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Óscar Martínez
Juan José Martínez

MAN NANNTE IHN
EL NIÑO
DE HOLLYWOOD

Leben und Sterben eines Killers der
Mara Salvatrucha

Aus dem Spanischen
von Hans-Joachim Hartstein

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

 

 

 

 

Für Edin, in Liebe und Dankbarkeit

Du hast gesagt, wir seien eine Erweiterung von Dir.

Also hast auch Du einen Anteil an diesem Buch.

Du lebst in uns weiter, Papa.

Für Marisa, den schönsten Ort, den besten Ort der Welt.

Unsere Worte sind auch Deine Worte, Mama.

INHALT

Vorwort der Autoren

TEIL I

1. Das Ende

2. Der Anfang

3. Der Ursprung

4. Willkommen im System El Sur

5. Der Blick eines Mörders

6. Jugendbanden

TEIL II

Auf der Parzelle I

Auf der Parzelle II

Auf der Parzelle III

Auf der Parzelle IV

Auf der Parzelle V

Auf der Parzelle VI

Auf der Parzelle VII

Auf der Parzelle VIII

Auf der Parzelle IX

Auf der Parzelle X

Auf der Parzelle XI

Auf der Parzelle XII

Auf der Parzelle XIII

TEIL III

1. Verräter

2. Outlaw

3. Waffenruhe

4. Hölle

5. Tod

TEIL IV

Einziges Kapitel. Auf der Suche nach El Niño

VORWORT DER AUTOREN

Dieses Buch handelt von Abfall. Konkret, von den Abfällen, die die Maschinerie der Vereinigten Staaten von Nordamerika in regelmäßigen Abständen an ihren Grenzen ausstößt. Abfälle, die nach El Salvador abgeschoben werden, in ein Land, das selbst eine Mühle ist. Doch diese menschlichen Abfälle haben ein Leben, erst recht nach ihrer Vertreibung. Und mit der Zeit werden die Früchte dieser Abfälle erneut auf vielfältige Weise zum Sand im Getriebe jener Maschinerie, die sie zermalmt und dann ausgespuckt hat. Dieses Buch erzählt davon, wie diese Länder mit dem Abfall umgehen.

Die Geschichte von Miguel Ángel Tobar ist das ideale Beispiel dafür, wie globale Prozesse eine Unmenge an kleinen Geschichten hervorbringen. Miguel Ángel Tobar war ein Killer, ein gnadenloser Mörder der Mara Salvatrucha 13. Ein Mann, der durch seine mehr als fünfzig Morde eine zweifelhafte Berühmtheit in den Vereinigten Staaten erlangte und in den Klub der Serienmörder aufgenommen wurde, denen ganze Fernsehsendungen gewidmet werden. Aber sein Leben und seine Verbrechen spielten sich fern der Orte ab, an denen Fälle wie seine bekannt wurden: mitten in einer heißen, feuchten Gegend des salvadorianischen Westens. Miguel Ángel hat nie Englisch gesprochen, und er war auch nie in Los Angeles, wo die kriminellen Banden entstanden sind. Nicht einmal den Namen seiner Gang, der Hollywood Gang, konnte er korrekt aussprechen. »Jaliwú«, sagte er. Und doch bestimmte das, was in dem Land im Norden passierte, sein Leben in El Salvador und natürlich das all derer, denen er es genommen hat. Es bestimmte sein Leben und somit den Tod Dutzender von Menschen.

Wir lernten Miguel Ángel fast wie nebenbei kennen, ohne es geplant zu haben, bei einer Recherche für die Online-Zeitung elfaro.net. Wir untersuchten die Bandenbosse und ihre Gangs und die Frage, wie es einem einzelnen Anführer gelingen konnte, einer kleinen Gang das ganze Konzept des organisierten Verbrechens näherzubringen. Gil Pineda, der barsche Polizeiermittler, mit dem wir über das Thema sprachen, sagte zu seinem Untergebenen einen Satz, der unser Leben für die folgenden Jahre verändern sollte: »Cabo, bring El Niño her!« Wenig später erschien in der Tür der muffigen Polizeiwache ein schlanker junger Mann mit Schlitzaugen, einem locker über die Hose fallenden Hemd und einer bunten Rasta-Mütze. Er glich nicht dem Bild eines marero, das die Medien von den Mitgliedern der Mara Salvatrucha zeichnen: Mann mit kahl rasiertem Schädel, bis zum Hals tätowiert. Nach einem kurzen Händedruck überquerten wir die Straße und gingen zu seiner Parzelle, wo wir uns auf wacklige Plastikstühle setzten. Wir unterhielten uns mehrere Stunden. Er erzählte uns von seinem Leben. Dabei ging er so weit zurück, wie er sich erinnern konnte, also ab der Zeit, als er ein verschreckter Junge gewesen war, der versucht hatte, Menschen umzubringen. Wir lernten Lorena kennen, seine Frau, und Marbelly, seine unterernährte kleine Tochter. Von dem Tag an besuchten wir ihn regelmäßig. Wir hörten uns an, was er zu erzählen hatte, und verglichen es mit anderen Quellen, Polizeiberichten und Zeitungsarchiven, Aussagen von anderen Bandenmitgliedern und ehemaligen Mareros, Polizisten, Untersuchungsrichtern, Familienangehörigen, Opfern, Gerichtsmedizinern. Wir trafen uns auch dann noch mit ihm, als er den unsicheren Zufluchtsort verließ, den der salvadorianische Staat ihm im Zeugenschutzprogramm bot. Wir sahen ihn zwischen Zuckerrohrfeldern leben und sich als Jäger und Sammler durchschlagen, wie die ersten Menschen der Urzeit. Wir sahen ihn unter dem Schutz des Staats verzweifeln und bis auf die Knochen abmagern und daran denken, wieder mit dem Stehlen und Töten zu beginnen, um seine Familie zu ernähren.

Mit der Zeit verstanden wir, dass Miguel Ángels Leben sehr viel mehr war als die brutale Geschichte eines Bandenmitglieds. Im Laufe der Monate und Jahre wurde uns klar, dass das Leben dieses Mannes durch globale Prozesse bedingt war, durch Geschichten, die sich draußen in der Welt abspielten und von denen er nichts wusste. Dass seine Entscheidungs- oder Handlungsfreiheit stets durch entfernte, von hohen Beamten während des gesamten 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten und El Salvador bestimmte Entwicklungen begrenzt und eng mit ihnen verbunden gewesen war. Sein ganzes Leben war das Ergebnis einer langen Kette von blutigen Prozessen, die ihn am Ende zu dem machten, was er war. Deswegen beginnen einige Kapitel dieses Buchs Jahrzehnte vor seiner Geburt oder Tausende von Kilometern nördlich des Ortes, an dem er zur Welt kam. Die völlige Unkenntnis besagter Prozesse und Entwicklungen machte ihn zu einem naiven, ja sogar abergläubischen Menschen.

Miguel Ángels Leben war auch das Ergebnis gemeiner, hinterhältiger Spielchen. Er war die Beute einer kriminellen Vereinigung, die aus Jungen bestand, die ebenfalls Beute waren, wie er.

