TANITH LEE

 

 

Der elektrische Wald

 

Tanith Lee-Werkausgabe, Band 16

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Die Autorin 

Das Buch 

 

DER ELEKTRISCHE WALD 

Vorspann: Christophine del Jan  

1. Beute und Jäger 

2. Geburt der Venus 

3. Der Prüfstein 

4. Grenzüberschreitung 

5. Die zweite Stimme 

6. In den Wäldern der Nacht 

Post-Sonogramm 

 

Die Autorin

Tanith Lee.

(* 19. September 1947, + 24. Mai 2015).

 

Tanith Lee war eine britische Horror-, Science Fiction- und Fantasy-Schriftstellerin und Verfasserin von Drehbüchern. Sie wurde viermal mit dem World Fantasy-Award ausgezeichnet (2013 für ihr Lebenswerk) und darüber hinaus mehrfach für den Nebula- und British Fantasy-Award nominiert.

Im Laufe ihrer Karriere schrieb sie über 90 Romane und etwa 300 Kurzgeschichten. Sie debütierte 1971 mit dem Kinderbuch The Dragonhoard; 1975  folgte mit The Birthgrave (dt. Im Herzen des Vulkans) ihr erster Roman für Erwachsene, der zugleich auch ihren literarischen Durchbruch markierte.

Tanith Lees Oevre ist gekennzeichnet von unangepassten Interpretationen von Märchen, Vampir-Geschichten und Mythen sowie den Themen Feminismus, Psychosen, Isolation und Sexualität; als wichtigsten literarischen Einfluss nannte sie Virginia Woolf und C.S. Lewis.

Zu ihren herausragendsten Werken zählen die Romane Trinkt den Saphirwein (1978), Sabella oder: Der letzte Vampir (1980),  Die Kinder der Wölfe (1981), Die Herrin des Deliriums (1986), Romeo und Julia in der Anderswelt (1986), die Scarabae-Trilogie (1992 bis 1994), Eva Fairdeath (1994), Vivia (1995), Faces Under Water (1998) und White As Snow (2000).

1988 gelang ihr mit Eine Madonna aus der Maschine (OT: A Madonna Of The Machine) ein herausragender Beitrag zum literarischen Cyberpunk; eine Neu-Übersetzung der Erzählung wird in der von Christian Dörge zusammengestellten Anthologie Cortexx Avenue enthalten sein.

Ihre wichtigsten Sammlungen von Kurzgeschichten und Erzählungen sind: Red As Blood/Tales From The Sisters Grimme (1983), The Gorgon And Other Beastly Tales (1985) und Nightshades: Thirteen Journeys Into Shadow.

Tanith Lee war seit 1992 mit dem Künstler John Kaiine verheiratet und lebte und arbeitete in Brighton/England.

Sie verstarb im Jahre 2015 im Alter von 67 Jahren.

 

Der Apex-Verlag widmet Tanith Lee eine umfangreiche Werkausgabe.

  Das Buch

 

 

»Hässlich!«, riefen die Kinder hinter Magdala Cled her, wenn sie sie traten und an ihren Haaren zogen. Denn hässlich zu sein war ein Verbrechen in der ansonsten idealen Gesellschaft von Indigo.

Doch im elektrischen Wald mit seinen seltsamen Bäumen und seinem super-luxuriösen Heim erwacht in Magdala ein neues Selbstbewusstsein und ein Gespür für das Potential ihrer Fähigkeiten. Und so wird sie zum Brennpunkt in der Auseinandersetzung gewaltiger Kräfte. Denn nur sie erkennt, welche Gefahr Indigo droht. Und nur sie, die Ausgestoßene, könnte diese Gefahr noch abwenden. Wenn sie es vermag.

Und wenn sie es will...

 

Der Science-Fiction-Roman Der elektrische Wald – erstmals im Jahr 1979 veröffentlicht – erscheint als 16. Band der Tanith-Lee-Werkausgabe im Apex-Verlag. 

DER ELEKTRISCHE WALD

 

 

 

 

  Vorspann: Christophine del Jan

 

 

 

(Dieses Band ist geheim)

 

Die folgende Dokumentation wurde an Hand von Datenbändern zusammengestellt und in eine erzählend-beschreibende Form gebracht, um die Vorgänge zwischen 10-4-1 und 9-1-2 im dritten Quartal, Blau und Frühherbst, auf Indigo, ganz zu erhellen.

Zu diesem Zeitpunkt mag das erforderliche Lesen mühsam sein. Ich möchte dennoch vorschlagen, dass Sie dem Manuskript auf Ihrem Bildschirm peinlich genau folgen und dem Drang vorzugreifen widerstehen. Die Motivation der Hauptperson ist letztlich das Schlüsselelement, wobei die Gefühle und Psychologie wichtige Hinweise auf diese Motivation liefern.

