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Autoreninfo

Alexa Thiesmeyer, Jahrgang 1949, Jura-Studium in Bonn, seitdem freie Journalistin und Schriftstellerin. Verfasserin von zahlreichen Theatertexten (Komödien, Sketche und Satiren), Kriminalromanen und Kurzkrimis. Mitglied der »Mörderischen Schwestern« und im »Syndikat«. Venusberg ist der vierte Fall des Ermittler-Duos Pilar Álvarez-Scholz und Freddy Stieger.

Haupttitel

Alexa Thiesmeyer

Venusberg

Rheinland-Krimi

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2017 by CMZ-Verlag

An der Glasfachschule 48, 53359 Rheinbach

Tel. 02226-9126-26, Fax 02226-9126-27, info@cmz.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagfoto (Venusberg mit Universiätskliniken):
Volker Lannert, Bonn

Umschlaggestaltung:
Lina C. Schwerin, Hamburg

978-3-87062-252-7 Paperback
978-3-87062-277-0 epub
978-3-87062-278-7 mobi

eBook-Erstellung:
rübiarts, Reiskirchen

20170514

www.cmz.de

www.alexa-thiesmeyer.de

Motto

Auge um Auge – und die ganze Welt wird blind sein

Mahatma Gandhi

Inhalt

Anfang November:
Halbinsel Snaefellsnes, Island

Mitte April:
Venusberg, Bonn, Deutschland

Anfang Mai:
Venusberghang, Bonn, Deutschland

EINS

Mitte Mai

Posteingang

ZWEI

Anfang Juni

Aus einem alten Adressbüchlein

DREI

Nordwest-Island

Aus einem alten Adressbüchlein

VIER

Nordwest-Island

Aus einem alten Adressbüchlein

FÜNF

West-Island

Aus einem alten Adressbüchlein

SECHS

Aus einem alten Adressbüchlein

SIEBEN

Nordwest-Island

Aus einem alten Adressbüchlein

ACHT

West-Island

Aus einem alten Adressbüchlein

NEUN

Aus einem alten Adressbüchlein

ZEHN

ELF

ZWÖLF

Reykjavík/Island

DREIZEHN

VIERZEHN

Danach

Anmerkungen und Danksagung

Anfang November:
Halbinsel Snaefellsnes, Island

Der Winter war nah. Ein heftiger Wind fuhr um das Häuschen am Hang, rüttelte an der Holztür, peitschte die Zweige des Birkenbuschs gegen die Fensterscheibe, unterbrach sein Tosen und legte aufs Neue los.

Drinnen lag Gerda unter dem Federbett. Ihr Körper war schweißnass, ihr Nachthemd klebte auf der Haut. Sie wusste nicht, was mit ihr los war und warum es nicht besser wurde; sie war nahe daran, an Geister zu glauben, die gekommen waren, um sie zu strafen.

Das nächste Wohnhaus war weit entfernt, hinter den Hügeln, dem Lavafeld und dem Fluss. Gerda besaß kein Telefon, keinen Computer und kein Auto. Kartoffeln, Möhren, Kaffee und Trockenfisch brachte ihr Helgi per Jeep oder Pferd, und mehrmals im Jahr kam ihr Sohn mit Leinwand und Farben, die er in Reykjavík kaufte. Viel mehr brauchte sie nicht. An klaren Tagen sah sie von der Tür aus die weiße Kappe des Gletscherbergs. Sie wusste um seine Mystik und die uralten Geschichten. Das war Reichtum genug.

Mit dieser Landschaft und dem endlosen Himmel allein zu sein, war ihr Wunsch gewesen. Hier fragte niemand: Was hast du gemacht, warum bist du hergekommen? Sie war einfach da, in dieser Hütte mit dem Grassodendach, die ein alter Kauz vor langer Zeit verlassen hatte, Gerda, die Deutsche, die Bilder malt. Deutsche war man hier gewohnt und Menschen, die merkwürdig waren, sowieso. Hier erinnerte nichts an die Stadt, die sie verlassen hatte, und jene fatale Zeit.

Das ist ein neues Leben, hatte sie sich eingeredet. Die Fehler der Vergangenheit wogen federleicht und schienen mit dem Wind davon zu fliegen.

Was für eine Illusion. Alles, was sie falsch gemacht hatte, lag wieder zentnerschwer auf ihrer Bettdecke. Sie hätte wissen müssen, dass ein Fehler zehn andere gebar. Fehler waren wie Ratten.

Sie hatte mehrfach erbrochen. So etwas kannte sie nicht, zumindest war Ähnliches geraume Zeit her. Es war noch in Deutschland gewesen, in der zugigen Dachwohnung, wo bald jede Mark aufgebraucht war, da die Krankheit verhindert hatte, dass sie wie gewohnt ihre Artikel gegen lausiges Honorar auf der Schreibmaschine tippte, nachts, wenn andere Frauen an der Seite ihres Gatten schlummerten. Ja, sie hatte auch mal einen. Kurz vor der Geburt des Sohnes war er aus dem Haus geeilt, tschüs, bis nachher, und wenig später stand die Polizei vor der Tür. Er war nicht zur Post gegangen, wie sie dachte, sondern zum Alten Zoll, dem Rest der barocken Stadtbefestigung, und hatte sich fünfzehn Meter in die Tiefe gestürzt.

Ach, und das Geld … Versagerin!, hatte die Tochter gebrüllt, die mit Sprösslingen höherer Beamten zur Schule ging, hätte ich nur eine andre Mutter! Da überkam es Gerda – sie schlug mit dem Besen zu. Das Mädchen raste die Treppe hinunter. Ich hau ab für immer!, hallte ihre Stimme durch den Hausflur, in dem das Licht erlosch. Endlich eine vernünftige Idee!, schrie Gerda ihr nach. Sie hörte die Tür ins Schloss knallen, während sie, gestützt auf den Besen, einfach nur dastand. Bis sie sich einen Ruck gab und zur Polizeiwache lief, obwohl es ihr zuwider war. Teenager, da könnte ich Ihnen was erzählen, meinte der Staatsdiener in Uniform, die kommt zurück. Was natürlich nicht stimmte.

Gestern, unzählige Jahre später, war das Gesicht der Tochter plötzlich an der Fensterscheibe aufgetaucht. Gerda fuhr der Schreck in die Glieder. Wie ein Unwetter brachen die Erinnerungen über sie herein, Wortfetzen dröhnten in ihren Ohren, die letzte Szene jagte als Sturmwolke vorbei. Was bedeutete der Besuch, den sie sich nie gewünscht hatte? In ihrer Verwirrung blickte Gerda auf die schmale weiße Hand, die ihrer eigenen ähnlich war und sich hob, um den Wollschal unterm Kinn zu lockern. Ein Gefühl, das ihr fremd war, stieg in ihr auf, als wüchse es aus dem Boden dieser unergründlichen Gegend tief in ihr Innerstes hinein. Den Tränen nahe öffnete sie die Tür ganz weit.

