenlöcher. Dann stieg er ins Bad und wusch sorgfältig jede Stelle seines Körpers. Nach dem Bad zog er die saubere Wäsche und den Anzug an und begann die Finger unter den Nägeln zu reinigen. Immer fand sich noch ein winziges Stäubchen. Dann zog er lichte Handschuhe über und verließ die Wohnung.

Die Trafik war noch nicht offen. Erst vier Minuten später konnte er eintreten und meldete der Trafikantin, daß vier Minuten über sieben verstrichen waren. Das Fräulein blickte erstaunt seine aufgestellten Haare an, schütter und regelmäßig verteilt wie die Grasköpfe in den Blumenhandlungen, sie blickte auf sein Schnurrbärtchen, schütter und regelmäßig wie Gras und dann auf seine merkwürdig gespreizten Fingernägel, sie standen von den Fingern weitab wie Schlünde. Das Fräulein staunte täglich über diese Merkwürdigkeiten des Herrn Vlk, weil sie ein langsamer Mensch war. Herr Vlk sprach gereizt und ging dann, ohne eine Antwort abzuwarten, auf die andere Seite der Straße. Hier zappelte er auf und ab vor einem Seifengeschäft, das der Trafik genau gegenüber lag. Er blickte dabei in irgendeine Schachtel in sich. Das Seifengeschäft war schon längst offen und noch immer bemerkte er es nicht. Einmal blickte er doch auf und trat mit der Uhr in der Hand ein.

»Es ist diesmal vier Minuten nach sieben gewesen, ich ersuche Sie, diesem Unfug zu steuern.«

Jede andere Inhaberin der Trafik hätte auf diese Beschwerde nicht einmal hingehört, denn die Angestellte Lina, drüben, hatte seit ihrem Eintritt neunzehn Zeitungsabonnenten zugewonnen. Doch hier lag der Fall anders.

»Ja«, sagte die Runkel, »ja, unbedingt«, und sie dehnte die Antwort hinaus, denn sie genoß diesen Augenblick, diesen Augenblick, in welchem ein vollwertiger Mensch zu ihr sprach, als wäre sie ein vollwertiger Mensch, eine Autorität, »ich werde diesem Unfug steuern.«

Aber Herr Vlk hörte es nicht mehr. Er war schon draußen. Er hatte heute eine Stunde Verspätung. Er stelzte ins Kaffee Planet und bestellte Kakao und Butter. Er schnaufte Luft durch die Nase, um zu prüfen, ob sie nicht dunstig war. Er wusch den Löffel aus und trocknete ihn mit dem Sacktuch. Er blies einen Brosamen von seinem Daumen. Dann aß er mit steifen Fingern. Die Nägel daran waren abweisend gespreizt, der schüttere Schnurrbart war gespreizt. Indessen suchte schon der Ober alle Zeitungen zusammen und legte sie vor Herrn Vlk hin.

Um elf war er mit dem Lesen fertig. Er zahlte, gab kein Trinkgeld und begab sich zu Fuß ins vegetarische Restaurant. Er aß reichlich und verlangte Erdbeeren. Er wusch j ede einzelne sorgfältig und betrachtete befriedigt den Schmutz im Glas. Er tunkte sie in Zucker.

Zu Hause zog er sich aus und machte ein Schläfchen. Dann trank er den Kakao, der von der Bedienerin vorbereitet war, und ging in den Volksprater. Er ging schnurstracks auf eine Bude zu. Da stand ein Gorilla hinter Glas, ein nacktes Weib im Arm. Das nackte Weib übersah er, den Gorilla verachtete er, als wäre er lebend.

Er tritt ins Panoptikum ein. An der anatomischen Abteilung geht er vorüber, dann zieht er einen Führer aus der Tasche, er steht vor dem historischen Kabinett. Napoleon in der Verbannung. Napoleon sitzt mit dem Dreispitz in der Verbannung, über einen Tisch geneigt. Herrn Vlks Nasenlöcher wachsen in unendlicher Befriedigung. Er steht vor Ludwig dem XV Ludwig der XV. liegt auf dem Totenbett, von der unheimlichen Krankheit zersetzt, mit blauen Geschwüren, auf Wachs gemalt. Herr Vlk zieht die Wangen hoch, die zwei schwarzen Löcher werden immer breiter. Lady Hamilton kniet vor dem toten Nelson. Maria Stuart steht unter dem Schafott. Herr Vlk genießt es lange.

