Über das Buch

So viel Wut und keine Wahl — vier Freunde in einer unerbittlichen Welt

Wo Härte und Brutalität Tugenden sind und Dealen die aussichtsreichste Karriere darstellt — könnte da die Liebe der einzige Ausweg sein? Als die Gewalt eskaliert, müssen sich vier junge Männer entscheiden. Gelingt ihnen der Ausbruch aus den vorgezeichneten Leben?
In seinem Romandebüt erzählt Tobias Wilhelm packend und klug in einfachen, direkten Worten, die Wucht und Kraft entwickeln. Und deren Emotionalität die Leser verändert zurücklässt.

Tobias Wilhelm

Weisser Asphalt

Roman

hanserblau

»Der Tormann sah zu, wie der Ball über die Linie rollte …«

Peter Handke

Um 6:15 klingelte mein Wecker, und ich quälte mich aus dem Bett. Rauchend stand ich am Fenster und sah den frühen Zug vorbeifahren. Noch eine Stunde Zeit. Nach dem Duschen aß ich im Bademantel drei Toastbrote, mein Vater erinnerte mich an den Termin mit dem Bewährungshelfer. Dann zog ich mich an.

Unser Haus stand inzwischen einsam am Ortsrand, dort, wo das Industriegebiet anfing. Der Rest von unserem Block war schon vor ein paar Jahren abgerissen worden, um Platz für die breite Teerstraße und neue Lagerhallen der Fabriken zu schaffen. Doch bis auf die Straße war bisher nichts gebaut worden, stattdessen wucherte das Unkraut auf der Sandwüste, die sich bis zum Bahnhof zog. Außer Lkw-Fahrern, die sich im Stehen neben ihren Lastern die Zähne putzten, traf man hier kaum noch jemanden, doch heute kam mir nach ein paar Metern mein alter Nachbar, aus dem Stockwerk unter uns, mit seinem Dobermann entgegen.

»Morgen!«, murmelte ich.

»Grüß dich!«, erwiderte er heiser.

Obwohl es Hochsommer war, fühlte sich die Morgenluft noch kühl an. Ich schloss den Reißverschluss meiner Trainingsjacke.

Rechts von mir ragten die Schornsteine der Chemiefabrik auf, die unten am Rhein stand. Wie zu jeder Uhrzeit quoll aus ihnen auch jetzt dicker weißer Rauch. Die Straße machte an dieser Stelle eine scharfe Biegung, dahinter lag das Dorf. Je näher ich kam, desto besser konnte ich die Aufbauarbeiten für die Kerb beobachten. Breitschultrige Männer in fleckigen Latzhosen schoben Bierbänke und Tische zusammen, der Truck mit dem Autoscooter bahnte sich langsam seinen Weg durch die engen Gassen, der Kerbebaum wurde aufgestellt.

Als ich an der Bahnhofskneipe vorbeilief, schaute ich auf den Boden. Der Blutfleck war kaum zu sehen, nur noch eine dunkle Färbung auf dem etwas helleren Asphalt.

Gegenüber von meinem Gleis, dort, wo die Züge in Richtung Mainz fuhren, saß wie immer um diese Zeit Dana, die Augen geschlossen, fette Kopfhörer auf den Ohren. Um ihre Hand trug sie noch den dicken weißen Verband. Mein Zug fuhr mit einem leisen Surren ein.

Hussein, der nach seiner Mischung aus Schweiß und kaltem Rauch roch, hatte mir einen Platz frei gehalten, kurz öffnete er die Augen, als ich seinen Rucksack zur Seite stellte, pennte aber sofort weiter. Nachdem wir den Ort hinter uns gelassen hatten, zog der Campingplatz vorbei, anschließend nur noch Wald und Felder, ein paar Käffer, dann die nächste Stadt, in der meine Schule lag.

Von Stunde zu Stunde breitete sich die Müdigkeit immer schwerer in mir aus, es gelang mir kaum, meine Augen offen zu halten. Als endlich die Glocke zur großen Pause schrillte, atmete ich erleichtert auf, streckte mich gähnend.

