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Originalcopyright © 2019 Südpol Verlag GmbH, Grevenbroich

Autor: Heiko Hentschel

Umschlaggestaltung und Illustrationen: Heiko Hentschel

E-Book Umsetzung: Leon H. Böckmann, Bergheim

ISBN: 978-3-96594-016-1

Alle Rechte vorbehalten.

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Für Michael

Der Nebel war dick wie Bohnensuppe. Er kroch in jeden Winkel der Stadt Riddersiel und hielt den Hafen fest im Griff. In der Ferne erklangen gedämpfte Hörner, tief und durchdringend. Das Signal der Nachtwächter.

Sämtliche Anwohner und Schutzmänner waren am 18. No­­vem­­­­­­ber des Jahres 1811 auf den Beinen. Sie suchten im Morgen­­­grau­en die Straßen mit Spürhunden ab. Kein Winkel wurde aus ge­lassen, keine Nische übersehen. Heisere Stimmen riefen Na­­men. Mädchennamen. Josephine, Dorothee, Anne, Marie. Und noch viele, viele mehr.

Begonnen hatte es vor einem Monat. Da verschwand das erste Mädchen. Mitten in der Nacht. Spurlos. Seitdem war kaum ein Morgen vergangen, an dem die Liste vermisster Mädchen nicht stetig angewachsen wäre. Die Stadtwache zählte nunmehr über dreißig Familien, deren Töchter wie vom Erdboden verschluckt waren. Und heute, in den frühen Morgenstunden, war der Liste ein weiterer Name hinzugefügt worden: Sophie Albrecht.

Greta Albrecht rannte. Schon seit Tagen hatte sie beunruhigen­­de Geschichten aus der Nachbarschaft gehört. Erst gestern hatte ihr die Nachbarin Frau Weber unter Tränen erzählt, dass ihre Nichte in der Nacht zuvor verschwunden sei. Das Fenster war von außen aufgebrochen und das Bett zerwühlt gewesen. Greta war die Angst um ihre Tochter Sophie durch Mark und Bein gefahren. Jetzt verfluchte sie sich. Hätte sie doch nur in dem Augenblick Riddersiel verlassen, als das erste Mädchen aus ihrem Viertel vermisst worden war.

Sie lief vorbei an durchweichten Säcken mit Kohle und Ge­­treide. Der Nebel hüllte alles ein und verlieh selbst den ein­­­­­fachs­­ten Dingen etwas Gespenstisches. Fischernetze, die zum Flicken aufgespannt waren, verwandelten sich in riesige Spinnen­­­­­netze, mannshohe Kisten und Fässer wurden zu steiner­nen Riesen, die sie stumm und reglos beobachteten. Greta war sich sicher, dass sie ein unheimliches Eigenleben entwickelten, kehrte man ihnen den Rücken zu. Sie zitterte unter ihrem Umhang. Der nasse Schlafrock klebte ihr wie Pech an den Beinen. Sie rannte durch den Nebel, das glitschige Pflaster unter ihren Sohlen und den Gestank von Fisch­ab­­fällen in der Nase.

»Sophie? Wo bist du? Sophie!«

Sie lauschte, doch sie vernahm nur das monotone Klopfen der Fischerboote im Hafenbecken und weit hinter ihr all die anderen Stimmen, die nach ihren Töchtern riefen. Aber auch sie bekamen keine Antwort.

Gretas Laterne leuchtete tapfer gegen den kalten Dunst an, auch wenn ihr kümmerlicher Schein bereits nach wenigen Zen­time­­tern verschluckt wurde. Sie suchte weiter. Sie durfte nicht aufgeben!

In den vergangenen zwei Wochen hatte Greta auf der Straße immer wieder Getuschel gehört. Die Menschen hatten in den Nächten etwas gesehen. Dunkel und groß, mit riesigen Flügeln. Ein Ungeheuer. Humbug!

»Sophie! Wo bist du nur?«

Da, ein Geräusch! Ein Rascheln hinter einer Kiste. Ein Schatten löste sich und schlich durch den Nebel.

»Sophie?«

Der Schatten huschte davon. Greta lief hinterher, aber bereits nach wenigen Metern blieb sie wie angewurzelt stehen.

Der gewaltige Bug eines Schiffes ragte, spitz wie ein Dorn, über ihr aus dem Nebel hervor.

Ein Schiff wie dieses hatte sie noch nie gesehen. Es hatte mit den gedrungenen grauen Einmastern, die sich nur für den Fischfang eigneten, nichts gemein. Nein, dieses hier war elegant, schlank und schwarz wie die Nacht. Zahlreiche Verzierungen und Schnitzereien waren in den Rumpf eingelassen, der wie dunkler Samt schimmerte. Doch irgendetwas wirkte seltsam falsch. Greta brauchte einen Moment, um es zu verstehen. Das finstere Holz schien sämtliche Helligkeit aus der Umgebung in sich aufzusaugen. Keine einzige feuchte Stelle befand sich am Bug, keine Reflexion zeichnete sich ab. Weder auf dem nassen Steg noch im Wasser. Wie ein schwarzer Fleck verschlang das Schiff das fahle Licht der Morgendämmerung und gab es nicht wieder her.

Greta spürte einen Windhauch im Nacken. Da war er wieder, der Schatten.

»Sophie?«

Niemand. Keine Sophie. Keine Menschenseele. Sie wandte sich wieder dem Schiff zu und direkt vor ihr stand plötzlich ein Mann wie eine Statue im Nebel. Zuerst glaubte Greta, einen der Nachtwächter vor sich zu haben, doch sein Aufzug ließ die strenge Uniform, den Laternenanzünder und das Signalhorn ver­­­­­missen. Stattdessen trug er einen langen, dunklen Mantel, dessen Kragen hochgeschlagen war, bis über Mund und Nase. Zwei bernsteinfarbene Augen funkelten wie Perlen unter einem Schlapphut hervor.

»Grundgütiger, Sie haben mich erschreckt, mein Herr.« Greta senkte die Laterne. »Ich suche meine Tochter. Sie heißt Sophie. Haben Sie sie gesehen? Ein kleines Mädchen von sechs Jahren, mit flammend roten Haaren.«

»Nein.« Die Antwort klang gedehnt, so als käme der Mann nicht von hier. Vielleicht aus dem Norden. Etwas Starres lag in seinem Blick. Er wandte sich ab und schritt auf den Steg des schwarzen Schiffes zu.

