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INHALTSVERZEICHNIS

ERIC WALLIS: WUTWÖRTER UND WUTBÜRGER

FRITZ FASSBINDER: COJONES

MANFRED THEISEN: BARFUSS DURCH SCHERBEN

ALICE GABATHULER: ES PASSIERT. JETZT.

MAIKE STEIN: WEIL MEINE WUT EUCH ETWAS ANGEHT

MANFRED THEISEN: ICH HAB HARTZ 4

AGNES HAMMER: WINNI

MANFRED THEISEN: ENDLICH AUSATMEN

JOCHEN TILL: IMMER COOL BLEIBEN

JANET CLARK: DIE NÜTZLICHEN

LISA SOPHIE LAURENT: ZEHNMAL WÜTEND UND WAS DANN?

ZORAN DRVENKAR: VON EINEM ZUM ANDEREN

WUTWÖRTER
UND
WUTBÜRGER

VON ERIC WALLIS

 

Leonie ist manchmal richtig wütend, wenn ihr was gegen den Strich geht. Wenn die Wut verraucht ist, fühlt sie sich erleichtert. Aber sie weiß manchmal gar nicht mehr, warum sie so wütend war.

HALTEN WIR FEST: WUT TUT GUT.

So wie Leonie geht es oft auch Hanna, Anna, Lea, Lena, Laura und Emily. Ach so, und die Jungen sind natürlich auch wütend, Lukas, Leon, Luca, Finn, und nicht zu vergessen Niklas. Ihr alle seid mal wütend. Und wer noch niemals wütend war, wird es irgendwann einmal sein.

HALTEN WIR ALSO FEST: WUT IST MENSCHLICH.

Wer wütend ist, der kämpft um seine Interessen. Hinter den Interessen steht die Angst. Sie mahnt: »Wenn du deinen Willen nicht kriegst, dann befindest du dich auf dem Weg ins sichere Verderben.« Wer Angst hat, hat drei Möglichkeiten. Er läuft einfach weg, er erstarrt vor Angst und wartet, bis das Unheil über ihn hereinbricht, oder er versucht, es mit aller Kraft abzuwenden. Dabei ist die Wut ein guter Antrieb.

Was macht uns wütend? Ein Marmeladenglas, das sich nicht öffnen lässt? Hier ist Wut ziemlich sinnlos. Gegen dieses Glas kann unsere Wut nur verlieren. Wir können es auf den Fußboden schmeißen. Dann ist aber die Marmelade voller Scherben. Unsere Wut ist dem Marmeladenglas ganz egal. Ähnlich machtlos ist unsere Wut, wenn wir den Bus verpassen oder bei einem platten Fahrradreifen.

Machen uns hingegen echte Menschen wütend, dann ist unsere Wut nicht mehr so machtlos. Und in der Tat: Oft finden wir die Wut-Verursacher in der Familie, in der Schule, im Sportverein und, und, und. Schauen wir genauer hin, sehen wir, dass es häufig zuerst Wörter und Sätze sind, die uns wütend machen. Mit etwas Pech wird daraus ein Handgemenge. Im besseren Fall bleibt es bei einem Wortgemenge, und wir brüllen einfach ein paar Schimpfwörter. Der große Vorteil an der Ehe zwischen Wut und Sprache ist, dass Wörter zwar wehtun können, aber dass einem am Ende nicht Augen, Arme, Beine oder gar das ganze Leben fehlen.

MIT DER SPRACHE JEDOCH KÖNNEN WIR MENSCHEN EBENSO LÜGEN.

Und da gibt es nicht nur die beinharten Lügen. Die Sprache ist ein viel feineres Werkzeug. Mit der Sprache können wir sogar lügen, ohne zu lügen. Einfach nur, indem wir unterschiedliche Wörter gebrauchen, die nicht komplett gelogen sind. Ich kann zu Leonie sagen: »Schau mal, da sitzt ein Schmetterling auf deiner Schulter«, und sie wird sich freuen, sich fragen, welche Farbe er hat, und vielleicht sogar ein Selfie machen wollen. Oder ich sage zu ihr: »Schau mal, Leonie, da sitzt ein Insekt auf deiner Schulter«, und sie wird sich ängstlich fragen: Kann es stechen, saugt es Blut? Ohne zu lügen, kann ich zwei verschiedene Wahrnehmungen in Leonie auslösen. Einmal Freude, das zweite Mal Angst.

