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Die Autoren

 

Prof. em. Dr. med. Dieter Bürgin, emeritierter Chefarzt der kinder- und jugendpsychiatrischen Universitätsklinik und -poliklinik Basel sowie emeritierter ordentlicher Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Basel. Ausbildungsanalytiker der Schweiz. Ges. f. Psychoanalyse.

 

PD Dr. med. Barbara Steck, Priv.-Doz. für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Universität Basel. Psychoanalytische und familientherapeutische Ausbildung an den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Universitätskliniken von Basel und Lausanne.

Dieter Bürgin und Barbara Steck

Psychosomatik bei Kindern und Jugendlichen

Psychoanalytisch verstehen und behandeln

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032345-2

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-032346-9

epub:    ISBN 978-3-17-032347-6

mobi:    ISBN 978-3-17-032348-3

Inhaltsverzeichnis

 

 

  1. Vorwort
  2. Einleitung
  3. I Allgemeiner Teil
  4. 1 Entwicklung und deren Störungen bezüglich Alter und Beziehungspersonen
  5. 1.1 Entwicklungslinien des ersten Lebensjahres
  6. 1.1.1 Entwicklung der Körperdrehung und des Kriechens
  7. 1.1.2 Entwicklung des Sitzens
  8. 1.1.3 Entwicklung des Stehens und Gehens
  9. 1.1.4 Entwicklung des Greifens und der Handbeherrschung
  10. 1.1.5 Entwicklung der Sinnesorgane des Spielverhaltens
  11. 1.1.6 Entwicklung des Hörens
  12. 1.1.7 Entwicklung von Sprachäußerungen
  13. 1.1.8 Entwicklung des Sprachverständnisses
  14. 1.1.9 Sozialentwicklung
  15. 1.2 Psychophysisches Gleichgewicht
  16. 1.3 Säuglinge und primäre Beziehungspersonen
  17. 1.4 Frühe Entwicklungsstörungen und psychosomatische Auffälligkeiten
  18. 2 Gen-Umfeld-Interaktionen und Resilienz
  19. 2.1 Wechselwirkungen von Genen und Umwelt
  20. 2.2 Genetik und Resilienzentwicklung
  21. 2.3 Genetik – Epigenetik: Beispiel Kindsmisshandlung
  22. 2.4 Genetik und Identifizierungen
  23. 3 Stressvolle Belastungen und ihre Auswirkungen
  24. 3.1 Allgemeine Bemerkungen
  25. 3.2 Neurobiologische Reaktionen auf Stress
  26. 3.3 Psychobiologische Auswirkungen von Stresserfahrungen
  27. 3.4 Drei verschiedene Arten von Stressreaktionen bei Kleinkindern
  28. 3.5 Stress in verschiedenen Lebensaltern
  29. 3.5.1 Pränataler Stress
  30. 3.5.2 Stress im Säuglingsalter
  31. 3.6 Stress in Trennungssituationen
  32. 3.7 Posttraumatische Stressreaktion und -störung
  33. 3.8 Schmerz und Stress
  34. 4 Körper (Soma) – Psyche und Gehirn
  35. 5 Psychische Traumatisierung und ihre Folgen (unter dem Gesichtspunkt der »Subjektivierung und der Psychisierung«)
  36. 6 Der Wiederholungszwang
  37. 7 Körperliche Krankheiten und ihre psychischen Auswirkungen
  38. 8 Psychosomatische Störungen und Familiendynamik
  39. 8.1 Einführung
  40. 8.2 Elternschaft
  41. 8.3 Die Familie
  42. 8.4 Familienmodelle
  43. 8.5 Kommunikation
  44. 8.6 Entwicklungsprozesse und deren Störungen innerhalb der Familie
  45. 8.7 Charakteristika psychosomatischer Familien
  46. 8.8 Psychodynamische Familiendiagnostik
  47. 8.9 Familientherapeutische Prozesse
  48. 8.10 Therapeutische Haltung
  49. II Spezieller Teil
  50. 9 Psychsomatische Erscheinungen in den ersten Lebensjahren
  51. 9.1 Einleitung