Greta eilte hinterher. »Sind Sie sicher? Bitte, meine Tochter trägt ein weißes Nachtgewand mit kleinen Rosen am Saum und sie –«

»Ich habe sie nicht gesehen. Und jetzt verlassen Sie unser Schiff. Wir legen ab.« Wieder diese seltsame Betonung in der Stimme. Es klang hart. Ohne Gefühl.

Greta blickte nach unten. Sie war dem Fremden auf den Steg gefolgt und wich nun hastig zurück. »Verzeiht mir, mein Herr.« Als sie wieder aufsah, war der Mann in einer finsteren Öffnung an der Backbordseite verschwunden.

Ein metallisches Geräusch erklang. Irgendwo im Inneren wurde ein Mechanismus ausgelöst, der Ketten rasseln ließ. Schwer­­fällig hob sich der Steg und mit einem dumpfen TOMB! schloss sich die Eingangsluke. Der Anker wurde gelichtet und das Schiff glitt hinaus aufs Meer.

Ein Schauer erfasste Greta. Nässe und Kälte krochen unter ihren Umhang. Sie durfte nicht stehen bleiben, sie musste weitersuchen und begann zu laufen. »Sophie? Wo bist du, Sophie?«

Der Nebel verschluckte zuerst die verzweifelte Mutter, dann das Leuchten ihrer Laterne und schließlich auch ihre Stimme, die sich wieder unter all die anderen Suchenden mischte.

*****

Das Innere des Schiffes war ein Labyrinth verwinkelter Korri­dore. Sie schienen schier endlos zu sein und wurden von Fackeln mit violettem Schein schwach erleuchtet. Auch hier saugten die dunklen Wände das Licht auf wie ein Schwamm.

Der Mann mit den Bernsteinaugen beschleunigte seine Schritte. Links und rechts lösten sich Schatten aus den Nischen. Lautlos erschienen maskierte Soldaten, standen an den Seiten stumm Spalier. Der Mann ignorierte sie. Sein Blick war auf die hohe Doppel­tür gerichtet, die sich vor ihm öffnete. Er hatte sein Ziel erreicht und trat in die vor ihm liegende Messe. Das Herz des Schiffes.

Der Saal war finster, weit und leer. Weder Bänke noch Tische oder Fenster waren zu sehen. Das einzige Licht fiel in einem senkrechten weißen Strahl durch ein Loch im Zentrum der Decke auf ein rundes Podest. Und dort, in der Mitte der Messe, stand sie. Seine Herrin. Die Komtesse.

Eine kleine, puppenhafte Gestalt, einsam und lauernd. Sie war nicht viel größer als ein sechsjähriges Mädchen, gewandet in ein nachtschwarzes Kleid, über und über mit dunkler Spitze verziert, das Gesicht verborgen hinter einer glänzenden Maske aus schwarzem Glas.

Reglos verharrte sie, den Kopf im Nacken, und saugte das Weiß in sich auf.

Der Mann verneigte sich. »Wir haben soeben den Hafen verlassen, Durchlaucht.«

Etwas in der Beschaffenheit der Luft veränderte sich. Eine uralte Kraft ließ Staubkörner erzittern und sorgte dafür, dass der Atem gefror. Schall dehnte sich aus, zuerst verhalten, wie ein Wispern, dann kraftvoll, als ob mehrere verirrte Echos auf­einanderprallen würden. Ein ungeheuerlicher Klang erwachte, bis Hunderte von Stimmen gleichzeitig zu sprechen begannen. Die Stimmen unzähliger Mädchen.

»Segelt nach Norden, wo uns niemand kennt, Hauptmann.«

»Wie Ihr wünscht, Durchlaucht.« Der Hauptmann verharrte weiterhin in seiner Pose. Seine Aufgabe war noch nicht beendet.

»Es ist Zeit. Bringt sie jetzt zu mir.«

Eine noch tiefere Verneigung folgte, dann trat der Haupt­mann einen Schritt zurück. Er holte ein Amulett aus Eisen unter seinem Mantel hervor. Ein Karfunkel schimmerte dunkelrot in der Düsternis. Mit halb geschlossenen Lidern begann er die Be­­­schwörung. Seine Hand war ruhig, wie jedes Mal. Der Stein begann zu leuchten, zu pulsieren. Ein schlagendes Herz.

Erwache!

Ein tiefes Grollen donnerte durch die Messe, gefolgt von einem Echo, das von den fernen Wänden widerhallte. Zwei rote Punkte – gleich einem Augenpaar – füllten sich mit Leben.

Etwas rührte sich in der hintersten Ecke, die von den Schat­ten fast vollständig verschlungen wurde. Ein Ungetüm in der Fins­­ternis. Krallen schabten über das Parkett. Ein mächtiger Rü­cken hob und senkte sich. Weite, missgestaltete Schwingen ent­­­fal­teten sich knirschend, bevor das Etwas sich umdrehte und seine Beute preisgab.

Ein kleines Mädchen wurde ins Licht gestoßen. Flammend rote Locken, ein weißes Nachtgewand, am Saum mit Rosen be­­stickt. Sophie starrte, leicht schwankend wie in Trance, stur ge­­rade­aus.

»Komm zu mir.«

Die Stimmen aus der Ferne summten wie ein Bienenschwarm.

Das Mädchen setzte sich in Bewegung. Wie von einem un­sichtbaren Band gezogen, ging Sophie Albrecht hinüber zum Podest und schritt die Stufen hinauf.

Sie verharrte erst, als sie direkt vor der Komtesse stand. Doch sie konnte die in Schatten und Spitze gehüllte Gestalt nicht wahrnehmen. Sie sah nur eine kreisrunde Maske aus schwarzem Glas. Die Schwärze war un­­ergründlich, aber nicht leblos. Schemen schlängelten sich darin. Hunderte, nein, Tausende kleiner Gesichter wirbelten umher und kräuselten sich wie feinster Rauch.

»Willst du meine Freundin sein?«

Mit beiden Händen wurde die Maske entfernt.

»Lass uns spielen.«

Der Hauptmann senkte den Blick, als das Glas sich langsam auf das Mädchen zubewegte. Das Grollen des Ungetüms in der Ecke schwoll an und verwandelte sich in wilden Donner. Er hallte über das Schiff hinaus, über das Meer, bis in die nächste Stadt.