UND ANGST IST MIT DER WUT BEFREUNDET.

Ohne Sorge und Angst keine Argumentation. Achtet einmal darauf! Wenn ihr jemanden überzeugen wollt, etwas Bestimmtes zu tun, dann macht ihr zwei Dinge. Zum einen malt ihr ein Bild von einer schlechten Zukunft, die entsteht, wenn er nicht so handelt, wie ihr das wollt. Ihr verbreitet also Angst. Damit lasst ihr diese Person aber selten allein, sondern erzählt ihr, wie viel schöner und besser alles wird, wenn es so läuft, wie ihr wollt, und ihr hofft, dass der andere sich darauf einlässt. Das ist übrigens das Grundmodell einer politischen Kampagne. Jede Kampagne besteht aus positivem und negativem Campaigning gleichzeitig.

Leonie möchte ein Mobiltelefon haben. Ihre Eltern wollen das nicht erlauben. Die Eltern werden sagen: »Ein Mobiltelefon ist nicht gut für dich, Leonie, du wirst zu häufig abgelenkt und schlechte Noten in der Schule kriegen, nicht mehr zum Sporttraining gehen und deine Hausaufgaben vernachlässigen, ein Smartphone wird dich (und uns) überfordern und ein fremdgesteuertes Wesen aus dir machen, das sich permanent von den wichtigen Dingen des Lebens ablenken lässt.« Zweitens werden sie zu Leonie sagen: »Warte noch etwas, und du wirst ein besseres Smartphone-Modell erhalten, und dann kannst du es auch nutzen, wie du möchtest, aber du musst erst alt genug sein.« Das wäre dann die Kampagne gegen Leonies Smartphone.

Wie diese Kampagne weiterläuft, verfolgen wie jetzt nicht weiter. Aber ihr könnt sicher sein, auch Leonie ist vorbereitet. Und ihre Gegen-Kampagne handelt davon, wie toll eine Welt mit Smartphone ist und wie schlecht eine ohne. Ohne das Smartphone wird sie eine Außenseiterin sein, weil sie nicht am Klassenchat teilnehmen kann, sie wird schlechte Noten bekommen, weil der Lehrer die Hausaufgaben allen direkt aufs Handy schickt. Und die Welt wird viel besser, weil der Kalender sie regelmäßig an den Geburtstag der Oma erinnert.

POLITIK IST DER KAMPF UM DIE BESTEN IDEEN.

Gehen wir in die große Politik. Leonies Smartphone und die große Politik haben ziemlich viel gemeinsam. Politik ist gar nicht so langweilig, wie wir alle glauben. Die Politik regelt nicht nur das Zusammenleben der Menschen und verteilt die Steuergelder. Politik ist der Kampf um die besten Ideen, wie die Gesellschaft zu organisieren ist. Meinungskampf. Insofern spielt die Politik immer auch gerne mit den Sorgen der Menschen.

»Wenn wir das und das nicht machen«, sagt Angela Merkel, »dann passiert etwas ganz Schlimmes. Damit das Schlimme nicht passiert, machen wir es so, wie ich es will.«

»Haaaalt, stopp, ganz im Gegenteil«, ruft Gregor Gysi. »Wenn wir das, was Sie, Frau Merkel, da vorschlagen, wirklich machen, dann kommt es ganz übel. Machen wir es darum besser so, wie ich es möchte.« So geht es hin und her. Beide Seiten verbreiten neben einer positiven Zukunftsvision ein negatives Szenario. Am Ende geht es also darum, wer besser schwarzmalt und den Menschen zugleich die schönere Zukunft verspricht.