Ohne ein gewisses Maß an Risiko - und, was noch viel wichtiger ist, ohne Geduld - kann man nichts erfahren.

Selbstverständlich ist zusätzliches Material per Optocon und Audio vorhanden. Aber ich bitte Sie, auch dies nicht zu verwenden, ehe Sie nicht das vorliegende Manuskript ganz aufgenommen haben.

Der Bildschirm steht Ihnen jetzt zur Verfügung.

 

C. d. J. 

  1. Beute und Jäger

 

 

 

I.

 

 

Hässlich stand vor der Maschine.

Die Maschine stellte Kleidungsstücke aus Baumwollin her; aber Hässlich sah niemals die Synthobaumwolle, die in eine Röhre über ihr hineingesteckt wurde, auch nicht die frischen, weißen Kleidungsstücke, die unten herausschneiten. Sie konnte auch nicht die eigentliche Verwandlung wahrnehmen, die sich in der Maschine vor ihr abspielte. Auf dem begrenzten Raum von drei mal zwei Metern stand Hässlich ganz allein mit der Maschine und ließ ihre plumpen Hände ungeschickt über die grünen und roten Tastenreihen gleiten. Dennoch arbeitete sie effektiv, denn es war einfach, die Maschine zu bedienen. Eigentlich hätte sie bei ihrer Arbeit genügend Zeit gehabt, ihre Gedanken schweifen zu lassen und sich mit anderen Dingen zu beschäftigen.

Aber leider gab es fast nichts, an das Hässlich hätte denken können.

Hässlichs Schicht bestand aus drei Stunden an alternierenden Tagen - fünf Tage pro Dek. Sie arbeitete also an jedem Eintag, Dreitag, Fünftag, Siebentag und Neuntag. Jede fünfte Dek hatte sie frei. Für diese Arbeitsleistung bekam Hässlich zweihundert Astrads an jedem Ersten eines Kalendermonats, der jeweils vier Deks umfasste. Von diesem Geld gab sie etwa hundertfünfzig für Unterbringung, Essen und lebensnotwendige Artikel aus. Fast immer blieben ihr fünfzig Astrads übrig, die sie für Freizeit und Vergnügungen ausgeben konnte. Aber leider gab es auch hier wenig, was für Hässlich in Frage gekommen wäre.

Selbstverständlich hieß Hässlich nicht wirklich Hässlich. Sie wurde nur so von den meisten Leuten - Kindern, Kollegen - genannt. Es war nicht einmal als Schimpfname gemeint, sondern lediglich eine völlig genaue Beschreibung ihres Aussehens. Da sich keiner mehr etwas Böses dabei dachte, wenn er sie so nannte, hatte die Bezeichnung ihre, eigentliche Bosheit verloren - und war dadurch noch schmerzvoller geworden. Hässlich hatte sich niemals in der einen oder anderen Weise dazu geäußert. Sie hatte auch nie darauf bestanden, mit ihrem in der Geburtsurkunde eingetragenen Namen angesprochen zu werden: Magdala Cled.

Auf jedem Planeten in der Erd-Konklave war die Empfängnis eines Embryos das überwachte Resultat einer sorgfältig ausgewählten künstlichen Schwängerung. Dadurch wurde erreicht, dass alle neugeborenen Kinder gesund waren. Gelegentlich kam es aber vor, dass auf dem Gebiet der Empfängnis ein Fehler passierte und ein Embryo auf biologische Weise gezeugt wurde. Diese Kinder waren manchmal mehr als unvollkommen. Magdala Cled war eines dieser Zufallsprodukte.

Ihre Mutter war Prostituierte mit Gewerbeschein. Niemand hatte sich je die Mühe gemacht, festzustellen, wer ihr Vater war. Vor lauter Geschäftssinn hatte die Mutter den Zeitpunkt übersehen, zu dem eine Abtreibung noch möglich gewesen wäre. Kaum hatte sie das Kind zur Welt gebracht, hatte. sie es mit den vorgeschriebenen fünfhundert Astrads beim Staat abgeladen. Magdala war in einem staatlichen Kinderheim aufgewachsen.

Die möglicherweise bestehende Intelligenz und Aufgewecktheit waren sehr schnell bei dem geregelten, mechanischen Schulsystem untergegangen, bei dem keine Möglichkeit bestand, auch nur die einfachsten Fragen zu stellen, von spekulativem Denken ganz zu schweigen. Ebenso schnell wurden diese möglichen Anlagen durch die primitive Bosheit ihrer Mitbewohner unterdrückt, die (um sich zu verteidigen) ihr übel mitspielten, weil sie vor Magdala so etwas wie Angst empfanden. Sie alle gehörten zur Gruppe, die regelmäßige Züge und einen schöngeformten Körperbau besaß. Missgeburten waren selten.

