Falling FOR COLTON

Inhalt

Titelbild

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Epilog

Ohne Titel

Danksagung

Die Autorin

The Escorts: Sinnliche Happy Ends

Louisiana Kisses

Danke, Mom –

dafür, dass du an mich glaubst.

Gia

Wahrheit

Als ich spüre, wie mein Handy erneut in meiner Schürzentasche vibriert, hole ich es heraus. Unbehagen macht sich in meinem Bauch breit, als ich sehe, dass es dieselbe Nummer ist, die mich in den letzten zwei Stunden mindestens fünfmal kontaktiert hat. Mich ruft nie jemand an, also muss etwas passiert sein. Ich richte meinen Blick nach vorn in die Kita-Gruppe und warte darauf, dass Maya ihn erwidert. Sobald ich mir ihrer Aufmerksamkeit sicher bin, zeige ich auf die Tür und lasse sie auf diese Weise wissen, dass ich kurz nach draußen verschwinde. Nachdem sie genickt hat, gehe ich in die Hocke, damit ich den fünf Kindern in die Augen sehen kann, die in einem Halbkreis um mich herum versammelt sind. »Leute, ich komme gleich wieder. Malt einfach weiter, und wenn ihr etwas braucht, fragt Miss Maya«, leite ich sie leise an, um die übrigen Kids nicht zu stören.

»Okay, Miss Gia«, stimmt Ben zu. Er ist einer meiner Lieblinge.

Zärtlich wuschle ich über seinen roten Schopf und mache mich auf den Weg zur Tür. Sobald ich im Gang angekommen bin, lehne ich mich gegen die Wand und wähle die Nummer, die mich die ganze Zeit angerufen hat. Dann warte ich, dass jemand abhebt.

»Hallo«, begrüßt mich die Stimme einer unbekannten Frau nach dem dritten Signalton.

»Hi, hier spricht Gia Caro. Jemand hat mich von dieser Nummer aus angerufen?«

»Oh, Gott sei Dank. Ned, es hat funktioniert! Du hast sie gefunden«, ruft sie aus und klingt dabei erleichtert. Ich höre am anderen Ende der Leitung ein paar Schritte und wie die Frau jemandem mitteilt, sie werde gleich wieder da sein. »Hi, Gia. Mein Name ist Nina. Mein Ehemann und ich wohnen neben deiner Grandma.«

»Meiner Grandma?«, flüstere ich und spüre Übelkeit in meinem Magen aufsteigen. Schmerz entfaltet sich in meiner Brust wie eine rote Blume. »Meine Grandma ist tot.«

»Entschuldige, Liebes?«

Ich räuspere mich und umklammere das Handy fester. »Meine Grandma ist vor mehr als zehn Jahren verstorben.«

»Oh, du liebes Bisschen«, murmelt sie, und ich vernehme erneut ihre Schritte. »Ist deine Grandma Mrs Genevria Ricci?«

»Ja.«

»Oh, du liebes Bisschen.« Sie atmet tief ein. »Deine Grandma ist am Leben«, offenbart sie mir einen Moment später.

Ich lasse mich an der Wand entlang nach unten gleiten, bis mein Hintern unsanft auf dem Boden aufkommt und meine Füße unter mir wegrutschen. »Ich ...« Tausende Fragen machen mir die Kehle eng.

»Gia, bist du noch da?«

»Ja, ich bin hier«, gebe ich endlich zurück.

»Ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll, Liebes, aber deiner Grandma geht es nicht so gut.«

Ihre Worte wirken auf mich wie Säure auf empfindlicher Haut. Ich brauche jedes Quäntchen Willenskraft, das ich in mir habe, um nicht lauthals zu schreien. »Was stimmt nicht mit ihr?«

»Sie ist schon eine Weile nicht mehr sie selbst. Vor ein paar Jahren wurde bei ihr eine Demenz festgestellt. Im letzten Jahr wurde sie immer vergesslicher, und manchmal nimmt sie ihre Umgebung nicht mehr wahr. Als wüsste sie nicht, was um sie herum geschieht. Mein Mann Ned und ich glauben, dass sie jemanden braucht, der sich rund um die Uhr um sie kümmert.«

»Ich komme zu euch«, verspreche ich ohne nachzudenken. »Ein paar Tage werde ich benötigen, um hier alles abzuklären, aber ich komme. Könnt ihr sie noch ein wenig länger im Auge behalten?«

»Natürlich können wir das.« Sie hält inne, und als sie fortfährt, ist ihre Stimme sanfter. »Sie hat dich vermisst.«

Schuldgefühle und Bedauern überfluten mich, aber ich schiebe das alles für den Moment zur Seite. Ich werde später noch genug Zeit haben, mich um diese Gefühle zu kümmern. Jetzt muss ich mich darauf konzentrieren, was getan werden muss. »Ich rufe bei euch an, wenn ich auf dem Weg bin.«

»Alles klar, meine Liebe«, stimmt sie leise zu, bevor ich auflege und das Handy an meine Brust drücke.

Den Kopf an die Wand gelehnt, schließe ich die Augen und ziehe die Luft durch die Nase ein, damit ich nicht anfange zu weinen.

»Gia?« Als ich die Lider öffne, entdecke ich Maya, die ihren Kopf durch den Türspalt geschoben hat. »Bist du okay?«

»Ja, sorry.« Wie benebelt stehe ich auf und wandere zurück in das Gruppenzimmer.

»Bist du sicher, dass du okay bist?«, fragt sie nochmal.