Miguel Ángel handelte, ohne eine Ahnung von diesen Dingen zu haben. Doch die Menschen sind komplexe Gemälde, mit Farbtönen und Schattierungen. Manchmal war Miguel Ángel ein nachdenklicher Mensch, der mehr als ein Leben gelebt zu haben schien. Er hatte interessante Gedanken und Ansichten über seine Situation, die Wendungen in seinem Leben und das, was zu ihnen geführt hatte. Vor allem aber war er, trotz all seiner Brutalität und seinen Überlebensstrategien, ein aufrichtiger Mensch. Obwohl er es hätte tun können, hat Miguel Ángel uns niemals angelogen. Zumindest haben wir ihn nie bei einer Lüge ertappt. Wir haben seine Aussagen mehrmals überprüft, sie anderen Quellen gegenübergestellt, und immer haben sie sich als wahr erwiesen. Selbst wenn das, was er sagte, unmöglich schien, fanden wir irgendein Dokument oder einen Augenzeugenbericht, die die Worte des Mörders bestätigten. Noch heute fragen wir uns, warum er so aufrichtig mit uns sprach. Miguel Ángel hat nie Geld oder Lebensmittel von uns verlangt. Er hat uns nie um einen Gefallen gebeten. Er hat einfach nur geredet, fast drei Jahre lang jede unserer Fragen beantwortet. Einmal ist er mit einer Machete und einem selbst gebastelten Gewehr bewaffnet zwei Stunden durch Feindesland gegangen, nur um mit uns zu sprechen. Er hat mit Inbrunst und Leidenschaft von seiner Vergangenheit erzählt, von seinen Hoffnungen, seinen Albträumen, seinen Überlebensstrategien, seinen Verrücktheiten. Und er hat über seine komplexe Weltanschauung gesprochen, die eines Bandenmitglieds vom Land. Mit viel Geduld und erst nach vielen Jahren lernten wir verstehen, und darum haben wir uns entschlossen, zu erklären, was wir verstanden haben. Und um es zu erklären, haben wir entschieden, es vor allem zu zeigen, anstatt nur Aussagen zu treffen. Dieses Buch ist ein Beispiel für narrativen Journalismus. Wir wollen Fenster aufstoßen. Allerdings ist das, was auf der anderen Seite zu sehen ist, nicht angenehm.

Es wäre leicht und sehr aufschlussreich gewesen, das Leben dieses Mannes von Weitem durch ein Fernglas zu betrachten. Und das, was man gesehen hätte, wäre aufsehenerregend gewesen: blutige Morde, obskure Rituale, Macheten, Pistolen, Kugeln und Wunden. Doch das kennt man zur Genüge aus dem mörderischsten Land der Welt. Daher haben wir beschlossen, Miguel Ángels Leben unter einer Lupe zu betrachten, seiner Fährte zu folgen, seinen Spuren, seinen Zeichen, auch seiner Gewalt. Denn Erklärungen – keine Rechtfertigungen! – findet man in diesen Breitengraden nur selten.

Die Idee, unsere Kräfte als Autoren zu bündeln, basiert nicht nur darauf, Kenntnisse von soziokulturellen Phänomenen und Prozessen zu sammeln, die uns beide in den letzten zehn Jahren beschäftigt haben. Sie zielt auch darauf ab, Arbeitsmethoden, Recherchetechniken, die Auswahl der Orte sowie zwei unterschiedliche Arten, die Realität zu erfassen, zusammenzuführen. Wir haben an je unterschiedlichen intellektuellen Fronten gekämpft und uns bemüht, die Wurzeln jener Gewalt freizulegen, die unser Land auf den düstersten Rankings ganz nach oben gebracht haben. Beide haben wir die Mara Salvatrucha 13 studiert. Wir haben mit Dutzenden von Bandenmitgliedern, Verfolgern, Gegnern und Opfern gesprochen. Wir haben mehr als ein Jahr mit ihnen zusammengelebt, haben viele Stunden in den entsetzlichen Gefängnissen von Guatemala, El Salvador, Honduras, Mexiko und den Vereinigten Staaten mit ihnen verbracht und diejenigen begleitet, die durch ganz Mexiko bis in die Städte der Vereinigten Staaten vor ihrem Sadismus geflohen sind. Zunächst haben wir getrennt gearbeitet, jeder für sich, bis wir eines Tages gemeinsam in der Ortschaft El Refugio auf Miguel Ángel trafen. Seither sind wir Dutzende Male in seine Gemeinde gefahren, an die Orte, wo er getötet hat und gestorben ist.

Letzten Endes handelt dieses Buch nicht nur vom Leben eines Killers der größten Verbrecherbande der Welt, der einzigen El Salvadors, die auf der schwarzen Liste des Finanzministeriums der Vereinigten Staaten steht und ständig in den Hetzreden von Donald Trump erwähnt wird, der Bande, die unter dem Namen Mara Salvatrucha 13 unzählige Gangs vereint und die in jedem Department von El Salvador präsent ist. Im Grunde ist dieses Buch unsere Art, den Hinterhof der Vereinigten Staaten zu verstehen und zu erklären. »Shithole«, nannte es Trump, als handelte es sich um etwas, das mit dem, was Regierende wie er aufzubauen und zu zerstören geholfen haben, nichts zu tun hat.

Dies ist die Geschichte von etwas Großem. Dies ist der Bericht über etwas Monströses, Länderübergreifendes. Dieses Buch erzählt die Geschichte von Gewalt, eine Geschichte, die andauert, die weiter lebendig ist, die pulsiert und sich ausbreitet, die rekrutiert und aus- und einwandert. Eine unerhörte, wenig verstandene Geschichte, erzählt aus der Perspektive eines Niemands, eines Vergessenen, eines Mannes, der war, wie viele andere sind. Das mikroskopisch Kleine, um das Globale zu verstehen.

Wir haben auf die Beute der Beute zurückgegriffen und versucht, sie zum Schlüssel für das Verständnis der Geschichte zu machen, gemäß dem Satz, den wir einmal zu Miguel Ángel, dem wir versprochen hatten, aufrichtig zu sein, gesagt haben.

»Warum wollt ihr meine Geschichte erzählen?«, hatte er uns nach Jahren unserer Bekanntschaft an dem staubigen Ort, an dem er geboren wurde, gefragt.

»Weil wir leider glauben, dass deine Geschichte von größerer Bedeutung ist als dein Leben«, antworteten wir verlegen.

Wir hoffen, dass wir jenem Versprechen alle Ehre machen.

Óscar und Juan José Martínez
28. Februar 2018

TEIL I

ERSTES KAPITEL

Das Ende

Nicht mal im Tod wird Miguel Ángel Tobar seinen Frieden finden.

An einem Sonntag, dem 23. November 2014, machen sich sieben Männer daran, ihn unter die Erde zu bringen. Es ist zwölf Uhr mittags auf dem Friedhof von Atiquizaya, im Westen des kleinen zentralamerikanischen Staats El Salvador. Die Sonne brennt einem direkt auf den Schädel, und man muss sich nicht erst bewegen, um zu schwitzen.

Während der Schwiegervater und die Brüder des Toten das Grab ausgehoben haben, stand die Mutter von Miguel Ángel Tobar, eine kleine, grauhaarige Alte, still daneben. Jetzt, da ihr Sohn in dem billigen Teakholzsarg hinabgelassen wird, bricht sie zusammen, schreit, fragt, warum, warum so jung. Warum wieder. Warum noch ein Sohn. Warum noch ein Mord.