Ich stand mit Hussein am Rande des Sportplatzes, in der Pause jagten hier immer dieselben Jungs dem Ball hinterher, und baute den ersten Joint des Tages. Gebannt sah Hussein mir dabei zu, wie ich den Klebestreifen des Papes anleckte, vorsichtig feststrich, lächelte, als ich den brennenden Joint nach ein paar Zügen an ihn weitergab.

Viele unserer Lehrer hatten Angst vor Hussein, da er über die meisten Dinge mehr wusste als sie und sie oft auflaufen ließ oder vorführte. Wenn er während dieser Auseinandersetzungen in Rage geriet, spuckte er beim Reden und fuchtelte wild mit den Händen herum. Mit den anderen aus unserer Klasse, unserem ganzen Jahrgang hatte ich wenig zu tun. Sie interessierten mich nicht.

Die restlichen Schulstunden vergingen ebenso langsam wie die ersten. Hussein begann eine Seite seines Blocks in winzige Fetzen zu zerreißen, und als es endlich zum Schulschluss klingelte, warf er das Konfetti mit Schwung in die Luft und schrie: »Wochenende!«

Dann gingen wir zum Bus.

Sobald der Zug abbremste und langsam in mein Dorf einfuhr, sah ich den Autoscooter bereits bunt blinken, die meisten anderen Stände waren auch schon aufgebaut. Ich gab Hussein zum Abschied die Hand und stieg aus. Ein paar Fabrikarbeiter standen am Gleis gegenüber, rauchten, tranken Feierabendbier. In der Unterführung roch es schon wieder nach Pisse, und ich hielt die Luft an, bis ich auf der anderen Seite angelangt war.

Fabios Fiat stand auf dem Bahnhofsparkplatz, von ihm selber war jedoch nichts zu sehen. Ich bog nach rechts ab, ging an der mit Holzbrettern vernagelten Wartehalle vorbei. Ein paar Meter weiter lehnte der Wirt an dem rauen Putz der Bahnhofskneipe und rauchte. Ich nickte ihm zu und war schon fast an ihm vorbeigegangen, doch er winkte mich zu sich heran.

»Die Russen waren gestern da, haben nach euch gefragt!« Er zog gierig an seiner Kippe.

»Wie viele?«

»So fünf, sechs. Vielleicht waren draußen noch mehr. Da standen ’ne Menge Autos rum.«

Ich nickte.

»Bin immer noch sauer übrigens. Der ganze Boden voll. Das war ’ne Sauerei!«

»Wenn die anfangen …« Ich zuckte mit den Schultern und ging einfach weiter.

Zu Hause erwartete mich bereits mein Vater mit Hemd und frisch gebügelter Hose, was nur zu besonderen Anlässen vorkam. Dann gingen wir zum Jugendclub, dort fand einmal im Monat das Treffen mit dem Bewährungshelfer statt. Der Club blieb während der Kerb eigentlich geschlossen, doch der Bewährungshelfer hatte einen eigenen Schlüssel und ließ uns hinein. Während er sich nach meinem Befinden erkundigte, schaute er über den Rand seiner Lesebrille hinweg und lächelte. In seinem Mundwinkel klebte ein Krümel, und ich überlegte kurz, ob ich es ihm sagen sollte, ließ es jedoch bleiben. Als der Small Talk abgehakt war, zog er einen Packen mit Unterlagen hervor und überflog sie kurz. Es waren die Ergebnisse meiner Pisstests der letzten Wochen, außerdem ein Schreiben der Schule.

»Ja, das ist ja alles erfreulich«, sagte er und meinte damit, dass in meiner Pisse keine Drogen gefunden worden waren und die Schule mir bescheinigte, dass ich nicht unentschuldigt gefehlt hatte.

Er fragte noch dies und das, erkundigte sich bei meinem Vater nach meinem Verhalten zu Hause. Der Krümel wippte, immer wenn er sprach, rhythmisch auf und ab. Als die Zeit um war, schob er uns zur Tür hinaus. Draußen wartete bereits Sascha auf seinen Termin, und wir klatschten uns ab.

