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Ralf Bauer

Heinrich Bischoff, Jahrgang 1947, arbeitete bis zu seiner Pensionierung in der Versicherungsbranche, unter anderem in Hamburg, Düsseldorf, Neuss und Köln, wo er auch lebt. Danach begann er mit dem literarischen Schreiben. Die Macht der Armseligen ist sein zweiter Roman bei cmz.

Heinrich Bischoff

Die Macht der Armseligen

Köln-Krimi

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 by cmz-Verlag

An der Glasfachschule 48, 53359 Rheinbach

Tel. 02226-912626, info@cmz.de

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat:
Beate Kohmann, Bonn

Schlußredaktion:
Clemens Wojaczek, Rheinbach

Satz
(Aldine 401 BT 11 auf 14,5 Punkt)
mit Adobe InDesign CS 5.5:
Winrich C.-W. Clasen, Rheinbach

Papier (Lux Creamy 90 g mit 1,8f. Vol.):
Arctic Paper S.A., Poznań / Polen

Umschlagfoto (road-skyline-traffic-street-night-crossing):
www.pxhere.com

Umschlaggestaltung:
Lina C. Schwerin, Hamburg

Gesamtherstellung:
Bookpress.eu, Olsztyn / Polen

eISBN 978-3-87062-323-4

001–300 • 20190517

www.cmz.de

Ich denke, also bin ich;

ich zweifle, also bin ich;

ich werde getäuscht, also bin ich.

René Descartes

Inhalt

Die Personen

Der Verkehrsunfall

Die Verteidigungsvorbereitung

Semi Brandt

Die Verabredung

Die Versatzstücke

Fränzchen

Der Spaziergang

Die Reflexion

Das Begräbnis

Lores Beichte

Die Bilanzpressekonferenz

Der Sohn

Susannes Plan

Die Reaktion

Das Telefonat

Doppelte Strategie

Die Informantin

Die Vernehmung

Die Suche nach Verständnis

Der tanzende Tod

Die Tochter

Die Herausforderung

Der letzte Kontakt

Das zweite Treffen

Tödliche Verspätung

Die Öffentlichkeit

Das Strafmaß

Das dritte Gespräch

Die Waffe

Die Überraschung

Saskia Wanninger

Der Aktiendeal

Saskias Bericht

Die Fotos

Die Aussage

Alles Rokoko

Susanne Sahlenburg

Die Todesanzeige

Die Berberin

Lores Interview

Handelnde Personen

Das Spiel

Die Transformation

Die Personen

Dr. Rainer Seeger

Anwalt

Ingrid Seeger

Exfrau von Seeger

Ursula Kröger

Sekretärin von Seeger

Lore Bassinger

Mandantin von Seeger

† Johann Bassinger

Ehemann von Lore

Hans Bassinger

beider Sohn

Ellen Bassinger

beider Tochter

Heinz Petersen

Kriminalhauptkommissar

Dennis Domen

Polizeihauptmeister

Der Hinkende

Ex-Kommissar, Vater von

(Friedrich Domen)

Denis Domen

Karl Krapps

Vorsitzender

 

des Gesamtbetriebsrats

Dr. Christoph Clausenthal

neuer Vorstandsvorsitzender

† Dr. Sebastian Truts

Vorstandsvorsitzender

Dr. Rolf Rellinger

Vorstand

Heribert Vogelsang

Vorstand

Franz Westler

Vorstand

Klaus Wiese

Vorstandssprecher

Susanne Sahlenburg

Sekretärin

Semi Brandt

Reporter

Saskia Wanninger

Kollegin von Semi

Franz Kunkelbaum

Fotograf, Kollege von Semi

Erika Hussenweg

Angestellte

 

in der Anzeigenabteilung

Die von der Platte

erste Berberin

Corinna

zweite Berberin

Frederika

ehemalige Dame in Blau

Der Verkehrsunfall

Polizeihauptmeister Dennis Domen las das Unfallprotokoll vom 20. April 2007 und schüttelte den Kopf. Er gehörte seit Langem zur Unfallaufnahme im Polizeipräsidium Köln in Kalk. Zunächst war es nur ein Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht.

Jetzt der Unfall mit Todesfolge. Verursacht durch die Witwe Lore Bassinger. Unfallopfer Karl Krapps von der Titanus-Versicherung Aktiengesellschaft in Köln.