Der von der Gemeindeverwaltung gestiftete Sarg hat kein Guckfensterchen. Häufig verzichtet man darauf aus Rücksicht gegenüber den Angehörigen, die keinen verstümmelten Körper in Erinnerung behalten möchten. Bei Miguel Ángel Tobar ist nicht das der Grund. Seine Mörder waren nicht so geschickt wie er im Umgang mit der Pistole. Sie mussten ihre Magazine leeren, um ihn letztlich mit sechs Schüssen niederzustrecken, während er zu flüchten versuchte. Die drei Kugeln, die seinen Kopf durchlöcherten, schlugen an versteckten Stellen ein, hinter dem Ohr. Die Kugeln meinten es gut mit ihm.

Man könnte sagen, dass Miguel Ángel Tobars Bestattung nur fünf Minuten gedauert hat. Die Stunden davor haben dazu gedient, das Grab auszuheben, das Loch zu begutachten und weiterzugraben. Die Stunden davor hatten nichts Feierliches an sich. Es sah aus, als hätten sich Angehörige einer Familie getroffen, um einen Brunnen zu graben. Die schweißgebadeten Männer sprachen über die Tiefe und Breite der Grube, wie Arbeiter, die für jemand anderen ein Haus bauen. Die Frauen brachten die weinenden Kinder zischend zum Schweigen und sahen ihren Männern beim Graben zu.

Doch sobald die sieben Männer beginnen, Seile um den Sarg zu schlingen und ihn hinabzulassen, verwandelt sich die alltägliche Szene unvermittelt in eine Beerdigung von jemandem, den sie geliebt haben.

Die Mutter schreit die ganzen fünf Minuten über. Sie droht ohnmächtig zu werden. Die Frau von Miguel Ángel Tobar, ein vom schlechten Leben gezeichnetes junges Mädchen von achtzehn Jahren, verdrückt eine Träne. Die Frauen übertönen das Weinen ihrer Kinder, indem sie aus vollem Hals evangelikale Kirchenlieder singen. Sie schreien die Worte heraus, die von einem Himmelreich und auch von einem Höllensee sprechen. Die schweißnassen Männer weinen nicht, weil sie nie weinen, senken jedoch ihren Blick.

Fünf Grabsteine weiter sitzen vier Bandenmitglieder auf einem Grab und würfeln. Der Friedhof wird von der Mara Salvatrucha 13 kontrolliert, und das ist kein Geheimnis. Das weiß auch der städtische Friedhofswärter, der jetzt zusieht, wie Miguel Ángel Tobar von anderen beerdigt wird. Auf die Frage »Wer sind die da?« antwortet er wie selbstverständlich: »Das sind die, die hier das Sagen haben.«

Bei der Beerdigung eines Bandenmitglieds, egal von welcher Gang, herrscht Waffenruhe. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Dem, den sie töten wollten, gestatten sie, im Tod seinen Frieden zu finden. Doch heute gilt diese Regel nicht.

Zwei weitere Bandenmitglieder kommen aus den Gassen mit den kleinen Häuschen, die eine Seite des Friedhofs säumen, und gesellen sich zu denen, die auf dem Grab würfeln. Die vier unterbrechen ihr Spiel, stehen auf und beobachten. Ein weiterer taucht auf und geht im Abstand von wenigen Metern an den Trauergästen vorbei. Es ist ein dünner, blasser Junge, der die Galauniform seiner Gang angelegt zu haben scheint: runder schwarzer Chaplin-Hut; weißes, weites T-Shirt in einer schwarzen, ebenfalls weiten Stoffhose, die von einem Strick gehalten wird; weiße Sneakers irgendeiner Billigmarke, die vortäuschen, Domba-Sneakers zu sein. Er spuckt vor den Trauernden aus und sucht herausfordernd den Blick von irgendjemandem aus der Gruppe. Er trifft auf keinen.

Ein Bandenmitglied kommt aus der Schlucht hinter dem Friedhof und baut sich auf der gegenüberliegenden Seite auf. Das Begräbnis ist umstellt. Auf der einen Seite die Häuschen, auf der anderen die Männer neben dem Grab; hier der Dünne, dort die Schlucht.

Die Angehörigen von Miguel Ángel Tobar wissen, dass sie umzingelt sind. »Das sieht übel aus«, murmelt der Schwiegervater mit leerem Blick. Die letzten Schaufeln Erde fallen aufs Grab. Es bleibt keine Zeit, den Hügel festzuklopfen. Miguel Ángel Tobars Grab ist ein unförmiger Erdhaufen. Ohne Grabstein, ohne Kreuz, ohne Inschrift.

Einer der Trauergäste schneidet mit einer Machete von einem Izote-Strauch einen Zweig mit einer Blüte ab, der »Flor de Izote«, der Nationalblume von El Salvador, und steckt ihn in den Erdhaufen. Dann verlässt die kleine Prozession armer Leute eilig den Friedhof. Als sie an den Häuschen vorbeigehen, kommen weitere Bandenmitglieder hinzu und fordern sie auf, stehen zu bleiben. Die Leute eilen weiter. Alle verlassen den Friedhof. Sie zerstreuen sich.

Miguel Ángel Tobar, der Killer der Gang Hollywood Locos Salvatrucha von der Mara Salvatrucha 13, der Mann, der seine Gang verraten hat, ist verabschiedet worden, wie er gelebt hat. In einem Land wie diesem gibt es keinen Frieden für einen Mann wie Miguel Ángel Tobar, El Niño de Hollywood.

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Miguel Ángel Tobar war Mitglied der Mara Salvatrucha 13, der zurzeit größten und gefürchtetsten Verbrecherbande der Welt, der einzigen von El Salvador, die, zusammen mit den mexikanischen Zetas und der japanischen Yakuza, auf der schwarzen Liste des Finanzministeriums der Vereinigten Staaten steht. Es ist die Bande, die El Salvador zwei Jahre – 2015 und 2016 – dazu verdammte, das mörderischste Land der Welt zu sein. Zur Verdeutlichung: Mexiko, das Land der Kartelle von Chapo Guzmán und der Zetas, stand unter Schock, als 2015 eine Quote von 18 Morden je 100.000 Einwohner erreicht wurde. El Salvador kam im gleichen Zeitraum auf 103 Morde. In den USA liegt der Anteil gewöhnlich bei rund fünf Morden. Bei mehr als zehn Morden je 100.000 Einwohner spricht man bei den Vereinten Nationen von einer Epidemie. In dem kleinen zentralamerikanischen Land El Salvador wütet also eine entsetzliche Epidemie des Todes.

Wahrscheinlich wäre Miguel Ángel Tobar ohnehin ein gnadenloser Mörder geworden. Vielleicht wäre er am Ende auf jeden Fall ohne Grabstein, in Anwesenheit von Männern, die nicht weinen, und Frauen, die ohnmächtig werden, auf einem staubigen Friedhof im Westen El Salvadors bestattet worden. Möglicherweise wäre all das auch dann passiert, wenn Miguel Ángel Tobar nie etwas von der MS-13 gehört hätte. Doch das war nicht der Fall.