Die Tochter sah gut aus mit ihrem vom Wind zerzausten Haar. Sie war im Morgengrauen mit dem Bus von Reykjavík gekommen und den Rest zu Fuß gegangen. In ihrem Rucksack, der nicht mal Kleidung zum Wechseln enthielt, hatte sie etwas mitgebracht, französischen Rotwein, Brot und selbstgemachte Wurst.

Was für eine sonderbare Überraschung! Die Wurst schmeckte wie früher, als Gerda sie zubereitete, weil es billiger kam als Aufschnitt vom Metzger. Sie langte kräftig zu, aber die Tochter saß ihr gegenüber wie eine Magersüchtige, nahm nur Brot und Wein und erklärte, sie lebe jetzt vegan. Ihr Gesicht glich einer kühlen, glatten Wand, an der man weder Tür noch Fenster fand. Es war zu viel schief gelaufen damals. Nichts war rückgängig zu machen. Alles war unrettbar vorbei. Das Gespräch war wie ein Stochern in kalter Asche.

»Seit wann malst du?«, war das einzige, was die Tochter fragte, nachdem ihr Blick die Wände entlang gewandert war.

»Bald dreißig Jahre.«

Die Augen der Tochter trafen auf die ihren.

»Deine Liebe galt der RAF.«

Das kam unerwartet.

»Die Terroristen haben dein Geld, deine Zeit und deine Kraft bekommen. Alles, was dich ausmachte.« Die Worte glichen Salven scharfer Geschosse, die anscheinend seit langem im Kopf der Tochter bereitgelegen hatten, um an diesem Tag herausgeschleudert zu werden. »Deine Kinder hättest du am liebsten verschachert.«

»Ach wo, nein«, erwiderte Gerda schnell.

RAF. Rote Armee Fraktion. Gerda hatte die Bezeichnung lange nicht gehört. In Island noch nie. Woher wusste die Tochter davon? Die war damals ein Kind gewesen, und Kinder verstanden nichts von Politik.

Warum kam sie jetzt damit?

»Dem verdammten Mist von Revolution und bewaffnetem Kampf habt ihr alles geopfert – eure Familien zuerst.«

Es war unendlich lang her und Gerda so fremd geworden. Sie konnte es nicht ändern, und erst recht nicht darüber reden, ihre Kehle zog sich zu. So wartete sie auf den nächsten Schlag, und er kam.

»Du hast mein Leben vergiftet.«

Später war Gerda völlig verstummt. Was schlich jetzt in ihren Körper herum und lähmte ihn? Ihre Hausmittel, die sonst immer halfen, hatten versagt. Nun lag sie steif auf dem Rücken und konnte den Kopf nicht heben.

Wie ein dickes graues Kissen zog von Westen eine Wolkenfront heran. Gerda sah sie mit schweren Lidern verschwommen durch das Fenster neben dem Bett. Ihr Mund war trocken, das Schlucken unmöglich, ihr Brustkorb seltsam starr. Die Arme lagen neben ihrem Körper, als gehörten sie nicht zu ihr.

Sie versuchte, die Panik zurückzudrängen. Was sie brauchte, war die richtige Medizin. Die würde sie bald bekommen. Endlich war ihre Tochter unterwegs zum Arzt. Wenn sie sich nur nicht so viel Zeit gelassen hätte! Erst war ihr der Wind zu scharf, dann hatte sie nach irgendwas gesucht, angeblich Wollsocken und Mütze. Schließlich draußen, war sie noch einmal hereingekommen, um ihren Rucksack zu holen, hatte umständlich eine Flasche mit Tee gefüllt, in aller Ruhe zugeschraubt und eingepackt. Nun war sie seit Stunden fort, der neue Tag längst angebrochen. Später würde sie vielleicht behaupten, sie habe kein bewohntes Haus gefunden, um zu telefonieren, ein Handy besaß sie angeblich nicht. Falls sie überhaupt zurückkehrte …

Gerda erschrak – was gärte da in ihrem Kopf? Auf ihre Weise hatte sie ihr Kind doch geliebt, auch wenn es im Weg war, als sie der Frau folgen wollte, deren Worte bei ihr gezündet hatten: Ulrike Meinhof. Gegen das System, ja! Gegen den Imperialismus, den Kapitalismus, die Ausbeutung, die Unterdrückung, die ganze Verlogenheit! Für eine gerechte Gesellschaft! Aber mit dem Kind ging alles über ihre Kräfte, zumal sie noch ein zweites bekam. Aus ihrem Examen wurde nichts, und zu den Treffen in Hamburg, Stuttgart oder Frankfurt erschien sie selten und immer zu spät. Statt über Klassenkampf zu diskutieren, schlief sie ein, statt den Bundeskanzler im Umfeld seines Hauses aufs Korn zu nehmen, saß sie bei den kranken Blagen, wo der Keuchhusten kein Ende nahm.

Ja, sie hätte sie verschachert, wenn sich die Möglichkeit geboten hätte. So aber beschränkte sich ihr Beitrag zur Revolution auf Kleinkram und das Gewähren von Unterschlupf. Vor dem Attentat auf den Generalbundesanwalt nahm sie ein Paar auf, das mit dem Motorrad auf dem Weg nach Karlsruhe war, und vor der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten ließ sie zwei Leute bei sich nächtigen, die tags darauf nach Köln fuhren, um die Aktion einzuleiten. Die gefangenen RAF-Kämpfer motivierten sie, und als sie tot waren, wollte sie nicht nachlassen. Bis zum 10. Oktober 1986. Sie erfuhr es aus den Spätnachrichten: Zwei Vermummte hatten den Diplomaten Gerold von Braunmühl vor seinem Haus in Bonn erschossen. Das war zu nah. Sie vermied den Blick zum Sofa, wo die zwei gepennt hatten, und vor ihren Augen teilten sich die Nebel. Töten als Mittel revolutionärer Politik? Das war kein Weg zum sozialistischen Traum, es waren sinnlose, miese Verbrechen. Sie zählte ihr Geld und flog nach Island. Das schien fern genug. Dann der Schock, als sie ankam: Schwarze Limousinen in Reykjavík, Sicherheitskräfte, Journalisten, Fotografen. Sie glaubte, man suche sie. Bis sie begriff, dass Reagan und Gorbatschow in diesem Land das Ende des Kalten Kriegs verhandelten und niemand sich für die blasse Sympathisantin deutscher Revolutionäre interessierte.