Das alles ist ziemlich normal, und – wie schon gesagt – es ist auch sehr gut, dass wir Menschen diesen »Kampf« kommunikativ klären. Der Kampf der Meinungen wird in Deutschland mit Worten gefochten und nicht mehr mit echten Waffen. Wir erinnern uns an die Ehe von Sprache und Wut. Vor einigen Hunderten oder Tausenden Jahren hätten Angela Merkel und Gregor Gysi womöglich noch Armeen gebraucht, um den anderen zu »überzeugen« bzw. diesen Meinungskampf zu gewinnen und bestimmen zu dürfen, wo es langgeht. Politikerinnen und Politiker können und dürfen nur durch Worte Menschen hinter sich versammeln. Und wer mehr Menschen versammelt, der hat die Mehrheit, und wer die Mehrheit hat, der darf regieren. Diesen Vorgang nennen wir Demokratie: Volksherrschaft durch Meinungskampf und freie Wahlen. Je weiter nun der Meinungskampf mit Worten führt, umso mehr Informationen verbreiten sich, und je mehr Menschen diese Informationen erhalten, umso besser können diese Menschen am Ende entscheiden, wen sie wählen wollen.

Hier seht ihr auch, wie unterschiedlich Politik und Wirtschaft öffentlich kommunizieren. Ein Smartphone-Hersteller redet nur über die Vorteile seines Produktes. Politiker indessen reden nicht nur gut über ihre eigene Politik, sondern sie müssen vor allem über die Politik der anderen schimpfen. Jede Kritik macht euch als Kunden etwas schlauer, und ihr könnt am Ende eine bessere Wahl treffen. ABER der Meinungskampf zieht sich gleichzeitig elendig in die Länge. Würden die Unternehmen ähnlich wie Politik kommunizieren, sie würden kaum etwas verkaufen können.

Einerseits ist es gut, dass die Mühlen der Demokratie langsam mahlen, denn die Leben vieler Menschen hängen davon ab. Würden Gesetze sich genauso schnell ändern wie Smartphones, wer könnte den Gesetzen vertrauen? Andererseits ist die Demokratie deshalb so schwerfällig. Offenkundige Probleme, wie zum Beispiel die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft, lassen sich nicht einfach im Handumdrehen lösen. Erst setzt wieder der Prozess von Rede und Gegenrede ein, der zu einem Gerede wird, und am Ende werden die Sachen dann manchmal zerredet. Das schafft enorme Wut auf die Politik. Eigentlich müssen wir uns darin schulen, diese Wut auszuhalten. Aber wer bringt uns das bei? Wo lernen wir das? Wo lernt ihr das?

Neue Parteien sind sehr wichtig für unsere Demokratie. Sie setzen dort an, wo die bisherige Politik bestimmte Themen aus den Augen verloren hat. Um zu wachsen, müssen neue Parteien den alten Parteien Wählerinnen und Wähler wegnehmen. Das bestehende Parteiengefüge wird gespalten. Spaltung gelingt nur mit zusätzlicher Energie. Eine Axt spaltet ein Stück Holz, doch es braucht schon Kraft.

DAS MÄCHTIGSTE WERKZEUG DER POLITIK IST DIE SPRACHE.

Sprache kann Menschen miteinander verbinden, aber Sprache kann ebenso eine Spaltaxt sein. Vor allem wenn mit der Sprache Wut und Angst ausgelöst werden. Der Sprachwissenschaftler Victor Klemperer sagte: »Worte können sein wie winzige Arsendosen, sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.« Wir haben in den letzten Jahren viele Wörter gehört, die voller Wut sind. Wir haben sogenannte Wutbürger im Fernsehen gesehen, die »Absaufen – absaufen – absaufen« grölen und flüchtende Menschen in viel zu kleinen Booten meinen.

In Deutschland kursiert eine mächtige Geschichte. Diese Geschichte hat viele Wörter für das Böse.

Und die Geschichte hat große Gefahren.

Diese Wörter lösen Ängste aus, und sie schüren Wut. Seht euch das Wort »Kontrollverlust« an.

Geht es uns bei einem »Kontrollverlust« gut, oder macht uns das Angst? Das Wort »Kontrollverlust« meint die Tausenden Flüchtlinge, die 2015 teils ungeordnet nach Deutschland kamen. Ist das angemessen, oder macht uns dieses Wort mehr Angst als eigentlich nötig?