»Hässlich!«, riefen die Kinder und rissen Magdala die Haare aus. Sie stellten ihr ein Bein, stachen sie mit scharfen, kleinen Gegenständen, kniffen und stießen sie mit den Füßen. Fast so, als wollten sie Magdala durch ständige Misshandlungen in ein weniger scheußliches Geschöpf umformen.

Aber Magdala Cled, die jetzt Hässlich-hieß, wurde nur noch hässlicher.

Als sie etwa auf anderthalb Meter herangewachsen war, schien ein Dampfhammer auf sie hinuntergegangen zu sein, der sie nach unten und seitwärts zusammengestaucht und dann gedreht. haben mochte. Geduckt, vierschrötig' und für immer schief ging Magdala mit teils schlurfendem, teils hüpfendem Gang. Aus ihren hängenden Schultern hingen die Arme wie nachträglich angebracht herab, an denen spatelförmige Zusätze die Hände bildeten. Aus ihren Kopf wuchs ein Büschel dunkler Haare heraus, die auch erst nachträglich angeklebt zu sein schienen und im Nacken abgeschnitten waren. Die Kopfform ließ vage Möglichkeiten erahnen. Unter anderen Umständen hätte dieser Kopf einer aufgeweckten und kreativen jungen Frau gehören können. Das Gesicht hätte vielleicht interessant, aber niemals hübsch sein können. Aber auch das war misslungen. Die flache Nase und das fast immer geschlossene linke Augenlid, das auf die grauweiße Wange herunterfiel, hatten das verhindert. Allein der Mund war schön geschwungen. Die Zähne jedoch waren schon früh abgebrochen und durch grauenvolle Implantationen ersetzt worden, die ebenso schäbig waren wie die Umstände, die sie bedingt hatten.

Wenn man es ganz genau nahm, verdiente Magdala ihren Spitznamen. Sie war die letzte, die das abstritt.

Nur tief in ihrem Innern, auf ewig verschlossen, verbarg sich Unverständnis, Pein und Wut. Magdala, die Hässliche, verbarg diese Gefühle auch vor sich, wann immer es möglich war.

Auf dem Erd-Konklave-Planeten Indigo kosteten kosmetische Operationen mehr Astrads, als eine Fabrikarbeiterin in sieben Jahren ersparen konnte, selbst wenn man, so sparsam wie Magdala war. Es bestand kein großer Bedarf für solche Operationen, so dass die Gebühren entsprechend hoch waren. Außerdem musste Magdala nur einen flüchtigen Blick in eine reflektierende Oberfläche tun, um zu wissen, dass bei ihr so viel zu reparieren war, dass ihr Körper es nicht überstehen würde.

Sie war ein hoffnungsloser Fall.

Wenn Magdala überhaupt über irgendetwas nachdachte, während ihre plumpen Finger über die Tasten ihrer Maschine glitten, dann darüber. Es war ein verschwommener und nutzloser Gedanke, eher nur ein dumpfer Schmerz im Bewusstsein. Manchmal legte sich über diese Hoffnungslosigkeit noch eine Reihe täglich auftretender Leiden - die Blicke von Fremden, voll Mitleid und Abscheu, und die gefühllosen und angewiderten Blicke von Bekannten (Freunde hatte sie nicht).

Unter all der zur Schau getragenen Gleichgültigkeit loderten die Flammen einer ständig unterdrückten, aber ewigen Qual.

 

Um dreizehn Uhr, Mittag auf Indigo, war Magdalas Schicht zu Ende. Allerdings kam ihre Ablösung zu spät. Bei ihr kam die Ablösung immer zu spät. Ohne zu murren blieb Magdala auf ihrem Posten, bis ein Mädchen in die kleine Zelle hereinschlüpfte.