Jede Stadt hat ihr eigenes Gesicht. Die meisten sind schmutzig – sehr schmutzig. Hässlich und wirr, als wären die Häuser ohne Vorwarnung aufgetaucht. Nachts erinnern sie an umgekippte Müllhalden, deren glühende Fensteraugen in Düsternis starren. Andere verzichten auf Spuk oder Romantik, um einfach so vor sich hin zu stinken.

Diese hier war ein Holzschnitt in Schwarz und Weiß. Die sehr engen und gedrängten Linien darauf waren allesamt krumm und schief. Und da es sich um eine sehr alte Stadt handelte, gruben sie sich sehr tief ins Holz. Darüber konnte noch nicht einmal die Sonne hinwegtäuschen, die gerade über dem Meer aufstieg und alles in warmes Licht tauchte.

Ravenbrück, der oberste Zipfel Preußens.

Kleine, schiefe Fachwerkhäuser pressten sich dicht an dicht – so verhutzelt und verwinkelt, dass nicht einmal ein Pferde­­­karren durch die Gassen passte. Eine jener übel riechenden Fischerei­städte, durch deren Straßen man nicht ging, nein, man schob und zwängte sich hindurch, häufig auf Fischabfällen ausrutschend.

Hierhin passte auch der bucklige Schatten, der über allem thron­te. Drohend und abweisend. Das Waisenhaus. Der Ort der Ver­­­gessenen. Unzählige Schornsteine reckten sich in den Him­mel, wie ausgemergelte Finger. Sie griffen nach den Wolken, doch er­reichten sie nicht. Noch nicht. Aber das war nur eine Frage der Zeit.

Moritz Brenner verabscheute diesen Ort. Kaum ein Zimmer, das nicht halb auseinanderfiel oder sich aufgrund schiefer Trep­pen und morscher Dielen in kürzester Zeit in eine Todesfalle verwandelte. Und seine kleine Schwester mittendrin.

»Konstanze, wo bist du?« Er spähte hinunter in den kargen Vorhof. »Wo versteckst du dich?«

Keine Antwort.

Moritz fluchte. Konstanze wollte ihn ärgern, klar. Das tat sie nur, weil sie wusste, dass er die Verantwortung trug. Es war leichter, eine Katze zu baden, als auf sie aufzupassen. Warum konnte sie nur nicht so vernünftig sein wie er?

Stöhnend reckte er sich noch weiter aus dem Fenster, um ganz in die Tiefe blicken zu können; unter seinem Gewicht knackte der Holzrahmen. Weit und breit nichts zu sehen von Konstanze.

Moritz lehnte sich zurück und blickte an sich herab. Er war über und über mit Staub und Holzsplittern bedeckt. Großartig. Er klopfte seine Jacke sauber. Sie war viel zu schade für diese Umgebung. Seine Eltern hatten sie ihm vor über einem Jahr geschenkt, zu seinem zwölften Geburtstag. Danach war nichts mehr so gewesen wie zuvor.

»Konstanze, wo steckst du nur?«

Wie aufs Stichwort schepperte eine lose Schindel die Dach­schräge hinunter. Sie prallte von der Regenrinne ab und sauste dann dem Erdboden entgegen. Moritz sah, wie sie auf dem Pflaster zerbarst. Panisch blickte er zum Dachfirst hinauf. Ihm stockte der Atem.

Da war Konstanze. Sie balancierte auf der obersten Dach­kante … Nein, sie balancierte nicht, sie ruderte wild mit den Armen! Der Novemberwind peitschte ihr das Kleid um die Beine und zerrte an ihren dunklen Locken. Ihr bloßer Fuß suchte auf den Schindeln Halt. Sie drohte zu fallen.

»Konstanze, nicht!«, rief Moritz. »Komm auf der Stelle da runter!«

Langsam gewann Konstanze ihr Gleichgewicht zurück – aber nur für wenige Sekunden – im nächsten Moment fegte eine Wind­­böe über die Dächer und erwischte sie mit voller Wucht. Das Mädchen taumelte und umklammerte das Rohr eines nahen Schorn­steins. Es knackte. Der obere Teil des von Ruß und Rost zer­fressenen Metalls brach ab und polterte die Dachschräge hinunter. Mit einem Aufschrei fand Konstanze Halt am First.

»Rühr dich nicht vom Fleck! Ich komme zu dir!«

Hastig kletterte Moritz auf den Sims. Von dort aus sprang er auf das erste Schrägdach, dann krabbelte er hoch zum First und balancierte hinüber zum Schornstein. Er musste sich selbst an den Überresten des Rohrs festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, als er seine kleine Schwester zu sich zog.

»Konstanze, was ist in dich gefahren? Bist du verrückt?« Ängstlich besah er sich Konstanzes Knie. »Hast du dir wehgetan? Bist du irgendwo verletzt?«

»Nein, Moritz. Es geht mir gut.«

»Bist du sicher?« Er untersuchte ihre schmutzigen Füße. »Manchmal merkt man das nicht sofort und hat trotzdem was gebrochen.«

»Ja-ha.« Es klang genervt.

Moritz verdrehte die Augen. Konstanze verstand einfach nicht, wie wichtig es war, dass ihr nichts passierte. Für sie war er nur ein Angsthase und Spielverderber.

»Ich wollte wissen, was das für ein seltsames Geräusch ist«, sagte sie.

»Was für ein Geräusch?«

SCHA-RACK. Ein blechernes Krächzen meldete sich aus dem abgeknickten Rohr. Moritz zuckte zusammen.

»Das da! Ich hab’s durch den Kamin gehört.« Mit einer geschickten Bewegung befreite sie sich aus Moritz’ Umarmung, um sich die Sache näher anzusehen.

»Warte, das ist viel zu gefährlich! Ich sehe nach und du hältst dich hier am Sockel fest, damit du nicht runterfällst. Verstanden?«

Er bekam ein Murren als Antwort. Zögernd erhob er sich und starrte in den düsteren Schlot. Innen steckte ein dürrer Schemen kopfüber in der Dunkelheit und krächzte um sein Leben. Moritz griff in das Rohr und förderte ein Bündel aus schwarz-weißen Federn zutage.

»Eine Elster!« Konstanze schlug die Hände vor den Mund.