Was ist denn eigentlich ein deutschlandweiter Kontrollverlust? Wann gab es den letzten Kontrollverlust in Deutschland? War es die weltweite Finanzkrise 2008? Nein, diese wurde komischerweise nicht als »Kontrollverlust« bezeichnet. Der letzte echte Kontrollverlust in Deutschland, das war der 2. Weltkrieg. Zerstörte Städte und Landschaften, Millionen Tote und Verletzte.

Schaut noch einmal auf die Wörter. Sie erzählen von einer Welt, in der Geflüchtete und Ausländer angeblich dasselbe verursachen wie ein Weltkrieg oder eine Naturkatastrophe. Sie richten sich gegen alle, die anderer Meinung sind. Gegen die Presse, gegen die Menschen, die Flüchtlingen helfen, gegen die Politik und gegen die Institutionen. In diesen Geschichten sind nicht die Geflüchteten die Opfer, sondern diejenigen, zu denen sie sich geflüchtet haben.

DIESE GESCHICHTEN WOLLEN ANGST MACHEN UND WUT ERZEUGEN.

Wenn wir aber diesen Geschichten glauben, dann wurden wir aufgehetzt.

Es gibt eine neue Art deutscher Politik, die mit dieser Sprache spricht. Diese Politik möchte fremdenfeindliche Einstellungen nicht ändern, sondern bewahren. Diese Politik hat es sehr einfach. Das Einzige, was sie tun muss, ist, eine Geschichte zu erzählen, die alte Vorurteile weckt und wieder aufleben lässt.

Die Angst vor Menschen, die anders sind – oder nennen wir es Rassismus –, war in der Geschichte der Menschheit häufiger die richtige Entscheidung. Versetzen wir uns tausend Jahre zurück. Wenn eine Gruppe vor unserem Dorf stand, die anders aussah als wir und deren Sprache wir nicht verstanden, dann endete das meist im Konflikt. Genau diese Angst vor Fremden lernen wir bis heute jeden Tag aufs Neue im Geschichtsunterricht. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Kriegen und Eroberungen. Fremde, die einander gegenüberstanden, taten dies oft, um etwas zu erobern, andere auszurauben und auf deren Land zu leben. So prägen sich Einstellungen. »Fremde oder Freunde«, diese Redewendung sagt viel über uns Menschen aus. Um weniger skeptisch zu sein, müsste man diese Fremden kennenlernen und merken, dass sie einem nichts wegnehmen wollen. Nur so ändern sich Einstellungen. Langsam und in kleinen Schritten und bei jedem für sich, genau so, wie wir sie erlernt haben.

WO SIND DIE GRENZEN DER WUT?

Es bleibt die Frage: Wo führt die Wut zu einem legitimen politischen Meinungskampf, und wo beginnt die Hetze? Die Frage ist einfach zu beantworten. Hetze beginnt dort, wo unverhandelbare Dinge, wie die Menschenwürde, mit Füßen getreten werden, indem auf Ängste und Vorurteile gesetzt wird, anstatt diese abzubauen. Politik darf zuspitzen. Aber es gibt Grenzen der Zuspitzung. Der politische Einsatz bestimmter Wörter ist nicht mehr angemessen, sondern manipulativ, wenn die Sprache Angst und Wut auslösen soll.

Bei unverhandelbaren Regeln, wie den Menschenrechten, dürfen Politiker und Politikerinnen die Spaltaxt der Sprache nicht gewissenlos einsetzen. Hier liegt eine wichtige Grenze, die Politiker niemals überschreiten sollten und auch sonst keiner. Ein Tabu. Denn feindselige Einstellungen gegenüber anderen Menschen bringen niemanden weiter. Werten wir andere Menschen ab, um unsere Probleme zu lösen, dann lösen wir nicht mehr unsere Probleme, sondern wir schaffen neue. Wir schaffen uns neue Feinde. Menschenfeindliche Einstellungen helfen uns heute in einer zusammenwachsenden Welt nicht mehr weiter. Geflüchtete stehen nicht mit Waffen vor unserer Tür. Sie stehen nur mit ihrem Leben da, wir verstehen ihre Sprachen, und wir wissen, sie wollen uns nichts wegnehmen, sondern sie wollen fast alle in Frieden und Sicherheit leben.