Mein Vater beklagte sich nach ein paar Schritten über sein schmerzendes Bein. Deshalb lief ich alleine zu Plus, um Essen für das Wochenende zu kaufen. Als ich vor dem Kühlregal die verschiedenen Buttersorten begutachtete, haute mir jemand auf die Schulter. Hinter mir stand Ariano und grinste. Ich erzählte ihm, dass die Russen uns suchen würden, doch er zuckte nur mit den Schultern, zog sein T-Shirt hoch und grinste noch breiter — in seinem Hosenbund steckte eine Schreckschusspistole.

Nach dem Einkaufen setzten wir uns draußen auf die Laderampe, ich begann einen zu bauen. Ariano steckte mir einen Stöpsel seines Discmans ins Ohr, zeigte mir einen neuen Techno-Song, den er am Computer im Jugendclub produziert hatte.

»Is’ gut. Voll gut!«

Er freute sich über das Lob und öffnete eine Packung Honeypops, die wir trocken aßen. Ariano liebte Honeypops. Er hatte nie verstehen können, dass ich die mit Schokolade lieber mochte. Nachdem der Joint aufgeraucht war, verabschiedeten wir uns, und ich ging die Gleise entlang in Richtung Zuhause.

Knapp hinter dem Ortsschild hörte ich das Klackern von Rollschuhen. Dana überholte mich, bremste scharf ab, drehte sich um hundertachtzig Grad, rollte dann langsam auf mich zu. Sie trug ein enges Sportoberteil, das ihre großen Brüste noch größer wirken ließ. Ich musste mich zwingen, ihr beim Sprechen regelmäßig ins Gesicht zu sehen.

Im letzten Sommer, da war sie noch mit Fabio zusammen gewesen, waren wir zu dritt ins Schwimmbad gegangen. Die meiste Zeit hatten wir kiffend auf einer Decke unter einem Baum verbracht, ich war völlig breit eingeschlafen.

Als ich aufwachte, waren die beiden nicht mehr zu sehen gewesen. Nach einer Weile war ich aufgestanden, um sie zu suchen. Bei den Umkleidekabinen hatte ich merkwürdige Geräusche gehört und mich genähert. Vor der Kabine, aus der sie zu kommen schienen, war ich in die Hocke gegangen und hatte durch den Spalt zwischen Kabinenwand und Fußboden geschaut. Ich sah Dana auf dem Boden knien, Fabio stand vor ihr. Ihr Oberkörper bewegte sich rhythmisch zu einem schmatzenden Geräusch vor und zurück. Seitdem hatte ich mir oft einen auf sie runtergeholt. Auch schon davor, um ehrlich zu sein.

»Hast du Gras?«, fragte sie mich.

Unschlüssig wiegte ich den Kopf hin und her. »Nur bisschen was.«

Sie legte den Kopf schief, lächelte mich an. »Krieg ich was ab?«

Vor dem Treppenhaus zog sie ihre Rollschuhe aus, tapste auf Socken hinter mir her in den zweiten Stock. Ich schloss die Wohnungstür leise auf, und wir drückten uns schnell in mein Zimmer. Die kurzen Shorts, die Dana trug, rutschten noch höher, als sie sich auf mein Bett setzte, und ich spürte, dass ich langsam einen Steifen bekam.

Dana war vor zwei, drei Jahren zusammen mit ihren Eltern und der kleinen Schwester Julia in den Ort gezogen. Das erste Mal hatte ich sie zusammen mit Fabio bei Plus gesehen. Fabio hatte sie sofort angemacht. Bei den nächsten Treffen hatte ich immer den Eindruck gehabt, dass sie eigentlich auf mich und nicht auf Fabio stand, doch schließlich hatte ich die beiden im Gewerbegebiet in seinem Fiat knutschen sehen. Anscheinend war ich, wie fast immer in solchen Dingen, zu langsam gewesen.

Ein paar Monate nach ihrer Trennung von Fabio hatte sie begonnen, auf ihren Skate-Runden an meinem Haus vorbeizufahren. Meistens um die Zeit, wenn ich aus der Schule kam, oft redeten wir dann miteinander, lächelten uns an. Den Jungs — und vor allem Fabio — hatte ich bisher nichts davon erzählt.