Die tragische Geschichte des Johann Bassinger, der während einer Betriebsversammlung auf drei Vorstandmitglieder geschossen und sich später in der Justizvollzugsanstalt das Leben genommen hatte.. Ein Opfer interner Machtspiele in der Titanus.

Die Reaktion der Unfallverursacherin: gefasst, fast erleichtert. Die ersten Zeugenaussagen, die zwei Frauen unterschiedlichen Alters davonrennen sahen. Von einigen Versicherungsmitarbeitern als Provokateurinnen bezeichnet. Der Hinweis des Pförtners der Titanus, dass Karl Krapps sich verfolgt gefühlt hatte. Das wiederholte Parken des Tatfahrzeuges in der Nähe des Haupteingangs.

Verdachtsmomente, die er mit seinem Kollegen, Kriminalhauptkommissar Petersen, besprechen wollte, der im Fall Johann Bassinger ermittelt hatte.

Er griff zum Telefonhörer. Wählte die Nummer. Hörte den langen, dunklen Ton des Freizeichens. Er trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. Petersen meldete sich. Domen schilderte ihm den Sachverhalt und wurde gebeten, vorbeizukommen.

Domen eilte zum Nebeneingang, Haus Nummer Eins. Im Erdgeschoss meldete er sich beim Pförtner. Eine lästige Vorschrift. Der Pförtner wählte bedächtig die Telefonnummer von Petersen. Meldete Domen an. Meinte, an den Besucher gerichtet: »Sie werden erwartet. Zimmer 128.«

»Danke, ich weiß.«

Die Verteidigungsvorbereitung

Seeger stand am Bürofenster seiner Kanzlei und blickte auf den Theodor-Heuss-Park. Die Lage und die alte, rote Hausfassade waren es, die ihn veranlasst hatten, die Kanzleiräume am Theodor-Heuss-Ring Nummer 10 zu mieten. Idyllisch gelegen und nahe am Zentrum. Keine zehn Minuten vom Hauptbahnhof entfernt. Die Verlängerung der Ringe, für jeden Autofahrer ideal. Fast vor der Haustür die U-Bahn-Station am Ebertplatz. Häufig schlenderte er nach seiner Arbeit durch den Park, längs des Weihers, bis zur Bastei. Setzte sich auf eine der Bänke am Rheinufer und schaute den vorüberziehenden Lastkähnen zu. Lauschte ihrem Tuckern. Sah auf die Bugwellen.

Sein Blick schweifte von der Straße zur Grünanlage. Die Büsche und Sträucher standen in voller Blüte. Seine Augen suchten den Weiher ab. Die Stockenten zogen auf dem Wasser ihre Kreise. Seit zwei Jahren gab es auch Kanadagänse. Die vermisste er jetzt. Er sah auf die gegenüberliegende Straßenseite Richtung Bleistifthochhaus. Beobachtete, wie ein silbergrauer BMW 320d Touring in eine der Parknischen einbog. Zurücksetzte. Wieder nach vorne fuhr. Stoppte. Eine Frau stieg aus. Sein Herz schlug schneller. Es war Lore Bassinger.

Sie hatte ihren schwarzen Mantel über die rechte Schulter gelegt. Zu dem blauen Pullover trug sie einen grauen Rock. Sie ging schnell in die Grünanlage. Blieb abrupt vor dem Weiher stehen. Starrte kurz auf das Wasser. Wandte den Kopf zum Bürogebäude, als suche sie die Fassade ab. Er wich vom Fenster zurück. Sah auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor elf Uhr, an diesem Donnerstag, dem 26. April.

Tief ließ er sich in den Bürosessel sinken. Er war leger gekleidet. Zur dunkelblauen Jeans mit dem schwarzen Ledergürtel und der silbernen Schnalle trug er ein rot-grau gemustertes Hemd. Mit einer Hand strich er über seinen Dreitagebart.

In seinen Gedanken liefen die Ereignisse ab. Wie sein damaliger Mandant, Johann Bassinger, während der außerordentlichen Betriebsversammlung der Titanus auf den Vorstandsvorsitzenden, Dr. Truts, dann auf die Vorstandsmitglieder Dr. Rellinger und Vogelsang geschossen hatte. Dabei rief Bassinger die Worte ›zu alt‹, ›zu teuer‹, ›zu dumm‹. Zum Schluss musste Bassinger erkennen, dass er Opfer einer Intrige gewesen war. Nur eine Marionette des Systems. Seeger wartete auf das Signal der Türklingel.