Hier lag sie nun. Nach so vielen Jahren. Die Wolken färbten sich gelb und verhüllten das Sonnenlicht. Sie konnte die Augen nicht offen halten. Die Luft im Raum – was war mit der Luft? Die war so zäh und passte nicht durch ihre Kehle, die einem Eisenrohr glich.

Plötzlich war es hell und klar in Gerdas Kopf, als hätte jemand ein Licht angeknipst. Schlagartig wusste sie Bescheid. Für einen kurzen Moment vor der ewigen Dunkelheit.

Mitte April:
Venusberg, Bonn, Deutschland

Der Wald war finster. Keine Sterne, kein Mond. Aus dem Rheintal klang das Vorbeirauschen eines Zuges herauf. Kleine Tiere raschelten im Laub neben dem Weg. Von weiter her kam der Ruf eines Käuzchens.

Die Lichtkegel wiesen die Richtung. Ingas Haare flatterten, sie trug keinen Helm auf der Tour durch den Kottenforst und über den Venusberg, dem Plateau mit den Universitätskliniken, ein paar Wohnstraßen und diesem Wald, wo zwischen den Bäumen schwärzliches Wasser schimmerte.

O schaurig ist’s, übers Moor zu gehen … So ein Gedicht aus der Schulzeit bleibt im Kopf, bis du Oma bist. Schauriger Venusberg, haha! Das war wirklich zum Lachen. Und von wegen gehen, sie fuhren, aber wie! Sie traten in die Pedalen wie die Teufel.

Das Tempo war zu hoch – ein ebenso lästiger wie flüchtiger Gedanke. Inga fühlte sich unsagbar jung. Ein tolles Gefühl, wenn dein vierzigster Geburtstag ein paar Jahre zurückliegt.

Berauscht von der Flasche Rotwein, die sie in der Schutzhütte geleert hatten, sangen sie laut, was ihnen in den Sinn kam, zuletzt eine verrückte Mischung aus Yesterday und I love you, yeah, yeah, yeah. Die Beatles hatte Inga immer gemocht. Im Takt fuhr sie in Schlangenlinien auf die Wegkreuzung zu.

Sie schrie auf. Die Räder hatten sich berührt. Sie schlingerte. Meinte, sich noch halten zu können. Da kam ein Stoß von der Seite. Hey! Ihr Fahrrad kippte. Sie stürzte. Prallte mit dem Schädel gegen eine Kante.

Schmerz flammte auf. Jemand war über ihr. Hände nahmen ihren Kopf. Hoben ihn hoch. Höher. Stießen ihn hinab auf den Stein.

Der Moment furchtbarer Erkenntnis.

Der Wille, es jemandem zu sagen, sofort.

Das Wissen, dass es zu spät war. Für alles.

Über ihr rauschte der Wind in den Baumkronen. Ihr Fahrrad lag neben ihr, das andere entfernte sich. Sie hörte das Knirschen unter den Reifen. Dann nichts mehr.

Stunden später erhoben sich erste Vogelstimmen, und stetiger Regen ging nieder. Doch die Nässe, die tropfenden Äste und feuchtkalten Morgennebel konnten einen jungen Studenten nicht von seinem Lauftraining abhalten. Auf dem aufgeweichten Waldboden erblickte er das Fahrrad und die Frau mit dem nassen Haar.

Er beugte sich zu ihr hinunter. Seine Hand zuckte zurück. Ihr Körper war kalt und starr.

Anfang Mai:
Venusberghang, Bonn, Deutschland

Das war schon eine merkwürdige Prozedur. Wie die beiden Männer die Trage die Stufen hinunterschleppten. Sie hielten das Ding ganz schräg und diagonal zu den Stufen, anders ging es wohl nicht. Man musste bei jedem Schritt befürchten, dass die Tote, die zugedeckt darauf lag, herunterrutschte und in den Steingarten plumpste. Die Treppe, an deren Fuß der schwarze Leichenwagen stand, war steil, wie es hier, am Hang des Venusbergs, nicht ungewöhnlich war.

In einem solchen Haus sollte man nicht sterben, dachte die alte Frau mit dem straffen Haarknoten, die mancher von den Älteren als Mariesche kannte. Sie stand in einer geblümten Kittelschürze, wie sie kaum noch jemand trug, im Vorgarten ihrer Enkelin.

Überhaupt, sagte sie sich, ist die Sache doch höchst mysteriös. Niemand hatte gewusst, dass Ute Hackmeyer krank gewesen war. Und krank musste man wohl sein, wenn man mit 48 Jahren so mir nichts, dir nichts, verstarb. Wenn nur irgendwas von der Erkrankung bekannt gewesen wäre, hätte Mariesche ihre Hilfe angeboten, Tee und Hühnerbrühe gekocht, die Wäsche gemacht, jedenfalls solange der Ehemann verreist war. Aber bestimmt hatte auch der nichts davon gewusst, sonst wäre er nicht weggefahren. Und anscheinend handelte es sich nicht um eine gewöhnliche Krankheit. Wäre sonst der Polizeiwagen in der Straße aufgetaucht? Der hatte lange am Bürgersteig gestanden. Die Beamten waren im Haus gewesen und gerade erst weggefahren.

Der Herr von gegenüber, seit kurzem Rentner, ehemals Apotheker, hatte die Prozedur ebenfalls beobachtet und trat ans Gartentor. Er bedeutete dem Mariesche, näher zu kommen.

Der Leichnam werde in die Rechtsmedizin gebracht, sagte er, eine Obduktion sei angeordnet, wegen unklarer Todesursache.

O je … Stimmte das? Die stummen, ernsten Träger konnte man schlecht fragen, schon gar nicht über den Zaun hinweg.

»Ute Hackmeyer war Staatsanwältin«, raunte der Nachbar. »Zuständig für Kapitalverbrechen. Ob nicht einer der Mörder, die sie vors Schwurgericht gebracht hat …« Statt den Satz zu vollenden, warf er ihr einen bedeutungsschweren Blick zu.

Mariesche schüttelte den Kopf, so dass ihr Haardutt wackelte. »So einfach wird das nicht sein.«

»Sie war so nett«, meinte der Apotheker.

Wer weiß, ob sie das wirklich immer war, dachte die Frau mit dem Dutt, behielt den Gedanken aber für sich.

EINS

Mitte Mai

Soll ich oder soll ich nicht?« Pilar starrte gedankenverloren auf die Kolonne der Erdbeerkörbchen auf dem Tisch des Verkaufsstands.

Freddy hatte kaum zugehört und wusste nicht, ob ihre Worte an ihn gerichtet waren oder ob es sich um ein Selbstgespräch handelte. Er hatte mit einer Kundin telefoniert und gerade erst aufgelegt.