»Jepp«, lüge ich. »Würde es dich stören, ein paar Minuten auf die Kinder aufzupassen? Ich möchte kurz mit Jana sprechen?«

»Kein Problem.« Während sie mich mit besorgtem Blick mustert, sehe ich, wie sie sich auf die Innenseite ihrer Wange beißt.

Ich mag Maya. Sie ist erst seit ein paar Wochen hier, aber die Kinder vergöttern sie bereits. Das sagt mir alles, was ich über ihren Charakter wissen muss. Kinder können in Leuten lesen wie in Büchern. Normalerweise erkennen sie, welche Art Mensch jemand ist, sogar wenn dieser so tut, als wäre er jemand anderes.

Mit einem, wie ich hoffe, beruhigenden Lächeln in ihre Richtung mache ich mich auf den Weg zum Büro im vorderen Gebäudeteil. Die Daydreamer-Kita ist eine der größeren Tageskrippen in Chicago. Wir haben sieben Gruppen für ältere Kinder und eine für Babys. Alles in allem, sind es über hundert Kinder. Ich arbeite seit fünf Jahren hier – seit dem Tag, an dem ich das College mit dem Schwerpunkt in frühkindlicher Entwicklung abgeschlossen habe. Mein ursprünglicher Plan war, im öffentlichen Schulsystem zu unterrichten, aber schon nach kurzer Zeit wollte ich hier nicht mehr weg.

Als ich mich dem Büro nähere, steigt mir ein Geruch von Lavendel in die Nase. Jana, die Besitzerin, nutzt immer irgendeine Art von Kräuterduft, um sich zu entspannen oder klarer denken zu können. Manchmal auch, um energiegeladener zu sein. Sie schwört auf die Kraft ihres Diffusers und hat mehr als nur einmal versucht, mich davon zu überzeugen, mir selbst einen anzuschaffen. Ganz nehme ich ihr die Sache mit den Ölen jedoch nicht ab. Sobald ich um die Ecke biege, sehe ich sie an ihrem Tisch sitzen. Ihr Blick klebt regelrecht am Computerbildschirm. Ihr dunkelrotes Haar ist in einem Pferdeschwanz zusammengebunden und ihre Brille thront auf ihrem Kopf.

»Hey, du.« Nachdem ich an ihrer offenen Tür geklopft habe, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, dreht sie sich lächelnd in ihrem Sessel um. »Hast du kurz Zeit?«, will ich wissen, während ich hineingehe und mich auf dem Stuhl ihr gegenüber niederlasse.

»Wenn du vorhast zu kündigen, kannst du gleich wieder aufstehen und gehen.« Sie zeigt lachend zur Tür, und ein frischer Schwall an Tränen füllt meine Augen. »Oh, Gott. Kündigst du wirklich?«, fragt sie mich mit entsetztem Ton.

»Ich muss eine Weile die Stadt verlassen und weiß nicht, wie lange ich weg sein werde«, erkläre ich betreten. Dabei versuche ich die Tränen wegzuwischen, die mir über die Wangen laufen.

»Was ist passiert? Ist alles okay?« Sie steht auf, um sich mit einer Box Kleenex neben mich zu setzen.

Ich ziehe ein Taschentuch aus der Box und trockne mir damit die Augen. Dann bricht es aus mir heraus und ich erzähle ihr von dem Anruf, den ich gerade erhalten habe.



Am selben Abend sitze ich meiner Stiefmutter gegenüber und warte ihre Reaktion ab. Warte darauf, dass sie meine Frage beantwortet und zugibt, dass sie mich angelogen, mich bewusst von meiner einzigen, lebenden Verbindung zu meiner Mutter ferngehalten hat. Obwohl ich weiß, dass mein Warten vergeblich ist, harre ich aus. Stillschweigend flehe ich sie an, mir in die Augen zu sehen und ehrlich zu sein.

Als meine Mom starb und mein Dad Colleen geheiratet hat, versuchte ich zu verstehen, wie er zwanzig Jahre seines Lebens mit meiner Mom verbringen und nach ihrem Tod so schnell weitermachen konnte. Ich fand keine Erklärung, aber ich liebte meinen Dad, also unterstützte ich ihn. Ich versuchte sogar, eine Beziehung zu Colleen aufzubauen, weil ich wusste, es würde ihn glücklich machen, doch es hat nie funktioniert, denn sie war nie an mir oder meinem Leben interessiert. Meinem Dad ist das fehlende Band zwischen uns nicht aufgefallen. Ein Band, das sich nie entwickelt hat. Nicht mal, nachdem mein Dad starb; damals war ich erst sechzehn Jahre alt.

»Warum hast du mir gesagt, sie sei gestorben?«, wiederhole ich die Frage, die ich ihr gestellt habe, sobald wir an unserem Tisch in dem schicken Restaurant Platz nahmen, das sie für unser Treffen ausgesucht hat.

Wie immer sieht sie perfekt aus. Ihr blondes Haar steckt in einem festen Dutt, ihr Make-up ist niveauvoll, ihr Hosenanzug feminin und akkurat. Colleen ähnelt meiner Mom überhaupt nicht. Mom trug immer bodenlange, blumige Röcke mit farbenfrohen Oberteilen und so viel Schmuck, dass man sie aus mehreren Kilometern Entfernung kommen hören konnte. Ich habe nie verstanden, wie mein Dad von einer Frau, die so voller Energie und Leben war, zu einer übergehen konnte, die so kalt wirkt wie ein toter Fisch.