Lore Bassinger setzte sich in einen der schwarzen Ledersessel der Besucherecke. Seeger platzierte sich ihr gegenüber. Frau Kröger servierte Kaffee.

»Lieber Tee, beim nächsten Mal«, bat Lore.

Die Sekretärin nickte und ging. Bevor der Anwalt das Gespräch beginnen konnte, öffnete die Besucherin die Haare, indem sie die Schildpattspange löste. Sie schüttelte den Kopf. Fuhr sich mit der Hand durch die dunkelblonde Mähne, als müsste sie diese richten. Lächelte ihn an. Seeger war irritiert. Sie verströmte den Geruch von Vanille. Er rettete sich mit der Floskel: »Wie geht es Ihnen?«

»Wie soll es mir gehen?«

Er legte zwei Blätter Papier vor sich auf die gläserne Tischplatte. »Wie gehen Sie mit der jetzigen Situation um?«

Lore verzog keine Miene, als sie erklärte: »Die Situation, die unvorhergesehene? Sie erzeugt bei mir eine tiefe, innere Unruhe.«

»Und?«

»Ich weiß nicht, wie ich ihr begegnen soll.«

»Was meinen Sie?«

»Ich erlebe diese Zeit als eine Bedrohung. Nichts ist mehr, wie es war.«

»War das vorher auch schon so? Ich meine die Bedrohung.«

»Ja.«

»Sie weichen mir aus. Stärker, anders?«

»Anders.«

»Das ist … Meistens belehrt erst der Verlust uns über den Wert der Dinge. Das hat Schopenhauer gesagt.«

»Zitieren Sie immer einen Philosophen in einer, in einer Situation wie dieser?« Ihre Stimme klang abweisend.

»Wenn es mir auf diese Weise gelingt, dass sich meine Mandanten öffnen …«

Lore stutzte und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie löste die Arme wieder und legte ihre Hände auf die Tischplatte. Parallel zu den leeren, weißen Blättern ihres Gesprächspartners. »Die Verluste bewirkten bei mir, mich mit der Endlichkeit des Lebens auseinanderzusetzen. Ich habe meine sozialen Beziehungen überdacht. Ansonsten …« Es folgte eine Pause.

Nach einem Lächeln erklärte sie: »Ich bin vorsichtiger geworden. Ein Vertrauensverlust. Ein unsanftes Wecken. Meine Sicht auf das Leben ist eine andere geworden. Definitiv.«

»Eine andere?« Seeger schob seine Schultern vor. Meinte etwas ungehalten: »Sie antworten erneut unpräzise. Ich frage Sie: Ergibt sich daraus womöglich Hass, Rache oder Vergeltung?«

»Wieso wollen Sie das wissen?«

»Diese Fragen wird sich die Staatsanwaltschaft stellen. Bei einem Verkehrsunfall mit Todesfolge wird automatisch strafrechtlich ermittelt. Das heißt, in dieser Angelegenheit wird die Kriminalpolizei hinzugezogen, und wenn zusätzliche Verdachtsmomente auftauchen …« Er fing ihren unsicheren Blick auf. »Wie ist die Tat abgelaufen? Welches waren Ihre Motive? Kriminalhauptkommissar Petersen, der die Ermittlungen gegen Ihren verstorbenen Mann geleitet hat, wird sich auf diesen Fall stürzen. Ich kenne ihn! Er ist zäh, lässt nicht locker. Mein dringender Appell: Schweigen Sie! Machen Sie von Anfang an deutlich, dass Sie von diesem Recht Gebrauch machen werden. Lassen Sie sich von niemandem zu einer Äußerung verleiten. Von keinem, selbst nicht von Nahestehenden. Keine Gefühlsandeutungen, die Rückschlüsse zulassen. Folgen Sie meinem Rat!«

»Ich habe Vertrauen zu Ihnen, Herr Dr. Seeger. Sie waren der Anwalt meines Mannes. Ich will Ihnen meine Sicht der Dinge schildern. Vielleicht verstehen Sie …«

»Es geht hier nicht um das Verstehen«, unterbrach er sie.