Dann sieht er auf die Uhr und erschrickt. Es ist hohe Zeit. In einer Viertelstunde ist er im Kaffee Planet. Die Abendblätter, Tunkeier, dünne Schnitten Brot mit Butter. Um neun ist er zu Hause. Im Hausflur läßt er den Hausbesorger rufen. Er zeigt ihm streng eine große Masche in der Matte. Ohne eine Antwort abzuwarten, geht er in seine Wohnung.

Auf dem Schreibtisch lag noch die Auskunft des Detektivbüros, die er selbst über sich verlangt hatte. Sie war an das Hauptpostamt adressiert. Er las sie noch einmal durch und lächelte höhnisch. Dann versteckte er sie in ein Bündel von Auskünften verschiedener Büros über ihn.

Den nächsten Tag ließ sich Herr Vlk von der Bedienerin das Frühstück bereiten. Sie erzählte es später im ganzen Haus. Um neun Uhr kam ein Geistlicher und ließ sich melden. Er wurde vorgelassen.

»Ich habe Sie bestellt«, sagte Herr Vlk ohne aufzusehen, »weil ich über einige Stellen in der heiligen Schrift im unklaren bin.« Der Geistliche verneigte sich.

»Im zweiten Buch Moses steht geschrieben: Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist. — Wieso im Wasser unter der Erde?« fragte Herr Vlk.

»Nun, es bedeutet«, sagte Ehrwürden, »daß der Mensch nicht mit frevelhaften Auslegungen der Genesis sündige. Der Mensch forsche nicht nach, was die gewaltigen Meere bergen, denn es wird ein furchtbares Ende sein.«

»Hier ist nicht die Rede vom Meer«, sagte Herr Vlk, »das Meer ist auf der Erde. Hier steht aber, im Wasser unter der Erde. Was bedeutet das?«

Der Geistliche sah ihn an:

»Dieses Gebot bezieht sich auf die Juden und hat mit unserer christlichen Lehre nichts zu tun.«

»Unser Herr Jesus Christus ist aber im jüdischen Land Bethlehem geboren«, sagte Herr Vlk und bekreuzigte sich. Dann blätterte er in der Bibel.

»In der Bergpredigt steht: Wer eines von diesen kleinsten Geboten auflöset und lehret die Leute also, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich. Wer es aber tut und lehret, der wird groß heißen im Himmelreich. — »Und wer es tut und nicht lehret?« fragte Herr Vlk.

»Sie grübeln zu viel, mein Freund.«

Herr Vlk spitzte die Lippen. Unruhig fingerte er an dem Buch herum. Das Blut stieg ihm zu Kopf. Er schickte einen gehässigen Blick auf den Geistlichen und schob ihm das Geld hin: »Es wird mir genügen.«

Der Geistliche nahm das Geld und sprach ihm zu. Herr Vlk bemerkte seine Anwesenheit nicht mehr. Er blies sich die Nase aus und sah das Resultat an. Er klappte die Bibel zu und rannte so rasch, als wäre eine Kobraschlange hinter ihm her, ins Badezimmer. Dann zog er lichte Handschuhe über und ging. Im Vorraum sprach der Geistliche mit der Bedienerin, Herr Vlk beachtete ihn nicht. Er lief aus dem Haus und trat in die Trafik ein.

In der Trafik standen zwei Männer und einer saß auf einem Sessel vor der Theke. Sie standen und saßen da, weil Lina schön gewölbte Lippen hatte, warme braune Augen und weiche ovale Wangen. Sie hatte den Körper einer jungen Mutter, sie trug grobe Hemden, aber blendend weiß, und sie war das, was sich jeder gesunde Mann wünscht.

Als Herr Vlk eintrat, stemmte sie die großen Hände auf die Theke.

»Die Zeitung hab ich schon verkauft.«

»Sie haben die Zeitung verkauft!«

»Es hat sie doch niemand abgeholt«, Lina war sehr sanft und weiblich, nur, — Herr Vlk sah sie nicht an.