»Danke, Hässlich«, sagte das Mädchen. Ganz offensichtlich verwendete es den Namen lediglich, um Magdala zu begrüßen, ohne sie irgendwie beleidigen zu wollen. »Schätze, dass ich mal wieder zu spät komme. Musste mich noch schnell herrichten.« Trotz ihres baumwollenen Overalls sah das Mädchen attraktiv aus. Sie schob sich an Magdala vorbei und drückte mit ihren himbeerroten, langen Fingernägeln auf die Tasten. Ihr Haar glänzte wie achtzehnkarätiges Gold. Verächtlich schüttelte sie die prächtige Mähne und schaute auf die Maschine. »Und das jetzt drei Stunden, Jesus! Na ja, nächste Dek bin ich vielleicht schon an den Vorführtischen.«

Magdala stand im Eingang zu der engen Zelle und betrachtete das Mädchen. Von ihrem wie aus Plastilin grob modellierten Gesicht ließ sich keine Regung ablesen. An den Vorführtischen musste man nur eine Schicht von zwei Stunden arbeiten und erhielt dafür noch fünfzig Astrads mehr pro Monat. Da sie aber jederzeit eingesehen werden konnten, wurden dort nur wirklich gutaussehende Männer und Frauen beschäftigt.

Das Mädchen mit dem Goldhaar gähnte hinter seinen himbeerfarbenen Fingernägeln.

»Mach schon, Hässlich! Hau ab! Ich erwarte jede Minute einen der Vorarbeiter von den Vorführtischen, und der Besuch ist ganz privat.«

Hässlich verließ die Zelle an der Maschine und humpelte durch den Korridor. In der Wand auf der rechten Seite öffneten sich andere Zellen an der Maschine. Auf der linken Seite dröhnten die unteren Teile der Solargeneratoren. Am Kontrollpunkt warf Magdala ihren Overall in einen Abfallschacht. Darunter trug sie ihre eigenen formlosen, praktischen Kleider. Sie schob sich in den Fahrstuhl und war gleich darauf in der ozonangereicherten Luft der Stadt.

Es war Blau, die Jahreszeit, die auf Indigo dem Herbst vorausging. Auf den kurzgeschorenen, welligen Hügeln der Stadt wechselte das bernsteinfarbene Sommergras die Farbe und nahm eine Schattierung von Holzrauch an. An den regenschirmförmigen Bäumen, die die Gehsteige begrenzten, hingen die Blätter wie Lapislazuli. Über allem erhoben sich die schlanken, hohen Blöcke aus Stahl und Glasurit hinauf in den Himmel, der ebenfalls tiefblau war. Da die Sonne um dreizehn im Zenit stand, war es warm. Aus der Stadt kam ein harmonisches Vibrieren. Das waren die Solargeneratoren, die auf den hohen Dächern und den All-Verbindungen summten. Hinzu kam das Schnurren der vielen Fahrzeuge, die auf den unterirdischen Straßen unsichtbar dahinrollten. Außerdem gab es noch die Geräusche der zahllosen kleinen Apparate - der automatischen Berieselungsanlagen und Ventilatoren, der Automaten, der Uhren, der wie Edelsteine strahlenden Reklameschriften auf den Wänden einiger Gebäude, das schwache, regelmäßige Pulsieren des elektrischen Laufbandes in der Mitte der Gehsteige und die Tausende von Fahrstühlen, Rolltreppen, Drehfenstern und Gleittüren.

Hier im Geschäftsgebiet der Stadt waren nicht viele Leute unterwegs, da sich die Schicht, die um dreizehn Uhr Schluss hatte, schon seit einer Stunde abgemeldet hatte.

Magdala war ganz allein. Da glitt ein hübscher junger Mann auf der äußeren Gegenbahn des Laufbandes an ihr vorbei. Sein Haar war hell und schimmerte wie Seide. Durch die kleinen Silberscheiben in den Ohren hörte er Musik. Als seine Augen zufällig auf Magdala fielen, reagierten sie sofort. Ein paarmal hatte Magdala Kommentare von Leuten aufgeschnappt, die durch ihren Anblick schockiert gewesen waren. »Einfach grauenvoll. Wenn ich so aussähe wie die, würde ich um Arbeit in den Fabriken außerhalb der Stadt bitten.« Oder: »Wenn ich so aussehen würde, würde ich genug Analgene schlucken, um nie wieder aufzuwachen.« Magdala war daran gewöhnt. Sie kannte die Blicke und Reden. Sie schien sie nicht zu registrieren. Aber das schien nur so.

Nachdem der junge Mann eine kurze Strecke weitergetragen worden war, drehte er sich vorsichtig um. Ganz eingesponnen in das Netz seiner nach außen hin unhörbaren Musik schaute er Magdala an, als könne er ihren Anblick nicht fassen.

Magdala benutzte das Laufband nicht. Wegen ihrer Unbeholfenheit war es für sie schwierig, selbst das langsame Außenband zu besteigen. Außerdem mochten die Leute nicht mit ihr fahren. Lieber warteten sie, bis einige Meter vorbeigeglitten waren, ehe sie hinter ihr das Band betraten. Aus dem gleichen

Grund vermied Magdala auch den Subtransporter, die Senso-Theater und die meisten öffentlichen Lokalitäten. Sie benutzte vor allem die einsamen Durchgangsstraßen, immer in ihrer erbärmlichen schlurfenden Gangart.