»Sie sollten sich meine Geschichte anhören«, antwortete Lore Bassinger mit sanfter Stimme. »Sie könnten enttäuscht werden. Anschließend entscheiden Sie, ob Sie mich vertreten. Ich glaube, zwischen Ihnen und meinem Mann war es genauso gewesen.« Sie stockte. Für einen Moment zuckten ihre Augenlider.

»Gut, fangen wir an.« Der Anwalt räusperte sich. »Schildern Sie mir bitte den Unfall.«

»Ich bin von der …, mir ist der Straßenname entfallen, abgebogen. Kurz vor dem Eingang der Titanus am Johannes-Giesberts-Park lief jemand zwischen zwei parkenden Autos auf die Straße. Ich konnte nicht schnell genug bremsen.«

»Haben Sie Karl Krapps erkannt?«

»Alles ging wahnsinnig schnell. Ich bin mit dem Kopf auf das Lenkrad aufgeschlagen. Als ich zu mir kam, stieg ich aus. Sah einen Körper auf dem Straßenpflaster liegen. Ich habe ihn zunächst nicht erkannt. Mir sind die zerfetzten Hosenbeine aufgefallen. Er blutete. Am Hinterkopf. Bis …«

Sie kaute auf ihrer Unterlippe.

»Bis?«

»Er trug eine goldene Armbanduhr. Seltsam, dass es mir auffiel, aber ich erkannte das Armband aus fein gehämmerten Goldblättchen. Im Rautenmuster angeordnet. Diese Uhr habe ich ihm geschenkt.«

Seeger ließ den Füllfederhalter aus der Hand fallen.

»Haben Sie das jemandem erzählt? Vielleicht dem jungen Polizisten, der den Unfall aufgenommen hat? Was haben Sie denn gesagt?«

»Ich habe erklärt, das sei Karl Krapps. Ich weiß es nicht mehr.«

»Können Sie sich an sonstige Sachen erinnern?«

»Nein.«

»Schockzustand«, brummte Seeger. »Wir sprechen später darüber. Eine ganz andere Frage. Was führte Sie zur Titanus-Versicherung?«

»Es ging um die betriebliche Altersversorgung. Man will mir die Betriebsrente nicht zahlen.«

»Wieso?«

»Sie meinen, Johann habe als ehemaliger Mitarbeiter das Unternehmen geschädigt. Nun ist er aber tot. Somit sind die Voraussetzungen für die Zahlung gegeben …«

Lore schwieg. Stützte mit der Hand ihren Kopf.

Seeger griff zu dem Füllfederhalter. »Es gibt andere Unklarheiten. Besonders in Bezug auf Karl Krapps. ›Ein zufälliges Unfallopfer‹. Auf diesen Status sollten wir uns verständigen. Ich werde so argumentieren. Das ist unsere Linie.«

»Karl Krapps, er hat sich unser Vertrauen erschlichen. Definitiv.«

Sie zog ihre Mundwinkel nach unten, machte eine Pause.

»Frau Bassinger, ich muss Sie unterbrechen. Als Anwalt mache ich Sie, bevor Sie mir Details schildern, auf Folgendes aufmerksam. Bei einem unbeabsichtigten Verkehrsunfall mit Todesfolge müssen Sie in dem Gerichtsverfahren mit einer Verurteilung rechnen. Eine mögliche Haftstrafe von bis zu zwei Jahren wird in der Regel auf Bewährung ausgesetzt. Das ist meine Erfahrung.«

Er ließ das Gesagte wirken. Zum ersten Mal ertappte Seeger sich dabei, wie er Lore Bassinger fixierte, ihre Reaktion abwartete.

»Und?«

»Handelt es sich - und ich formuliere es weich - dagegen um einen gewollten Verkehrsunfall …«, er stockte, um ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu erzielen, »dann ist es Totschlag oder Mord und gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr. Ich gehe zunächst von einem ungewollten Verkehrsunfall mit Todesfolge aus«, erklärte er mit leicht erhobener Stimme.

Lore Bassinger lehnte sich in dem Stuhl zurück. Schlug die Beine übereinander.