»Sie war nicht richtig im Kopf«, meint sie endlich, legt ihre Serviette gefaltet auf ihren Schoß und greift nach ihrem Wasserglas. Meinem Blick ausweichend, nimmt sie einen Schluck.

»Sie ist meine Großmutter.«

»Sie wollte, dass du bei ihr wohnst.« Ihr Blick trifft meinen und ich beobachte, wie sie ihre Lippen fest zusammenpresst. »Stell dir vor, wie es wäre, bei dieser Frau zu leben.« Ihre Mundwinkel kräuseln sich, und ich schüttle den Kopf.

Ihre Meinung überrascht mich nicht. Colleen hat immer schon jeden verurteilt. Seit jeher hielt sie sich für etwas Besseres. Ähnlich wie meine Mom war oder ist meine Großmutter anders als die meisten Frauen heutzutage. Grandma baute ihr eigenes Gemüse an, machte Marmelade, wenn bestimmte Früchte gerade reif wurden, nähte ihre eigenen Kleider, strickte ihre eigenen Pullover ... Nachdem meine Mom verstorben war, wollte sie mir all diese Dinge ebenfalls beibringen. Nach dem Tod meines Dads dachte ich mit sechzehn Jahren, ich würde mich auf sie verlassen können. Aber mir wurde gesagt, sie sei eine Woche nach der Beerdigung meines Vaters ebenfalls von uns gegangen.

»Du solltest mir danken, dass ich dich davor bewahrt habe. Welche Art von Leben wäre das denn gewesen?«

»Dir danken?«, flüstere ich voller Unglauben.

»Ich hätte nach dem Ableben deines Vaters die Verantwortung für dich nicht übernehmen müssen.«

»Du hast recht. Das hättest du nicht. Aber du hättest auch eine ganze Menge Geld weniger gehabt, wenn du das abgelehnt hättest. Ich habe das Testament gelesen. Dort stand, dass du das Geld nur bekommen würdest, wenn du einige Bedingungen erfüllst. Dazu zählte die Übernahme meines Sorgerechts«, erinnere ich sie.

Ihre Nasenflügel blähen sich.

Bevor sie meinen Vater geheiratet hat, hatte sie nichts besessen. Sie mag in ausgefallener Kleidung herumstolziert sein und sich ausgedrückt haben, als hätte sie die ganze Welt bereist. Damals schon hatte sie einen teuren Geschmack. Aber sie stammte nicht aus einer reichen Familie und hatte auch kein Geld, als sie meinen Vater heiratete. Sie war seine Sekretärin gewesen. Auf diese Art lernten sie sich kennen. Ich weiß nicht, ob mein Dad bereits eine Affäre mit ihr hatte, als meine Mom noch am Leben war.

»Dein Vater und ich waren verheiratet. Was das Seine war, wurde das Meine.«

»Das erklärt immer noch nicht, warum du mich von meiner Großmutter ferngehalten hast. Warum du mir vorgelogen hast, sie wäre tot, obwohl sie sehr wohl am Leben ist.«

»Dein Vater hätte nicht gewollt, dass du bei dieser Frau in Tennessee wohnst.«

»Das weißt du nicht«, gebe ich leise zu bedenken.

Sie richtet sich auf. »Doch, das weiß ich. Ich habe getan, was ich tun musste, um seine Wünsche zu ehren. Hätte ich dir nach dem Tod deines Vaters gesagt, dass sie deinen Umzug zu ihr nach Tennessee will, wärst du gegangen. Du wärst dorthin gezogen, hättest die Schule geschmissen und wärst am Ende schwanger in einem Wohnwagen mit fünf Kindern gelandet. Mit einem Ehemann, der dich betrügt, wann immer er kann. Ich habe dich vor diesem Leben bewahrt.«

»Bist du verrückt?«, frage ich und würde am liebsten über den Tisch langen und meine Hände um ihren schlanken Hals legen.

»Dein Vater hat mir alles über diese Stadt erzählt. Er hat mir anvertraut, wie sehr er sie gehasst hat.«

»Er hat sie nie gehasst. Er hat sich dort in meine Mom verliebt.«

»Und sich gewünscht, es wäre nie passiert«, sagt sie, als würde sie mir bloß mitteilen, welche Farbe der Himmel hat oder wo sie ihre Schuhe gekauft hat.

Die Aussage ist nonchalant, aber der Schmerz, den sie in meinem Herzen hinterlässt, ist verheerend. Denn ich weiß, dass sie die Wahrheit spricht. Ich habe meinen Vater mehr als nur einmal nach dem Tod meiner Mutter sagen gehört, dass er wünschte, er hätte sich nie in meine Mom verliebt. Es schien, als sei er nie über ihren Verlust hinweggekommen. Aber vielleicht war noch etwas anderes der Grund dafür. Vielleicht hat er sie tatsächlich nie geliebt.

»Ich will nicht mit dir streiten, Gia«, seufzt Colleen und reibt sich die Stirn, als wäre ein Gespräch mit mir zu viel für sie.

»Ich verlasse in ein paar Tagen die Stadt. Grandma braucht mich. Ich weiß noch nicht, wann ich wiederkomme.«

»Du bist jetzt erwachsen, also kannst du tun, was du willst. Ich kann dich nicht aufhalten.« Colleen winkt meine Aussage ab, als würde sie ihr nichts bedeuten. Als würde ich ihr nichts bedeuten.

Es sollte nicht wehtun, aber das tut es dennoch.

