coverpage

Über dieses Buch:

Schottland im Jahre 1875. Schweren Herzens ist die schöne Lady Shawna McGinnis in die Highlands zurückgekehrt, um als neue Herrin der Burg Castle Rock das Erbe ihrer Familie anzutreten. Alles hier erinnert sie an den Laird, den sie vor vielen Jahren liebte und so, ohne es zu ahnen, in eine tödliche Falle lockte. Umso größer ist der Schock, als er vor ihr steht: David Douglas hat den Anschlag überlebt – und lange darauf gewartet, Rache nehmen zu können! Obwohl Shawna weiß, dass sie sich vor ihm fürchten sollte, fühlt sie sich zu David hingezogen … und auch in ihm erwacht eine ungeahnte Leidenschaft für sie. Doch plötzlich scheint es, als würde jemand Shawna nach dem Leben trachten. Wird David sie retten können?

Über die Autorin:

Heather Graham wurde 1953 geboren. Die New-York-Times-Bestseller-Autorin hat über zweihundert Romane und Novellen verfasst, die in über dreißig Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden. Heather Graham lebt mit ihrer Familie in Florida.

Eine Übersicht über weitere Romane von Heather Graham bei dotbooks finden Sie am Ende dieses eBooks.

***

eBook-Neuausgabe Juni 2019

Dieses Buch erschien bereits 1997 unter dem Titel »Die schottische Lady« bei Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1996 Heather Graham

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel »No other woman« bei Avon Books.

Copyright © der deutschen Ausgabe 1997 Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von shutterstock/Boiko Olka, shutterupeire, Boss Nid, Dimitry Rukhlenko, blue pencil und Imichman

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (cg)

ISBN 978-3-96148-842-1

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Der Laird und die Schöne« an: lesetipp@dotbooks.de (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Heather Graham

Der Laird und die Schöne

Roman

Aus dem Amerikanischen von Eva Malsch

dotbooks.

Prolog

Ein Teufelspakt

Grayfriar Castle, als Castle Rock bekannt, im schottischen Hochland, Herbst 1870

Als jemand in den steinernen Torbogen trat, der vom Balkon ins Herrschaftsschlafzimmer der Festung führte, schreckte David sofort aus dem Schlaf hoch. Die Kriegsjahre in Amerika und die Lektionen, die er beim Sioux-Volk seines Bruders gelernt hatte, veranlaßten ihn, bei jedem leichten Luftzug zu erwachen.

»David?« fragte eine verführerische Flüsterstimme. Sie stand in der Tür, umflossen vom Sternenlicht und dem schwachen Widerschein des Kaminfeuers, eine schlanke Gestalt im Seidenhemd, das sich an ihren wohlgeformten Körper schmiegte. Schwarz wie Ebenholz, flatterte ihr langes Haar im Nachtwind. Ein Instinkt hatte David geweckt und erregte ihn.

Aber vor dieser Lady mußte er sich hüten, denn im Lauf der Jahre waren sie oft aneinandergeraten. Meistens hatte er es genossen, sie herauszufordern. Und eines Tages würde er ihr die Arroganz heimzahlen.

Natürlich lebten sie in der modernen Welt. Doch nach den alten Traditionen, die im Hochland immer noch galten, war er der Oberherr.

Das schien die Lady zu stören, was allerdings keine Rolle spielte. Seit Jahrhunderten wohnten sein und ihr Clan in und um Craig Rock herum. Er war der Erbe der Douglas-Ländereien, während sie nach dem Tod ihres Vaters vor drei Jahren den MacGinnis-Titel und den Grund besitz geerbt hatte.

Im Gegensatz zu ihr war er in der Welt herumgekommen und hatte in vielen Schlachten gekämpft. Sie kannte nur die Highlands. Behütet von ihrem Clan, der sie möglichst gut verheiraten wollte, war sie aufgewachsen. David erinnerte sich stets an ihre Position, wenn sie ihm hochnäsig gegenübertrat.

Aber nun war sie kein Kind mehr. Zweifellos wußte sie, welche Wirkung sie auf die Männer ausübte. Er hatte oft gedroht, ihr bessere Manieren beizubringen, und sich insgeheim gefragt, wie weit er dabei gehen würde.

Und jetzt ...

Auf Zehenspitzen stieg sie die Steinstufen herab und näherte sich dem Bett. Als er blitzschnell ihr Handgelenk packte, stieß sie beinahe einen Schreckensschrei aus. »David!«

»Wen hast du denn sonst in meinem Bett erwartet? Falls du dich zu mir gesellen willst – davon möchte ich dir dringend abraten. Verschwinde lieber! Für eine junge Lady schickt es sich nicht, mitten in der Nacht ihren Oberherrn zu besuchen, wenn er nackt unter seiner Decke liegt.«

Erbost entzog sie ihm ihre Hand. »Ich muß mit dir reden.«

»Für dieses Gespräch hast du eine aufregende Kleidung gewählt«, meinte er und stützte sich auf einen Ellbogen, um das dünne, durchscheinende Nachthemd zu betrachten. »Und einen ebenso faszinierenden Zeitpunkt.«

»Natürlich will ich nicht hier mit dir sprechen. Aber du bist so schwer zu erreichen. Du mußt mich in den Stall begleiten.«

»So? Muß ich das?« Spöttisch hob er die Brauen. »Komm morgen in mein Arbeitszimmer, Shawna«, befahl er und wandte sich ungehalten ab.

Eigentlich dürfte ihn ihr nächtlicher Besuch nicht überraschen. An diesem Tag hatte er Beweise für die verbrecherischen Aktivitäten von Shawnas närrischem jungen Vetter Alistair erhalten und gedroht, ihn anzuklagen, da er fortwährend Douglas-Gelder für sein eigenes Bankkonto abzweigte. Das beabsichtigte David nicht – ein eindringliches Gespräch mit Alistair würde genügen. Aber irgendwann könnte der Junge einen ernsthaften Konflikt mit dem Gesetz heraufbeschwören, und dann wäre Ihre Ladyschaft auf Douglas' Gnade angewiesen.

Er ahnte, daß Shawna ihren Stolz nur mühsam zurückhielt. Niemals würde ihr Vetter dem Oberherrn gegenübertreten, um zu verhandeln oder zu kämpfen, denn er wußte, daß er den kürzeren ziehen würde. Im gesetzlosen amerikanischen Westen hatte David fechten gelernt und eine Meisterschaft entwickelt, der sich Alistair trotz des Unterrichts bei französischen Experten nicht gewachsen fühlte. Auch im Faustkampf war er Douglas unterlegen. Der Bursche mochte leichtsinnig sein, aber er war nicht dumm. Hatte er Shawna hierhergeschickt? Und was führten die beiden im Schilde?