Hier beginnt die Verantwortung der Politik. Gerade gesellschaftliche Herausforderungen wie die Integration bedürfen einer vorsichtigen Sprache, denn es geht um handfeste Vorurteile und Stereotype, die fast alle Menschen kennen und in sich tragen. Vorurteile gilt es, nicht anzuheizen, sondern infrage zu stellen.

Aber verantwortlich sind nicht nur die Politikerinnen und Politiker. Der Staat, das ist nicht nur Angela Merkel. Der Staat, das seid auch ihr! Menschenfeindliche Politik ist nur dann möglich, wenn es menschenfeindliche Einstellungen gibt. Diese Einstellungen sind der Nährboden für Angst und Hass.

Aber Einstellungen sind ja zum Glück nichts Angeborenes. Es sind gelernte Entscheidungen. Und ihr könnt diese Einstellungen bei euch und vor allem auch bei anderen ändern.

Es ist wie mit einem Messer, das eine Waffe und ein äußerst hilfreiches Werkzeug sein kann, je nachdem, wer oder wie man es benutzt. Sprache ist nicht nur eine Spaltaxt, und Wörter wirken nicht nur wie Gift-Dosen. Wörter können wie Medizin wirken. Kleine Pillen. Sie werden unbemerkt verschluckt, und am Ende ist die heilsame Wirkung doch da. Das gibt jedem von uns die Möglichkeit, etwas zu ändern. Wir müssen nur im Gespräch bleiben, auch mit Leuten, die nicht unserer Meinung sind. Solange wir reden, haben wir Einfluss auf die anderen. Sobald wir aber in unserer Bubble verschwinden, ist diese Verbindung getrennt. Eines ist sicher: Niemand wird uns nach einer Diskussion sagen: »Mensch, da hast du mich aber echt überzeugt, ab jetzt bin ich deiner Meinung.« Aber ein Funke bleibt immer hängen. Und viele Funken ergeben ein Feuer. ;-)

DR. ERIC WALLIS

ist der @Wortgucker. In seinen Social-Media-Profilen deckt er auf, wie Menschen durch Sprache und Wortwahl politisch gesteuert werden. Als die Neuen Rechten von der Identitären Bewegung seine Vorlesung über rechtes Framing stürmten, lud er diese zum Gespräch ein. Daraufhin zogen die Störer fluchtartig von dannen. Als Leiter des Regionalzentrums für demokratische Kultur arbeitete er in Mecklenburg-Vorpommern gegen Rechtsextremismus und -populismus. In seiner Doktorarbeit forschte er zur Wirksamkeit von Sprache und Framing in politischen Kampagnen (Kampagnensprache).

»Viel zu häufig wird das Verhältnis von Sprache und Wut aus den Augen verloren. Und Wut ist ein sehr starker Motor in einer Gesellschaft. Aber für ein Land wie Deutschland ist Wut kein guter Motor, denn sie spaltet die Menschen. Darum ist es wichtig, den Mechanismus von politischer Sprache und gesellschaftlicher Wut aufzuzeigen. Ebenso ist es wichtig, die kooperative Funktion der Sprache hervorzuheben, wenn es darum geht, gesellschaftliche Spaltungen zu überwinden.«

COJONES
                    

 

VON FRITZ FASSBINDER

Eigentlich fängt der Tag gar nicht so schlecht an. Ich muss den Hals zwar ziemlich lang machen, um mich in der U-Bahn-Fensterscheibe zu sehen, aber trotzdem finde ich mein Spiegelbild gar nicht so übel.

Ja … okay, vielleicht etwas zu sehr wie Mario Gómez.

Und klar, Mona würde es nicht gefallen, die hasst solche Frisuren, aber das kann mir inzwischen egal sein. Auch wenn ich immer noch das dünne Lederarmband trage, das sie mir geschenkt hat. »Weichgespült, angepasst …«, hat sie zu mir gesagt. Dann war Schluss.