»Wie können Sie die Zeitung verkaufen, die mir gehört!« rief Herr Vlk mit roten Wallungen.

»Sie regen sich da etwas zu sehr auf«, sagte zu ihm ein junger Mensch namens Graf herausfordernd. Er wohnte im selben Haus wie er, die Küchen lagen vis-a-vis. Nur, — Herr Vlk hatte noch nie hinübergesehen.

Aber jetzt blickte er tückisch auf den jungen Menschen.

»Sie werden mir Vorschriften machen«, sagte er gereizt. Dann kehrte er sich rasch um und ging.

»Jetzt geht er sich wieder beschweren.« Die Trafikantin machte ein besorgtes Gesicht.

»Sie lassen sich zu viel gefallen, Fräulein Lina«, sagte Graf, bezahlte die Zeitung und stampfte hinaus, wie ein Mensch, der jetzt alles von Grund auf ändern kann und will.

Der graue Herr, der auf dem Sessel saß, sagte kalt:

»Die Zeitung hätte für ihn reserviert werden müssen.«

Das Fräulein holte zur Antwort aus, aber neue Kunden traten ein. Ladenmächen, Dienstmädchen, Kleinbürgerinnen. Lina klebte die Marken auf die Briefe und übersah diskret die Adressen, suchte der Spiegel Mizzi die lichten Trabukos aus für den Herrn Spiegel, wog der Kohlenfrau die Zeitung ab und schnitt ihre eine Schleife.

»Sie geben einem noch eine goldene Uhr drauf, Fräulein«, sagte zufrieden das dicke Kohlenweib. Und dann eilte sie aber hinaus, um den Graf einzuholen. Doch der war schon verschwunden.

Der junge Mensch namens Graf stand indessen vor einem Obstladen. Für sein Metier hatte er heute gar keinen Schick, er war zu aufgeregt. Er schielte auf eine große Garbe Bananen und schnitt sie vom Strick, als wäre es ein Bananenbaum. Da sah er einen Wachmann auf sich zukommen und tat etwas sehr Unkluges. Er fing zu laufen an. Er lief, die Garbe in der Hand, durch die Gelbe Straße. Auch der Wachmann lief, aber er lief mit Würde. Graf hatte einen Vorsprung und rannte in ein Haus hinein. Dann erschrak er selbst darüber, Im ersten Stock läutete er bei Knut Tell an.

»Ich könnt einen Augenblick hier verschnaufen.«

»Wie bitte? Ja. Ach ja. Übrigens kenn ich Sie nicht. Aber das macht nichts. Natürlich nicht! Bitte!«

»Ich werde nämlich verfolgt.«

»Verfolgt? So. Verfolgt.«

Knut Tell stieß eine Tür auf und schob ihn hinein. Da läutete es schon. Dem jungen Menschen wurde schwarz vor Angst.

Knut Tell öffnete gleich.

»In Ihre Wohnung muß ein Dieb gelaufen sein«, sagte der Polizist.

»Wissen Sie denn nicht, daß dieses Haus ein Durchhaus ist?« Knut Tell machte das ehrlichste Gesicht der Welt. Alle Nachbarinnen standen bei den Türen. Alle blickten entzückt auf ihn.

»So! Das ist ein freiwillig gestatteter Durchgang«, sagte der Wachmann, griff an die Kappe und schritt in gemessener Eile die Stufen hinunter.

Knut Tells lichter Schopf verschwand. Und die Nachbarinnen verschwanden.

Der Dieb war jetzt blutrot im Gesicht.

»Das ist herrlich!« rief Knut Tell, »das ist ein Glücksfall!« (Sein Lachen war reizend.) »Sie werden mir jetzt Ihre Geschichte erzählen. Ich bin nämlich Dichter. (Das stand schon an der Gangtüre: Knut Tell, Dichter.)

»Sie sind ein ganz richtiger Kerl, Sie sind an die richtige Adresse gekommen, Sie haben was erlebt, Sie müssen erzählen, bitte, nehmen Sie doch Platz.«

Jetzt sah sich der Dieb im Zimmer um und fühlte sich noch unbehaglicher. Die Wände waren bis zur Decke mit Büchern verstellt, so daß sie jeden Augenblick herunterfallen konnten. Und der Dieb war sonst nicht nervös.