Sie waren füreinander geschaffen. Sie ähnelten sich so sehr…

Bevor Miguel Ángel Tobar El Niño de Hollywood wurde, war er ein verwahrlostes Kind und Halbwaise. Ein Krieg hatte alles zerstört. Als das große Massaker nach zwölf Jahren endete und die sterblichen Überreste der Toten noch warm waren, wurden Hunderte von Männern aus den USA ausgewiesen. Sie kamen mit einem neuen Angebot ins Land.

Die Abgeschobenen, die ersten Gesandten der »Bestie« – wie El Niño de Hollywood die Bande nannte –, boten Miguel Ángel Tobar und Hunderttausenden wie ihm ein neues Leben an, einen neuen Krieg, ein neues Ziel: den Krieg gegen die chavalas, die uno caca, die diecihoyos (die »Mädchen«, die »Eins-a-Kacke«, die »Arschzehn«). Gegen einen Feind also, der ihnen glich wie ihr eigenes Spiegelbild und der es auf sie abgesehen hatte: die vom Barrio 18. Miguel Ángel Tobar lief mit fliegenden Fahnen zu einer Familie über, die die zerrüttete Familie ersetzte, der er von Bluts wegen angehörte. Sie lieferte ihm einen Grund, weiterzuleben. Dieser Grund war der Tod selbst. Ein Krieg.

Doch jener Krieg zwischen den spiegelgleichen Jungen hatte bereits lange vor Miguel Ángel Tobars Geburt begonnen, Tausende Kilometer von dem staubigen, verlassenen Friedhof Atiquizayas entfernt.

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In den Siebzigerjahren waren Salvadorianer massenweise in den Süden Kaliforniens geströmt. Es handelte sich um keine allmähliche Einwanderung, einer nach dem anderen, Familie für Familie. Sie kamen in Scharen, und sie wanderten nicht aus, sie flüchteten: mitten in der Nacht, nur mit dem, was man auf die Schnelle zusammenpacken konnte, ohne genau zu wissen, wo man hinkommen würde. Es war weniger wichtig anzukommen, als nicht mehr hier zu sein.

Fast keiner dieser Tausenden Salvadorianer, die in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre nach Kalifornien kamen, sprach Englisch. Nur wenige hatten dort Familie. Die Mehrheit landete in Pico-Union, einem Stadtteil von Los Angeles, wo es billige Wohnungen gab. Bis zu vier Familien drängten sich in diesen Streichholzschachteln.

Viele der Migranten waren sehr junge Männer, die den Krieg bereits persönlich kennengelernt hatten. Damals erfolgten Rekrutierungen in El Salvador nicht, indem am Tag der Volljährigkeit ein Brief ins Haus flatterte, wie bei den nordamerikanischen Jungen während des Vietnamkriegs. Nein. In El Salvador wurden sie gejagt. Armeelastwagen fuhren in die Armenviertel, und ein ganzer Trupp Soldaten fing mit Stricken Kinder und Heranwachsende ein, die dann, kahl rasiert und kurz ausgebildet, zum Töten und Sterben in die Berge geschickt wurden.

In den Bergen lebte die Guerilla. Eine hervorragend trainierte Truppe, die ihrerseits Kinder und Heranwachsende rekrutierte. Viele der jungen Krieger flüchteten nach Kalifornien, nachdem sie den Tod aus der Nähe erlebt hatten. Dort entstand ein Netz von Neuankömmlingen, die einen zogen die anderen nach. Ihre schiere Masse machte Kalifornien zum Gelobten Land.

»Wir sind vor einem Krieg geflohen. Wir wollten keinen Krieg mehr. Aber dort sahen wir uns wieder einer Menge von Problemen gegenüber«, sagte ein Veteran des Barrio 18. Er war in den Achtzigerjahren nach Kalifornien gekommen, nachdem er mehr als ein Jahr in den salvadorianischen Bergen die Guerilla bekämpft hatte.

Los Angeles, die Stadt, in der die meisten Flüchtlinge landeten, war alles andere als ein friedlicher Ort, an dem man in Ruhe Wurzeln schlagen konnte. Dort wurde ein anderer Krieg ausgefochten, einer, in dem zufälligerweise auch die Jugendlichen kämpften.

Als die salvadorianischen Jungen dort in die Schule gingen, erlebten sie die Hölle. Sie sprachen kein Englisch und wurden in spezielle Klassen gesteckt, um sie an das allgemeine Niveau heranzuführen. Doch die Sprache war nicht das einzige Problem. Wahrscheinlich konnten diese Jungen mühelos mit einem M-16 umgehen oder das Geräusch eines Rettungshubschraubers von dem eines Kampfhubschraubers in der Ferne und seines Echos in den Bergen unterscheiden. Aber sie hatten weder eine Ahnung davon, wer Abraham Lincoln war, noch, was 1836 in Alamo geschehen war. Sie wussten, welche Wurzeln sie essen konnten, wenn sie ihre Essensration aufgegessen hatten, damit sie weiterkämpfen konnten. Aber von einer Quadratwurzel wussten sie nichts.

War schon der Unterricht für die verunsicherten Salvadorianer eine Tortur, so wurden die Pausen zu einem wahren Albtraum. Die Jungen spielten Baseball, American Football oder four corners, Spiele, die sie nicht verstanden. Andere – frühere Einwanderer wie die Mexikaner – bildeten Gruppen, prügelten sich und verständigten sich mittels einer komplizierten Zeichensprache. Sie waren Mitglieder von etwas, das den Salvadorianern bisher unbekannt war: Gangs. Es gab alle möglichen Gruppierungen. Die meisten bestanden aus Mexikanern oder den Nachkommen von Mexikanern, und dennoch attackierten sie sich ununterbrochen gegenseitig. Es war ein seltsames, aber ernstes Spiel, bei dem einige von ihnen am Ende tot waren. Die Toiletten und Korridore der Schulen waren von unverständlichen Symbolen übersät, die auf die Anwesenheit dieser oder jener Gang hinwiesen. Der Heimweg nach Schulschluss war der reinste Hindernislauf. Man musste wissen, welchen Weg man gehen durfte, sonst riskierte man, auf ein verbotenes Gebiet zu gelangen und Prügel zu beziehen. Die Bandenmitglieder sahen in den Neuankömmlingen die idealen Opfer. Sie waren nicht organisiert, sehr arm, und vor allem stellten sie eine lästige Konkurrenz dar. Man hatte schon mehr als genug damit zu tun, gegen die Schwarzen und ihre Gangs zu kämpfen, um sich jetzt auch noch um diese »Wilden« zu kümmern. Die Salvadorianer machten ihnen den Alleinanspruch auf den Begriff hispano streitig, und noch nie, absolut nie in der Geschichte der Menschheit ist das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen gut ausgegangen. Jedenfalls nicht für die Schwächsten.

»Die Mexikaner griffen uns auf dem Schulweg an, nahmen uns unsere Sachen ab. Sie ärgerten die Mädchen, betrachteten uns als minderwertig. Sie wollten uns mit Gewalt zwingen, ihren Gangs beizutreten«, sagte ein Veteran in einer Bar im Zentrum von San Salvador zu uns, fast zwanzig Jahre nachdem die USA ihn wie vergiftetes Essen ausgespien hatten. Er spricht nicht wie ein Opfer. Er weiß, dass ihm das inzwischen nicht mehr zusteht.

Zweifellos waren Zurückweisung und Gewalt der Grund dafür, dass sich die Neuen zusammenschlossen. Sie gingen gemeinsam zur Schule und nach Hause. Sie verstanden Los Angeles nicht, und Los Angeles verstand sie nicht. Und doch hielt die Stadt ein Geheimnis für sie bereit, das sie faszinieren sollte.