»Karl Krapps, diese Geschichte begann mit meiner zweiten Flucht aus dem Elternhaus in Hamburg. Weihnachten vor acht Jahren.«

Lore stockte. Starrte auf die Tischplatte. Fuhr darüber, als wolle sie Staub wischen. Ganz langsam. Sie erinnerte sich, wie ihr Vater an dem besagten Weihnachtsfest die Hauskatze auf seinem Arm gehalten hatte. Gedankenverloren an deren Zitzen spielte. Lore Bassinger schüttelte sich. Hob ihren Kopf und sah Seeger an.

Der strich sich mit den Fingern über die Narbe an seiner rechten Unterlippe.

»Mein Mann Johann war der Erste, der mir die Möglichkeit geboten hatte, mit dem Elternhaus zu brechen. Nur, ich wusste nicht um welchen Preis.« Sie schnippte mit den Fingern.

»Der Reihe nach«, unterbrach sie der Anwalt. »Geht es um die Geschichte Ihrer Ehe?«

»Die ist der Anfang, der die Tat begründet.«

»Die Tat? Wir haben uns soeben auf einen Verkehrsunfall mit Todesfolge verständigt.«

Sie ignorierte seinen Hinweis und fuhr fort: »Sie wollen die Wahrheit hören? Wichtig sind die Stationen meines Lebens. Alle. Definitiv. Für mich und für Ihre Verteidigung.«

Hinter einer zerbrechlich wirkenden Fassade zeigte sich eine Kämpferin.

»Wissen Sie, Herr Dr. Seeger, selbst wenn Sie einen anderen moralischen Standpunkt vertreten: Ich will es Ihnen erklären, wie ich es sehe. Ich hatte manche Affäre in meinem Leben. Karl Krapps war eine davon. Das erste Mal ist es prickelnd. Geheimnisvoll. Beim zweiten Mal gibt es diesen Reiz nicht mehr, wenn es überhaupt dazu kommt. Emanzipation ist, dass ich es für mich mache. Es ist wie mit dem Geruch.«

»Dem Geruch?«

»Der Geruch der Männer ist entscheidend. Erinnerte er mich an den meines Vaters, gab es kein zweites Mal. Im Gegenteil. Ich lüftete das Haus, gab meine Kleider zur Reinigung, um mich davon zu befreien.« Sie schwieg einen Moment. Wirkte abwesend. Erzählte mit schleppender Stimme: »In den ersten Jahren unserer Ehe roch ich Johann wahnsinnig gern. Ihn, den Träumer.«

Über die runde Glastischplatte hinweg legte sie ihre linke Hand leicht auf Seegers rechten Unterarm. Er spürte ein Kribbeln. Zog ihn weg.

»Ich habe Ihren Lebenswandel nicht zu beurteilen.«

»Nein, definitiv nicht. Ich möchte aber, dass Sie mich und meine Beweggründe verstehen. Nur darauf kommt es mir an.« Sie schob ihr Kinn nach vorne und ergänzte: »Zunächst.«

»Und der Geruch? Wieso erwähnen Sie den?«, tastete sich der Anwalt heran.

»Ich erkläre es Ihnen später.« Sie zögerte und ergänzte: »Vielleicht.«

»Wieso vielleicht? Ich bin Ihr Anwalt. Ich höre Ihnen zu. Ich hoffe, dass etwas in Bewegung kommt.«

»Mein Anwalt. Das heißt, Sie übernehmen den Fall?«

»Richtig. Sollten sich strafrelevante Tatsachen ergeben, die …«

»Lassen wir das Thema«, bemerkte Lore schmallippig.

»Einverstanden. Womit beschäftigen Sie sich im Moment?«

Der Anwalt folgerte, dass sie unangenehmen Dingen auswich.

Lore erklärte: »Das Haus, ich werde es verkaufen. Es ist zu groß, seitdem die Kinder fort sind. Mit dem Verkauf lasse ich die Erinnerungen zurück. Sie sind nicht immer positiv. Ich starte ins Ungewisse. Ein Abschnitt. Keine Ahnung, was mich erwartet. Ein Loch, gleich einem Abgrund? Bleibe ich, werde ich jeden Tag an etwas erinnert, was ich am liebsten vergessen möchte. Das Haus wird für mich zum Gefängnis.« Beiläufig erklärte sie: »Ewiges Vergessen, das gibt es nicht. Verharre ich in jenem Zwischenstadium zwischen Himmel und Hölle? Im Limbus?«

Seeger schüttelte den Kopf. Ihr Seelenleben erschien ihm ziemlich diffus.