Sechs Blocks von der Kleiderfabrik entfernt mündeten die Gehsteige in Arkaden und Kaufhäuser.

Dies waren oft die schlimmsten Augenblicke auf Magdalas Heimweg, wenn sie sich mit gesenktem Kopf und halbblind durch die Peripherie der Menge schob. Ab und zu. hielten die Leute sie wegen ihrer geringen Größe für ein Kind und blieben stehen, um ihr zu helfen. Sobald sie sie aber genauer ansahen, wichen sie in Panik zurück. Heute aber waren die Arkaden ziemlich leer, so dass es zu keinem unangenehmen Zwischenfall kam.

Auf der anderen Seite der Arkaden lag ein azurblauer Park, wo zahme weiße oder schwarze Tauben herumflatterten. Hinter dem Park ragten sieben Akkomat-Blöcke auf. Magdala lebte im fünften dieser Wohnblöcke.

Der Akkomat war eine der billigsten Möglichkeiten, die es gab. Jedes Apartment bestand aus einem Raum von drei mal vier Metern, einer Nasszelle, die etwa halb so groß war, und den normalen Einbaugeräten: dem Nahrungsspender, der Zahlscheibe und dem Tri-V-Bildschirm. Außerdem gab es noch ein paar Möbel, die man aus den Wänden klappen konnte. Die Apartments an der Außenseite besaßen auch noch Fenster, die inneren nicht. Hier kam die gereinigte Luft durch Ventilatoren. Tageslicht drang über Refraktoren und Lichtschächte. Magdalas Apartment hatte kein Fenster.

Als Magdala ihren Daumen auf das Druckschloss presste, ging die Tür weit auf. Sie betrat die düstere Zelle, deren Luft durch eine Waschanlage gereinigt war und die nur um Bruchteile größer war als die, in der sie arbeitete. Es gab nur wenig Hinweise auf Magdalas Persönlichkeit. Dinge, die ihren persönlichen Stil hätten verraten können, waren sorgfältig versteckt.

Ohne zu zögern, wenn man von ihrem körperlich bedingten schleppenden Gang absah, ging Magdala zur Zahlscheibe hinüber.

Als Antwort auf die Berührung ihrer Finger erschienen Zahlen auf dem Mini-Schirm. Heute war Zahltag. Zweihundert Astrads waren bereits registriert. Miete, Essensrechnung und die Steuer für ihr Apartment waren vom Akkomat-Computer abgezogen worden. Trotzdem wurden die Zahlen hinter ihrem Namen auf. der Central Bank immer beeindruckender. Über fünftausend Astrads standen schon dort. Sie musste nur den Befehl zum Ausdrucken geben, die gewünschte Zahl wählen und erhielt sofort den Scheck mit der richtigen Summe, den sie dann bei jedem Bankcomputer in der Stadt einlösen konnte. Magdala warf kaum einen Blick auf die Summe und wählte einen Scheck über zehn Astrads.

Einmal im Monat, am Zahltag, leistete Magdala sich eine Mahlzeit in der Akkomat-Caféteria. Einmal im Monat, das hieß dreizehnmal im Jahr, ließ sich Magdala in der dunkelsten Ecke des hellerleuchteten und dichtbesetzten Essbereichs nieder und aß frisches Fleisch, frisches Gemüse und Obst, das es m. der Caféteria gab. Den Rest des Jahres begnügte sie sich mit ihrem Nahrungsspender, der ihr Plastikbehälter mit aufgetautem Gefriergut, Vitaminkapseln und verschiedene Flüssigkeiten lieferte.

Trotz der dunklen Nische war es jedes Mal eine Tortur, wenn sie in die Caféteria ging. Normalerweise bediente jedes Restaurant die Bewohner des eigenen Apartmentblocks. Sie konnten dort ihre Schecks einwechseln, wenn sie etwas zum Essen bestellten. Die meisten Bewohner von Block Fünf kannten Magdala und vermieden es, sie anzusehen. Sie taten alles, um ihr aus dem Weg zu gehen. Manchmal aber kamen Fremde herein, um etwas zu essen, die dann Magdala zum ersten Mal sahen und deutlich ihren Abscheu zu erkennen gaben.

Der Fahrstuhl sang leise, während er wie ein Vogel die zwanzig Stockwerke hinaufglitt.