AC/DC, Slayer, Black Sabbath … Heavy Metal. Laute, harte Musik, ganz anders als die Rancheras und Balladen, die in den salvadorianischen Dörfern zu hören waren. Diese rebellischen Klänge dröhnten durch die Migrantenviertel, und auch wenn die jungen Leute die Texte nicht immer verstanden, teilte sich ihnen doch die Euphorie mit, die die starken Bässe verbreiteten. Endlich verstanden sie etwas in dem ganzen Chaos, das die Vereinigten Staaten für sie bedeuteten. Die frenetischen, dumpf dröhnenden Metal-Dezibel waren wie eine Art Ventil. Endlich verstanden sie eine der Sprachen dieser Stadt.

Alles ist super, wenn du dich vor einer Bühne oder vor einem alten Radio in einer Gasse von Pico-Union austoben und mit Fußtritten und Rempeleien abreagieren kannst. Die Gemeinde der jungen Salvadorianer wurde von der Heavy-Metal-Bewegung mit ihren düsteren Texten und satanischen Geschichten mitgerissen. Endlich konnten sie sich mit etwas identifizieren. Lange Haare, Ketten und schwarze Stiefel wurden zu Identifikationsmerkmalen. Was in der Geschichte des Rock nur ein kleines, fast bedeutungsloses Detail war, ermöglichte den rauen Flüchtlingen, sich um ein Symbol zu scharen, mit dem sie sich identifizieren konnten.

1969 probte eine englische Rockband namens Earth in einer Garage. Die Musiker sprachen über eine Namensänderung, da sie immer wieder mit einer gleichnamigen Band verwechselt wurden, die bereits erfolgreich war. Einer von ihnen bemerkte, dass sich auf dem Bürgersteig gegenüber eine lange Schlange von Menschen gebildet hatte, die den Horrorfilm I tre volti della paura (»Die drei Gesichter der Furcht«) sehen wollten. Die Musiker waren begeistert von dem Erfolg des Films und hielten das für einen Wink des Schicksals. Von da an nannte sich die Band nach dem englischen Titel des Films: Black Sabbath. Ihr Sänger, Ozzy Osbourne, wurde zur Ikone dieser neuen Bewegung, die mit allen bisherigen Musikgenres brach. Sein Handzeichen, ein Symbol der Hippie-Ära, war ein mit Zeige- und Mittelfinger gebildetes V, das Zeichen für Liebe und Frieden. Doch Osbourne nahm den Black Sabbath wörtlich. Alkohol und Drogen führten dazu, dass er die Band verlassen musste. Für ihn kam Ronnie James Dio, ein Musiker mit italienischen Wurzeln. Der neue Sänger veränderte viele Dinge in der Band, unter anderem ersetzte er das Zeichen für peace and love, das jahrelang für Osbourne gestanden hatte, durch ein altes Symbol seiner Großmutter. Nach seinen eigenen Worten war es eine Art Amulett, das diese verwendet hatte, um »den bösen Blick« zu bannen oder, ganz allgemein, Unglück fernzuhalten. La mano cornuta nannten sie es, die »gehörnte Hand«. Dazu werden Zeigefinger und kleiner Finger nach oben gestreckt, während die anderen Finger nach unten zeigen. Diese Geste wurde zum Symbol des Heavy Metal.

Bei den salvadorianischen Jungen von L. A. wurde es als die »Salvatrucha-Klaue« bekannt. Noch heute wird es von den Mitgliedern der Salvatrucha, den hommies, auf aller Welt voller Ehrfurcht verwendet.

Um 1979 hatten sich unter den Salvadorianern zahlreiche Gruppen gebildet, die sich in der Satanismus- und Heavy-Metal-Szene bewegten. Man kannte sie als stoners. Es war eine regelrechte Bewegung. Um sich ein für alle Mal von allen anderen Gruppierungen zu unterscheiden, gaben sich die Salvadorianer den Namen »La Mara Salvatrucha Stoner« oder einfach MSS.

Der Name führt uns wieder zurück zum großen Kino. In den Sechzigern kam ein Film mit dem Titel Wenn die Marabunta droht (mit Charlton Heston in der Hauptrolle) nach Zentralamerika. Der Film basiert auf der 1937 erschienenen Erzählung Leiningens Kampf mit den Ameisen des deutsch-österreichischen Schriftstellers Carl Stephenson. Sie handelt von einem Plantagenbesitzer am Amazonas, dessen Plantage von einem Millionenheer tödlicher Ameisen vernichtet zu werden droht. Der Film war ein riesiger Erfolg. Auch in der zutiefst provinziellen Gesellschaft von El Salvador erregte er großes Aufsehen und leitete eine neue Epoche ein, indem er ein kleines Fenster zur westlichen Welt aufstieß. Seine Wirkung war dort so gewaltig, dass neue Wörter entstanden. Der umgangssprachliche Begriff majada, mit dem eine Gruppe von Menschen bezeichnet wird, wurde durch marabunta oder einfach nur mara ersetzt. Zunächst hatte der Ausdruck keine kriminelle Konnotation. »Salvatrucha« war der Spitzname der Salvadorianer während des Kriegs der Zentralamerikaner gegen die Anhänger des US-Amerikaners William Walker im Jahre 1855.

Die Mara Salvatrucha Stoner war alles andere als eine organisierte Bande. Es handelte sich um kleine, autonome Zellen, die nur in lockerer Verbindung zueinander standen. Doch im Unterschied zu den anderen jugendlichen Stoner-Gruppen waren sie von Beginn an nicht harmlos. Sie waren von den satanistischen Texten des Heavy und Black Metal fasziniert und nahmen die Sache ernst. So war es Ende der Siebzigerjahre nichts Ungewöhnliches, Mara Stoner dabei zu beobachten, wie sie auf den Gräbern des städtischen Friedhofs von Pico-Union Katzen zerhackten, Blutsbrüderschaft schlossen und Satan anriefen.

In jenen Jahren wurde »Die Bestie« geboren. Heavy-Metal-Titel wie The Number of the Beast von Iron Maiden brachten die Mara Stoner auf die Idee, und es hatte zunächst lediglich etwas mit ihrer fanatischen Begeisterung für die Musik zu tun. Dann aber bekam das Wort einen anderen Sinn und bedeutete sehr viel mehr. Die Bestie wurde zum Synonym für die Bande selbst, zugleich bezeichnete sie den Ort, an dem die im Kampf gefallenen Bandenmitglieder und die, die von der Bande ermordet worden waren, wohnten. Wie das Walhalla der alten Wikinger. Die Bestie ist also eine Art Wohnstatt für die Seelen der Krieger. Und wie der Huitzilopochtli der Mexikaner ist sie ein Wesen, das nach Blut verlangt.

Aus der Bestie wurde Die Bestie.

Es ist schwierig, mit alten Bandenmitgliedern über jene ersten Jahre zu sprechen, Jahre des Übergangs, als sie von Opfern zu Tätern wurden. Sie haben nur verschwommene Erinnerungen daran. Es geschah, ohne dass dem irgendjemand besondere Aufmerksamkeit schenkte. Wie eine ganz natürliche Entwicklung. Wie das Erwachsenwerden.