»Was red ich für ein Blech.« Pilar sah ihn nicht an, ihre dunklen Augen waren noch immer auf den Tisch gerichtet, der zwischen ihnen stand. »Es geht ja nicht.«

»Moment …«, brummelte er, während er die soeben erhaltene Bestellung notierte: sechs Dinkelhörnchen, vier Haferbrötchen, fünf Stück Möhrenkuchen. Hoffentlich war ihm nichts durcheinander geraten. Wenn es nun fünf Dinkel, sechs Hafer und vier Möhrenkuchen waren? Egal, die Kundin hatte angekündigt, in einer Stunde vorbeizukommen, und noch war von allem genug da.

Hier, am luftigen Stand von Neles Biobauernhof auf dem Venusberg am Rand einer Grünanlage, arbeitete Freddy, um sich finanziell über Wasser zu halten, eine Verlegenheitslösung, aber keine schlechte. Nur wenige Menschen wussten, dass er auch Privatdetektiv war, was ebenfalls eine Verlegenheitslösung darstellte, nachdem er zweimal durchs juristische Staatsexamen gerasselt war.

»Nein, es geht ja nicht«, wiederholte Pilar. Das klang kreuzunglücklich und hatte sicher nichts mit dem Kauf von Erdbeeren zu tun.

Freddy hob den Kopf mit dem frisch gestutzten Mecki-Schnitt, der so kurz ausgefallen war, dass er das Gefühl nicht loswurde, überhaupt keine Haare zu haben. Er rückte seine verrutschte Goldrandbrille zurecht und musterte die zierliche Frau mit den schwarzen Locken, die mit leerem Blick an ihrer Unterlippe nagte. Pilar und er waren gute Freunde, seit sie als Studenten gemeinsam hinter dem Tresen einer Altstadtkneipe gestanden hatten. Vor ein paar Jahren waren sie zusammen in die Ermittlung eines Verbrechens geschlittert, und obwohl sie sich geschworen hatten, sich nie wieder in so was hineinziehen zu lassen, war es zwei weitere Male passiert. Ihm standen die Haare zu Berge, wenn er nur daran dachte. Der letzte Fall hatte Pilar arg zugesetzt. Anscheinend hatte sie sich noch nicht ganz davon erholt. Ihr Gesicht wirkte schmal und spitz, und sie lachte viel seltener als früher.

»Was geht nicht?«

»Ich kann nicht wegfahren.«

»Warum nicht? Die furchtbaren Erlebnisse müssen mal raus aus deinem Kopf.«

Endlich blickte Pilar ihn an. »Meiner Mutter geht es nicht gut. Sie braucht mich.« Sie sah auf ihren kohleschwarzen Hund hin­unter, der angeleint neben ihr stand. »Auch Tajo braucht mich. Ebenso mein Kater. Dann ist da noch der Job in der Buchhandlung. Es gibt keine Vertretung für mich. Außerdem zieht Damian um, und Lukas …«

»Nun mach einen Punkt«, unterbrach Freddy. »Deine Söhne sind erwachsen. Du bist oft genug für andere da, und um deine Mutter kümmerst du dich mehr, als dir gut tut. Fahr weg, wenn dir danach ist, erhol dich!«

Sie schüttelte den Kopf. »Das wäre egoistisch.«

»Unsinn! Leg dich an einen Sandstrand, genieße Sonne, Wärme, Entspannung mit Sangria und Horchata …«

»Spanien? Die zwei Dutzend Verwandten meines Vaters würden mich wärmstens empfangen und in ihrem Dorf eine mehrtägige Fiesta veranstalten. Aber ich will Kälte, Wind, Einsamkeit und Stille.«

»Dann eben das. Dein Mann und deine Schwester übernehmen deine Mutter, Lukas versorgt den Kater, und der Hund kommt zu Birgit und mir. Damian bewältigt den Umzug mit Freunden, und ich vertrete dich in der Buchhandlung. Wo ist das Problem?«

Pilar gab ein verblüfftes Lachen von sich. Aber der Blick, den Freddy auffing, war voller Skepsis. Dass er nicht für besondere Tatkraft bekannt war, wusste er. Doch er arbeitete nur halbtags am Biostand und kannte sich in Literatur einigermaßen aus. Ein paar Stunden im Buchladen wären eine hübsche Abwechslung, zumal der Terminkalender seiner Detektei geradezu peinlich leer war.

»Lieb von dir. Vielleicht später mal.« Pilar wandte sich zum Gehen.

War das eine Antwort auf seinen Vorschlag? An ihrem Geburtstag hatte Pilar noch erklärt, nichts mehr aufschieben zu wollen. Schon wieder ein Jahr älter – ich will noch so viel sehen! Warum hatte sie jetzt solche Bedenken? Und was hatte sie mit Kälte, Wind, Einsamkeit und Stille gemeint?

»Wohin willst du überhaupt?«, fragte er. »Wenn du könntest.«

»Ich würde gern nach …« Sie sah die Straße hinunter, als läge an deren Ende das Land ihrer Träume.

Aus der Richtung, in die sie blickte, näherte sich eine ungefähr gleichaltrige Frau mit strubbeligem braunem Haar und einer flatternden weiten Sommerbluse. Sie wohnte in der Nähe, kaufte oft am Biostand ein und war besonders nett. Freddy fühlte einen Anflug von Enttäuschung, weil ihr herzliches Lächeln offensichtlich nicht ihm, sondern Pilar galt.

»Wohin?«, hakte er schnell nach.

»Island«, erwiderte Pilar, ohne den Blick von der Strubbligen zu wenden. »Hallo, Nina.«

Die Kundin umarmte Pilar. Sie stellte ihren Einkaufskorb auf den Boden und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, eine Geste, die ohne weiteres ihre zerzauste Frisur erklärte. Die beiden Frauen fingen an, miteinander zu schwatzen.

Das kann dauern, sagte sich Freddy. Er wandte sich der rückwärtigen Plane des Verkaufsstands zu und zog sein Handy aus der Tasche. Ihm war eine Idee gekommen.

Das rundliche Gesicht der Freundin hatte heute etwas ungeheurer Strahlendes. Pilar hätte nicht für möglich gehalten, dass Ninas Augen derart blitzen konnten. Bei ihren bisherigen Auftritten in der Theatergruppe Katzenbuckel, der sie beide angehörten, hatte es genau daran gefehlt. Weshalb man ihr nur Nebenrollen zugeteilt hatte, damit das Publikum nicht einschlief.

»Pilar, ich freu’ mich so, ich freu’ mich total! Rate mal, wa­rum!«

Während Freddy im Hintergrund leise telefonierte, erzählte Nina, dass sie bald Besuch von einer Freundin erhalte, die sie im Alter von fünfzehn Jahren zuletzt gesehen habe.