Lore bemerkte sein Unverständnis. Lächelte. Wechselte das Thema.

»Ich bin nicht mehr dieselbe. Definitiv. Das Schlimmste ist diese Unsicherheit. Sie zermürbt mich.«

Sie taucht elegant ab in eine andere Welt, fand Seeger.

»Ich wünsche mir, dass Johanns Tod anders bewertet wird.«

Sie pausierte. Räusperte sich. »Ich will die Dinge richtigstellen.«

»Was meinen Sie damit?«

»Es war kein Selbstmord. Er wurde in den Tod getrieben.«

Seegers Mund war plötzlich trocken. Er trank hastig einen Schluck Kaffee.

»Geblieben ist in mir Angst und Unsicherheit. Mein fehlendes Selbstwertgefühl musste ich bekämpfen. Ich fühlte mich hilflos, fühlte mich blockiert. Johanns Tod war für mich ein tiefer Einschnitt.«

»Haben Ihnen Ihre Kinder geholfen?«

Sie zögerte. »Nein, meine Kinder nicht.« Mit einem gequälten Lächeln fügte sie hinzu: »Es war Johanns ehemalige Sekretärin, Susanne Sahlenburg. Sie hat mich aus der Erstarrung erlöst.«

»Wie hat sie das getan?«

»Sie ist mit mir in Brühl spazieren gegangen.«

»Mehr nicht?«

»Alle wichtigen Sätze sind heute von mir gesagt.«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie verstummte.

»Wir setzen das Gespräch ein anderes Mal fort. Frau Kröger wird Sie anrufen, um einen neuen Termin zu vereinbaren. Soll ich Ihnen ein Taxi bestellen? Sie sollten nicht selbst fahren!«

Lore nickte, erhob sich und reichte ihm wortlos die Hand.

»Als Beschuldigte werden Sie bald vernommen werden. Warten wir die Ladung ab.«

Kurze Zeit später hörte er das Taxi vorfahren. Er trat erneut an das Fenster.

Grübelte: ein unstrukturiertes Gespräch. Sie hat eher einen Monolog geführt. Aber sie hat sich mir gegenüber geöffnet. Dieses häufige Lächeln? Weglächeln, nannte es Ingrid. Komisch, dass ich gerade jetzt an sie denken muss. Wie lange sind wir geschieden?

Er sah, wie seine Mandantin in das Taxi einstieg. Sie blickte zu ihm hoch. Er hob die Hand zum Gruß.

Er notierte sich:

Unfallhergang (Schilderung unvollständig)

Angst

Unsicherheit

kein Selbstwertgefühl

Limbus

Spaziergang Brühl

Am nächsten Morgen betrachtete er sich im Spiegel. Probierte später die enge, verwaschene Bluejeans an. Vorteilhaft geschnitten, fand er. Du alter Narr!

Semi Brandt

Semi blätterte im Kölner Stadt-Anzeiger. Er prüfte die Todesanzeigen in dem Konkurrenzblatt. Ob sie für ihn, den investigativen Journalisten von Köln aktuell, etwas hergaben. Er ergötzte sich an den verlogenen Nachrufen der Angehörigen.

Die große Anzeige der Titanus-Versicherung ließ ihn stutzen.

Wir trauern um unseren verdienten Mitarbeiter

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Karl Krapps

* 1.4.1955 † 20.4.2007

Plötzlich und unerwartet wurde er aus unserer Mitte gerissen. In ihm verlieren wir einen Menschen, der uns mit seinen Erfahrungen, seiner Sachkenntnis und seinem Verantwortungsbewusstsein fehlen wird. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.

Titanus-Versicherung Aktiengesellschaft

Der Vorstand

Er las die Anzeige ein zweites Mal. Es fehlte der Hinweis auf eine Trauerfeier. Er fand beim nochmaligen Durchblättern keine Anzeige der Familie.

Irgendetwas stimmte nicht. Gewissheit bekam er, als er im Teil »Vermischtes« eine Kurznachricht fand. Unscheinbar, wie beiläufig, stand dort:

Karl Krapps starb am 20. April.