Nachdem ich ihr etwas Gras abgepackt hatte, rollte ich uns einen, und wir rauchten zusammen am offenen Fenster. Dana stand so dicht neben mir, unsere Arme und Schultern berührten sich.

»Tut’s noch weh?« Ich deutete auf den weißen Verband.

»Nur, wenn ich drankomme.«

»Guter Haken.«

Dana lächelte.

»Willst du einen Shot?«

Sie musste grinsen, nickte aber. Als ich mit meinem Mund ganz nah an ihrem Gesicht war und den Rauch durch den Filter in ihren Mund blies, hielt sie die Augen geschlossen, inhalierte tief und atmete wieder aus. Ich legte die Tüte auf die Fensterbrüstung und küsste Dana, sie schob ihre Hände in meinen Nacken, öffnete leicht die Lippen. Als ich Dana in Richtung Bett schieben wollte, löste sie sich aus meiner Umarmung und meinte, dass sie gehen müsste. Abends hätte sie Schicht im Sonnenstudio, aber ich könnte vorbeikommen, falls ich Lust hätte.

Am Fenster beobachtete ich, wie sie auf der Straße ihre Rollschuhe wieder anschnallte, kurz zu mir hochschaute, lächelte, dann in Richtung Industriegebiet skatete. Nachdem ich die Tüte fertig geraucht, mir einen gewichst hatte, räumte ich die Einkäufe in den Kühlschrank und das Küchenregal.

»Hab dich gar nicht reinkommen gehört«, sagte mein Vater, der im Wohnzimmer vorm Fernseher saß.

Als es Abend wurde, duschte ich, zog mein bestes Hemd an, die neuen Nikes, steckte die Hose in die Socken und kämmte mir die Haare mit Schaum nach hinten. Vorsichtshalber steckte ich noch mein Messer in die Hosentasche, bevor ich die Wohnung verließ.

Auf dem Weg sah ich im Pulk lauter Bekannte und Unbekannte in Richtung Kerb laufen, die meisten von ihnen hatten schon zu Hause mit dem Saufen angefangen, torkelten leicht. Ein paar von den jüngeren Kanaken kamen vorbei und nickten mir schüchtern zu, ich zwinkerte zurück.

Das Sonnenstudio lag in einem Hinterhof, den man über einen schmalen Durchgang, zwischen zwei Häusern an der Hauptstraße, erreichte. Still war es dort. Das Wummern der Musik, die lauten Stimmen von der Kerb schienen plötzlich weit weg zu sein. Durch die Glasfront des Ladengeschäfts sah ich, dass Dana nicht hinterm Tresen stand, auch keine Kunden auf den roten Stoffsofas warteten.

Beim Eintreten schrillte die Türklingel über mir, und ich hörte hinten bei den Solarien einen Staubsauger ausgehen, dann Danas Schritte näher kommen.

»Nix los, oder?«

Sie nickte, streifte lächelnd die gelben Putzhandschuhe ab, stand einen Moment unschlüssig vor mir, bevor sie sich auf die Zehenspitzen stellte und mich auf den Mund küsste.

»Hab gleich gesagt, dass er heute zulassen kann.«

Wieder küsste sie mich, diesmal länger, schob ihre Zunge erst vorsichtig, dann immer drängender in meinen Mund.

»Warte«, flüsterte sie, zog mich in eine kleine Abstellkammer.

Während meine Hände über ihren Rücken strichen, sich langsam zu ihrem Arsch vortasteten, wurde mein Schwanz hart, und ich hoffte, dass sie ihn durch den dünnen Stoff meiner Hose nicht an ihrem Oberschenkel spürte. Draußen ertönte die Türklingel, man hörte die Stimmen zweier Frauen.

»Scheiße!« Mit einer schnellen Handbewegung machte Dana sich einen neuen Zopf, zupfte ihr Oberteil zurecht. »Später auf der Kerb?«

»Klar.«

»Kannst du hinten raus?«

»Kein Ding.«

An der nächsten Kreuzung ragten wie jedes Jahr die beiden braunen Papptürme in die Luft, die den Eingang zur Kerb markierten. Ständig wurde ich angerempelt, trat auf irgendwelche Füße, während ich mich durchs Gewühl in der engen Gasse drückte. Nach wenigen Metern sah ich Ariano in seiner rosa Trainingsjacke und Fabio, wie meistens im ölfleckigen Shirt, an einer Wand lehnen. Ariano hatte eine Wodkaflasche in der Hand und prostete mir zu, als er mich entdeckte. Ich stellte mich zu ihnen, nahm einen Schluck.