Magdala stand im Lift mit ihrem üblichen wächsernen Gesicht, ohne jeden Ausdruck. Obwohl ihr das Wasser im Mund zusammenlief, wenn sie an das bevorstehende Essen dachte, verkrampfte sich ihr Magen automatisch aus innerer Angst. Sie hatte ständig Angst, zeigte sie aber selten, da sie sich an diesen Zustand gewöhnt hatte. Aus Furcht vor ihrer Umgebung war sie immerwährend angespannt. Oft wünschte sie sich ganz ernsthaft, unsichtbar zu sein. Manchmal stieg ihre Furcht ins Unermessliche. Ansonsten lebte diese Furcht ständig in ihr, wie der ständige Atem der Stadt.

Der Fahrstuhl blieb stehen. Die Tür glitt beiseite.

Magdala schob sich hinaus in den von strahlendem Sonnenschein hell erleuchteten Raum und begann ihren mühsamen Weg zum Büfett.

Die beiden Angestellten am Büfett lehnten am Bildschirm mit der Speisekarte. Der eine machte seinen Kollegen auf Magdala aufmerksam. »Da kommt der Krüppel. Was hab ich dir gesagt? Sie kommt hier an jedem Zahltag der Kleiderfabrik.« Magdala konnte die Worte gar nicht überhören. Schnell wählte sie etwas von der Karte. Der Angestellte tippte ihre Bestellung ein und gab sie an die mechanische Küche weiter. Magdala hielt die Augen gesenkt. In dieser Stellung, wenn beide Augenlider herabhingen, erschienen ihre Augen beinahe annehmbar. Der andere Angestellte hatte ihren Scheck über zehn Astrads genommen und gab ihr jetzt das Wechselgeld heraus. Er schob es ihr über die Theke zu, um ja nicht ihre Hand zu berühren.

 Magdala war sechsundzwanzig. Seit ihrer Geburt hatte sie niemand mehr freiwillig angefasst, mit Ausnahme der unpersönlichen Ärzte im staatlichen Heim und die Kinder, die sie gequält hatten.

Sie nahm ihr Tablett und ging auf die dunkelste Nische zu, die es dort gab. Schon hatte sie sie beinahe erreicht, als sie feststellte, dass jemand dort saß.

Sie war verwirrt. Die Caféteria war heute zu zwei Dritteln leer, und niemand wählte diese Nische, wenn unter dem polarisierten sonnigen Dach und an den Glasurit-Fenstern noch Platz war. Dann steigerte sich ihre Verwirrung. Die Person am Tisch war niemand anders als der junge Mann mit den hellen Haaren, der auf der Straße an ihr vorbeigekommen war.

Sein Profil hob sich so hell wie sein Haar gegen den dunklen Hintergrund ab. Es war so perfekt geschnitten, dass es maschinell gefertigt zu sein schien. Die Augen mit den langen Wimpern leuchteten transparent und metallisch zugleich. Auf dem Tisch vor ihm stand ein Becher aus Glasurit mit rotem Alkohol. Die Hand, die ihn hielt, war hart, geschmeidig und langfingrig. Sie schien fast ein Eigenleben zu haben. Die Silberscheiben waren nicht mehr in seinen Ohren.

Magdala machte eine Drehung, um in Sicherheit zu gelangen.

»Lauf doch nicht weg!«

Mitten in der Drehung blieb Magdala stehen und lauschte auf das, was als nächstes kommen würde. Nichts kam.

»Warum willst du unbedingt weglaufen, wenn ich dir doch gerade gesagt habe, dass du es nicht tun sollst?«

Die Stimme war kalt und völlig ausdruckslos.

Wieder blieb Magdala stehen. Sie schaute nicht auf. Sie spürte das Gesicht des jungen Mannes jetzt mehr, als dass sie es sah. Er hatte ihr die Vorderseite zugewandt und wartete, einen Arm lässig über die Lehne der Sitzbank gelegt.

»Setz dich!«, sagte er.

Irgendetwas elektrisierte Magdala. Langsam setzte sie sich in Bewegung. Er sagte nichts mehr, als sie an den anderen leeren Nischen vorbeiging.

Sie wusste nicht, warum sich ihre Angst plötzlich so verstärkt hatte. Überraschung vielleicht? Vielleicht war dieser Mann einer von den Leuten, die sie manchmal ansprachen, weil sie auf krankhafte Weise von ihr fasziniert waren. Diese hatten aber unkontrolliert drauflosgeschwätzt, während er anders mit ihr geredet hatte. Er hatte sich offenbar überhaupt gut unter Kontrolle.

Magdala betrat eine Nische und stellte ihr Tablett auf den Tisch. Ihre Hände zitterten. Dann schob sie einen Bissen in den Mund und kaute ihn sorgfältig. Als er hinuntergeschluckt war, nahm sie einen zweiten.