Sein Tod hinterlässt Spuren.

Die Betroffenen.

Sein Herz begann zu rasen, die Schläfen zu pochen. Ich rieche eine Geschichte, dachte er.

Semi wählte die Nummer der Anzeigenabteilung des Kölner Stadt-Anzeigers und ließ sich mit Erika Hussenweg verbinden.

»Tag, meine Liebe. Du errätst nicht, wer am Apparat ist.«

»Wer schon. Beginnt einer so, bist du es, Semi. Das muss seinen Grund haben, wenn der lang Vermisste sich bei mir meldet.«

»Du weißt, wie hektisch es in der Redaktion zugeht. Eine kurze Frage.«

»Gegen ein Abendessen mit mir?«

»Klar, gespickt mit vielen Neuigkeiten aus der Schickeria unserer Stadt. Nur für dich.«

»Semi, du Schmeichler. Schieß los.«

»Auf Seite vierzehn, unter ›Vermischtes‹ der heutigen Ausgabe, findet sich eine kleine Anzeige.«

»Was willst du wissen?«

»Wer hat die Annonce aufgegeben und die Rechnung beglichen?«

»Warte, ich sehe im Computer nach.«

Semi hörte das Klicken der Tastatur und das Selbstgespräch seiner Telefonpartnerin: »Kleinanzeigen, Seite vierzehn. ›Vermischtes‹. Na, komm. Dauert das heute! Wow, das ist interessant!«

Stille; dann ihre Stimme: »Semi, bist du noch dran? Komisch. Die Anzeige wurde bar bezahlt. Sie sollte unbedingt am selben Tag wie die Todesanzeige der Titanus erscheinen. Das steht hier dick vermerkt.«

»Wer war der Auftraggeber?«

»Eine Dora Schmitz. Schmitz. Und das in Köln! Eine von Hunderten.«

»Du meinst, ein falscher Name.«

»Das meine ich.«

»Du bist ein Schatz.«

»Ich weiß. Semi, denke daran: ein Abendessen.«

»Wie könnte ich das vergessen!«

Er schaute auf und entdeckte am Schreibtisch nebenan seine Kollegin Saskia Wanninger. Semi schätzte ihre Arbeit. Ihre Recherchen waren hervorragend. Die Wege, die sie beschritt, unkonventionell. Sie war dickköpfig, zielstrebig und verschwiegen – Eigenschaften, die sich bei ihr wunderbar ergänzten. Er betraute sie mit besonderen, delikaten Aufgaben.

»Saskia, Schätzchen, schau bitte im Archiv nach. Alles, was du zu einem Fall Bassinger findest. Ich wittere eine Story.« Er wippte in seinem Stuhl vor und zurück. Betrachtete ihre schöne, barocke Figur.

»Bassinger? Wie schreibt der sich?«

Er buchstabierte den Namen. »Sein Vorname ist Johann … Ach Schätzchen, auch Unterlagen über Karl Krapps. Meine damalige Quelle …«, er lachte, »da brauche ich alles. Bitte, erkundige dich, wann die Trauerfeier für Krapps stattfindet. Vermutlich in der Trauerhalle des Friedhofes Melaten, Eingang Piusstraße. Ich brauche Fränzchen für die Fotos.«

Semi sah ihr nach, wie sie in Richtung Glastür des Großraumbüros ging. Nicht ohne bei den Schreibtischen von Kollegen stehen zu bleiben. Einige Sprachfetzen fing er auf. »Bisschen hektisch, unser Starreporter. Davon lasse ich mich nicht anstecken …«

Es dauerte mehr als eine Stunde, bis Saskia zurückkehrte. Sie strahlte, denn sie war fündig geworden. Er hatte in der Zwischenzeit recherchiert. Besonders die Firmenentwicklung der Titanus-Versicherung und deren Personalmanagement.