»Okay.« Mit den Händen auf dem Tisch, schiebe ich meinen Stuhl zurück und stehe auf. Ich schaue sie nicht an, während ich mich entferne. Zu sehr muss ich mich darauf konzentrieren, nicht umzukippen. Meine Beine zittern, als ich mir meinen Weg durch das volle Restaurant zur Tür bahne. Überraschenderweise schaffe ich es nach draußen zu meinem Jeep, ohne auf dem Parkplatz auf die Knie zu fallen. Sobald ich hinter dem Steuer sitze, lasse ich den Kopf nach hinten gegen die Lehne sinken.

Ich wünschte, meine Mom wäre hier, um mir einen Rat zu geben und mir zu sagen, dass alles wieder gut wird. Und ich wünschte, mein Dad wäre hier, damit ich ihn anschreien und ihm klarmachen könnte, was für ein Arschloch er ist, weil er mich mit diesem Miststück allein gelassen hat.

»Reiß dich zusammen, Gia. Durch diese Scheiße musst du jetzt durch«, flüstere ich mir zu.

Ich starte den Motor und mache mich auf den Heimweg. Als ich dreißig Minuten später in meine Einfahrt einbiege, sehe ich, dass es meine beste Freundin bereits nach Hause geschafft hat, und muss lächeln. Nachdem ich den Jeep abgestellt und mir meine Taschen geschnappt habe, stelle ich sicher, dass der Alarm an ist, damit mein Auto nicht geklaut wird. Wäre nicht das erste Mal. Meine Nachbarschaft ist okay, Verbrechen passieren hier dennoch ziemlich oft. Autodiebstahl insbesondere.

»Du hast lang nach Hause gebraucht«, begrüßt mich meine beste Freundin seit Kindheitstagen und hält mir mit einer Hand die Fliegengittertür zu unserem Haus auf. In der anderen entdecke ich ein Glas Wein. Wie es aussieht, ist Natasha schon vor einer Weile hier gelandet. Sie hat ihr Make-up bereits entfernt, ihr aschblondes Haar in einem Dutt zusammengefasst und ihre Arbeitskleidung gegen Jogginghosen und einen übergroßen Hoodie getauscht.

»Ich habe mich mit Colleen getroffen«, erkläre ich, während ich an ihr vorbeigehe und ihr das Weinglas aus der Hand nehme.

»Und, was hatte der Fisch zu der ganzen Situation zu sagen?«, fragt Natasha und benutzt dabei den Spitznamen, den sie Colleen im Alter von zwölf Jahren verpasst hat, nachdem sich diese die Lippen hatte machen lassen.

»Sie meinte, sie hätte mich davor bewahrt, fünf Kinder und einen Ehemann zu bekommen, der mich betrügt.«

»Ach du Schande. Hat sie nicht«, knurrt Nat auf dem Weg zum Kühlschrank, aus dem sie die Flasche Wein holt.

»Doch natürlich.« Ich werfe mich auf die Couch und nehme einen riesigen Schluck Wein, bevor ich fortfahre. »Sie meinte außerdem, mein Dad hätte gewollt, dass sie mich von meiner Grandma fernhält.«

»Warum sollte er das gewollt haben?« Sie runzelt die Stirn, schnappt sich die Fernbedienung und macht den Fernseher aus.

»Keine Ahnung, aber ich glaube ihr. Er hat sich mit Grandma nie gut verstanden, und nachdem meine Mom verstorben war, wurde die Beziehung zwischen den beiden noch schlechter.«

Mit der Weinflasche in der Hand kommt Natasha zur Couch und setzt sich neben mich. Dann nimmt sie mein Glas, füllt es wieder auf und reicht es mir zurück. »Aber dir zu sagen, dass deine Grandma tot ist? Das ist sogar für sie extrem.«

»Ich weiß«, seufze ich und nehme einen weiteren Schluck, in der Hoffnung, dass der Alkohol schnell wirkt und die Anspannung in meinen Schultern löst.

»Du gehst also wirklich nach Tennessee?«

Als mein Blick ihren trifft, spüre ich erneut Tränen hochkommen. »Ja, das habe ich vor.«

»Wie lang bleibst du weg?«

»Keine Ahnung. So lange, wie ich dort sein muss.« Ich zucke die Achseln. »Nina meint, Grandma hätte Demenz. Ich kann nicht abschätzen, wie schlecht es ihr geht oder was ich tun muss.«

»Du hast gerade erst eine Beförderung bekommen«, erinnert mich Natasha.

Diese Neuigkeiten bekam ich erst vor ein paar Wochen. Jana hat mir meine eigene Kita-Gruppe angeboten, außerdem zwei Dollar mehr die Stunde. Damit hatte ich nicht gerechnet. Der Gedanke an meine eigene Gruppe hat mich viel glücklicher gemacht als das zusätzliche Geld. Ich habe hart daran gearbeitet, zu beweisen, dass ich meine eigene Gruppe leiten kann, umso mehr habe ich mich darauf gefreut, meine Kleinen zu betreuen und mir allerhand Übungen für sie auszudenken.