Das Tier sah wirklich mitleiderregend aus. Mit weit geöffnetem Schnabel starrte die Elster ins Nirgendwo und atmete dabei so heftig, dass ihr gesamter Körper bebte. Ihr Gefieder war rußverschmiert und einer ihrer Flügel stand seltsam verdreht vom Körper ab.

»Sie ist verletzt«, sagte Moritz und ließ sich zu seiner Schwes­ter auf den First hinunter.

»Wir pflegen sie wieder gesund, dann können wir sie behalten!«, rief Konstanze.

»Auf keinen Fall! Der Vogel kann dir in den Finger beißen. Außerdem kriegen wir Ärger, wenn Fräulein Bimmel das merkt. Du weißt doch, wie die ist.«

Konstanze wandte sich ab und schlang die Arme um die Knie. »Wenn Mama und Papa noch da wären, würden sie es erlauben.«

Moritz seufzte. Seitdem ihre Eltern gestorben waren, musste er für Konstanze alles sein: Vater, Mutter und Bruder zugleich. Er verspürte ein flaues Gefühl im Magen. Genau da, wo sein Herz hätte sein müssen, war seit fast einem Jahr ein Loch. Es war über Tage und Wochen langsam gewachsen. Da war eine Leere, die nicht mehr gefüllt werden konnte. Von niemandem.

Nachdenklich sah Moritz auf die zitternde Elster und fuhr sich durch die schwarzen Haare. Konstanze schniefte.

»Na gut. Wir verstecken sie unter dem Bett, da entdeckt sie niemand. Aber du musst mir versprechen, auf deine Finger aufzupassen.«

Konstanze wischte eine Träne fort und lächelte ihren Bruder an. »Ehrenwort, versprochen!«

»Das ist kein Scherz«, sagte Moritz und verstaute die Elster unter seiner Jacke. »Du machst dir keine Vorstellungen, was so eine Elster anrichten kann. Vielleicht wird dein Gesicht ganz grün und deine Haare wie Stroh! Und dann bekommst du überall braune Flecken – und am Ende siehst du aus wie, ähm, wie …«

»Eine Kartoffel?« Konstanze gluckste und ergriff die Hand ihres Bruders, um mit ihm zurück in ihr Zimmer zu klettern.

*****

Am anderen Ende von Ravenbrück kräuselten sich Wellen. Lautlos näherte sich etwas auf dem Wasser, schmal, schlank und schwarz wie Pech. Wie aus dem Nichts tauchte das Schiff auf und hielt auf den Uferdamm zu.

An Deck ließ der Hauptmann seinen Blick über das Getüm­mel im Hafen schweifen. Sein neues Revier. Ein Ort, innezuhalten, sich zu laben. Ein Ort voller Leben. Laut, gedrängt und vor allem … besetzt. Der Hauptmann erkannte die französi­schen Uniformen schon von Weitem. Auf Anweisungen eines Zollbeamten durchsuchten sie Waren, brachen Kisten auf und klopften Fässer ab. Mit unwirschen Gesten deuteten sie mal hierhin und mal dorthin, um ihren Kontrollen die nötige Autorität zu verleihen. Alles, was im Entferntesten an englische Güter erinnerte oder nicht ausreichend ausgewiesen war, wurde konfisziert. Die Handelssperre war intakt und betraf jeden. Auf Schmuggel stand vielerorts die Todesstrafe.

Der Hauptmann lächelte. Solange er sich erinnern konnte, segelten seine Herrin und er im Windschatten irgendeines Krieges. Schipperten von Hafen zu Hafen, nicht mehr als ein Ge­­spenst auf hoher See. Ihm war nicht ganz klar, welchen Zauber die Komtesse bewirkte, doch ihr Schiff befand sich stets im Augenwinkel des Betrachters. Sichtbar und doch unsicht­­­­bar – geschützt vor neugierigen Blicken.

Sophie.

Der Name war haften geblieben. Er verteilte sich wie Gift in seinem Körper. Denk nicht daran, dass sie Menschen sind, hatte sein Vater immer gepredigt. Frag nicht nach ihren Namen.

Er war unvorsichtig gewesen, hatte seinen Posten verlassen. Die Gerüche an Bord machten ihn verrückt.

Sophie.

Namen hatten Macht. Waren sie nicht das, was die Menschen mit der Vergangenheit verband? Machten sie Menschen nicht sichtbar? Aber es war seine Pflicht, unsichtbar zu sein.

Er erinnerte sich noch gut an seinen Namen. Er war sein Geheimnis. Seine Mutter hatte ihn Nathaniel gerufen. Nathaniel Rien. Das schien eine Ewigkeit her zu sein.

Einmal hatte er seinen Namen in die Bordwand über seiner Schlafstätte geritzt. Dafür waren ihm die Hände mit kochendem Wasser verbrüht worden. Danach hatte er den Namen so lange mit dem Messer bearbeiten müssen, bis er kaum noch zu erkennen gewesen war.

Hier an Bord war er ein Niemand, ein Mann ohne Namen, ohne Identität. Ein Diener, sonst nichts.

Seine Hand suchte nach dem Amulett an seiner Brust und der Stein erwachte. Eine Erschütterung ließ die Planken unter seinen Füßen leise erzittern. Die Kreatur im Bauch des Schiffes rührte sich. Durch das Amulett sah er, wie sich ihre wilden Augen in der Dunkelheit der Messe öffneten und sich ihr Körper im Takt seines Herzens unruhig hin und her bewegte.

»Heute Nacht werden wir wieder jagen«, murmelte Nathaniel. Nur würde er diesmal vorsichtiger sein.

Donner grollte. Der Abendhimmel bereitete sich auf einen ge­­waltigen Sturm vor. Die ersten Böen jagten bereits über die Häuser. Sie lockerten Schindeln und zerrten das letzte Laub von den schon herbstkahlen Bäumen.

Im Waisenhaus hatte man begonnen, die Fenster und Türen zu sichern. Fräulein Bimmel, die Leiterin des Hauses, schritt mit griesgrämiger Miene von Zimmer zu Zimmer, um höchstpersönlich die Barrikaden zu begutachten.