Ihre Finger berührten Davids nackte Schulter. »Oh, du hochmütiger Aristokrat! Ich muß mit dir reden. Bitte!«

Er wandte sich wieder zu ihr, nicht aus Mitleid, sondern aus Neugier. Wieviel würde sie der Familienehre zuliebe riskieren?

»Bitte!« wisperte sie noch einmal.

Er seufzte tief. »Verschwinde. Ich komme gleich.«

»Und du wirst es niemandem erzählen?«

»Um diese Zeit schlafen alle vernünftigen Leute.«

Als sie zum Torbogen eilte, fragte er sich, wie viele seiner Ahnen in diesem Schlafgemach ihre Geliebten empfangen hatten. Entlang der Balkonmauer führte ein überdachter Gang zu einer Geheimtreppe, über die man den Wald im Süden des Schlosses erreichte. Diesen Fluchtweg hatte Prince Charlie einmal benutzt, um seinen Verfolgern zu entrinnen. Und Shawna wußte davon, weil David sie eingeweiht hatte.

Er erhob sich, nahm seinen samtenen Morgenmantel von einem Haken neben der Tür und schlüpfte hinein. Nachdem Shawna halbnackt in sein Zimmer gekommen war, brauchte er sich für eine Begegnung im Stall nicht formell zu kleiden. Wollte sie ihn verführen und barmherzig stimmen? Es wäre besser, sie würde mich offen und ehrlich bitten, auf eine Anklage gegen ihren Vetter zu verzichten, dachte er. Aber wenn sie glaubt, sie könnte mich um den Finger wickeln – soll sie's doch versuchen. Danach werde ich ihr erklären, ich hätte gar nicht beabsichtigt, den Jungen vor Gericht zu bringen.

Der Stall lag außerhalb der Festungsmauern, ein großes, langgestrecktes Gebäude mit Strohdach. An einem Ende befand sich eine Kammer, wo früher der Stallmeister geschlafen hatte. Ein hölzernes Bett stand in der rechten hinteren Ecke, in der linken wurde Heu gelagert, und ein Schreibtisch nahm fast den ganzen restlichen Raum ein.

Geisterhaft tanzte das Licht einer kleinen Laterne über die Wände, als David eintrat, und ließ Shawnas seidenes Nachthemd schimmern. Sie erwartete ihn am Schreibtisch. Offenbar hatte sie das Stelldichein geplant. Auf einem Silbertablett standen zwei gefüllte Weinkelche. Sie bot ihm einen an, und er ergriff ihn. Dann wartete er, ohne sie auch nur mit einem einzigen Wort zu ermutigen.

»Ein sehr guter Wein«, bemerkte sie und wirkte ärgerlich, aber fest entschlossen, ihre wahren Gefühle zu verbergen.

»Ja, gewiß. Komm zur Sache, Mädchen. Was willst du? Warum hast du mich mitten in der Nacht geweckt?«

»Das weißt du doch. Du darfst Alistair nicht anzeigen.«

»Warum nicht? Er ist ein diebischer kleiner Schurke, und man muß ihm eine Lektion erteilen.«

Um ihre Nerven zu beruhigen, nahm sie einen großen Schluck, und ihr innerer Kampf rührte David. Wäre er nicht so verärgert gewesen, hätte er sie in die Arme genommen und getröstet, denn sie war wunderschön und eine faszinierende Verlockung. Leichtsinnig wie Alistair, stolz auf den MacGinnis-Titel, ihrer Familie treu ergeben, zeigte sie ihr gutes Herz nur in der Liebe zu Kindern und hilflosen kleinen Tieren. Aber es war gefährlich, ihren Reizen zu erliegen. Damit würde man sie nur in ihrem Machtgefühl bestätigen und zu tollkühnen Taten anspornen.

Sie stellte ihr Glas ab, hielt ihm seines an die Lippen und drängte ihn zu trinken. Nach dem ersten Schluck runzelte er die Stirn. Der schwere, fruchtige Wein schmeckte sonderbar und stammte nicht aus seinem Keller.

Hatte sie den Weinkeller des MacGinnis-Schlosses durchsucht, um diesen starken Burgunder aufzuspüren? Falls sie ihn betrunken machen wollte, würde ihr das nicht so leicht gelingen. Wie interessant ...

Normalerweise verführten die Männer süße junge Mädchen, indem sie ihnen berauschende Getränke kredenzten. Oder wollte Shawna ihre eigenen Sinne betäuben? Jedenfalls schüttete sie den Wein wie Wasser in sich hinein.

Dann nahm sie ihm das Glas aus der Hand, strich ihm über die Wange und den Hals. Schon seit langer Zeit empfand er sie als schön und begehrenswert, aber er hatte nicht erwartet, daß ihre Berührung ein so wildes Feuer in ihm entfachen konnte. Er mußte seine ganze Willenskraft aufbieten, um diese heiße Begierde zu verbergen.

»Du darfst Alistair nicht vor Gericht bringen.«

»Warum nicht?«

»Weil er jung und dumm ist«, flüsterte sie.

»Das ist der einzige Grund? Und was bekäme ich für meine Großmut?«

»Darüber will ich mit dir sprechen, und deshalb habe ich dich hierhergebeten.«

Ein häßlicher Verdacht bewog ihn, hinter Shawnas Rücken zu greifen und die beiden Kelche zu vertauschen, die auf dem Tisch standen. Dann gab er ihr das Glas, aus dem er zuvor getrunken hatte. »Ah, ich verstehe. Also schließen wir ein Abkommen. Ich gebe dir was, du gibst mir was, und wir besiegeln das Geschäft mit Burgunder.«

»Mußt du dich so widerwärtig benehmen?«

»Mußt du mir diese alberne Heuchelei zumuten? Du bist halbnackt in mein Zimmer gekommen, und du möchtest mit mir verhandeln. Fang endlich an!« forderte er sie auf und nippte an seinem Wein.

»Bastard!« zischte sie, hob ihr Glas an die Lippen und nahm einen Schluck, dann noch einen. Offensichtlich war sie nervös. Sie trank zuviel.

Nach einer Weile entwand er ihr den Kelch und stellte ihn zusammen mit seinem eigenen ab. Falls das eine Gefäß eine Droge enthielt, würde sie die Besinnung früher verlieren als er selbst. Deshalb war es an der Zeit, das Geschäft abzuschließen. »Nun, was hast du zu bieten?«

»Ich heirate dich.«

Da brach er in schallendes Gelächter aus, und sie rang empört nach Luft. Jetzt gewann ihr Stolz die Oberhand, und sie vergaß ihren wohldurchdachten Plan. Sie hob ihre Hand, um in Davids Gesicht zu schlagen, aber er packte blitzschnell ihren Arm.