Sie hatte etwa fünf Minuten gegessen, als sein Schatten auf ihr Tablett fiel.

Er war um den Tisch herumgekommen und hatte sich ihr gegenübergesetzt.

Diesmal warf sie einen scheuen, kurzen Blick auf sein Gesicht. Sie konnte sich einfach nicht zurückhalten. Schnell senkte sie wieder den Kopf über den Teller und aß weiter, ohne den Geschmack des Essens wahrzunehmen. Unbeweglich saß er da und beobachtete sie.

Vor langer Zeit hatte man sie gewarnt, dass sie vielleicht jemandem begegnen könnte, der an ihrem Zustand ein ungesundes Interesse bekunden würde. Jemand, der ihr Böses antun wollte, sie auslöschen.

Der kurze Blick hatte genügt, um ihn in allen Einzelheiten wahrzunehmen. Die bleiche Farbe des Haares schien doch natürlich zu sein. Ebenso natürlich wirkten auch die merkwürdigen Strähnen darin: schwarzbraun, golden und grau. Aus der Nähe gesehen waren auch die Augen merkwürdig vielfarbig, wie das Haar. Da waren Streifen und Flecke, die zusammenflossen und zwei außergewöhnliche Linsen aus glänzendem grünlichem Messing ergaben.

Seine Nähe war furchteinflößend. Nicht wegen der Warnung von früher. Nicht einmal wegen seiner beängstigenden Einmaligkeit. Nein, wegen, eines  unsichtbaren, absolut tödlichen Umstands. Als ob er radioaktiv wäre.

»Wie heißt du?«

Seine Stimme hatte sich nicht verändert. Immer noch kalt, ruhig und ausdruckslos.

Magdala aß weiter und hielt die Augen auf das Essen gerichtet.

»Ich habe dich gefragt, wie du heißt.«

Magdala aß weiter, konnte aber plötzlich nicht mehr schlucken.

»Was ist los? Hast du Angst vor mir? Dazu besteht kein Grund.«

Magdala brachte es fertig, den Bissen herunterzuschlucken. Sie musste antworten, wollte auch etwas sagen. Alles, was sie herausbrachte, war: »Bitte, lassen Sie mich in Ruhe!«

»Ich möchte aber deinen Namen erfahren«, sagte er.

»Warum?« Nachdem sie nun einmal angefangen hatte, mit ihm zu reden, war es schwierig, wieder in Schweigen zu verfallen.

»Du willst mir deinen Namen nicht sagen, weil du Angst hast. Aber wie du sehen kannst, bin ich dir aus dem Geschäftsviertel gefolgt. Ein paar kurze Erkundigungen haben mir es möglich gemacht, hier auf dich zu warten, sogar in deiner Stammnische. Dein Apartment kann ich ebensoleicht herausfinden. Du siehst also, auch wenn du mir nicht sagst, wie du heißt, kann ich über dich so viel herausbekommen, wie ich will.«

Magdala schob sich vom Sitz hoch und stand auf. Sie ließ ihr Essen stehen und ging auf den Fahrstuhl zu. Sie kam nicht schnell voran und erwartete jeden Augenblick, seinen Schatten auf ihrem Weg zu sehen und seine unerbittliche Stimme zu hören, die sie erstarren lassen würde. Er konnte sie ohne Schwierigkeiten einholen. Aber er kam nicht.

Sie betrat den Fahrstuhl mit mehreren anderen Frauen und Männern, die die Caféteria verließen.

Zwischen ihren Körpern, hinweg über die sonnendurchflutete Caféteria mit all den Tischen, Nischen und menschlichen Bewegungen, sah sie sein wunderschönes und schreckliches Gesicht, das ihr genau in die Augen sah. Selbst als die Tür sich schloss und der singende Fahrstuhl langsam nach unten fuhr, blieb sein Gesicht gegenwärtig. Es schien in die Luft gemalt zu sein.

 

 

 

II.

 

 

Magdala ging am Rande des Parks entlang und hielt sich an die   Stellen, wo die Bäume und Pflanzen besonders dicht standen. Aus einem Schattentunnel heraus betrachtete sie den Park und schaute auf die wenigen Leute, die im Pool schwammen oder die schwarzen und weißen Tauben fütterten. Danach ging sie zurück durch die engen Hinterstraßen, hinter den alten Geschäftshäusern, Trödelläden und Antiquariaten entlang. Dort war es völlig einsam. Zwei Stunden lang las sie in einem Abteil in der Elektro-Bibliothek. Man war hier an sie gewöhnt und machte keine Bemerkungen. Doch heute sah sie kaum die Seiten, die die Maschine auf den Bildschirm zauberte.