Saskia legte ihm die Unterlagen auf den Schreibtisch. »Das konnte ich auf die Schnelle finden. Wichtig erschien mir, dir auch die Daten der anderen Vorstandmitglieder mitzubringen und Auszüge aus den Bilanzpressekonferenzen der Titanus.«

Sie beugte sich über den Schreibtisch. Gewährte Semi einen Blick in ihr üppiges Dekolleté. »Zusätzlich habe ich dir die Daten der Familie von dem Bassinger zusammengestellt. Eltern, Kinder, Großeltern, nebst den aktuellen Anschriften.«

»Du bist klasse.«

Semi fing an, das Material zu sichten. Stoff für fünf Artikel, spekulierte er. Formulierte in Gedanken die ersten Schlagzeilen.

Saskia zog sich schmollend zurück.

Die Verabredung

Drei Monate vor dem Verkehrsunfall hatte bei Lore Bassinger das Telefon geschrillt. Der Ton unterbrach die lähmende Stille des Hauses. Sie erhob sich müde aus ihrem Sessel und ging in den Flur. Nahm den Telefonhörer ab. Nannte ihren Namen. Am anderen Ende der Leitung war es still. Energisch sagte sie: »Bitte, melden Sie sich.«

»Guten Tag, Frau Bassinger. Es fällt mir nicht leicht. Mein Name ist Susanne Sahlenburg. Ich war viele Jahre die Sekretärin Ihres Mannes.«

»Ich weiß. Wir sind uns ein oder zwei Mal begegnet.«

»Mein Gott, ich kann das Ganze noch nicht fassen.«

»Ja?«

»Es ist entsetzlich. Ich weiß nicht. Mir fehlen die Worte.«

Es entstand eine Pause. Lore hörte die Frau schwer atmen. Sie erinnerte sich an den selbstlosen Einsatz der Sekretärin. Vermutete ein Verhältnis mit ihrem Mann. Zumindest irritierte die Vertrautheit, wenn Johann von seiner Sekretärin sprach. Er wischte alle Verdächtigungen beiseite. Lobte im Gegenzug die hervorragende Zusammenarbeit. Erwähnte deren norddeutschen Akzent, den auch sie selbst hatte. In den Gedanken hinein hörte Lore am anderen Ende der Leitung die Stimme Sahlenburgs.

»Ich bin traurig. Alles ist auseinandergefallen. Haben Sie sich gefragt, wie das alles passieren konnte?«

»Was glauben Sie!« Lore war verärgert

»Entschuldigung. Es ist nur … Ich hab’ mir das schon gedacht. Ich versuche, die Gründe aufzudecken. Ich will dieses … dieses verdammte Schweigekartell durchbrechen.«

»Schweigekartell? Ich verstehe Sie nicht. Was wollen Sie von mir?«

»Ich möchte Ihnen meine Überlegungen … also, das Erbe von Johann. Wie kann das erfüllt werden?«

»Von Johann?«

»Entschuldigung, wir haben uns geduzt. Ich möchte, dass sein Wirken nicht umsonst gewesen ist.«

»Welches Erbe?« Es entstand eine Pause.

»Wir sollten uns treffen. Dann kann ich das besser erklären.«

»Warum sollte ich mich mit Ihnen treffen?«

»Wir leiden an unserer Situation.«

»Unsere Situation?«

»Gemeinsam können wir es ändern.«

Lore zögerte. »Machen Sie einen Vorschlag. Ort und Zeit.«

»Ich bin mir nicht sicher. Wir könnten gesehen werden.«

»Warum so geheimnisvoll?«

»Ich werde Ihnen das erklären. Können wir uns am Sonntag in Brühl treffen? Vor dem Portal von Schloss Augustusburg?«

»Frau Sahlenburg, Ihr Vorschlag überrascht mich. Geben Sie mir Ihre Telefonnummer. Moment bitte, ich hole Papier und einen Stift … Hallo, sind Sie noch am Apparat? Ich notiere … Gut, ich rufe Sie zurück.«

Lore hörte ein schwaches: »Danke, tschüss.«

Mit unsicheren Schritten kehrte sie zu ihrem Sessel zurück. Welch ein seltsames Telefonat. Was will diese Frau von mir?

Die Versatzstücke

Seeger parkte seinen Audi in der Holbeinstraße. Die Sonne blendete ihn. Er musste blinzeln. Wie lange ist es her, dass ich zum ersten Mal das Haus der Familie Bassinger betreten habe? Sind es sechs Monate? Die Zeit vergeht! Vielleicht hilft mir der häusliche Rahmen, verwertbare Hintergrundinformationen zu erhalten.