»Wie kannst du es wagen ...«

»Hör mal, Shawna, deine Ländereien und dein Vermögen können sich nicht mit meinen messen. Grafen, Earls, Herzöge und steinreiche Kaufleute haben mir ihre Töchter angeboten, sogar Indianerhäuptlinge. Niemals würde ich aus geschäftlichen Gründen heiraten.« So reizvoll ich dich auch finde, meine Schöne, dachte er und wandte sich zur Tür.

Aber sie bezwang ihren Zorn und legte eine Hand auf seine Schulter. »Nein, bleib hier!«

Ein Lächeln, das sie nicht sah, umspielte seine Lippen. »Hast du etwas anderes zu bieten?« fragte er schroff und ärgerte sich, weil er seine Worte nicht mehr deutlich artikulieren konnte. Sekundenlang schien der Boden unter seinen Füßen zu schwanken.

»Ich – ich ...«, begann sie unsicher. »Verdammt, du mußt mich nicht heiraten. Ich würde ... Empfindest du denn gar nichts für mich?«

Oh, doch. Als er sich umdrehte, stand sie dicht vor ihm, und der betörende blumige Duft ihres Haars stieg ihm in die Nase. Ihre Haut roch nach Flieder. Halb zornig, halb sehnsüchtig zog er sie an sich und ließ sie spüren, wie sehr sie ihn erregte, welch ein gefährliches Spiel sie trieb.

O Gott, was tat er sich an? Harte, bittere Worte lagen ihm auf der Zunge. Unmißverständlich wollte er ihr sagen, sie solle ihre Ehre besser hüten und ihr Vetter sei ein Narr – den er allerdings nicht bestrafen würde. Aber irgend etwas hinderte ihn daran. »Das wird immer interessanter. Trotzdem will ich nicht die Katze im Sack kaufen. Würdest du mir zeigen, was du zu bieten hast?«

»Ja.«

»Und du weißt, was du tust, Mädchen?«

»Ich ...« Abrupt verstummte sie.

Nun müßte ich die Flucht ergreifen, dachte er. Es ist besser, wenn ich mich erst morgen um Shawna und ihren Clan kümmere. »Offensichtlich widerstrebt es dir, dieses Geschäft abzuwickeln. Also laß mich in Ruhe. Ich werde jetzt gehen ...«

»Nein, ich gebe dir alles.«

Als er sie noch fester an sich preßte, stockte ihr Atem. Erstaunt öffnete sie die Lippen und sah so verlockend aus, daß er sie küßte. Seine Zunge erforschte hungrig ihren Mund. Stöhnend spürte er ihre vollen, weichen Brüste und ihre Schenkel an den seinen. Ein heftiger Schwindel erfaßte ihn und steigerte die Wahrnehmung aller Sinne.

Ja, er fühlte – zuviel. Und zuwenig. Irgend etwas stimmte nicht. Aber das spielte keine Rolle. Die Begierde war zu groß. Wie Feuer pulsierte das Blut in seinen Adern. Er betrachtete Shawnas bleiches Gesicht, die geschlossenen Augen, den immer noch geöffneten Mund, der seinen einzuladen schien. In wachsender Leidenschaft küßte er sie wieder und schlang die Finger in ihr seidiges schwarzes Haar.

Bevor seine Kräfte schwanden, hob er Shawna hoch, trug sie taumelnd zum Bett und sank mit ihr darauf. In seinem Kopf drehte sich alles, aber sein Körper hungerte. Der Duft frischen Heus erfüllte den Raum, vermischt mit dem Aroma von Fliederseife und von weiblichem Fleisch.

»Warte ...«, hauchte sie.

Warten? Wenn sein Herz wie rasend schlug und eine qualvolle Sehnsucht seine Seele zu zerreißen drohte? Nein, er würde nicht warten. Jetzt erschien es ihm unglaublich, daß er geplant hatte, ihr einfach nur zuzuhören und dann zu gehen.

»David?« flüsterte sie verwirrt.

In irgendeinem dunklen Winkel seines Bewußtseins erinnerte er sich an die vertauschten Gläser. Beide hatten den Wein getrunken, der nur für ihn bestimmt gewesen war. Gefüllt mit ... Gleichgültig ...

Beherrsch dich, mahnte ein Rest seiner Vernunft. Unmöglich. Überwältigende Emotionen durchströmten ihn. Ihr Duft, ihr Geschmack ... Die ganze Welt verwandelte sich in ein Flammenmeer, das die letzten klaren Gedanken auslöschte.

Plötzlich drang ein Geräusch an sein Ohr. Ein Luftzug, ein lähmender Schmerz im Nacken. Er glaubte Shawna zu sehen, himmelblaue Augen, ein schönes Engelsgesicht. Und dann die bittere Erkenntnis. Niemals würden ihm die MacGinnis offen gegenübertreten. Denn sie kannten sein Temperament, sein Ehrgefühl, seine Stärke und seine einzige Schwäche – Shawna.

Nein, er sollte nicht verführt, sondern ermordet werden. Die brennende Qual in seinem Hinterkopf ... Keine Folge des kraftvollen Schlags. Hitze hüllte ihn ein. Ringsum loderten Flammen empor. Und er konnte sich nicht bewegen, sah nichts außer der roten Glut. Was für ein Narr ich bin, dachte er. Wie konnte ich so blindlings in diese niederträchtige Falle tappen?

Schrill wieherten die Pferde im Dunkel jenseits des knisternden Feuers, und er hörte einen Schrei. Shawnas Stimme.

Trotz des hellen Flammenscheins versank er in einen schwarzen Abgrund. Bald würde ihn die Finsternis des Todes umfangen ...

Kapitel 1

Castle Rock im schottischen Hochland, Herbst 1875

Die Nacht war hereingebrochen. Über dem Moor schwebten Nebelschwaden, und ein seltsamer goldener Mond hing am dunklen Himmel. Shawna sah ihn durch einen der schmalen Fensterschlitze im Turmzimmer, durch die man früher Pfeile geschossen hatte, und beobachtete, wie er mit den Wolken Verstecken spielte. Solchen schönen, mysteriösen Mondnächten verdankte das Hochland den Ruf, magische Kräfte zu besitzen.

Um diese Zeit müßte sie schon schlafen. Aber Mark Menzies hatte ihr eine Nachricht geschickt und sie gebeten, ihm ein bißchen Zeit zu opfern, wenn er mit der Arbeit fertig sei. Nun saß sie hinter dem wuchtigen Eichenschreibtisch und hörte ihm zu. Er war Aufseher im Kohlenbergwerk, ein sehr tüchtiger Mann.