Selbst Wissenschaftler, die sich jahrelang bemüht haben, die Bande zu verstehen, wie zum Beispiel Professor Tom Ward von der Universität von Kalifornien oder Professor Carlos García aus Mexiko, sehen sich außerstande, jenen kurzen Zeitraum zu begreifen. Wahrscheinlich waren die Mareros nie vollkommen passiv. Vielleicht brauchten sie nur ein paar Jahre, um sich bewusst zu werden, dass sie eine Gewalt kannten, die brutaler war als die ihrer Rivalen.

Eines jedoch ist ziemlich klar: Ende der Siebziger hörten die Mitglieder der Mara Salvatrucha Stoner auf, Opfer zu sein. Die Zeiten, in denen die salvadorianischen Flüchtlinge unter den Banden der Mexikaner oder der Nachkommen von Mexikanern, der chicanos, in den Schulen zu leiden hatten, waren vorbei. Die Mitglieder der MSS waren brutale Schläger geworden, die nur darauf lauerten, provoziert zu werden. Ihr Zusammenschluss machte sie stark.

Die Seele des ganzen Armenviertels war die Musik. Jugendliche, die sich leidenschaftlich für eine Musikrichtung begeisterten, schlossen sich zu bandenähnlichen Gruppen zusammen, und man nannte sie die party gangs. Eine davon waren die Drifters. Sie kleideten sich wie John Travolta in Grease und hörten Tag und Nacht Discofunk. Ansonsten suchten sie Streit mit anderen Partygangs. Es war eine Herausforderung. Die Mara Salvatrucha Stoner nahmen sie an.

»Die da oben in Kalifornien dachten, sie wüssten, was Gewalt ist. Fuck, no! Wir haben ihnen beigebracht, was Gewalt ist«, erinnert sich ein altes Mitglied der MSS in einem Café im Zentrum von San Salvador. Zwei Jahrzehnte nachdem er aus den Vereinigten Staaten ausgewiesen wurde, erinnert er sich noch lebhaft daran, wie die hommies wie Raubtiere in die Straßen von Los Angeles einfielen. Die jungen Salvadorianer kannten sich mit dem Krieg aus. Sie waren vor einem geflohen und hatten keinerlei Bedenken, sich in einen anderen zu stürzen.

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El Salvador war in den Siebzigerjahren ein Schnellkochtopf. Darin kochte ein Krieg auf großer Flamme.

Die klandestinen linken Gruppen waren herangereift und begannen sich ernsthaft zu organisieren. Es handelte sich nicht um eine einheitliche Bewegung, sondern um Gruppierungen unterschiedlicher politischer Richtungen. Die katholisch erzogenen Jugendlichen aus der Mittelschicht verfochten die Idee eines bewaffneten Volksaufstands nach dem kommunistischen Vorbild in Asien. Sie nannten sich Ejército Revolucionario del País (Revolutionäre Volksarmee), abgekürzt ERP. Andere, die sich von der Kommunistischen Partei El Salvadors abgespaltet hatten, führten zahlreiche Arbeiter und Bauern in einer der größten Guerillaorganisationen Lateinamerikas zusammen: Fuerzas Populares de Liberación (Volksbefreiungsarmee), abgekürzt FPL. Die Widerstandsgruppen griffen auf vielen Flanken an, und die Idee des bewaffneten Kampfes fand bei den Massen immer größeren Anklang.

Auf der anderen Seite verteidigte die Regierung, die sich aus Putschisten der extremen Rechten zusammensetzte, ihre Macht mit all dem Sadismus, dem die lateinamerikanischen Militärs ihren Ruf verdanken. Ihre wichtigste Waffe war die Nationalgarde, deren bloße Erwähnung die Salvadorianer noch heute frösteln lässt. Es war ein wenig technifiziertes Korps, das als brutale Schlägerbande des Staates und einer kleinen Elite von Kaffeeplantagenbesitzern fungierte. Ihre Methoden, um an Informationen zu gelangen, bestanden zum Beispiel darin, Wassereimer an die Geschlechtsteile der Verhörten zu hängen oder auf sie einzuprügeln, bis sie gestanden, wo sie die gestohlene Kuh oder Goldkette versteckt hatten. Diese Methoden waren sehr effektiv, um die Banditen und die entwaffneten Gewerkschafter zu terrorisieren, aber wenig nützlich, wenn es darum ging, die sich ungebremst entwickelnden Guerillagruppen abzuschrecken. Diese waren sehr viel flexibler im Kampf als der schwerfällige, veraltete Staatsapparat.

1975 pfiffen die Kugeln ununterbrochen und in beide Richtungen. Die Guerillagruppen versorgten sich mit Waffen, indem sie bedeutende Unternehmer entführten und Lösegeld für sie verlangten. Sie zogen sich in die abgelegensten Landgemeinden zurück, Orte, die von den marxistischen Lehrbüchern am wenigsten empfohlen wurden. Dort entstanden die ersten Feldlager, die immer größer wurden, als die Bauern, die die Repression des Militärs nicht länger ertragen wollten, zu ihnen stießen.

1979 änderte sich in Mittelamerika alles. In Nicaragua schlossen sich die Guerillagruppen zusammen und beseitigten das Regime von Anastasio Somoza Debayle, das dritte einer Dynastie, die vorhatte, sich auf ewig an der Macht zu halten. Dies war das leuchtende Vorbild, auf das die salvadorianischen Guerilleros gewartet hatten. Es war also möglich, mit Waffengewalt eine sozialistische Regierung zu installieren. Die Kämpfe wurden heftiger. Die Rückzugsorte auf dem Land rüsteten auf. Die US-amerikanische Regierung, die um einen ihrer Hinterhöfe fürchtete, intensivierte ihre Unterstützung der salvadorianischen Militärjunta durch Finanzhilfen und militärische Beratung. Ende ’79 wurde ein staatlicher Geheimdienst eingerichtet und eine Gruppe zur Infiltration der Guerillas gebildet, bekannt unter dem Namen ORDEN (Organización Democrática Nacionalista). Kuba und das neue, sozialistische Nicaragua wiederum begannen, die Aufständischen mit Geld und militärischer Ausbildung zu unterstützen.

Für all dies brauchte man Menschen und vor allem Menschenhände, die die Waffen bedienten. In einem Land, dessen Bevölkerung zu 60 Prozent aus Kindern bestand, war das Ergebnis vorhersehbar. Auf beiden Seiten wurden Tausende von Jungen unter fünfzehn Jahren rekrutiert. Der Krieg ist eine Bestie, die sich von jungem Fleisch ernährt.

Das kleine El Salvador, das zwanzig Mal in den Bundesstaat Kalifornien passt, stürzte sich mit seiner Kinderarmee in einen Abgrund, aus dem es erst 1992 mit mehr als 75.000 Toten und unzähligen Vertriebenen auf dem Konto wieder hervorkriechen sollte.

Mit den Jungen, die diesem Wahnsinn entronnen waren, wollten die Disco-Jungs der Partygangs von Los Angeles also ihren Puls messen. Sie glaubten, es könnte lustig werden.

Die Totenwache

Miguel Ángel Tobar liegt tot im Haus seiner Mutter. Draußen wird gefeiert.