Dann sehe ich hinter meinem U-Bahn-Spiegelbild zuerst nur einen, als der Zug in die nächste Station einrollt. Anschließend den Rest. Fünf Mann. Shit, hoffentlich steigen die nicht bei mir ein. Bitte nicht schon wieder.

Jetzt steht auch noch das ältere Paar auf und steigt aus. Scheiße, ich bin allein.

Verdammter Mist, die kommen tatsächlich zu mir. Lauter Glatzen. War klar, dass die restlichen Leute in die anderen Wagen einsteigen. Raus kann ich auch nicht mehr, die Tür geht zu, und die Bahn fährt an. Vielleicht verschwinden sie gleich wieder oder lassen mich in Ruhe. Mein Puls wird schneller.

»Wen haben wir denn da?«

Ich wusste es! Schaue auf den Boden, ein leerer Pappbecher liegt neben meinem Sitz. Habe nichts gehört – tue jedenfalls so. Mir wird heiß. Hand wandert zur Hosentasche. Handy rausholen? Keine gute Idee. Meine Hand zittert.

»Der hat’s mit den Ohren«, höre ich jetzt einen anderen hinter mir. Der meint garantiert mich … sonst ist ja keiner da. »Ich mach mal einen Hörtest«, sagt er jetzt. »Zwanzigster April. Übermorgen.«

Was soll der Scheiß? Kann mir schon denken, was der meint.

»Zwanzigster April!« Jetzt schreit er.

Ich schwitze, und mir wird übel.

»An den Ohren liegt’s nicht«, sagt er. »Ein Deutscher … und kann mit dem zwanzigsten April nichts anfangen, das glaub ich nicht!«

Wieso kann der nicht seine blöde Fresse halten und mich in Ruhe lassen? Mein Herz schlägt wie ein Presslufthammer. Mir ist heiß wie in einer Sauna. Nicht umdrehen. Bissigen Hunden soll man nicht in die Augen schauen.

»Da hat aber einer ’ne hübsche Frisur bekommen«, höre ich und schaue immer noch auf den Pappbecher am Boden. »Da ist aber noch Luft nach oben«, macht der Typ weiter. »Wolli, du hast doch deinen Rasierer dabei!«

Was gibt das? Die sollen mich in Ruhe lassen, die Arschlöcher. Wann kommt endlich die nächste Station? Sobald die Tür aufgeht, rase ich raus. Einfach losrennen. Nur weg hier!

Drei stehen jetzt vor mir, ich wage es nicht aufzuschauen. Sehe nur Springerstiefel. Zwei drücken sich neben mich. Einer links, einer rechts. Ich schiele nach oben, der Kerl vor mir hat eine total platte Nase. Er sieht aus, als wäre er von einer Abrissbirne getroffen worden. Was ist das für ein Geräusch hinter mir? Die beiden neben mir haken sich bei mir unter und nehmen mich in die Zange. Wie in einen Schraubstock. Kann mich nicht mehr bewegen. Was machen die mit mir? Ich muss was sagen. Nein, ich muss weg! Schreien? Geht nicht … ich schlucke … geht nicht … Kloß im Hals. Ich muss mich befreien. Der Griff wird fester. Was ist das für ein Surren hinter mir? Eine Hand reißt an meinen Haaren, drückt den Kopf nach vorn. Was ist das hinten an meinem Hals? Ein Messer? Die bringen mich um. Es vibriert und kratzt am Hals. Das ist ein Haarschneider! Verdammt, was machen die? Das brennt wie Hölle, wandert nach oben.

»Los, weg hier!«, schreit jetzt einer. Das Abrissbirnen-Gesicht rennt los. Die Griffe lockern sich. Die zwei neben mir laufen auch weg. Dann kapier ich endlich: Der Zug hat angehalten, die Tür ist auf. Sie sind weg. Sechs, sieben Türken steigen ein. »Verpisst euch!«, schreien sie den Glatzen nach. Mein Hinterkopf brennt wie Feuer. Ich schwitze immer noch. Egal, sie sind weg.