»Mylady, die Leute wollen nicht in den Schacht an der linken Seite gehen, weil sie sich einbilden, dort würde eine böse Macht lauern.«

Shawna nickte. Das verstand sie nur zu gut. In dieser Gemeinde lebten ausschließlich Christen. Aber sie glaubten an die heidnischen Geister, und sie würde die Männer nicht zwingen, in einem Stollen zu arbeiten, der ihnen Angst einjagte. »Vielleicht würden sie sich beruhigen, wenn Reverend Massey einen Gottesdienst abhält und den neuen Schacht segnet?«

»Mag sein«, erwiderte Mark, ohne seine Skepsis zu verhehlen. »Sie behaupten, seltsame Geräusche dort unten zu hören. Und in der Erdentiefe würde etwas hausen, das man besser nicht aufscheuchen sollte.«

Er war ein großer, breitschultriger Mann mit zerfurchtem Gesicht, das Stolz und Charakterstärke verriet. Durch sein langes Haar zogen sich vereinzelte graue Strähnen. Shawna mochte ihn seit ihrer frühen Kindheit. Doch sie hatte ihn erst in den letzten fünf Jahren näher kennengelernt. Damals, vor fünf Jahren, war jenes Ereignis eingetreten, das die Einheimischen als ›Feuer‹ bezeichneten. Laird Douglas' älterer Sohn David hatte den Tod gefunden. Danach vertraute der Laird die Ländereien dem Clan MacGinnis an, der ihm am nächsten stand, und lebte hauptsächlich in Amerika.

In der grausigen Nacht des Feuers hatte sich alles verändert. Shawna blieb zunächst in Craig Rock, dem ummauerten Dorf, wo Castle MacGinnis und Castle Craig standen, dann floh sie – von bösen Träumen geplagt – nach Glasgow.

Vor fast vier Jahren war sie zurückgekehrt, und seit zwei Jahren festigte sie ihre Position als Oberhaupt der MacGinnis.

Nun hatte der Tod des alten Lairds die Situation erneut verändert. Sein Erbe, der jüngere Sohn Andrew, war ein halber Sioux und in die Kämpfe um seine Heimat verstrickt, denn sein Herz gehörte dem amerikanischen Westen, dem ›wilden‹ Volk seiner Mutter. Als er Shawna bat, die Douglas-Ländereien für ihn zu verwalten, stimmte sie zu. Und so trug sie nicht nur die Verantwortung für die Mitglieder ihres eigenen Clans, die hier lebten und arbeiteten, sondern auch für die Douglas.

Trotz ihrer vielen männlichen Verwandten hatte sie nach dem Tod des Vaters den MacGinnis-Titel und die Ländereien geerbt. Damals war sie noch sehr jung und auf den Beistand ihres Großonkels Gawain angewiesen gewesen. Davids Tod stürzte sie in tiefste Verzweiflung, und in den folgenden Monaten stand sie Höllenqualen aus. Aber in Glasgow hatte sie erkannt, daß sie nicht vor sich selber davonlaufen durfte. Ihre Welt war das Hochland. Woanders konnte sie nicht leben.

»Hin und wieder neigen wir alle zum Aberglauben«, bemerkte sie. »Das gehört zum liebenswerten Charakter unseres Volkes. Bald beginnt die Nacht der Mondjungfrau – im November, wenn sich die silberne Kugel rundet und die Dämonen über tugendhafte Mädchen herfallen. Früher fürchtete man sich vor dieser Zeit, jetzt wird sie gefeiert. Aber wir beide wissen, daß die Geister nur in der Fantasie existieren, Mark. Sicher gibt es eine natürliche Ursache für die seltsamen Geräusche im Bergwerk. Davon müssen wir die Männer überzeugen. Haben Sie mit Gawain über das Problem gesprochen?«

Mark nickte. »Leider versteht Ihr Großonkel die Seelen der Leute nicht so gut wie Sie, Mylady. Er meint, ich soll den Leuten sagen, sie müßten arbeiten oder auf ihren Lohn verzichten. Aber wenn sie kein Geld bekommen, werden sie verhungern.«

»Aye, ich weiß.« Nach Shawnas Ansicht war ihre Heimat der schönste, wunderbarste Ort auf Erden. Aber allmählich verlor das Hochland seine Bewohner. Die Industrialisierung bewog sie, den heimatlichen Boden zu verlassen, dem sie nur mühsam ihr tägliches Brot abrangen, um in den Städten bessere Lebensbedingungen zu suchen. Aber einige blieben hier, weil sie alte Eltern, kranke Verwandte und kleine Kinder betreuen mußten. Oder weil sie ihre geliebten Berge zu schmerzlich vermissen würden. »Die Kohlenbergwerke ernähren so viele Menschen. Deshalb müssen wir ihnen klarmachen, daß die Arbeit in den Schächten ungefährlich ist und daß wir für ihre Sicherheit sorgen. Ich werde Reverend Massey bitten, morgen früh mit den Männern zu reden.«

»Und Gawain? Er grollt Ihnen ohnehin schon, weil sie die Arbeitszeit der Kinder eingeschränkt haben.«

Seufzend nickte sie. Ihrem Großonkel gefiel es ganz und gar nicht, wie engagiert sie sich um Dinge kümmerte, die nach seiner Ansicht zur Domäne der Männer gehörten. Sie wollte ihn weder kränken noch bekämpfen, war aber entschlossen, das Bergwerk so zu leiten, wie es ihr beliebte. »Überlassen Sie das mir, Mark. Morgen treffen wir uns am Eingang des Schachts.«

»Danke, Mylady.« Als er aufstand, öffnete sich die Tür, und Gawain stürmte in Shawnas Büro.

Mit seinen fast sechzig Jahren war der jüngere Bruder ihres Großvaters immer noch ein hochgewachsener, kräftiger Mann. Im dunklen MacGinnis-Haar zeigten sich nur wenige graue Fäden. Er trug den traditionellen Hochland-Kilt und glich den Kriegsherren alter Zeiten, die erbittert alle fremden Eindringlinge bekämpft hatten. Unermüdlich setzte er sich für den Grund und Boden ein, wo er aufgewachsen war, züchtete die besten Rinder und wußte die Erträge seiner Ernte stets zu steigern. Außerdem war er ein guter Geschäftsmann und vertrat ebenso wie Lowell, Shawnas anderer Großonkel, sowie ihre Vettern Alistair, Alaric und Aidan die Familieninteressen.