In Las Pozas, einer Gemeinde im Westen El Salvadors, findet ein Fest statt. Es ist Samstag, der 22. November 2014. Gestern wurde Miguel Ángel Tobar ermordet. Die Menschen feiern den Jahrestag der Gründung der Gemeinde, und die Bezirksverwaltung von San Lorenzo hat eine Tanzveranstaltung organisiert. Eine Plastikplane trennt die, die 50 Centavos Eintritt bezahlt haben, von denen, die nicht gezahlt haben. Aus scheppernden Lautsprechern, die die Musik verzerren, dröhnt Reggaeton. Die Lichter und der Lärm der kleinen Gemeinde heben sich von der vollkommenen Dunkelheit ab, die über den umliegenden Viehweiden und Maisfeldern herrscht. Es weht ein starker Wind. Für salvadorianische Verhältnisse ist es ein kühler Abend.

Gestern wurde Miguel Ángel Tobar ermordet. Heute wird er zum Rhythmus der evangelikalen Kirchenlieder betrauert. Die Kirchenlieder gehen im Gedröhn des Reggaeton unter, und so wird er in Wahrheit zum Rhythmus des Reggaeton betrauert.

Es ist zehn Uhr abends, die Männer auf dem Tanzfest sind schon betrunken. Sie fixieren die Leute und lauern auf eine Gelegenheit, eine Schlägerei vom Zaun zu brechen. Sie taumeln über die Tanzfläche, eine Hand am Hut, in der anderen eine Viertelliterflasche Cuatro Ases. Ein dubioser Schnaps: Es ist weder Rum noch Wodka, sondern guaro, Zuckerrohrschnaps. Vier Soldaten halten sich im Dunkeln neben der Bühne auf. Sie werden sich nicht einmischen, es sei denn, irgendjemand zückt eine Machete oder holt eine Pistole oder ein Gewehr hervor. Wegen zwei Betrunkenen, die sich prügeln, werden sie nicht eingreifen.

Las Pozas besteht aus Erde. Die Straßen sind aus Erde, die Häuser sind aus Erde, und wenn die Erde austrocknet, verwandelt sich die Gemeinde in eine Staubwüste. Dann setzt sich der herumwirbelnde Staub in den Mundwinkeln und den Falten am Hals fest, in den Haaren, im Schweiß, irgendwo, um Halt zu finden. Doch an diesem angenehm kühlen Abend schwitzt niemand.

In einer der Seitengassen, fast direkt gegenüber der Gemeindeschule, liegt Miguel Ángel Tobar in seinem Geburtshaus in einem Teakholzsarg. Um ihn herum alte Frauen, die unwirsch etwas vor sich hin murmeln. Es sind die obligatorischen Totengebete. Vor dem Sarg sitzt, ganz allein, auf einem Plastikstuhl, seine Mutter und starrt auf den Boden. Sie ist eine kleine Frau, und der Kummer über den ermordeten Sohn scheint sie noch weiter reduziert zu haben. Wenige Monate später wird sie an Krebs sterben.

Sie weint nicht. Es ist bereits die zweite Totenwache, die sie für einen ihrer Söhne hält. Das zweite Mal, dass sie die Mutter eines Ermordeten ist.

Der Boden des Hauses ist ebenfalls aus Erde. Das Dach und die Tür sind aus Blech, die Mauern aus nackten Backsteinen. Das Haus besteht aus einem einzigen Raum, in dem drei Betten stehen. Die Betten sind durch aufgehängte Decken voneinander abgetrennt, die verhindern, dass man das andere Bett sehen, aber nicht, dass man hören kann, was dort gesprochen wird. Eines der Betten ist für die Mutter. Der Vater ist nicht mehr da. Er hat sich vor nicht einmal einem Jahr erhängt. Er konnte die Erinnerung an ein Massaker nicht ertragen, bei dem die MS-13 vier seiner Verwandten getötet hatte. Auch den älteren Sohn. Im zweiten Bett schlafen Miguel Ángel Tobars ältere Schwester und ihr Mann. Allerdings sitzt ihr Mann zurzeit wieder mal im Gefängnis, weil er Marihuana aus Guatemala über die Grenze geschmuggelt hat. Im dritten Bett schliefen bis gestern Miguel Ángel, seine junge Frau und seine kleinen Töchter, die eine drei Jahre, die andere drei Monate alt. Die Küche ist überall da, wo Zweige verbrannt werden können. Die Toilette ist ein mit Brettern und Blechplatten überdachtes Kabuff auf dem Hinterhof.

Auf dem Hinterhof stehen die Männer, etwa zehn, trinken Kaffee und essen süßes Brot, das ihnen von den Frauen gereicht wird. Das süße Brot kommt nicht aus der Bäckerei, ist nur mit Zucker bestreut und nicht mit Zucker gebacken. Die vierzehn Frauen singen und klatschen dazu in die Hände: Die Macht Gottes ist hier unter uns, die Macht Gottes ist hier unter uns. Es ist eine Totenwache auf dem Land: arme Frauen, die fromme Lieder singen, Kaffee im Überfluss, Brot, Zucker und ein Pastor, der gleich ein Gebet sprechen wird.

Eine ärmliche Totenwache. Es fehlt die gewöhnliche Dramatik der Totenwachen für Bandenmitglieder, bei denen Dutzende von jungen Männern den Angehörigen Spenden überreichen und sich in eine Schlange stellen, um sich nacheinander unter Tränen und Racheschwüren von ihrem homeboy zu verabschieden. Nichts davon heute. Die Totenwache für Miguel Ángel Tobar ist der Abschied von einem Aussätzigen. Keiner seiner ehemaligen Freunde von der Gang kann hier sein, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Die einen hat er umgebracht, die anderen sitzen wegen ihm im Gefängnis.

Ein Mann schaut durch die offene Tür und fragt etwas, das offensichtlich ist:

»Liegt hier der Verstorbene?«

Es handelt sich um den Pastor. Er ist dunkelhäutig und sehr korpulent. Seine Kleidung ist abgetragen, seine Schuhe sind staubbedeckt. Er war fast zwei Stunden unterwegs. Begleitet wird er von zwei Frauen, die Schleier tragen. Der Pastor spricht vom Jenseits. Er verrät keine Einzelheiten, er weiß nicht, wie es im Jenseits aussieht, sagt aber voller Überzeugung, dass es besser sei als dieses Leben. Er nimmt die Bibel in die Hand und spricht ein Gebet, während die Frauen mit geschlossenen Augen unverständliche Worte murmeln. Miguel Ángel Tobars junge Frau ist nervös, steht abseits von den anderen. Sie hat telefonische Morddrohungen erhalten. Sie hat Angst, dass die Kugeln, die ihrem Lebensgefährten gegolten haben, jetzt sie zum Ziel haben werden. Der Pastor beendet sein Gebet. Er sammelt ein paar Dollar von den Trauernden und Besuchern ein. Das ist übliche Praxis bei Priestern, die, anders als die von der Kirche bezahlten Priester, kein Gehalt beziehen. Dieser aber macht etwas Ungewöhnliches: Er geht zu Miguel Ángels Frau und überreicht ihr das eingesammelte Geld. »Das wird dir ein wenig helfen, Mamita«, sagt er zu ihr und verschwindet mit seinen beiden Begleiterinnen in der Dunkelheit der Viehweiden.