Der warme, blaue Tag neigte sich in einem feurigen Sonnenuntergang hinter den Glasurit-Türmen seinem Ende zu. Wie ein Feuerwerk stiegen auf dem karmesinroten Himmel eine Million kleiner grüner Funken von den hohen Dächern und Oberverbindungen auf, als die Solargeneratoren der Stadt ihre Stromkreise schlossen.

Unter den aufleuchtenden Straßenlichtern und zwischen den Schachbrettern aus gelben und schwarzen Fenstern befand sich Magdala, dieser schlurfende, scheußlich aussehende Schatten, auf dem Heimweg.

Der Fahrstuhl brachte sie zu ihrem Stockwerk. Auf den Druck ihres Daumens hin sprang die Tür auf. Ohne zu überlegen ging sie hinein. Das Apartment hätte dunkel wie ein Loch in der Erde sein müssen, ehe sie durch ihr Eintreten die Beleuchtung auslöste. Aber es war hellerleuchtet, die Lampen waren bereits ausgelöst worden. Im Zentrum des Lichts, wie seine Quelle und Sonne, stand der Mann.

Irgendwie hatte sie es gewusst. Hatte gewusst, dass er, so unwahrscheinlich es auch war, hier auf sie warten würde. Den ganzen Nachmittag hindurch hatte sie nicht einmal über die Schulter geschaut. Nicht einmal war ihre Angst auf- einen extremen Höhepunkt gestiegen, während sie draußen auf den Straßen herumlief.        

Aber kein Fremder konnte über das Druckschloss eindringen. Es war ein Schloss, dass allein auf einen Fingerabdruck reagierte: auf den des Besitzers.

Der junge Mann zeigte Magdala ein silbernes Rechteck in seiner Hand.

»Es ist keine Zauberei«, sagte er. »Das hier nimmt einen Sensorabdruck deines Fingerabdrucks vom Schloss. Ich drücke auf einen kleinen Schalter, und der Abdruck läuft zum Schloss zurück. Das Schloss gehorcht. Die Regierung der Erd-Konklave verfügt über solche Vorrichtungen schon seit Jahren. Man kann sich auf nichts mehr verlassen, Magdala Cled. Glaub mir!«

Allmächtig wie er war, hatte er auch ihren Namen herausgefunden. Er musste einen der Angestellten im Akkomat gefragt und dann ihre Apartmentnummer auf dem Registraturschirm im Foyer abgelesen haben. Er war sehr gründlich und zielstrebig vorgegangen.

Hinter Magdala schloss sich die Tür automatisch. In dem winzigen, unpersönlichen Raum strahlte und glänzte er wie ein Stern. Sie konnte ihre Augen nicht von ihm abwenden. Wie hypnotisiert starrte sie ihn an. In ihrem Kopf drehte sich alles.

»Magdala«, sagte er nachdenklich. »Magdala Cled. Mal sehen. Cled ist ein zusammengesetzter Name, nicht wahr?' Die Initialen deiner Mutter oder deines Vaters, oder eine Kombination aus beiden, davor das C, der Kennbuchstabe des staatlichen Waisenhauses, in dem du aufgewachsen bist. Habe ich Recht? Nun aber zu Magdala. Das ist wirklich interessant. Lass mich mal ganz kühn raten. Deine Mutter war eine gemeldete Prostituierte, und das staatliche Waisenhaus C hatte den Hang, seine Zöglinge bessern zu wollen. Ja, das muss es gewesen sein!

Maria Magdalena, die reuige Prostituierte des Modernistischen Christentums.«

Magdala hatte nicht genau zugehört. Sie war überzeugt, dass er hergekommen war, um sie umzubringen. Benommen und verzweifelt wartete sie, gelähmt durch ihre Unentschlossenheit.

Aber er machte keine Bewegung auf sie zu. Ganz im Gegenteil. Er knöpfte einen der Klappsitze von der Wand ab und setzte sich. Spielerisch warf er den silbernen Türöffner hoch in die Luft und fing ihn wieder auf. Hochwerfen, auffangen.

»Ich nehme an«, sagte er leise, aber so kalt, als fiele Schnee auf ihr Herz, »du hältst mich für einen schrecklichen Irren, der darauf aus ist, auch das letzte verkrüppelte weibliche Wesen von Indigo zu entfernen. So einer bin ich keineswegs, mein-liebes verkrüppeltes weibliches Wesen.«

Magdalas schiefe Schultern stemmten sich gegen die Wand. »Bitte«, sagte sie, », gehen Sie weg.«