Wenn man überhaupt etwas Gutes über Fräulein Bimmel sagen konnte, dann, dass sie groß war. Und das in jeder Be­­ziehung. Ihre Gestalt war so riesenhaft, dass so manch gestandener Mann vor Angst die Flucht ergriffen hatte. Sie hatte große Hände, große Schultern, große Beine und große Hüften, die sie jeden Morgen in eine kornblumenblaue Scheußlichkeit von Kleid zwängte. Selbst ihr Busen wirkte überdimensional. Nun wäre es sicher naheliegend anzunehmen, dass in so einer übergroßen Brust auch ein ebenso großes Herz schlägt – doch weit gefehlt. Ihr Herz war noch kleiner als ihr Mund und dieser kannte zusammen mit dem Rest ihres Gesichtes nur einen Ausdruck: beleidigt!

Grob rüttelte Fräulein Bimmel an den vernagelten Fens­ter­­­­­­­läden in der Küche, wo zu dieser Stunde eine Handvoll fran­­zösischer Soldaten schweigend ihr Abendessen einnahm; sie waren permanent hier einquartiert, ein Umstand, der per Erlass von den Besatzern durchgesetzt worden war. Die Männer taten gut daran, das Fräulein nicht anzusprechen. Einer hatte es einmal gewagt und war nur mit einem Nachttopf bekleidet auf dem Dach aufgewacht. Seitdem ging das Gerücht, dass die Geheimwaffe des Preußischen Reiches Fräulein Auguste Bimmel hieße.

Das Fräulein grunzte, als die Inspektion beendet war. Das bedeutete gemeinhin, dass sie leidlich zufrieden mit der geleisteten Arbeit war. Die Köchin und die Magd, deren Fenster die Prüfung bestanden hatten, tauschten besorgte Blicke aus, bis das Fräulein endlich wieder den Raum verließ. Sie war heute in besonders grässlicher Stimmung.

Direkt unter dem Dach, auf einem kleinen Nachtisch, brannte eine Kerze. Ihr Schein fiel auf ein blank geputztes Medaillon aus feinem Silber, das die Silhouetten einer Frau und eines Mannes zeigte: Luise und Lutz Brenner, die Eltern von Moritz und Kons­tanze.

Dieses Schmuckstück war das Einzige, was den beiden Ge­­schwis­­tern von ihren Eltern geblieben war. Alles andere war nach ihrem Tod verbrannt worden. Aus Angst, wie Moritz wusste. Denn wenn in einem Haus­halt Influenza ausgebrochen war, wussten sich die Leute nicht anders zu helfen. Die letzte große Epidemie steckte allen noch tief in den Knochen. Auch sämtliche Kleidungsstücke wurden ins Feuer geworfen – und doch war es Moritz gelungen ein paar Sachen vor dem Ofen im Keller des Waisenhauses zu retten.

»So, jetzt bist du fertig.«

Moritz blinzelte. Die Stimme seiner Schwester drang in sein Bewusstsein. Sie saß mit dem Rücken zu ihm im Schneidersitz auf den Dielen, wo er gerade dabei war, ihr graues Nachtgewand am Rücken zuzuknöpfen.

Die Elster hopste von ihrem Schoß herunter und inspizierte den Verband, der ihren Körper stützte. Seltsamerweise versuchte sie nicht ihn loszuwerden, sondern keckerte nur leise, als sie die winzige Schleife an ihrer Brust entdeckte. Moritz kannte Elstern. Sie waren weder zu übersehen noch zu überhören, wenn sie sich in den Gassen mit den Möwen um die Abfälle stritten. Aber diese hier war anders. Sie reagierte ruhig und friedlich, fast wie ein Mensch.

»Du brauchst unbedingt einen Namen«, sagte Konstanze.

Moritz, der gerade den letzten Knopf an ihrem Gewand ge­schlossen hatte, schnappte sich zum vermutlich hundertsten Mal am heutigen Tag das rosa Haarband seiner Schwester. »Jetzt halt bitte still, sonst kann ich deine Schleife nicht richtig zubinden.«

»Wie wär’s mit Theo?«, fragte Konstanze und legte den Kopf schief. Die Elster ahmte sie nach.

»Scha-rack!« Es klang unzufrieden.

»Stillhalten habe ich gesagt.«

»Also, es ist auf jeden Fall ein Männchen. Das sieht man an der Form seines Schnabels!«

Moritz seufzte. »Wenn du meinst.« Er war immer noch vertieft in seine Arbeit mit dem Zopf. Irgendwann musste er es doch schaffen, die Haare so zu binden, dass alles an seinem Platz blieb. »Fertig!«

Konstanze entspannte sich und sprang auf. Sie hüpfte wild über die Betten und steuerte dann schnurstracks auf das Medail­lon zu.

»Heute bin ich dran«, verkündete sie und griff danach.

»Nein, gib es wieder her!«, rief Moritz. »Du hast es gestern Abend schon gehabt.«

»Hab ich nicht!«

Ein Moment der Unachtsamkeit und Moritz hatte ihr das Medaillon wieder abgenommen. Er hielt es hoch über ihren Kopf. »Mama und Papa haben mir die Verantwortung übertragen. Ich bin der Erwachsene, also sage ich, wer es bekommt.«

»Mama und Papa haben gesagt, wir sollen es uns teilen!« Sie hüpfte hoch, um es zu erreichen.

Moritz verfluchte sich. Da war sie wieder, die Lüge. Er hatte seiner Schwester nie erzählt, wie er wirklich an das Medaillon gekommen war. Die Wahrheit war zu schrecklich. Warum hatte er ihr überhaupt davon erzählt?

Abermals sprang Konstanze nach oben. Sie bekam den An­­hänger zu fassen und riss daran.

»Lass das! Du machst es kaputt«, rief Moritz.

Konstanze schrie hell auf. Sie zog noch fester an der Kette. Die Elster krächzte erschrocken und brachte sich unter dem Bett in Sicherheit.

Moritz dämpfte seine Stimme. »Hör auf zu schreien! Wir kriegen noch Ärger!« Aber Konstanze schrie weiter, den Anhänger so fest im Griff, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden.

»Sei leise! Bitte!«

Doch es war zu spät. Die Tür flog auf und eine bekannte Stimme donnerte ins Zimmer. »Was ist denn hier los?«

Moritz wurde kalkweiß. Fräulein Bimmel stand mitten in der Tür, mit einem Gesicht, das Milch hätte sauer werden lassen können.