»Jedes Jahr dieselbe Scheiße!«, murmelte Fabio, während er einen weiteren Rotzfaden in den See zwischen seinen Füßen fallen ließ.

Ariano nickte.

Schließlich schlängelten wir uns zur alten Kirche durch, in deren Hof Bierbänke standen und Pizza gebacken wurde. An einem der Pizzaöfen stand ein Bekannter von uns und brachte uns ein paar Stücke an den Tisch.

»Hast du was mit?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. »Nee. Morgen wieder.«

Obwohl es schon fast Nacht war, klebte die Hitze des Tages noch an mir, ich wischte mir mit dem Handrücken dicke Schweißperlen von der Stirn. Am Stand des Kerbejahrgangs standen die Deutschen und tranken Bier. Einer von ihnen winkte uns zu, und als wir seinen Gruß erwiderten, brachte er uns drei Schnäpse. Wir hatten früher oft Stress mit ihnen gehabt, weil einige von ihnen Nazis gewesen waren, doch vor ein paar Jahren hatten sie mit dem Scheiß aufgehört, und wir respektierten uns.

Die Menschenmenge auf dem Parkplatz vor der Kirche wurde von ein paar Ordnern in Warnwesten auseinandergeschoben, zwei Männer mit einer langen Leiter folgten ihnen. Sie stellten sie vor dem Kerbebaum auf, dann trat der Bürgermeister hinzu. Er hatte sich einen Blumenkranz mit bunten Bändern um den Hals gehängt und kletterte die Leiter hinauf. Oben hängte er den Kranz um den Stamm, und die Menge unter ihm klatschte. Es war ein Ritual, das ich nie verstanden hatte.

Ein Mann mit hochrotem Kopf stand in der Bahnunterführung, durch die wir von der Fress- und Saufmeile zu dem Teil der Kerb mit den Fahrgeschäften gingen, schiffte an die Wand. Über den ganzen Boden zogen sich die Rinnsale vorheriger Pisser. Man musste tierisch aufpassen, um nicht irgendwo reinzutreten.

»Ekelhaft!« Ariano holte zu einem Sidekick gegen den Typen aus, doch ich zog ihn schnell weiter.

»Alter, lass den Scheiß!«

Am Autoscooter hockten die Jüngeren betont lässig auf den Metallstangen der Eingrenzung. Nebenan war ein Stand mit Münzschiebern und einem Glücksrad aufgebaut, an dem auch ein Junge aus meinem Haus stand und sein Taschengeld verzockte. Im Gewühl der Kinder und Jugendlichen drehte der Dorfpolizist seine Runden, kassierte Zigaretten von Zwölfjährigen ein, nahm Vierzehnjährigen Schnapsflaschen weg und warf uns Blicke zu, die Furcht einflößend wirken sollten.

Unsere Wodkaflasche war inzwischen fast leer. Deshalb machten wir uns wieder zur Fress- und Saufmeile auf, als uns Sascha entgegenkam. Er hielt sein Handy ans Ohr gepresst, schrie immer wieder hinein.

»Diese Hurensohn-Russen wollen sich boxen!«, sagte er zu uns, nachdem er mit einem »Dann fick ich euch!« aufgelegt hatte.

Ariano atmete pfeifend durch die Zähne aus. »Diese Fotze, Mann! Jetzt müssen wir wieder die Scheiße regeln, für diese kleine Fotze!«

Mit Fotze war Dana gemeint.

Zwei Tage zuvor hatten Sascha, Ariano und ich abends in der Bahnhofskneipe ein paar Euros in die Spielautomaten geworfen. Dana war auch dort gewesen und hatte mit ihrer kleinen Schwester Billard gespielt. Ein paar Russen aus der Vorstadt hatten an der Theke gesessen und gesoffen. Einer von ihnen hatte die ganze Zeit Dana angestarrt.