»Hält Jana diese Position für dich frei?«

Aus meinen Gedanken gerissen, beiße ich mir auf die Unterlippe und schüttle den Kopf. »Sie hat mir gesagt, dass immer ein Job auf mich warten wird, ganz egal, wann ich zurückkomme. Aber sie kann mir nicht garantieren, dass ich meine eigene Gruppe bekomme, weil das der Person gegenüber nicht fair wäre, die für mich übernimmt.«

»Du hast so hart dafür gearbeitet.«

»Ich weiß, aber es geht um meine Grandma. Wir standen uns mal nahe. Wirklich, wirklich nahe. Und sie braucht mich. Meine Mom würde von mir erwarten, dass ich zu ihr fahre. Ich würde mir das nie verzeihen, wenn ich es nicht täte.«

»Das ist wahr«, stimmt sie mit traurigem Ton zu und ich entdecke auch in ihren Augen Tränen. »Ich bin nur selbstsüchtig, weil ich dich vermissen werde.«

»Du wirst mir auch fehlen, aber ich komme ja wieder.« Ich wische mir die Tränen mit dem Ärmel meines Pullovers von den Wangen.

»Das hoffe ich.«

»Auf jeden Fall ... Na ja, außer ich finde einen scharfen Cowboy und verliebe mich«, scherze ich und wir lachen beide, weil wir wissen, dass das niemals passieren wird.

»Wenn du einen scharfen Cowboy findest, checkst du aber unbedingt ab, ob er einen scharfen Kumpel hat. Wir haben einen Plan, erinnerst du dich?«

»Wie könnte ich den je vergessen?«, frage ich, lehne den Kopf an ihre Schulter und erinnere mich an den Deal, den wir gemacht haben, als wir sieben waren. Dieser besagt, Typen zu finden, die beste Freunde sind, uns gleichzeitig zu verloben, zu heiraten, nebeneinanderliegende Häuser zu kaufen und gemeinsam schwanger zu werden, damit unsere Kinder als beste Freunde aufwachsen können. Genau wie wir.

»Ich kann nicht fassen, dass du nach Tennessee gehst. Fahren die dort überhaupt mit dem Auto oder bewegen sie sich nur zu Pferd fort?«

»Du bist dämlich.« Ich schließe belustigt die Augen. »Ich hab dich lieb«, flüstere ich.

»Ich dich auch. Immer. Und wann immer du mich brauchst – ich bin da.«

»Danke«, kriege ich aus meiner engen Kehle heraus.

Seit ich mich erinnern kann, war Natasha die einzige Konstante in meinem Leben. Sie war diejenige, die bei der Beerdigung meiner Mutter neben mir saß und meine Hand hielt. Als bei meinem Dad der Tumor diagnostiziert wurde, der ihm das Leben kostete, war sie immer an meiner Seite. Sowohl im Krankenhaus als auch an seinem Bett, bis er seinen letzten Atemzug nahm. Sie ist meine Familie, so wie ich ihre bin.

»So, jetzt hören wir auf mit diesem traurigen Scheiß. Ich schlage vor, wir trinken diese Weinflasche aus und öffnen dann noch die andere, die im Kühlschrank steht.«

»Klingt gut«, stimme ich zu, während sich Natasha erhebt, in die Küche geht und ein weiteres Glas holt. Als sie wenig später zur Couch zurückkehrt, füllt sie mein Glas ein weiteres Mal bis zum Rand und dann ihr eigenes.

»Lass uns anstoßen.« Sie hebt ihr Glas und ich tue es ihr gleich. »Auf die Tatsache, dass du herausgefunden hast, dass deine Grandma noch lebt, auf neue Abenteuer und hoffentlich auf scharfe Cowboys.«

Mit ihr anstoßend lache ich und nehme dann einen Schluck Wein. Darauf hoffend, dass alles in Ordnung sein wird, wenn ich in Tennessee ankomme.

Während ich auf den Highway biege, der mich nach Lookout Mountain und Ruby Falls führen wird, schaue ich mir die Umgebung an. Mit den weitläufigen Farmen, den sanften, mit Bäumen bedeckten Hügeln und dem wunderschönen, während der Sommermonate bestimmt gern besuchten See ist das Land atemberaubend schön. Das völlige Gegenteil der Stadt, in der ich mein ganzes Leben verbracht habe. Alles wirkt offen und einladend. Außerdem sind die Leute in der Gegend sehr freundlich. Zumindest gehe ich davon aus, da mir bereits viele in meinem Jeep zugewunken haben.

Als ich an der Ausfahrt nach Ruby Falls ankomme, wähle ich Ninas Nummer. Nach meiner Abfahrt aus Chicago habe ich gestern und heute Morgen kurz mit ihr gesprochen. Ich wollte sie wissen lassen, dass ich mich auf dem Weg befinde und nach einer rund zehnstündigen Fahrt am Nachmittag ankommen sollte. Ich konnte deutlich spüren, wie erleichtert sie darüber war, dass ich tatsächlich mein Wort halten und kommen würde. Als ich sie fragte, ob ich am Telefon mit meiner Großmutter reden könnte, meinte sie, sie würde versuchen, sie an den Apparat zu holen. Aber dazu ist es nicht gekommen. Anders als Natasha mache ich mir keine Sorgen darüber, dass ich vielleicht getäuscht wurde. Vielmehr sorge ich mich um den Geisteszustand meiner Grandma. Ich weiß, dass sie mit mir sprechen würde, wenn sie klar denken könnte. Besonders nach so vielen Jahren.

»Gia«, begrüßt mich Nina sofort, nachdem sie abgehoben hat.

»Ich habe gerade den Highway verlassen. Es sollte nicht mehr lang dauern, bis ich ankomme.«

»Ned, sie ist fast hier«, ruft sie und der Klang hallt in meinem Wagen wider.

»Na, dann sag ihr, sie soll auflegen. Weiß sie nicht, dass es verboten ist, beim Fahren mit dem Handy zu telefonieren?«, schimpft er, und ich muss lächeln.