»Ah, Onkel«, murmelte sie, »du kommst gerade zur rechten Zeit. Mark sprach mit mir über den neuen Schacht, und ich dachte, ein Gottesdienst ...«

Ungeduldig fiel er ihr ins Wort. »Meinetwegen, wenn dir so ein Spektakel Spaß macht! Sie sollten Shawna nicht mit diesen Schwierigkeiten belasten, Menzies. Hätten Sie sich doch an mich gewandt.«

»Verzeihung, Sir ...«

Aber auch Mark wurde unterbrochen. »Also ist die Frage vorerst geklärt, eh? Dann gehen Sie, Menzies. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, und ich muß sofort mit meiner Nichte reden.«

»Aye, bis morgen, Lady MacGinnis.« Hastig verließ Mark das Büro.

»Das war sehr unhöflich von dir«, sagte Shawna.

»Im Augenblick sorge ich mich um wichtigere Dinge«, erwiderte Gawain.

»Zum Beispiel?«

Er warf ein Kuvert auf den Tisch. »Dieser Brief kommt aus Amerika. Lies ihn.«

Während sie das gefaltete Blatt aus dem Umschlag zog, stützte Gawain plötzlich seine Hände auf den Tisch, und sie schaute in seine blauen Augen. Wie ähnlich wir uns alle sind, dachte sie. Rabenschwarzes Haar mit einem unverwechselbaren Kobaltglanz, hochgeschwungene dunkle Brauen ...

»Lies!« befahl er ärgerlich.

Natürlich wußte sie, daß der Brief von Andrew Douglas stammte. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Als sie ihn zuletzt gesehen hatte, war sie selbst verzweifelt gewesen. Aber sie würde niemals seinen tiefen Schmerz über den Tod des Bruders vergessen. Energisch unterdrückte sie das Zittern ihrer Finger und las den Brief. Obwohl Andrew gewisse Züge seiner indianischen Mutter geerbt hatte, erinnerte er sie an David, denn er sah auch wie ein Douglas aus, besaß den schlanken, muskulösen Körperbau seines Vaters und dessen Charakter – sanftmütig, aber unerbittlich, sobald er sich betrogen fühlte.

In wohlgesetzten, höflichen Worten kündigte er seinen Besuch in Craig Rock an. Wann er eintreffen und wie lange er bleiben würde, wisse er noch nicht. Seinetwegen solle sie keine Umstände machen und die Herrschaftsgemächer in Castle Rock weiterhin bewohnen. Immerhin habe sie die Ländereien während seiner Abwesenheit gut verwaltet und sei im Grunde die Herrin. Er habe zum zweitenmal geheiratet und freue sich, gemeinsam mit seiner Frau und einigen Freunden den väterlichen Familiensitz wiederzusehen. »Wenn Du die politischen Ereignisse in den Zeitungsberichten verfolgt hast, bist Du sicher über den Disput zwischen dem Volk meiner Mutter und der amerikanischen Regierung informiert. Diese Situation kompliziert meine persönlichen Pläne, und es wäre möglich, daß ich Schottland bald wieder verlassen muß. Hoffentlich bereitet Dir unsere Ankunft keine Unannehmlichkeiten ...«

Wie sie sich entsann, war Andrews erste Frau, eine Sioux, an einer Krankheit gestorben. Lächelnd hob sie den Kopf. »Oh, er hat wieder geheiratet. Das freut mich.«

»Warum denn, um Himmels willen?« rief Gawain erbost. »Nun kann er viele dunkelhäutige kleine Wilde zeugen, die hierherkommen und unsere Ländereien beanspruchen werden.«

»Die Douglas-Ländereien haben uns niemals gehört, wenn wir auch davon profitieren.«

»Trotzdem müßte der Douglas-Besitz an dich gehen. In Craig Rock hat Andrew – Laird Hawk, nicht wahr? – nichts zu suchen. Er ist Amerikaner und ein halber Indianer. Deshalb sollte er beim Volk seiner Mutter bleiben, bei seinen Pfeilen und Bögen und Büffeln, in seiner wilden Prärie.«

»Onkel, dieses Land, auf dem wir leben, ist sein Eigentum.«

»Aye, mein Mädchen, aber schon vor Robert dem Teufel verteidigten die Hochländer, was ihnen die habgierigen englischen Könige abluchsen wollten. Und dank ihrer Kampfkraft retteten sie ihre Heimat. Seit langer Zeit sind die Douglas und die MacGinnis durch Eheverträge verbunden. Wenn die Douglas-Dynastie ausstirbt, erbt der MacGinnis-Clan die Ländereien und den Titel, einem alten Gesetz zufolge.«

»Offensichtlich ist Andrew gesund und munter«, betonte Shawna, doch er schien ihr nicht zuzuhören.

»Probleme in Amerika ... Ja, dort drüben versuchen sie die Rothäute auszurotten. Vielleicht muß Andrew auch daran glauben, bevor er einen Stammhalter zeugen kann.«

»Und wenn seine Frau bereits ein Baby erwartet?«

»Jedenfalls ist er Amerikaner, während ich immer nur für dieses Land hier gelebt und gearbeitet habe.«

»Als dem alten Laird das Herz brach, ging er nach Amerika, und ich versprach ihm, seinen Besitz zu verwalten, so wie es unsere Tradition erfordert. Wir vereinbarten auch, die zusätzliche Verantwortung würde der Familie MacGinnis zugute kommen. Aber weiß Gott – seit der Nacht des Feuers haben wir kein Recht mehr ...«

Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch. »Lehnst du dich gegen die höhere Gewalt auf, Shawna?«

»War es etwa der Allmächtige, der mir vorschlug, David in den Stall zu locken?«

Sekundenlang glaubte Shawna, Gawain würde sie in seinem wilden Zorn schlagen. »Dieser Brand war Gottes Wille. Und falls du deiner Familie Schuldgefühle einreden willst, wärst du besser in jenem Inferno gestorben.«

»Ich bezweifle, daß Gott das Feuer entfacht hat.«

»Klagst du etwa mich an? Damit hatte ich nichts zu tun.« Seine Augen verengten sich. »Wie du dich sicher erinnerst, holte dein Laird Hawk Douglas mehrere Spezialisten aus Edinburgh hierher. Die konnten keine Brandstiftung nachweisen.«

»Und was ist damals wirklich geschehen?«

Die Hände auf den Tisch gestützt, starrte er in ihre Augen. »Gottes Wille!«

Sein durchdringender Blick beeindruckte sie. Wenn er Davids Tod auch nicht bedauerte, so hegte sie doch keinen Zweifel an Gawains Unschuld, was das Feuer betraf. Vielleicht konnte er jene Nacht vergessen. Ihr selbst würde das niemals gelingen. »Also hättest du's vorgezogen, wenn auch ich den Flammen zum Opfer gefallen wäre?«

Ungeduldig schüttelte er den Kopf. »Großer Gott, Mädchen, wie konntest du mir einen Mord zutrauen! Jene Nacht gehört der Vergangenheit an. Für uns zählt nur die Gegenwart. Und dieses Land, von dem zweihundert Menschenseelen leben. Falls dich die Zukunft von Craig Rock interessiert, denk nicht mehr an frühere Zeiten.«

Sie nickte und betrachtete wieder den Brief.