Als sie an ihm vorbeigegangen war, um draußen eine zu rauchen, hatte er ihr an den Arsch gegriffen, woraufhin Dana sich umgedreht und ihm mit zwei Schlägen die Nase eingehauen hatte. Der Russe hatte dem Blut, das auf den Boden tropfte, nachgeschaut und gar nicht fassen können, dass es seins war.

Seine Kumpels waren aufgesprungen und wir auch, doch der Wirt hatte schnell seinen Baseballschläger unter dem Tresen hervorgezogen, auch mit den Bullen gedroht, weshalb die Sache dann draußen weitergegangen war. Ein paar Schläge und Tritte hatten die Russen noch eingesteckt, waren dann abgehauen, da sie viel zu besoffen waren, um sich ernsthaft zu wehren.

»Lasst mehr Suff holen«, meinte Fabio, nachdem wir ein paar Minuten schweigend herumgestanden hatten. »Hab noch ’n paar Flaschen bei mir.«

Durch die Seitenstraßen zogen wir zu ihm nach Hause, blieben vor seiner Garage stehen. Fabio ließ das Eisentor nach oben gleiten, knipste das Licht an. Mein Blick fiel sofort auf seine Werkbank, auf der immer noch die zwanzig, fünfundzwanzig Fiat-Logos lagen, die er aus den Lenkrädern der Puntos, die er klaute, herausschnitt.

»Du musst die endlich wegschmeißen, Mann, sonst ficken dich die Bullen noch deswegen!«, sagte ich zum hundertsten Mal.

Fabio nickte nur abwesend, während er ein zugemülltes Regal an der hinteren Garagenwand nach vollen Flaschen absuchte. Sein Handy, das er auf der Werkbank abgelegt hatte, begann zu klingeln. Ich konnte gerade noch auf dem Display »Julia« lesen, bevor er es nahm und in den Hof zwischen Haus und Garage ging. Ich sagte Ariano und Sascha, wer gerade angerufen hatte, und wir mussten das erste Mal seit dem Telefonat mit den Russen lachen.

»Bumst der jetzt echt ihre kleine Schwester?«, fragte Sascha.

Dana hatte Fabio empfohlen, als sie damals mit ihm Schluss machte, sich eine Vierzehnjährige zu suchen, die seine grenzenlose Dummheit vielleicht noch nicht bemerken würde. Julia war vierzehn.

»Was ein Pädo!« Ariano schraubte eine Flasche Jägermeister auf.

Fabio kam zurück, griff sich den Schnaps, und nahm einen langen Schluck. »Is’ was?«, fragte er, nachdem er unsere grinsenden Fressen bemerkt hatte.

»Nix is’!«, antworteten wir im Chor.

Dana lehnte zusammen mit ein paar Freundinnen am Stand der Kerbejugend und kippte gerade einen Schnaps runter. Unter den neugierigen Blicken der anderen umarmten wir uns kumpelhaft, redeten über dies und das. Fabio war in seiner Garage geblieben, wo er inzwischen wahrscheinlich mit Danas Schwester fickte. Ariano und Sascha hatte ich bei den Weinständen verloren.

»Lass abhauen!«, flüsterte Dana mir ins Ohr, legte, als wir außer Sichtweite waren, ihren Arm um meine Hüfte.

Unter der Bahnhofsbrücke blieben wir stehen, kletterten die Betonschräge, zu dem schmalen Vorsprung direkt unter der Fahrbahn, hoch. Nach Schnaps schmeckte sie, als ich sie küsste, und kicherte leise, als ich meine Hand unter ihren BH schob.

Der nächste Morgen begann mit Kopfschmerzen. Ich blieb lange im Bett liegen, rauchte ein paar Joints. Als mein Bauch zu knurren begann, ging ich zur Kerb, die an Samstagen schon vormittags offen war, holte mir eine Rindswurst mit Pommes, eine Cola. Von meinen Freunden war noch keiner zu sehen, also saß ich den Nachmittag über mit den kleinen Kanaken am Autoscooter, hörte ihren schlechten Witzen zu und versuchte, nicht an das zu denken, was später passieren würde.