»Das Handy ist mit dem Bluetooth von meinem Auto verbunden«, kläre ich Nina auf. Ich höre, wie sie diese Information umgehend an ihren Mann weitergibt, der irgendetwas über Technologie grummelt. Schmunzelnd halte ich an einer roten Ampel und betätige den Blinker. »Mein Navi sagt, dass ich in weniger als zehn Minuten da sein werde.«

»Dann bis gleich, Liebes. Fahr bloß vorsichtig.«

»Bis gleich.« Ich lege auf, biege links ab und durchquere eine winzige Stadt, die nur aus ein paar Läden, einer Bank und einer Bar besteht. Sobald ich die Straße erreiche, die zum Haus meiner Grandma führt, fängt mein Herz an zu pochen.

Obwohl ich noch nie an diesem Ort war, habe ich genug Fotos aus der Kindheit meiner Mutter gesehen, um zu wissen, welches Haus das richtige ist. Nachdem ich in der Auffahrt geparkt habe, stelle ich den Motor ab. Das Gebäude ist winzig; kleiner als es auf den Bildern aus meiner Kindheit gewirkt hat. Außerdem hat die Zeit ihre Spuren hinterlassen. Die gelbe Farbe blättert von der Hausverkleidung ab, ebenso der Lack an den Fenstern. Das Gras überwuchert das Grundstück zwar nicht, aber das Unkraut in den Blumenbeten muss gezupft werden. Und die rund um das Haus befindlichen Bäume müssen geschnitten werden. Sie sehen aus, als würden sie bald in das Dach hineinwachsen.

Ich seufze und blicke in den Rückspiegel, um meine Erscheinung zu überprüfen. Ich sehe total fertig aus, was mich nicht verwundert, nachdem ich den ganzen Tag unterwegs war. Da ich jedoch nichts daran ändern kann, öffne ich die Tür und springe hinaus. Dabei höre ich etwas, das wie eine quietschende Fliegengittertür klingt. Während ich die Tür meines Jeeps zuwerfe, stockt mir der Atem beim Anblick der Frau, die auf der Veranda steht. Sie trägt einen weiten, bunt gestrickten Pullover und Jeans. Ihr langes graues Haar ist immer noch dicht und glänzend, und mir fallen sofort ihre hohen Wangenknocken und die fast leuchtende, gebräunte Haut auf. Sie ist wunderschön und ich habe keinen Zweifel, dass meine Mom in ein paar Jahren genauso aussehen würde, wäre sie noch am Leben.

»Gabriella«, flüstert sie, während sie mich mustert, und ein tiefer Schmerz ergreift mich.

Gabriella war meine Mom. Ich finde nicht, dass ich ihr auch nur irgendwie ähnlich sehe. Sie war eine Schönheit. Doch schon mein Dad sagte mir oft, dass ich nach meiner Mutter kommen würde.

»Genevria, Schatz, das ist Gia«, sagt eine ältere Frau, die wahrscheinlich Nina ist. Mit der Hand an ihrem Ellenbogen hilft sie meiner Grandma die Stufen hinab. »Du erinnerst dich doch an sie, oder?«, will sie wissen, und ich kann am Blick meiner Grandma erkennen, dass sie es versucht, aber dass es nicht klick macht. »Gia ist Gabriellas Tochter – deine Enkelin.«

»Gia.« Grandma kommt näher und plötzlich erhellt ein Lächeln ihr Gesicht. »Gia, du bist groß geworden.« Sie streckt mir die Hände entgegen und mein Herz zieht sich in meiner Brust zusammen. Den Abstand zwischen uns überwindend, lege ich die Arme um ihren zerbrechlichen Körper und vergrabe das Gesicht an ihrem Hals.

»Ich hab dich vermisst, Grandma«, presse ich hervor, während sie mir über den Rücken streichelt.

Um sie genauer ansehen zu können, lehne ich mich zurück und lächle sie an, bevor ich eine Strähne ihres langen Haares hinter ihr Ohr streiche. »Du bist immer noch wunderschön«, flüstere ich, und ihr Blick füllt sich mit Wärme.

»Das bist du auch. Du siehst genau wie deine Mom aus«, meint sie nachdenklich, bevor sie mich loslässt.

Ich wende mich dem Paar zu, das neben uns steht, und strecke die Hand aus. »Nina?«, frage ich und entlocke ihr damit ein Lachen, bevor sie mich in eine herzliche Umarmung zieht und mich damit willkommen heißt.

»Ich bin so froh, dass du hier bist.« Sie lässt mich los und deutet mit dem Daumen über ihre Schulter. »Das ist Ned.«

»Hi, Ned.« Ich lächle ihm zu und er erwidert die Geste.

»Kannst du zum Mittagessen bleiben oder erwartet dich dein Dad bald zu Hause?«, fragt Grandma und ich ziehe die Brauen zusammen.

Ich wende den Blick zu Nina, aber sie spricht bereits, bevor ich die Gelegenheit habe, eine Frage zu stellen. »Gia bleibt eine Weile bei dir, Genevria. Ist das nicht schön?«

»Wirklich?« Grandma schaut mich an.

»Wirklich.« Ich nehme ihre Hand in meine. »Ich hoffe, das ist okay?«

»Natürlich ist es das.« Sie grinst. »Komm schon rein.« Sie nimmt meine Hand und zieht mich mit sich zu ihrem Haus.