Draußen dröhnt der Reggaeton. In der Gemeinde wird gefeiert. Miguel Ángel Tobars Angehörige haben die Organisatoren gebeten, das Fest um einen Tag zu verschieben, weil das Haus weniger als 100 Meter entfernt ist von der Bühne, auf der Musik gespielt wird. Das war naiv. Niemand würde eine Tanzveranstaltung wegen Miguel Ángel Tobars Tod um vierundzwanzig Stunden verschieben.

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Miguel Ángel Tobar liegt halb nackt in einem weißen Plastiksack auf einem Zinktisch.

Aus dem Loch in der Mitte seines Halses sickert noch immer klebriges Blut. Die Leiche ist so frisch, dass es noch nicht ganz geronnen ist. Die Gerichtsmediziner von Santa Ana haben ihm nach der Autopsie alte Boxershorts übergezogen. Die Shorts sind blau, auf dem Bund steht elegant. Von den vier Tattoos ist nur das verzerrte Yin und Yang auf dem rechten Oberschenkel von Blutspritzern verschont geblieben. Die Buchstaben auf seiner Brust, zwischen den beiden Löchern im Hals und dem unter der rechten Brustwarze, sind unleserlich. Auf seinem linken Unterarm ist zwischen frischen Blutspritzern zu lesen: Mein wildes Leben.

Über die rechte Gesichtshälfte laufen vier Linien, Spuren geronnenen Blutes, von Stirn und Wange zum Haaransatz. Wenn man nicht wüsste, dass er erschossen wurde, könnte man meinen, eine Bestie hätte ihm das Gesicht zerkratzt.

Er starb mit offenen Augen und gleichgültigem Gesichtsausdruck.

In einem Anfall von Dummheit war Miguel Ángel Tobar fünf Monate zuvor wie jemand, der nicht sein ganzes Leben im Angesicht des Todes gelebt hat, in das Haus seiner Familie zurückgekehrt, hatte das Zuckerrohrfeld verlassen, in dem er sich monatelang versteckt gehalten hatte. Er war es leid gewesen, wie ein Vagabund zu leben. Er musste seine beiden Töchter ernähren. Er wusste, dass eine Horde Mörder nach ihm suchte, um seinen Verrat zu rächen. Er kannte sie sehr gut. Es waren seine hommies. Er wusste, dass hochrangige Führer der Mara Salvatrucha aus dem Gefängnis heraus seinen Kopf forderten. Einige von ihnen gehörten zu den Gründungsmitgliedern der Bande im kalifornischen Süden in den wilden Achtzigern. Sie wollten endlich hören, dass er tot war, dass er gelitten hatte. Sie hatten ihm gedroht, er werde nach Kiefer riechen, in Anspielung auf den Sarg, in den man ihn legen würde. Sie wussten nicht, dass Miguel Ángel Tobars Kiste aus dem noch billigeren Teakholz bestehen würde. Und dennoch war Miguel Ángel Tobar in die Gemeinde Las Pozas zurückgekehrt.

Die Gemeinde Las Pozas: Erde, eine Schule, ein riesiger Feigenbaum, eine Kneipe, ein staubiger Fußballplatz, Busch, Hitze. Das war sein Rückzugsplan.

Er hatte den problematischen Jugendlichen aus der Nachbarschaft nie erlaubt, in die MS-13 einzutreten. Auch nicht, als er selbst bereits ein Killer der Organisation war. Miguel Ángel Tobar nannte sie ganyeros, »meine Ganyeros«. Es waren acht Jungen, für die das Marihuana, das Miguel Ángel Tobar aus Guatemala mitbrachte, eine Neuheit und sein Verkauf in kleinen Mengen ein raffiniertes Verbrechen war.

Einmal im Monat überquerte Miguel Ángel Tobar die Grenze, die nur wenige Kilometer von seinem Haus entfernt verläuft. Er durchquerte den Busch, ging über Viehweiden, watete durch einen Fluss und kaufte zwei, drei oder fünf Unzen Marihuana. Er rauchte ein wenig mit seinen ganyeros und gab ihnen etwas, damit sie es verkauften und sich den kümmerlichen Gewinn teilten. Manchmal ging er nach Guatemala, um Marihuana für andere zu kaufen, in kleinen Dörfern, die nicht auf der Landkarte verzeichnet sind: El Escarbadero, El Regate. Als Lohn verlangte er von dem, der ihm das Geld gab, etwas Gras für den eigenen Konsum.

Auch als er bereits ein treuer Soldat der MS-13 war, wusste er, dass man den Ort, an dem man lebt, nicht zerstören darf. Die MS-13 aber zerstört.

Die ganyeros bewachten ihn. Sie standen nachts Wache an der Ecke der staubigen Gasse, die zum Haus seiner Familie führt. Sie informierten ihn telefonisch, wenn etwas Ungewöhnliches geschah. Mehrmals musste Miguel Ángel Tobar mit einem trabuco, einem selbst zusammengebauten Gewehr, nach draußen gehen, um Herumlungerer zu vertreiben.

Las Pozas ist das Ende. Das Ende einer Ortschaft, eines Departments, eines Landes. Und hinter Las Pozas liegt ein anderes Land. Guatemala.

Miguel Ángel Tobar wusste, dass seine Mörder die Gemeinde vor den Augen seiner treuen ganyeros durchqueren mussten, um zu ihm zu gelangen. Sie würden ihm entgegentreten müssen, ihm, der sich als Killer Respekt bei Killern verschafft hatte. Deswegen versuchte er, so selten wie möglich den Ort zu verlassen. Manchmal, um für fünf Dollar auf den Maisfeldern zu arbeiten, manchmal, um Marihuana zu besorgen, manchmal, um einen Lastwagen mit Süßigkeiten zu überfallen.

Doch am Freitag, dem 21. November 2014, beschloss Miguel Ángel Tobar aus einem ganz besonderen Grund, Las Pozas zu verlassen. Drei Monate zuvor war seine zweite Tochter geboren worden, und er fand, dass sie einen Vor- und einen Familiennamen brauchte. Bis zu jenem Tag hatte er sie »mein Eselchen« genannt.

Am frühen Morgen verließ Miguel Ángel Tobar den Ort auf einem geklauten Fahrrad, um auf Feldwegen nach San Lorenzo zu radeln, der Gemeinde, zu der Las Pozas gehört. Er näherte sich ihr vom Fluss her, über die Calle al Portillo, eine asphaltierte, zweispurige Straße, die am Fluss San Lorenzo endet.

El Salvador ist ein gewalttätiges Land. Seit Jahrzehnten. Für Miguel Ángel Tobars Generation ist El Salvador schon immer ein gewalttätiges Land gewesen, seit dem Tag, an dem sie ihren ersten Schrei auf Erden taten. San Lorenzo aber war damals ein weißer Fleck. 2013 gab es dort kein Tötungsdelikt. Kein einziges. Null. El Salvador ist in vielen Dingen gleich null – im Fußball, im Wirtschaftswachstum –, dafür aber liegt es bei Tötungsdelikten auf einem Spitzenplatz. Doch auch 2014 hatte es in San Lorenzo bis zum 21. November, dem Tag, als Miguel Ángel Tobar beschloss, sich aus Las Pozas fortzustehlen, um seine Tochter auf dem Standesamt eintragen zu lassen, keinen einzigen Mord gegeben. Zwei Jahre ohne einen gewaltsamen Tod.