»Warum kommt Andrew gerade jetzt hierher?«

»Keine Ahnung.« Gawain verschränkte die Arme vor der Brust. »Oder vielleicht kann ich's dir sagen. Als wir alle dumm genug waren, ihm nach dem Tod seines Vaters zu schreiben und unser Beileid zu bekunden, brachten wir ihn wahrscheinlich auf die Idee, daß er nun sein schottisches Erbe beanspruchen sollte. Wie auch immer, nimm dich in acht vor dem Laird und seiner neuen Frau und seinen sogenannten ›Freunden‹. Ein heidnischer, gefährlicher Haufen ...«

»Welch ein Unsinn! Andrew mag ein halber Sioux sein. Aber er ist ein intelligenter, gebildeter Mann und sicher kein Heide, wenn ich auch nicht weiß, woran er glaubt. Jedenfalls trauerte er wie ein echter Christenmensch um seinen Bruder ...«

»Dann verlangte er eine Untersuchung und versuchte, uns alle an den Galgen zu bringen. Sei bloß auf der Hut!«

»Natürlich, Onkel.«

»Und denk nach, bevor du den Mund aufmachst.«

»Was könnte ich ihm schon erzählen?« fragte sie ärgerlich. »Was weiß ich denn, verdammt noch mal?«

»Sprich nicht in diesem Ton mit mir, Mädchen!«

Nicht nur ihr Tonfall mißfiel ihm, sondern das ganze Gespräch. Insbesondere ihre Bemerkungen über die Feuersbrunst.

»Damals hast du mir den Wein beschafft«, erinnerte sie ihn in plötzlicher Entschlossenheit.

Es dauerte eine Weile, bis er bestätigte: »Aye, Mädchen, weil er einschlafen sollte, damit wir die Beweise für den Diebstahl deines Vetters beseitigen konnten. Aber glaub' mir, Davids Tod gehörte nicht zu meinem Plan.«

Wie weh es immer noch tat, nach so vielen Jahren ... Diese Erkenntnis verblüffte Shawna. »Und wer hat ihn dann getötet?«

»Das Feuer – Gottes Wille. Und bring Andrew bloß nicht auf die Idee, es könnte mehr dahinterstecken.« Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte er im wehenden Plaid aus dem Büro.

Mit bebenden Fingern umklammerte sie den Brief. Dann ärgerte sie sich über ihre Nervosität, öffnete die untere Schreibtischschublade und nahm ihren Brandy heraus. Da sie nirgends ein Glas entdeckte, trank sie direkt aus der Flasche. Der Alkohol brannte in ihrer Kehle, erwärmte aber den Körper.

Immer, wenn sie unter einer starken inneren Anspannung stand, trank sie viel zu schnell. So wie in jener Nacht ... Fluchend stand sie auf und beschloß, schlafen zu gehen.

Nur gut, daß Andrew wieder geheiratet und Trost in seinem Unglück gefunden hat, dachte sie. Vor dem Wiedersehen brauchte ihr nicht zu bangen. Da sie seinen Clan und seine Ländereien gewissenhaft betreute, schuldete er ihr Dank. Obwohl sie seinen Bruder nicht gerettet und kurz vor dessen Tod die Besinnung verloren hatte, von einer Droge betäubt ...

Sie verließ das Büro, wanderte durch das stille Schloß und betrat ihr Zimmer. Manchmal fragte sie sich immer noch, was sie eigentlich auf Castle Rock machte. Noch dazu im herrschaftlichen Schlafgemach.

Aber um die Ländereien und das Bergwerk zu verwalten, mußte sie hier wohnen. Und als Oberhaupt des MacGinnis-Clans stand ihr das Recht zu, die Herrschaftsgemächer der Douglas zu benutzen. Und doch – wann immer sie diese Schwelle überquerte, fröstelte es sie.

Wie lebhaft sie sich an David erinnerte, an seine Umarmung, seine Küsse ...

Nein, ich will nicht an die Vergangenheit denken, beschloß sie, kleidete sich aus und streifte ihr Nachthemd über den Kopf. Erschöpft sank sie ins Bett.

Es dauerte lange, bis sie einschlief. Und dann wurde sie von einem Alptraum gequält. Sie rannte in die Berge, wurde verfolgt, aber wenn sie sich umdrehte, sah sie nur Schatten im Nebel. Vielleicht waren Dämonen hinter ihr her, die menschliche Gestalt annehmen konnten.

Immer wieder schienen sich die Schemen zu verändern, und sie kamen unaufhaltsam näher und huschten lautlos über die grünen Hänge. Sie umzingelten sie und sie sah, daß es keine Geister waren, sondern seltsame, fremdartige, halbnackte Menschen mit kupferroter Haut, die Kriegsbeile, Pfeilköcher und Bögen schwangen. Auf ihren Köpfen prangten bunte Federn. Das mußten die amerikanischen Wilden sein, die ins Hochland gekommen waren, um sich an ihr zu rächen. Plötzlich tauchte ein anderer Mann aus dem Nebel auf, im schottischen Kilt, ein Schwert an der Hüfte, einen Dolch im Stiefelschaft. Er ging geradewegs auf sie zu, schaute in ihre Augen, erkannte sie und wußte, was geschehen war ...

In ihrer Kehle stieg ein Schrei empor, der sie weckte. Atemlos und zitternd stand sie auf, versuchte ihre heftigen Herzschläge zu besänftigen und trat ans Fenster. Nebelschwaden verschleierten den Mond. Kein Wunder, daß sie an bösen Träumen litt ... Bald würde der neue Laird Douglas in Schottland eintreffen. Wollte er, unterstützt von rachsüchtigen Indianern, die Wahrheit über den Tod seines Bruders herausfinden?

Und wie sah die Wahrheit aus?

Diese Frage quälte Shawna seit fünf Jahren. Und jetzt, da sie von Andrews Ankunft erfahren hatte, kehrten die Alpträume zurück.

Weil sie David in den Tod gelockt hatte. O Gott, nicht vorsätzlich ...