Mit ihrer Hand in meiner, helfe ich ihr die beiden Stufen hoch und betrete hinter ihr das Gebäude. Der Wohnraum benötigt ebenso viele Reparaturen wie die Außenseite des Hauses. Obwohl alles sauber wirkt, brauchen die Wände neue Farbe und die Böden müssen ausgetauscht werden. Als wir in die Küche kommen, verknotet sich mein Magen. Überall stapeln sich Teller, Töpfe, Pfannen und Schüsseln. Es sieht aus, als hätte man ein Kind alleine gelassen und als hätte dieses versucht zu kochen.

»Genevria hat gerade Abendessen gemacht, als wir vorbeikamen, um ihr zu sagen, dass du fast hier bist«, informiert mich Nina und stellt eine Schüssel mit etwas in die Spüle, das wie Pfannkuchenteig aussieht. »Normalerweise isst sie mit uns, aber heute hat sie entschieden, sich ihr Abendessen selbst zuzubereiten.«

»Tja, ich habe so viel, dass ich für uns alle kochen kann«, meint Grandma und sieht sich um.

»Wie wäre es, wenn wir zum Essen ausgehen?«, schlage ich vor und hoffe, dass sie zustimmen wird. Im Haus herrscht pures Chaos und niemand wird hier irgendetwas kochen, bevor nicht alles aufgeräumt ist.

»Das ist eine wundervolle Idee, oder?«, fragt Nina Grandma, die aussieht, als würde sie protestieren wollen.

»Na ja, von mir aus. Aber wirf nichts von diesem Essen weg. Wir können es morgen machen«, erklärt sie uns, läuft in der Küche herum und nimmt Dinge hoch, die herumstehen, und stellt diese in den Kühlschrank. Sie gibt dort nach und nach alles rein – sogar die mit Essen gefüllten Töpfe und Pfannen.

»Es ist schlimmer mit ihr geworden«, meint Ned leise neben mir. Ich lege den Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen. »Zuerst hat sie nur hier und da irgendwelche Kleinigkeiten vergessen, aber in den letzten paar Jahren ist es stetig bergab gegangen. Ihr Doktor hat eine Form der Demenz diagnostiziert, aber sie wollte es nicht glauben.«

»Sie weiß es?«

»Das tut sie. Ich denke nicht, dass sie versteht, was das bedeutet, aber sie kennt die Diagnose. Wir kamen bisher damit klar, aber vor einer Woche ist sie weggelaufen, als Nina mit ihr Lebensmittel einkaufen war. Wir konnten sie nirgendwo finden. Die ganze Stadt musste beim Suchen mithelfen. Ein Officer hat sie dann unten am See gefunden. Als man sie gefragt hat, wo sie war, konnte sie sich nicht erinnern. Sie konnte ihnen nicht mal ihre Adresse nennen.«

»Oh, Gott.« Mit der Hand bedecke ich meinen Mund und sehe dabei zu, wie meine Grandma Nina ein wenig verloren durch die Küche folgt. »Es tut mir so leid. Ich wünschte, ich hätte es früher erfahren.«

»Es ist okay. Ich bin nur froh, dass du nun da bist. Deine Grandma hat Nina vor Jahren erzählt, dass dein Dad gestorben ist und der Kontakt zu dir abgebrochen war. Ich habe gehofft, dass du eine Art Mitspracherecht an der Zukunft deiner Grandma beanspruchen würdest, sollte ich dich finden.«

»Danke.«

»Gern geschehen.« Er tätschelt meine Schulter. »Deine Großmutter ist für uns wie ein Teil der Familie – wie für die meisten Leute in der Stadt. Sie haben sich alle um sie und ihre Zukunft Sorgen gemacht. Zu wissen, dass du kommst, hat viele von ihnen mit Erleichterung erfüllt.«

»Gia, Liebes, hast du jemals Rippchen gegessen?«

Ich reiße meinen Blick von Grandma los, die am Küchentisch sitzt und etwas auf ein Blatt Papier schreibt, und schaue Nina an. »Ja, ein paar Mal.«

»Ordentliche aus den Südstaaten?«, fragt sie und ich schüttle den Kopf. Es ist das erste Mal, dass ich in Tennessee bin. Als ich jünger war, kam Grandma immer nach Chicago, um uns zu besuchen. »Na, dann kannst du dich auf etwas freuen, denn das Purple Daisy Picnic Café hat die besten Rippchen in Tennessee. Und dort gehen wir zum Abendessen hin.« Sie lächelt mich an. »Ich muss nur kurz nach Hause und mich frisch machen. Während ich das erledige, können Ned und du dein Auto ausräumen. Ich habe gesehen, dass du ganz schön viel Zeug mitgebracht hast.«

»Das klingt gut«, stimme ich zu und sie sieht mich freundlich an.

»Genevria, ich gehe ein paar Minuten nach Hause, okay?«, informiert sie Grandma, die zu ihr hochsieht und nickt. »Ich bin gleich wieder da.« Sie wirft mir und Ned einen Blick zu. Dann verschwindet sie durch eine Schiebetür aus der Küche auf eine mit Fliegengittern geschützte Sonnenterrasse.

»Sie ist herrisch, aber man gewöhnt sich daran«, versichert mir Ned und ich schenke ihm ein Lächeln, bevor wir beginnen, mein Auto auszuräumen.

Als wir damit fertig sind, mein Zeug ins Haus zu tragen und im Wohnzimmer zu stapeln, ist Nina zurück, gekleidet in ein einfaches Paar Jeans und einen Sweater.