»Er hat das Bild von Mama und Papa«, rief Konstanze, »und ich bin heute dran, es zum Einschlafen zu haben.«

Das Fräulein hob eine Augenbraue. »Stimmt das, junger Brenner?«

Moritz schluckte. Fräulein Bimmel hatte ihn mit seinem Nach­­­­­namen angesprochen – kein gutes Zeichen. »Sie hatte es schon gestern. Sie erinnert sich nur wieder nicht.«

»Gar nicht wahr!«, blökte Konstanze.

»Wohl wahr!«, schnaubte Moritz. Warum musste sie immer alles noch schlimmer machen?

Fräulein Bimmel reckte sich und der Raum schien zu schrumpfen. Ihre Mundwinkel erklommen einen Teil ihres Gesichts, der nur sehr selten Besuch bekam. Sie lächelte, die Parodie eines Lächelns. »Nun, da gibt es wohl nur eine Lösung.«

Ihre Hand senkte sich vor Moritz herab, der ängstlich die Augen zusammenkniff. Und als sie wieder verschwand, hatte das Medaillon den Besitzer gewechselt.

»Nein, bitte nicht!«

»Ich behalte es heute Nacht«, sagte das Fräulein und lächelte. Bereits das zweite Mal an diesem Abend – ein unheimlicher Rekord. »Wenn ihr euch wieder vertragen habt, könnt ihr morgen zu mir kommen.«

»Aber …« Unwillkürlich macht Moritz eine Bewegung auf sie zu.

»Ihr Brenners solltet auch schon längst schlafen.« Ihr Lächeln gefror. »Ich komme gleich und kontrolliere das. Wenn ich dann noch Licht sehe, dann …« Sie schwenkte das Medaillon wie ein Pendel und ließ es in ihre Tasche gleiten. Mit einem RUMS! schloss sie die Tür hinter sich.

Moritz war wie erstarrt. Sein Mund staubtrocken. Er hörte die Stimme seiner Schwester. »Tut mir leid, Moritz.«

Aber Moritz rührte sich nicht. Er starrte auf die Tür. Dann irgendwann, sank sein Kopf nach unten: »Warum verschwindest du nicht einfach …«

Ohne Konstanze noch einmal anzusehen, ging er zu seinem Bett, löschte die Kerze und zog sich die Decke über den Kopf.

»Es tut mir leid!«

Moritz hörte seine Schwester in der Dunkelheit schniefen. Aber es war ihm egal. Kurz darauf krabbelte sie in ihr Bett, wo sie leise weiter wimmerte. Er schloss die Augen und glitt hinüber in einen unruhigen Traum, während draußen vor dem Fenster der Sturm begann.

Ein Blitz zerriss die Nacht. Das Unwetter fegte ins Zimmer. Glas zer­splitterte. Wind und Regen peitschten zum Fenster herein. Moritz wälzte sich in seinem Bett hin und her. Etwas Riesiges kroch durch die Öffnung. Jemand schrie. Eine helle, kleine Stimme. Konstanze!

Mit einem Satz sprang Moritz aus dem Bett, plötzlich hellwach. Es war kein Traum! Wieder hörte er den Schrei.

Moritz stand mitten im Zimmer und starrte zum Erkerfenster. Die Läden waren aus den Angeln gerissen – überall lag Glas. Als der nächste Blitz den Fensterrahmen ausfüllte, sah Moritz das, was ihn eben noch in seinen Träumen verfolgt hatte. Den Umriss eines gewaltigen Ungetüms. Klauen, ein langer Schwanz, gewaltige Schwingen, ein gebogenes Maul und rot glühende Augen!

Ein … ein Greif!

Nein, das konnte unmöglich sein! Moritz’ Gedanken rasten. So etwas gab es nur im Märchen! Das Untier bewegte sich. Seine Gestalt, sein ganzes Äußeres, verschwamm vor Moritz’ Augen wie durch einen Zerrspiegel entstellt und setzte sich dann neu zu­­­sam­­men – in all seiner Schrecklichkeit. Das Geschöpf, groß wie ein Löwe, klammerte sich mit einer Pranke am Fensterrah­men fest. In seiner anderen hielt er – Moritz stockte der Atem …

»Konstanze!«

Mit einem grässlich knackenden Geräusch öffnete das Untier sein Maul. Tief in seinem Rachen loderte ein Feuer. Funken sprühten, als ob sie aus der Hölle selbst heraufgeflogen kämen. Sein Schrei vermischte sich mit dem Grollen des Donners und dem Heulen des Sturms. Dann krümmte sich die Kreatur und sprang hinauf zum First. Sie wollte verschwinden – mit Konstanze.

»Moritz!«, schrie seine Schwester.

Er stürzte hinterher, zum Fenster hinaus, hoch aufs Dach. Regen klatschte ihm ins Gesicht. Schnell kletterte er höher, bis er den ersten First erreicht hatte. Oben sah er sich um.

Das Ungetüm raste durch den Irrgarten aus kleineren und größeren Dächern. Es rammte Schornsteine und riss sie mit sich wie eine Geröll­­­lawine. Moritz nahm die Verfolgung auf. Er rannte eine Dachschräge hinauf und schlitterte sie auf der anderen Seite wieder hinunter. Konstanzes Stimme hallte durch den Sturm.

»Moooriiitz!!!«

Er schnellte wie ein Pfeil von der Sehne – bog um Schorn­steine, schlug Haken, das Ungetüm mit seiner Schwester immer im Blick.

»Konstaaanzeee!!!«

Das Monstrum öffnete die Flügel. Moritz’ Augen wurden groß. Oh nein, bitte nicht.

Ein letztes Mal mähte das rasende Ding einen Schornstein um. Etwas löste sich, flatterte vom Sturm getragen direkt auf Moritz zu. Er fing es auf. Konstanzes Haarband.

Das Ungetüm hatte das Ende des Daches erreicht und sprang. Ein Blitz zerfetzte den Himmel.

Die Flügel spannten sich. Das Monstrum segelte vom Dach des Waisenhauses durch den Regen davon, Konstanze in seinen Fängen.

Moritz stolperte, stürzte zu Boden. Er schlug hart auf und schlitterte unkontrolliert das Dach hinunter. Auf der linken Seite sah er einen Schornstein, dahinter ging es in die Tiefe. In letzter Sekunde verlagerte er sein Gewicht. Der Schlag gegen die Brust nahm ihm den Atem, doch der Schornstein stoppte ihn gerade noch rechtzeitig.

In der Ferne konnte er die Umrisse des Ungetüms sehen, dunkel und verschwommen.