»Dreiunddreißig Jahre lang haben wir nichts voneinander gehört, und gestern rief sie plötzlich an! Da hab ich sie spontan nach Bonn eingeladen. Sie wohnt in Berlin, führt ein ganz anderes Leben als ich und hat sich an mich erinnert, als ihr ein altes Karl-May-Buch in die Hände fiel, in dem mein Name stand. Den hab ich ja nach der Heirat weitergeführt, deshalb hat sie meine Telefonnummer gefunden. Nun will sie zehn Tage bei uns bleiben. Ist das nicht toll?«

Pilar konnte nicht verhindern, dass ihre Stirn sich in Falten legte. »Zehn gemeinsame Tage nach dreiunddreißig Jahren Funkstille?«

Mir wäre das zu riskant, dachte sie, wer weiß, ob man noch zueinander passt. Nach so langer Zeit kann es Gegensätze geben, von denen man früher nichts geahnt hat. Wenn die eine Freundin auf echte Pelze steht und die andere Tierschützerin ist … Wenn die eine das kommunistische Manifest auf dem Nachttisch hat und die andere ein Hakenkreuz überm Bett … Sie führt ein ganz anderes Leben als ich. Das konnte allerlei bedeuten.

»Kennst du sie gut genug?«

»Eine gute Freundin aus der Kindheit kennt man fast wie sich selbst.«

»Trotz der vielen Jahre dazwischen? Sie kann sich verändert haben.«

»Skeptikerin!« Ninas Stimme klang gereizt. »Immer bist du so pessimistisch.«

Das scheinen jetzt meine hervorstechenden Eigenschaften zu sein, dachte Pilar betroffen.

»Verdirb mir nicht die Freude, Pilar. Soll ich die Einladung etwa bereuen? Oder gar zurücknehmen?«

»Nein, nein«, murmelte Pilar schuldbewusst.

»Es passt gerade hervorragend. Sie hat frei, und ich hab Urlaub nehmen können.«

Pilar riss sich zusammen und zwang sich zu einem Lächeln. »Wie schön.« Das klang so falsch, dass sie sich schämte.

»Sie ist die erste Schulfreundin, mit der ich wieder Kontakt bekomme. Keine Ahnung, wo die anderen stecken. Verheiratet und den Nachnamen gewechselt, so ist das noch bei vielen Frauen. Wenn die Eltern nicht mehr da sind, findet man sie nicht.«

»Warum will man sie denn finden? Wozu soll das gut sein?«

Die Fragen kamen harscher heraus, als Pilar beabsichtigt hatte. Sie war eine Miesmacherin und konnte sich nicht verstellen. Aber sie sollte wenigstens den Mund halten!

Nina blickte kopfschüttelnd auf sie herab. Sie war einen halben Kopf größer als Pilar, wie die meisten Frauen.

»Mit einer alten Freundin zusammenzukommen, ist wie die Heimkehr in einen zauberischen Garten. Wir hatten dieselben Erlebnisse, ganz ähnliche Gefühle und Gedanken. Das verschafft unvergleichliche Nähe.«

»Auch jetzt noch?«, rutschte Pilar heraus. »Da wäre ich mir nicht so sicher.«

Nina verzog das Gesicht, was nach Verärgerung aussah.

»Alle Welt sucht nach Freunden aus der Jugend, das ist normal.«

»Ich dachte, das kommt erst im Rentenalter.«

»Na, hör mal, jeder erinnert sich doch gern an Vergangenes und hat Spaß daran. Nicht nur alte Leute. Du kommst auch noch auf den Geschmack.« Nina atmete geräuschvoll aus, und als Pilar nichts erwiderte, sagte sie: »Sehen wir uns an meinem Geburtstag?«

»Klar«, antwortete Pilar mit belegter Stimme.

Woher kam dieses Unbehagen? Was ging sie der Besuch der Freundin an? Sollte Nina die Frau doch treffen, mit ihr spazieren gehen, frühstücken, grillen, nächtelang über vergangene Zeiten quatschen und glücklich sein! Wahrscheinlich wusste Pilar einfach nicht, was wahre Freundschaft bedeutete. Die Mädels, mit denen sie selbst zur Schule gegangen war, musste sie nicht unbedingt wiedersehen.

Freddy hatte sein Telefongespräch beendet und trat aus dem Hintergrund an den Warentisch. Nina kaufte ein halbes Dutzend Grünkernfrikadellen und ein Körbchen Erdbeeren, verabschiedete sich und überquerte die Fahrbahn. Pilar sah ihr nach, bis zwei vorbeifahrende Linienbusse ihr Blickfeld durchkreuzten. Sie hoffte, dass Nina die kleine Unstimmigkeit vergessen würde.

»Ich hab zu viel erlebt«, wandte Pilar sich an Freddy, während er die Geldstücke in die Stahlkassette fallen ließ. »Möglich, dass ich mal ganz normal war, aber ich bin es nicht mehr. Ich hab zu oft in den Abgrund geschaut. Wenn ich eine Schnur sehe, denke ich ans Erdrosseln, wenn ich ein Messer sehe, ans Erstechen, und wenn zwei Frauen nach dreiunddreißig Jahren Pause zehn gemeinsame Tage unter einem Dach verbringen wollen, denke ich, es muss schief gehen. Das ist krankhaft, oder? Ein Fall für die Psychiatrie?«

Freddy rückte sich umständlich die Brille mit den kreisrunden Gläsern zurecht.

»Sei ehrlich, Freddy.«

»Du musst dringend wegfahren und abschalten. Dein Chef meint das auch.«

»Mein Chef? Wie kommt der dazu?«

»Ich hab mit ihm gesprochen. Er ist damit einverstanden, dass ich dich in der Buchhandlung vertrete, und besteht darauf, dass du nach Island fährst.«

»Ist nicht wahr.«

»Damit du einen knackigen Vortrag über die isländischen Sagas und ihre Schauplätze halten kannst.«

»Du weißt nicht, wovon du redest«, wehrte Pilar ab. »In den Sagas geht es um blutige Fehden, da kommen Hauspieße, Schwerter und Äxte vor, abgeschlagene Arme, gespaltene Schädel, und am Ende sind alle tot. Glaubst du, das wäre jetzt gut für mich?«

»Es ist ein Auftrag, Pilar. Die isländische Erzählkunst des Mittelalters ist weltberühmt, und wenn jemand sie vermittelt, der das Land besucht hat, ist das besonders interessant.«

Pilar war auf Abwehr eingestellt, dennoch geschah etwas Merkwürdiges mit ihr: Die maigrünen Bäume und Büsche und die roten Geranien an den Häusern jenseits der Wiese verblassten vor ihren Augen, als wären die kräftigen Farben des rheinischen Frühlings eine Täuschung. Dort wogte das weiß schäumende Meer, ragten bizarre Klippen und dunkle Vulkankegel auf, glitzerten silbrigklare Flüsse. Sie konnte die Schreie der Seevögel hören und den scharfen Wind an den Ohren spüren. Die Zeit der isländischen Recken war mehr als tausend Jahre her. Wäre es so schlimm, sich mit ihnen zu befassen?