So sehr sie sich auch manchmal über ihre Familie ärgerte, sie liebte sie alle. Gawain, Lowell, Alaric, Aidan – und Alistair. Ganz besonders Alistair. Sie waren ungefähr im gleichen Alter und immer Freunde gewesen. Aber nicht einmal um seinetwillen hätte sie David ein Leid angetan. Ihr Vetter hatte nur etwas Zeit gebraucht. Und dazu wollte sie ihm verhelfen. Doch es war die Zeit, der sie letzten Endes in die Falle ging. Wie grausam schlug das Schicksal zu ... Wenigstens hatte sie eine Lehre aus jener Tragödie gezogen. Nie wieder würde sie sich so leichtgläubig auf gefährliche Pläne einlassen. Die Alpträume jedoch würden sie niemals verschonen.

Plötzlich wollte sie den dicken Festungsmauern entrinnen. Das Mondlicht, das sich im See spiegelte, schien ihr lockend zu winken. Kurz entschlossen nahm sie den weißen Fransenschal vom Wandhaken neben der Tür und schlang ihn um ihre Schultern. Dann schlich sie auf bloßen Füßen aus dem Zimmer.

Das ist Wahnsinn, dachte sie. Wie ein Geist laufe ich zum mondhellen Wasser nach Mitternacht. Doch der Vergangenheit, der Zukunft und den bösen Träumen kann ich nicht entfliehen.

Trotzdem – sie mußte ins Freie. Sie rannte die Treppe hinunter zur großen, menschenleeren Halle von Castle Rock. Auf der letzten Stufe blieb sie stehen und schaute sich um. Ein massiver Tisch in der Mitte, zwischen reichgeschnitzten Stühlen, einige Sessel am Kamin, der die halbe Wand am anderen Ende einnahm, Mauern aus uralten Steinen. Welche Dämonen mochten in den dunklen Winkeln lauern? Rasch verdrängte sie diesen fantasievollen Gedanken. Nein, die Halle barg einfach nur die nächtliche Stille.

Shawna öffnete das schwere Tor, eilte durch den Hof, den grasbewachsenen Hang hinab, zum Ufer des Sees, wo die Druidensteine emporragten.

Kapitel 2

Obwohl die Nebelwolken aufwallten, leuchtete das Licht des Mondes über den zerklüfteten Klippen, den Bergen und Tälern. Sanft schimmerten die Wellen des Sees. Für eine Novembernacht im Hochland war die Luft erstaunlich warm.

Der Mann stieg aus dem Wasser, nackt wie die Felsen ringsum, genauso unnachgiebig. In dieser Wildnis war er aufgewachsen, und er entstammte einem Volk, das jahrhundertelang verbissen um sein Land gekämpft hatte, das gewonnen und verloren und sich sein Ehrgefühl, sein Freiheitsbedürfnis bis zum heutigen Tag bewahrt hatte.

Wie so vielen anderen war es ihm gelungen, die heimtückischen Pläne seiner Gegner zu überleben und zurückzukehren, stärker denn je – und viel wachsamer.

Da stand er nun, der Laird seiner Ländereien. Vorerst wußte es niemand.

Er schüttelte sein nasses, langes dunkles Haar. Trotz des milden Klimas fröstelte er plötzlich und sehnte sich nach seinen Kleidern. Aber er hielt inne und hob den Kopf. Nicht die Kälte störte ihn. Irgend etwas regte sich in der Nacht ...

Von der Stelle aus, wo er ans Ufer gestiegen war, überblickte er einen Großteil seines Landes. Zur Rechten auf dem höchsten Felsen, erhob sich Castle Rock, zur Linken Castle MacGinnis, zwei alte Schlösser, in einer Zeit errichtet, in der die Hochland-Lairds beschlossen hatten, die normannische Architektur zu übernehmen und deren Vorzüge zu nutzen. Als William der Eroberer England unterworfen und begehrlich nach Schottland gespäht hatte, waren fachkundige normannische Steinmetze von den Lairds gefangengehalten und gezwungen worden, uneinnehmbare Festungen zu erbauen. Im Lauf der langwierigen Religionskriege entstanden Geheimgänge und Schlupfwinkel, in denen sich die Jakobitenpriester versteckten. Aber man hatte es versäumt, die Burgen mit modernem Komfort auszustatten. Castle Rock gehörte ihm. Sie war die ältere der beiden Trutzburgen, überragte Castle MacGinnis und war umgeben von größeren Ländereien.

Und nun war er zurückgekommen, um sein Eigentum zu beanspruchen. Sein Blick wanderte zur Ruine des alten Stalls, und in seiner Seele loderte ein Feuer, so heiß wie das Inferno, das in jener Nacht vor fünf langen Jahren getobt hatte.

In seiner Fantasie sah er die Flammen. Und er sah sie,das ebenholzschwarze Haar auf dem Bett ausgebreitet, spürte ihren reizvollen Körper, las in den himmelblauen Augen das Versprechen, dem er sein Unglück verdankte. Ihr duftender Atem an seinen Lippen, die geflüsterten Lügen, die Hitze seines Verlangens, das die züngelnde Glut ringsum übertrumpft hatte – bis es zu spät gewesen war ...

Jetzt kehrte er wunderbarerweise von den Toten zurück, ein Dämon, der sich vor dem ewigen Höllenfeuer gerettet hatte, um die Wahrheit zu ergründen.

Wer trug die Schuld? Das würde er bald wissen. Nicht sie allein. Er wollte ihre Komplizen entlarven und alle bestrafen. Aber sie würde die erste sein.

Welch ein wunderbares Gefühl, durch die Nachtluft zu laufen, obwohl sie nicht vor der Vergangenheit fliehen konnte ... Aber vielleicht vor der Zukunft?

Wenn sie Andrew Douglas gegenüberstand – würde sie dann eine noch tiefere Verzweiflung empfinden als in jener Stunde, in der David den Tod gefunden hatte?

Sie war es gewohnt, dieses Land leichtfüßig zu durchstreifen, über die Berge zu reiten, im kalten Wasser des Sees zu schwimmen. Aber in dieser Nacht fehlte ihr die Kraft zu solchen Unternehmungen. Im Grunde rannte sie nur vor sich selbst davon, vor ihren furchtbaren Gewissensbissen ...

Nein! Warum diese ständigen Selbstvorwürfe? Niemals hatte sie David ins Verderben locken wollen. Zeitweise war sie sogar in ihn verliebt gewesen – und trotzdem *so schrecklich arrogant, wann immer sie ihn gesehen hatte, ein blutjunges Mädchen, eifersüchtig auf die Frauen im Leben des grandiosen Lairds. Nur deshalb hatte sie ihn so abweisend behandelt.