»Konstanze«, murmelte er, seine Finger krampfhaft um das nasse Haarband geschlossen. Das war sein einziger Gedanke, bevor er das Bewusstsein verlor.

Konstanze.

Er konnte sie sehen.

Sie trat aus der Dunkelheit.

Stumm in ihr Nachtgewand gehüllt.

Weißes Licht fiel auf ihr Gesicht.

Ein Schatten näherte sich.

Kroch wie Pech über ihre starren Züge.

Verschluckte sie.

Ganz.

Konstanze erwacht. Sie ist nicht mehr als ein kleiner Funken, der in der Dunkelheit schwebt. Ein Geist ohne Körper, Gesicht oder Erinnerung. Alles, was noch an ihr haftet, ist ein Gedanke, ein Name: Moritz. Sie kennt weder seine Bedeutung noch seine Herkunft. Doch er ist tief in ihr eingebrannt, wie ein Mal. Langsam treibt der zitternde Hauch, der einmal Konstanze gewesen ist, durch die Finsternis, die endlos und kalt ist. Die Kälte eines dunklen Sees, ohne Grund, ohne Leben. Doch, da ist Leben. Kümmerlich und fein bewegt es sich überall. Es müssen Hunderte sein, vielleicht Tausende. Genauso winzig und geisterhaft wie sie, aber ebenso lebendig und atmend. Im nächsten Moment erstarrt alles. Etwas hat sich verändert. Etwas ist anwesend und bemächtigt sich ihrer Stimme. Es regt sich in der Dunkelheit und alle müssen ihm gehorchen. Direkt vor ihr schlägt das Etwas seine Augen auf. Gleißendes Licht durchzuckt die Finsternis. Ein grausamer Mund öffnet sich.

Behutsam setzte die Komtesse ihre Maske wieder auf und begann zu sprechen. Unzählige Mädchenstimmen erklangen im Chor. Und Konstanze war nun eine von ihnen.

Am Morgen nach dem Sturm erschien die Welt grell und laut. Die Straßen waren voll von alldem, was das Unwetter mit sich ge­rissen hatte. Zäune und Karren lagen in den Seitengassen und machten ein Durchkommen unmöglich. Wagenladungen ver­­dreck­­ter Wäsche klebten an Häuserwänden und Fensterläden. Eine einsame Unterhose zierte das Eingangsschild der Stadt­wache.

Drinnen tobte das blanke Chaos. Ein Dutzend Menschen hatten sich vor dem breiten Tresen versammelt und diskutierten aufs Heftigste miteinander. Mittendrin, eingequetscht zwischen Rücken, Ellenbogen und dem bis zum Platzen geschnürten Mieder einer drallen Dame, stand Moritz. Er war bleich, hatte tiefe Augenringe und seine Lippen waren leichenblau.

Bereits den ganzen Morgen über hatte er nach Hilfe gesucht. Im Waisenhaus war er weggeschickt worden, denn alle waren viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Sturmschäden zu beseitigen. Aber die Wachmänner würden ihm helfen. Sie mussten einfach!

Er hatte sich schon bis nach vorne zum Tresen durchgekämpft, als ihn zum zweiten Mal der Ellenbogen des Mannes traf, der ihm die Sicht blockierte. Er schrie nicht nur am lautesten, sondern schleuderte eine übel riechende Bierfahne in die Gesichter aller Anwesenden.

»Der Wagen kam aus der Seitengasse und hat meinen Karren gerammt. Und nun frage ich Sie, mein Herr, wo waren die Wachleute da?«, rief er, während sich ein stattlicher Rülpser seinen Weg die Kehle hinauf suchte.

Sofort zwängte sich die dralle Dame nach vorne und schob Moritz beiseite: »Zuerst der Sturm und heute Morgen klaut mir jemand meinen Apfelwagen. Das darf doch nicht wahr sein!«

Der zuständige Wachtmeister kratzte sich seinen gewaltigen Backenbart. Er tauschte einen Blick mit seinem jüngeren Kollegen, der hinter ihm den Bretterwall vor den Fenstern entfernte. Dies war alles andere als ein gewöhnlicher Morgen.

»Jetzt mal ganz ruhig. Jeder kommt ja an die Reihe.«

»Mein Apfelkarren ist weg!«, hob die dicke Dame wieder an. »Der Dieb ist sicher schon über alle Berge, nur weil Sie hier unsere wertvolle Zeit verplempern!«

Sie erdrückte Moritz fast. Glücklicherweise entdeckte er eine Lücke zwischen zwei Bierbäuchen. Er konnte zwar kaum über den Tresen hinwegsehen, doch er war entschlossen, gehört zu werden: »Bitte helfen Sie mir! Meine Schwester wurde entführt! Ich habe die Verantwortung für sie und –« Weiter kam er nicht, denn eine fleischige Hand packte seinen Kopf und schob ihn aus dem Weg.

»Jetzt drängel dich hier nicht vor, Lümmel«, schimpfte eine andere Frau und nahm die Hand wieder von Moritz’ Kopf. »Ich bin eine respektable Dame und werde nicht zulassen, dass du dich hier so frech …«

Moritz beachtete die Frau gar nicht. Er nutzte die nächste Lücke und quetschte sich nach vorne: »Bitte helfen Sie mir! Meine Schwester wurde entführt! Ich –«

Ein Ellenbogen landete mitten in seinem Gesicht. Seine Nase vibrierte vor Schmerz. Moritz schrie auf und schlug gegen den Tresen. Der Knall ließ für Sekunden das Durcheinander verstummen.

»Verdammt, jetzt hören Sie doch zu! Meine Schwester wurde entführt!«

Alle Augen ruhten nun auf Moritz.

Der bärtige Wachtmeister beugte sich tief über den Tresen: »Was schreist du so, Bursche?«

Moritz betastete seine Nase. Wenigstens blutete sie nicht. »Meine Schwester, Konstanze Brenner«, sagte er hastig, »sie ist sechs Jahre. Sie wurde entführt von einem Ding! Einem … einem Etwas! Einem … einem … Monstrum!«

Einen Herzschlag lang geschah nichts. Dann ertönte schallen­des Gelächter. Ausnahmslos alle Anwesenden schütteten sich aus vor Lachen.