»Na?« Freddy beobachtete sie lächelnd.

Wie aus einem Traum erwacht, wählte Pilar auf ihrem Handy die Nummer ihres Mannes, der in seinem Büro im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft weilte. Ihr war beklommen zumute, weil sie wusste, dass auch Richard gern ausspannen würde, aber erst im September Urlaub nehmen konnte.

»Wir kommen schon klar«, brummelte ihr Mann, als sie ihn fragte, was er davon hielte, wenn sie für neun oder zehn Tage nach Island verschwände.

»Vielleicht kannst du mitfliegen, wenn …«

»Unsinn«, fiel er ihr ins Wort. »Du brauchst auch Erholung von mir.«

»Ach, was«, erwiderte sie, obwohl ihr im selben Moment der katastrophale gestrige Nachmittag einfiel: Ahnungslos hatte sie Dutzende von schwarzen, grauen und dunkelblauen Herrensocken sortiert und ein paar Oberhemden Größe XXL gebügelt, während eine Etage tiefer der Keller voll Abwasser lief. Als sie es bemerkte, schwammen bereits Schuhe, abgelegte Kleidung, Pappkartons und alte Akten in der kniehohen stinkenden Brühe, und Richard machte ihr Vorwürfe, weil sie das Zeug nicht beizeiten entsorgt hatte, was sie zu lautstarker Empörung veranlasste. War es nicht auch sein Zeug? Hatte er nicht ebenso wie sie an die Möglichkeit eines Rohrbruchs denken können?

Aber das war vorbei. Das Rohr war erneuert, der Keller ausgepumpt und das nasse Zeug im Garten zum Trocknen ausgelegt. Nun stieg Pilar dankbar in ihren gelben Ford Fiesta, um vom Venusberg heimzufahren. Sie geriet immer mehr in euphorische Stimmung. Der Venusberg hatte ihr Glück gebracht! Venus, der hellste der Planeten, Morgenstern und Abendstern zugleich, benannt nach der römischen Liebesgöttin, ein gutes Vorzeichen! Ach, nein, fiel ihr ein, damit hatte der Berg nicht das Geringste zu tun, das wusste hier jedes Kind. Der Name leitete sich von Venn ab, was Hochmoor und Sumpf bedeutete und als gutes Omen völlig ungeeignet war. Na, egal!

Eine halbe Stunde später buchte sie eine Reise zur Insel aus Feuer und Eis am nördlichen Polarkreis. Für einige Tage alles hinter sich lassen, dort würde es gelingen.

Sie ahnte nicht, wie sehr sie sich irrte.

»Seit wir nicht mehr Hauptstadt sind, scheinen die Menschen hier so harmlos«, sagte Margot Mohn und setzte ihr Sherryglas auf dem Beistelltisch aus Rosenholz ab. »Wahrscheinlich sind alle suspekten Typen in Berlin.«

Was für eine Laus war ihr da über die Leber gelaufen? Sicher hatte es mit dem Lokalteil der Tageszeitung zu tun, den sie beim Frühstück studiert hatte: Treffen der Maiköniginnen, Start in die Grill-Saison, Reibekuchen-Testessen im Stadtrat und noch mehr solche Albernheiten, mit bunten Fotos wie in einem Werbeprospekt. Das war doch mal anders gewesen?

Edith Scholz, die Margot gegenüber saß, richtete sich im Sessel auf und spitzte die Lippen. Sie ist anderer Meinung, dachte Margot verstimmt, so ist es ja immer, ob es um die Pflege der Balkonblumen geht oder um Politik, sie will stets im Recht sein. Und am ärgerlichsten ist es, wenn sie wirklich Recht hat.

»Haben Sie die Bombe am Hauptbahnhof vergessen?« Edith sprach in einem überlegenen Ton, den Margot überhaupt nicht mochte. »Gibt es nicht zahllose Fälle von Straßenraub und brutalen Schlägereien? Und was die Einbruchsstatistik angeht, liegt Bonn ganz weit vorn.«

»Ich dachte eher an Mörder«, sagte Margot mit einem Anflug von Verachtung, als handele es sich bei der sonstigen Kriminalität um Kleinkram.

»Keine Sorge«, sagte Edith. »Mörder haben wir auch noch, das steht ja hin und wieder in der Zeitung. Wenn ich daran denke, was meine Schwiegertochter Pilar …«

»Ich meine Mörder aus dem bürgerlichem Umfeld«, schnitt Margot ihr das Wort ab. »Raffinierte Planer, denen man nur mit Intelligenz auf die Spur kommt.«

»Ach, so ist das.« Edith lächelte. »Gelüstet es Sie, Ihrem Bridgepartner nachzuweisen, dass er seine Frau erstochen hat? Möchten Sie herausfinden, dass ein Politiker seinen Konkurrenten vergiftet hat und das Lehrersterben an städtischen Schulen auf ehrgeizige Väter zurückgeht?«

Das klang deutlich nach Spott. Margot beschloss, es zu ignorieren. Sie bereute die unüberlegte Bemerkung, mit der das Gespräch begonnen hatte, die hätte sie sich besser verkniffen.

»Ich würde meine letzten Jahre gern in den Dienst der Gerechtigkeit stellen«, entgegnete sie mit Würde. »Wie Miss Marple. Die ist für mich die Größte.«

Edith ließ ein amüsiertes Lachen hören und leerte ihr Glas. »Das liegt am Alter, liebe Frau Mohn. Wenn man die Achtzig erreicht hat, langweilen einen Krimis mit jungen Kommissaren, die immer irgendwelche Probleme haben. Eine englische Lady, die bei einer Tasse Tee in guter Gesellschaft einem Mörder auf die Spur kommt, hat bei weitem mehr Stil.«

»Leider wird mir nicht das Gleiche passieren wie der alten Dame in St. Mary Mead.«

»Ihr ist überhaupt nichts passiert«, bemerkte Edith schroff. »Sie ist eine Romanfigur von Agatha Christie, und St. Mary Mead finden Sie auf keiner Landkarte.«

Als wenn sie das nicht wüsste! Margot zupfte verärgert an ihrer schwarzen Kostümjacke, die ein wenig spack saß, und bemühte sich zugleich, liebenswürdig zu lächeln. »Es muss höchst befriedigend sein, einen Täter, der so schlau ist, dass die Mittel der Polizei versagen, seiner verdienten Strafe zuzuführen.«

Edith Scholz zog eine ihrer dünnen, in Form gezupften Augenbrauen hoch. Sie traut es mir nicht zu, dachte Margot, sie kennt mich nur als Strickerin von geringelten Socken für den Kirchenbasar, sie vergisst, dass ich vor meiner Pensionierung vier Jahrzehnte lang Lateinlehrerin war und römische Texte übersetzen kann, von denen sie keine zwei Worte versteht.