»Gestern haben ich und ein paar Ladys von meinem Buchklub Genevrias Abstellraum ausgeräumt und alles in die Garage gepackt«, erzählt sie mir und zieht dabei eine meiner Taschen mit sich den kurzen Gang hinunter. Ich folge ihr und versuche, alles in mich aufzunehmen. »Jetzt ist da nur ein Bett drinnen, aber ich habe eine Kommode für dich übrig, die Ned später rüberbringen wird. Monty, eine Freundin von mir, hat außerdem gesagt, dass sie ein paar Vorhänge hat, die sie heute vorbeibringen und aufhängen wird.«

»Danke«, sage ich in ihrem Rücken, während sie die Tür zu dem Zimmer am Ende des Gangs aufdrückt.

Beim Betreten des Raums fällt mir zuerst auf, wie winzig er ist. Unter dem Doppelfenster steht ein großes Bett, das an die Wand geschoben wurde und auf dem ein Quilt liegt, der mir bekannt vorkommt. Es ist kein Platz für eine Kommode übrig, und es gibt auch keinen Schrank. Irgendeinen Ort brauche ich aber, um meine Kleidung aufzubewahren; meine Koffer würden nur noch mehr Platz in Anspruch nehmen.

»Das Zimmer deiner Grandma ist gleich neben diesem und es gibt nur ein Badezimmer im Haus. Das findest du auf der anderen Seite des Flurs.«

»Das ist okay. Zuhause in Chicago habe ich eine Mitbewohnerin, also bin ich es gewohnt, zu teilen«, beruhige ich sie und sie wirkt erleichtert.

»Ich bin froh, dass du hier bist. Und du sollst wissen, dass Ned und ich deiner Grandma nicht den Rücken kehren werden, nur weil sie jetzt dich hat. Wir helfen dir, wann immer wir können.«

»Danke. Das weiß ich wirklich zu schätzen«, beteuere ich leise.

Nina sieht aus, als wolle sie noch etwas hinzufügen, doch stattdessen wendet sie den Blick ab und räuspert sich.

»Seid ihr zwei bereit zu gehen?«

Ich beantworte Neds Frage mit einem Nicken, bevor ich ihm den Gang hinunter bis ins Wohnzimmer folge. Grandma sitzt auf der Couch und zieht sich gerade ein Paar beige Schuhe an, die Klettverschlüsse anstatt Schnürsenkel aufweisen.

»Ich fahre«, sagt Ned. »Nach der langen Reise ist bestimmt das Letzte, was du willst, dich wieder hinter das Lenkrad zu setzen.«

»Das passt mir gut«, stimme ich zu und helfe Grandma dabei, aufzustehen, dann schnappe ich mir die Handtasche vom Kaffeetisch.

Ich führe Grandma nach draußen und über den Rasen, bis zu Neds Auto, und helfe ihr auf den Rücksitz seines Trucks. Dann gehe ich um den Wagen herum und setze mich hinter Nina.

Auf dem Weg zum Restaurant erzählt sie mir alles über die Stadt und von ein paar Leuten, die hier leben. Gott sei Dank ist die Fahrt nicht lang, aber als wir ankommen, ist das Restaurant gestrichen voll. Und ich meine wirklich gestrichen voll. Der Parkplatz ist überfüllt mit Autos, Trucks und Motorrädern. Es sieht so aus, als wäre die ganze Stadt gekommen, um heute Abend hier zu essen.

»Was geht denn da vor sich?«, fragt Nina, während Ned auf den Parkplatz fährt und im Gras neben einem großen Baum parkt.

»Sieht so aus, als würde jemand eine Party schmeißen«, mutmaßt er, während ich aus dem Fenster auf das steingraue Gebäude blicke. Es hat ein lila Schild auf dem Dach, das mit Gänseblümchen verziert ist.

Als ich jemanden etwas rufen höre, zieht eine Gruppe Männer meine Aufmerksamkeit auf sich, die vor einer Reihe von Motorrädern steht. Oder besser gesagt ein Typ aus der Gruppe, dessen Gesicht ich nur im Profil erkennen kann. Er ist mindestens ein paar Zentimeter größer als die anderen Männer. Sein dunkles, gekraustes Haar ist oben länger als an den Seiten, wo es ganz kurz geschoren wurde. Ein kariertes Hemd schmiegt sich an seine breiten Schultern, die zu einem imposanten Oberkörper gehören, der sich nach unten in schmale Hüften verwandelt. Seine Beine stecken in abgetragenen Jeans und an den Füßen trägt er Stiefel. Sogar von der Seite sieht er gut aus.

»Ich bin hungrig«, meint Grandma und ich reiße nur widerwillig meinen Blick von dem Fremden los, um sie anzusehen. »Ich glaube, die Wartezeit ist hier zu lang«, fährt sie fort.

Ich strecke die Hand aus und umfasse ihre, als ich sehe, wie sie zu zittern beginnt. »Gibt es noch ein zweites Restaurant in der Stadt, in dem man Rippchen essen kann?«, frage ich nach vorne.

Nina dreht sich in ihrem Sitz um. »Klar gibt es das. Wir kommen ein andermal zurück. Ist das okay für dich, Genevria?«, fragt sie Grandma, die nickt. »Gut.« Nina lächelt, während Ned rückwärts ausparkt.

Enttäuschung erfüllt mich, als ich mich zurück zum Fenster drehe und wir den Parkplatz verlassen. Der Typ, der sich vorhin meine Aufmerksamkeit gesichert hat, ist verschwunden.