Moritz sank in sich zusammen. Er starrte auf das feuchte rosa Haar­band in seiner Hand. Dann hörte er wieder die Stimme des Wacht­meisters: »Geh nach Hause zu deinen Eltern, Junge. Wir haben hier Wichtigeres zu tun, als uns deine Märchen anzuhören.«

»Sie sind tot. Meine Eltern sind tot!« Die Worte schossen förmlich aus Moritz’ Mund.

Wieder Stille. Diesmal länger.

Moritz blickte auf seine Schuhe. Die ersten Geräusche, die er hör­­te, kamen von Stiefeln. Jemand ging um den Tresen herum. Moritz spürte, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte. Er sah auf.

Es war der junge Schutzmann, der gerade noch an den Fens­tern gearbeitet hatte. Sein Gesicht war freundlich, seine Stimme ruhig. »Komm mit mir, Junge«, sagte er. Vor ihnen bildete sich eine kleine Gasse.

Es klopfte zweimal, dann öffnete sich die Tür.

Den ganzen Weg zurück zum Waisenhaus hatte Moritz ge­schwiegen. Immer wieder hatte der Schutzmann versucht, ein Ge­­­­­­spräch anzufangen, hatte ihn nach seinem Namen gefragt. Moritz war stumm geblieben. Es war sinnlos. Er hatte um Hilfe ge­­­bettelt, wollte allen erzählen, was passiert war – doch sie hatten nur gelacht.

Jetzt erwartete ihn der Flur des Waisenhauses und der finstere Blick von Fräulein Bimmel.

Wenig später saß er auf einem Stuhl in ihrem Büro. Wie hypno­­­tisiert sah er auf das Haarband in seinen Händen. Sein Zeige­f­­­inger fuhr sanft über den weichen Stoff. Die Unterhaltung zwischen dem jungen Beamten und Fräulein Bimmel lähmte seine Sinne.

Wie immer saß das Fräulein mit vor der Brust verschränkten Armen hinter ihrem Schreibtisch. Der säuerliche Zug um ihren Mund konnte nur eines bedeuten: Sie hielt den Schutzmann in seiner viel zu großen Uniform für einen Schwächling.

»Die Brenners hat die Grippe geholt, letzte Weihnachten.« Ihre Worte waren ein Fausthieb in Moritz’ Magengrube.

»Der Junge sagt, dass seine Schwester entführt wurde.«

Fräulein Bimmel grunzte. »Ach, ich bitte Sie, wer sollte so ein mageres Gör schon entführen?! Das sind Hirngespinste.«

»Das heißt, Sie wissen, wo das Mädchen ist?«

»Mitnichten! Es muss letzte Nacht während des Sturms fortgelaufen sein.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Wäre nicht das erste Mal.«

Schweigen.

»Und Sie haben noch nicht nach dem Kind gesucht?«

Es knarrte bedrohlich, als sich das Fräulein sehr, sehr lang­­­sam über den Tisch beugte und dabei die Hände faltete. »Vielleicht haben Sie es noch nicht bemerkt, aber wir hatten letzte Nacht einen Jahrhundertsturm. Sämtliche Fenster auf der Nordseite wurden zerstört und wir sind gerade damit beschäftigt die Schäden zu beseitigen – die Franzosen rühren natürlich keinen Finger. Glauben Sie wirklich, ich hätte schon Zeit gehabt, mich um ein missratenes Balg zu kümmern?« Mit jedem Wort hatte sie sich mehr von ihrem Stuhl erhoben, bis sie schließlich wie ein Berg über dem mageren Beamten aufragte.

»Nun, ich, ähm …«, begann dieser und fand plötzlich die Falten seiner Uniform ungemein interessant. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass Fräulein Bimmel bereits gewonnen hatte.

Ihre Bratpfannenhand wies zur Tür. »Ich versichere Ihnen, das Mädchen wird wieder auftauchen, wenn es Hunger hat. Das tun sie alle.«

Moritz stand allein in seinem Zimmer. Hier sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Das Fenster war zerborsten, der Nacht­­­tisch umgefallen und die Kerze entzwei. Die Holzdielen hatten sich mit Regenwasser vollgesogen und überall klebten Laub, Dreck und Zweige.

Bei jedem Schritt, den Moritz auf Konstanzes Bett zumachte, knackte Glas unter seinen Schuhen.

Ihr Bett war zerwühlt, nass und schmutzig, als hätte ein Kampf stattgefunden. Moritz begann zu zittern. Angst kroch in ihm hoch. Konstanze – er war so gemein zu ihr gewesen. Und jetzt war sie irgendwo, ganz allein. Vielleicht tat man ihr weh oder sie war bereits …

Er hörte ein Geräusch. Etwas keckerte unter dem Bett. Die Elster zeigte ihr Köpfchen und sah sich im Zimmer um. Ihr Verband war verrutscht.

Moritz kniete nieder. Die Schnitte der Glasscherben in seinen Knien spürte er kaum. Vorsichtig nahm er Konstanzes Haar­­­band und umwickelte den verletzten Flügel neu. Zum Dank erhielt er ein Krächzen.

Behutsam hob Moritz den Vogel vom Boden auf und steckte ihn schützend unter seine Jacke. Dort hatte er es warm und weich. Sein Blick glitt zum Fenster hinaus. Hier gab es nichts mehr für ihn zu tun. Es gab keinen Grund, noch länger zu bleiben.

Doch, eine Sache noch …

Im Erdgeschoss war alles ruhig. Moritz stand auf der Treppe und spähte um die Ecke einen langen Gang hinunter. Er sah sich nach allen Seiten um, dann rannte er los.

Vorsichtig legte er ein Ohr an die Tür und wartete. Kein Geräusch war zu hören. Mit pochendem Herzen drückte er die Messingklinke herunter. Ein Glück, die Tür war nicht verschlossen. Schnell trat er in Fräulein Bimmels Büro.

Der Raum war karg möbliert und eiskalt. Moritz starrte auf den großen Schreibtisch. An den Wänden waren hohe Schränke mit Schubfächern angebracht. Nur an der linken Seite nicht, da stand ein schiefer Sekretär und direkt daneben ein wuchtiger, alter Kleiderschrank.

Moritz schlich zum Schreibtisch, auf dem sich allerlei Krims­krams häufte: Briefe, Einkaufslisten, ein Rechenschieber, ein auf­­­­ge­­schlagenes Kassenbuch, ein Tintenfass mit Schreib­federn und ein kümmer­­liches Talglicht.