»Sie sollten nicht übersehen«, sagte Edith, »dass die Polizei heutzutage über andere Möglichkeiten verfügt als früher.«

»Moderne Kriminaltechniken sind nichts gegen die Lebenserfahrung und Intuition einer alten Dame«, behauptete Margot kühn.

»Im Krimi vielleicht.« Edith lächelte nachsichtig. »Ich für meinen Teil möchte mit einem realen Mord nichts zu tun haben. Da wird man leicht selbst zum Opfer. Sie ahnen ja nicht, was meine Schwiegertochter, unsere fabelhafte Pilar …«

Die Haustürklingel schrillte – die beiden fuhren zusammen. Perfekt!, dachte Margot, genau im rechten Augenblick, sonst hätte ich mir noch die Geschichte von der fabelhaften Schwiegertochter anhören müssen.

Margot erhob sich vom seidenen Polster ihres Sessels, was in ihrem Alter seine Zeit brauchte. Die Schelle meldete sich erneut. In diesem Haus in der Weberstraße, einer der ältesten Straßen in der Bonner Südstadt, schepperte immer noch das Ding aus den Vorkriegsjahren des vorigen Jahrhunderts. Auch das Eichenparkett knarrte wie eh und je, als Margot zum Türöffner neben dem Gründerzeitspiegel schritt. Sie genoss das Gefühl, dass die meisten Dinge, die sie hier umgaben, seit ihrer Jugend unverändert waren.

Wer zur Haustür hereinkam, über den Terrazzoboden schritt und einen Schwall kühler Frühlingsluft mitbrachte, war Werner, der jüngste Sohn ihres Bruders und, wie Margot sich eingestand, ihr Lieblingsneffe. Er sah gut aus mit seinem schmalen Gesicht und den blauen Augen und war von sanftem Naturell, obwohl ihn das Schicksal arg gebeutelt hatte. Der Arme war, obwohl noch keine Fünfzig, bereits Witwer. Margot seufzte bei dem Gedanken. Die hübsche, grazile Inga, das Nachbarskind von einst, hatte er vor siebenundzwanzig Jahren hier in Margots Wohnzimmer kennen gelernt. Und vor ein paar Wochen durch einen tragischen Unfall auf dem Venusberg verloren.

Seit Ingas Tod kümmerte sich Margot ein wenig mehr um Werner. Heute allerdings sollte es umgekehrt sein: Er hatte versprochen, sie mit dem Auto zum Alten Friedhof zu bringen und später dort abzuholen – nach der Bestattung. Denn wieder war eine Frau gestorben, der noch ein paar Jahrzehnte Leben zugestanden hätten: Ute Hackmeyer, die wie Inga ihre Kindheit in Margots Nachbarschaft verbracht hatte. Wirklich, man verstand es nicht. Wie konnte das Schicksal so ungerecht sein? Margot war Mitte achtzig und hatte einen Weltkrieg überlebt.

»Wollen wir?«, rief Werner durch den Hausflur. »Wir müssen los, wenn du pünktlich auf der Trauerfeier sein willst.«

Richtig, stellte Margot mit Blick auf die antike Standuhr fest. Meistens brauchte man ja länger, als man gedacht hatte, weil man nicht ahnen konnte, in welchem Verkehrsstau man landete und wo sie wieder die Straße aufrissen. Sie stülpte ihren kleinen schwarzen Hut auf die weißen Löckchen, warf einen Kontrollblick zum Spiegel und ergriff ihre Handtasche sowie den Strauß Nelken, der an der Garderobe bereitlag.

Auch Edith Scholz hatte sich erhoben, sie wollte vor dem Haus auf das bestellte Taxi warten, das jeden Moment eintreffen musste. Ihre Bekanntschaft – sie hatte sich im Wartezimmer ihrer Zahnärztin angebahnt – war noch frisch und keineswegs ideal, aber die Auswahl an Damen, die als Gesellschaft in Frage kamen, war nicht mehr groß, zu viele waren gestorben oder allzu krank und gebrechlich. Doch Margot beglückwünschte sich, dass Edith mit dem Reden nicht mehr zum Zuge kam. Nach der fabelhaften Schwiegertochter, die sie nicht interessierte, wären bald die fabelhaften Enkel dran gewesen, ganz abgesehen von dem Sohn, der als Ministerialrat in einem Bundesministerium natürlich besonders fabelhaft war. Auf solche Schilderungen war Margot nicht scharf. Sie hatte weder Söhne noch Enkel, war nur die Tante eines reizenden Neffen. Wie Miss Marple, diese großartige Spürnase.

Sie war erschüttert über den frühen Tod der Frau, die sie als Mädchen gekannt hatte, aber fast im gleichen Maße war Margot beeindruckt von der stattlichen Beerdigung, dem ergreifenden Gottesdienst und der beachtlichen Anzahl trauernder Menschen. Wie Scharen großer schwarzer Vögel bevölkerten sie den Weg von der Kapelle bis zu Utes letzter Ruhestätte, standen in den Querwegen, im Schatten hoher Bäume und neben uralten Grabmälern, die dem Gedenken einen stilvollen, wenn auch teilweise ramponierten Rahmen gaben. Die Inschriften auf den verwitterten Steinen waren nicht alle lesbar, und auf manchem Grab wucherte ungehemmt das Unkraut.

Die Hackmeyers hatten eine Patenschaft für eine der alten Grabstellen, erfuhr Margot von einem hochgewachsenen Herrn mit schlohweißem Haar. Deshalb durfte Ute zwischen den berühmten Toten auf dem Alten Friedhof zur ewigen Ruhe gebettet zu werden, nicht allzu weit von Maria Magdalena van Beethoven, Clara und Robert Schumann, Charlotte von Schiller, Mildred Scheel und bedeutenden Bonner Professoren.

»Beneidenswert«, sagte Margot, die schon das weniger illustre Umfeld vor sich sah, in dem sie selbst einmal zu liegen käme, abgesehen davon, dass Werner, den sie als Erben erkoren hatte, nicht viel Zeit zur Pflege ihres Grabes hätte, weil er schon Ingas versorgen musste.

»Aber so jung, mit 48 Jahren …«, raunte der Mann, der Margot bekannt vorkam, mit dieser Wolke weißen Haars über der hohen Stirn, den langen Gliedmaßen und den großen Händen.