Bis zu jener Nacht.

Nun war er tot und begraben. Und die Schuld daran traf Shawna zumindest teilweise.

Die qualvollen Gedanken ließen sie oft nur schwer atmen.

Um nach Luft zu ringen, lehnte sie sich an einen der zwölf Druidensteine. Als ihr Herz etwas ruhiger klopfte, betrachtete sie die anderen Steine. Sie waren mindestens drei Meter hoch. Längst hatten Wind und Wetter die alten Inschriften verwischt, aber die eingravierten Menschen- und Tiergestalten sah man immer noch. Die schönen Steine bildeten einen Kreis, und in der Mitte lag ein waagrechter dreizehnter, wie ein Altar. An seiner Seite warf ein runder Felsblock, gut zwei Tonnen schwer, einen Schatten und zeigte die Tageszeit an.

Shawna liebte die Steine. In der Kindheit hatte sie hier mit ihren Vettern und den Douglas gespielt, aber nicht mit dem etwas älteren David. Er duldete die Possen der fröhlichen Schar, doch er nahm nicht daran teil. Zu Shawnas Leidwesen gehörten die Steine nicht den MacGinnis, sondern den Douglas, weil sie auf deren Grund und Boden emporragten.

Als sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie Geschichten erfunden, um die historischen Ereignisse zu ändern und die Druidensteine den MacGinnises zuzusprechen. David hatte ihr einmal erklärt, sie dürfe diese Monumente nicht bewundern, denn früher seien auf dem Altar Menschenopfer dargebracht worden.

Daran mußte sie auch jetzt denken, weil immer noch viele Feste im Kreis der Steine begangen wurden – christliche Feste. Zufällig stimmten viele dieser Feiertage mit alten heidnischen Ritualen überein.

Langsam strich sie über die rauhe Fläche des Steins, an dem sie lehnte. Obwohl sie jetzt erwachsen war, liebte sie die alten Geschichten und Legenden genauso wie damals.

Ein plötzliches Geräusch riß sie aus ihren Gedanken. Schritte?

Ja, Schritte. Hier war noch jemand, der in dieser Nacht nicht schlief.

Schnell eilte sie zum nächsten Druidenstein und glaubte wieder Schritte zu hören. Wurde sie verfolgt? Unbehaglich schaute sie sich um. Unsinn, dachte sie, das bilde ich mir nur ein. Wer sollte sich mitten in der Nacht an mich heranpirschen?

Hier auf dem Grund und Boden des Douglas-Clans, den sie verwaltete, gab es keinen Anlaß zur Besorgnis. Vielleicht fühlte sie sich nur ein wenig unsicher, weil der Alptraum sie erschreckt hatte. Oder die Fantasie ging mit ihr durch, weil sie sich an die kindlichen Spiele im Kreis der Druidensteine erinnerte, die so vielen Dorfbewohnern unheimlich erschienen.

Nein. Sie hatte tatsächlich Schritte gehört. Oder etwas anderes. Ein Rascheln im Gras. Neue Angst stieg in ihr auf. »Wer ist da?« rief sie in die Nacht.

Keine Antwort. Der Wind schien aufzufrischen. An den Stein gepreßt, wartete sie. Aber nun drang kein Geräusch mehr zu ihr.

»Wer ist da?« fragte sie noch einmal.

Immer noch keine Antwort. Sie verließ die Druidensteine, eilte auf bloßen Füßen über das Heidekraut zum Ufer des Sees.

Als sie wieder ein Rascheln hörte, drehte sie sich um und sah eine schattenhafte Gestalt hinter einen der Steine gleiten. Oder war es eine Sinnestäuschung gewesen? Hatte ihr etwa das Mondlicht einen Streich gespielt? »Wer ist da?«

Nichts rührte sich.

Und doch – irgend jemand oder irgend etwas schlich durch die Nacht. Daran zweifelte Shawna nicht.

Wieder blickte sie zu den Druidensteinen zurück, und plötzlich spürte sie, daß sie beobachtet wurde. Ein eisiger Schauer rann über ihren Rücken. Wie leichtsinnig war es von ihr gewesen, das Schloß um diese Stunde zu verlassen ...

Aber warum sollte sie sich fürchten? Hier kannte sie jeden Fels, jeden Baum, jeden Strauch. Niemals hatte sie Angst empfunden. Bis zu jener Nacht, in der das Feuer ausgebrochen war.

Vor so langer Zeit.

Und jetzt? Sie hielt den Atem an und betrachtete die Druidensteine, die wie stumme Wachtposten in die Finsternis ragten. Und dann hörte sie wieder ein Geräusch. Diesmal schrie sie entsetzt auf.

Nein, sie hatte sich nicht getäuscht. Eine schemenhafte Gestalt im wehenden Umhang lief zu ihr.

So still war die Nacht gewesen. Beim ersten Ruf hatte er geglaubt, der Wind würde flüstern. Dann hörte er die Stimme deutlicher, sah die Frau im silbrigen Mondschein aus dem Kreis der Druidensteine laufen.

Sie trug ein Hemd aus elfenbeinweißer Baumwolle und Spitze, das in der Brise flatterte, und das ebenholz-schwarze Haar glich einer wogenden Fahne. Leichtfüßig und anmutig wie eine Gazelle eilte sie auf nackten Sohlen dahin. Sie erschien ihm wie eine Waldnymphe aus alter Zeit, eine verführerische Elfe.

Großer Gott, Shawna. Bei ihrem Anblick spannten sich alle seine Muskeln an. Wie oft hatte er von diesem Wiedersehen geträumt, von der Wut, die er verspüren würde, von dem heftigen Wunsch, das Mädchen zu packen und zu schütteln ... Oder einfach nur zu berühren. Denn jetzt, da er sie beobachtete, erwachte eine Leidenschaft in ihm, die von Zorn und Sehnsucht gleichermaßen entfacht wurde.

Shawna ... Nein, solche Emotionen würden ihn nicht von seinem Plan abbringen. Sein Entschluß .war unerschütterlich, so wie der Felsen, auf dem sein Schloß stand.

Warum kam sie mitten in der Nacht zum See? Und dann sah er, daß sie verfolgt wurde. Zwischen den Druidensteinen sprang eine große Gestalt hervor, in einem Umhang mit Kapuze. Wer, um alles in der Welt ...?

Verdammt wollte er sein, wenn ein anderer Mann über das Mädchen herfiel. Nicht jetzt, nachdem er aus der Hölle zurückgekehrt war, um Rache zu üben. Instinktiv duckte er sich am Wasserrand und wartete.