»Woran ist Ute gestorben?«, flüsterte Margot und fürchtete, dass es als unschicklich galt, so etwas fragen, solange die Feierlichkeiten andauerten. Andererseits standen sie weit hinten, und viele andere wechselten ebenfalls leise Worte.

Er neigte den Kopf zu ihr herab. Das weiße Haar fiel über seine Stirn. »Sie wissen es nicht?«

Margot wusste überhaupt nichts über den Trauerfall, sie hatte nur die Anzeige in der Tageszeitung gelesen. Utes Namen dort zu finden, hatte sie furchtbar getroffen. Sie sah sie noch halbwüchsig vor sich, linkisch und verträumt, dennoch ein As in der Schule, ein Genie, wie ihre Mitschüler sagten. Und nun tot.

»Das muss man sich mal vorstellen«, platzte eine hagere Frau in Margot Gedanken. »Der Ehemann kommt von einer Dienstreise nach Hause, und die Frau liegt tot im Bett.«

»Oh, nein«, entfuhr es Margot.

Sie registrierte das Nicken des Weißhaarigen.

»Das ist alles, was wir wissen. Er redet nicht drüber«, sagte er.

»Vielleicht ist ihr Anblick zu schrecklich gewesen«, flüsterte die Hagere. »Messer im Bauch oder Kugel im Kopf. Ich meine, als Staatsanwältin, die mit schweren Jungs zu tun hatte …«

Die Stirn des Weißhaarigen runzelte sich. »Oder sie ist still entschlafen. Was in ihrem Alter schockierend genug ist.«

Margot entfuhr ein Seufzer. »Die Frau meines Neffen ist ebenso jung gestorben. Ute und unsere Inga waren als Kinder befreundet. Mit zwei weiteren Mädels haben sie ordentlich Unfug getrieben.«

Der hochgewachsene Mann blickte ihr forschend ins Gesicht. »Die Viererbande? Ich glaube, wir kennen uns. Frau Kollegin.«

Frau Kollegin! So hatte sie seit zwanzig Jahren niemand mehr angesprochen. Margot musterte seine Gesichtszüge, die rosige, erstaunlich straffe Haut, die kleinen, hellen Augen, die ein wenig tränten. Ob er die Neunzig schon erreicht hatte?

»Herr Holzschröder? Mathe und Physik?«

Er lächelte. »Frau Mohn? Latein und Englisch?«

Und beide gleichzeitig sagten: »Clara-Schumann-Schule.«

Das geriet zu laut, ein paar Leute drehten sich um.

Die Schlange der Trauergäste hatte sich ein gutes Stück vorwärtsgeschoben, das Grab war nicht mehr weit entfernt. Margot hatte Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie aufgewühlt sie war. Die Vergangenheit stürmte wie eine Brandungswelle auf sie zu. Das Schulgebäude in der Loestraße hatte sie nie wieder betreten, sah sich aber nun im Geiste mit einer Tasche voller Hefte über Treppen und Flure eilen, im Klassenraum vor der Wandtafel stehen und nach Kreide suchen, auf dem Schulhof während der Pausenaufsicht hin und her gehen. Manchen ihrer früheren Kollegen war sie zwischendurch begegnet, doch Holzschröder hatte sie zuletzt bei seiner Pensionierung gesehen. Konnte sie trotzdem Karl zu ihm sagen? Früher hatten sie sich geduzt und oft ein Tässchen Kaffee zusammen getrunken, waren sogar Gegenstand des Schülerklatsches gewesen: Der Holzschröder und die Mohn. Und wer weiß, wenn er nicht verheiratet und Vater von vier Kindern gewesen wäre … Welch unpassender Moment für solche Gedanken! Margot war an der Reihe, ans Grab zu treten. Sie ließ ihre Nelken auf den Sargdeckel in der Tiefe fallen, bedachte Ute mit einem Seufzer, der von Herzen kam, und drückte dem Witwer, einem schmalen, dunkelhaarigen Mann, die Hand, ebenso der hoch gewachsenen Tochter und den gebeugten, faltigen Eltern, die sie kaum wiedererkannte.

»Ich bin sehr traurig«, sagte Margot.

Ja, das war sie wirklich. Ute war das ruhigste Mädel der Viererbande gewesen. Sie wohnte in der Weberstraße schräg gegenüber, bis sie mit den Eltern auf die andere Rheinseite zog. Rechts neben Margot lebte Inga, links die pummelige Nina. Und der Name des vierten Mädchens? Wie hieß es nur, das rothaarige Ding aus dem Dachgeschoss, zwei Stockwerke über Nina? Ein Schlüsselkind. Vater tot, Mutter überfordert, keine Großeltern, keine Tante, niemand, der mit aufpasste. Wenn die mal nicht unter die Räder kommt, hieß es damals. Sie kletterte aufs Dach, goss Wasser auf die Köpfe der Passanten, saß rittlings auf der geschlossenen Bahnschranke und entführte Hunde, Kleinkinder und Aktentaschen, um sie gegen Finderlohn zurückzubringen. Wenn dieses Luder infolge irgendeiner Untat jung gestorben wäre, hätte es niemanden gewundert. Aber Ute …

Das Gör ist fähig, eine Katastrophe auszulösen

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Betreff: Hier hält mich nichts mehr

Von: Dörte Flauscher

Datum: 3.6.

Allerliebster wuscheliger Ansgarschatz,

ich hab mich entschlossen: Ich komme! Tusch und Fanfare, bitte. Tatatata! Morgen schon. Ich kehre Berlin den Rücken. Endgültig. Das Loch von Wohnung ist samt Schimmelpilz vermietet, das Auto gepackt. Die paar Sachen, das ging schnell. So gegen Mitternacht gurke ich hier los, dann sind die Straßen schön frei. Müsste also in den frühen Morgenstunden bei dir eintrudeln. Wenn du Frühstück da hast, umso besser.

Hoffentlich schafft die alte Karre die Strecke noch mal. Wenn der Tacho über Hundert steigt, ächzt und klappert alles, dass einem ganz anders wird. Hauptsache, es fliegen keine wichtigen Teile ab. Auf der Autobahn ist das kein Spaß. Wäre auch gemein, wenn es so weit käme. Für was Neues fehlt mir die Knete, und Pech im Leben hatte ich wirklich genug. Aber damit ist bald Schluss. Mit dem Pech, meine ich. Jetzt wird ausgemistet und aufgeräumt. Bin schon länger dabei und muss schauen, was geht. Wenn ich fertig bin, starte ich durch, und alles wird anders. Dann fahr ich im Mercedes bei dir vor und lad dich zu Trüffel und Champagner in mein Haus ein.

Ich werfe dir eine Kusshand zu,

Dörte