  52. 9.2 Physiologische Umstellungen bei der Geburt
  53. 9.3 Kommunikations- und Beziehungsangebot der primären Betreuungspersonen
  54. 9.4 Repräsentanzen-Entwicklung
  55. 9.5 Kommunikationsformen zwischen Kindern/Jugendlichen und Erwachsenen
  56. 9.6 Psychosomatische Symptome der ersten beiden Lebensjahre
  57. 9.6.1 Die sog. »Koliken« der ersten drei Monate
  58. 9.6.2 Schlafstörungen des ersten Trimesters
  59. 9.6.3 Die Rumination
  60. 9.6.4 Die Anorexien der ersten sechs Monate und diese der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres bzw. des zweiten Lebensjahres
  61. 9.6.5 Adipositas
  62. 9.6.6 Erbrechen
  63. 9.6.7 Affekt- (Schluchz-)Krämpfe
  64. 9.6.8 Säuglings- und Kleinkind-Asthma
  65. 9.6.9 Funktionales, bzw. idiopathisches oder psychogenes Megakolon
  66. 9.7 Weitere Überlegungen zur Psychosomatik nach dem ersten Lebensjahr
  67. 10 Konversionsstörungen
  68. 10.1 Grundsätzliches zum Konversionsbegriff
  69. 10.2 Diagnostische Kriterien DSM-5: F44.4 (Störung mit funktionellen neurologischen Symptomen)
  70. 10.3 Grundsätzliches zur Einteilung
  71. 10.4 Funktionelle oder psychogene Bewegungsstörungen
  72. 10.5 Inzidenz und Prävalenz
  73. 10.6 Ätiologie
  74. 10.7 Typische Persönlichkeitszüge
  75. 10.8 Psychodynamik
  76. 10.9 Diagnose
  77. 10.10 Verlauf
  78. 10.11 Therapie
  79. 11 Essstörungen
  80. 11.1 Einführung (zu Pica, Rumination und ARFID=Avoidant-Restrictive Food Intake Disorder).
  81. 11.2 Essstörungen mit Vermeidung oder Einschränkung der Nahrungsaufnahme (Avoidant/Restrictive Food Intake Disorder = ARFID)
  82. 11.2.1 Einführung
  83. 11.2.2 Allgemeine Anmerkungen
  84. 11.2.3 Epidemiologische Untersuchungen
  85. 11.2.4 Diagnose
  86. 11.2.5 Differentialdiagnose
  87. 11.2.6 Behandlung
  88. 11.3 Pica
  89. 11.3.1 Historische Anmerkungen
  90. 11.3.2 Diagnostische Kriterien DSM 5: F 98.3
  91. 11.3.3 Definition
  92. 11.3.4 Ätiologie
  93. 11.3.5 Komplikationen
  94. 11.3.6 Differentialdiagnose:
  95. 11.3.7 Therapie und Prävention
  96. 11.4 Rumination
  97. 11.4.1 Einführung
  98. 11.4.2 Diagnostische Kriterien DSM-5: F 98.21
  99. 11.4.3 Definition und klinische Symptome
  100. 11.4.4 Epidemiologie und Prävalenz
  101. 11.4.5 Ätiologie
  102. 11.4.6 Pathophysiologie
  103. 11.4.7 Differentialdiagnose
  104. 11.4.8 Therapeutische Maßnahmen
  105. 12 Psychosoziale Gedeihstörung (GS) und Minderwuchs
  106. 12.1 Einführung und Definition
  107. 12.2 Prävalenz
  108. 12.3 Ätiologie
  109. 12.4 Differentialdiagnose
  110. 12.5 Auswirkungen und Prognose
  111. 13 Affektives Deprivationssyndrom (AD)
  112. 13.1 Therapeutische Maßnahmen
  113. 14 Adipositas
  114. 14.1 Prävalenz, Inzidenz, Alters- und Geschlechtsunterschiede
  115. 14.2 Ätiologie und Risikofaktoren
  116. 14.3 Interaktionen Säugling/Kleinkind – Betreuungspersonen
  117. 14.4 Medizinische und psychosoziale Folgen der Adipositas
  118. 14.5 Präventive und therapeutische Maßnahmen und Interventionen
  119. 15 Anorexia und Bulimia nervosa
  120. 15.1 Anorexia nervosa
  121. 15.1.1 Historische Anmerkungen
  122. 15.1.2 Diagnostische Kriterien DSM-5: F 50.01/50.02
  123. 15.1.3 Definition und Klassifikation
  124. 15.1.4 Epidemiologie
  125. 15.1.5 Symptomatik, Diagnose und Differentialdiagnose
  126. 15.1.6 Ätiologie und Pathogenese:
  127. 15.1.7 Therapie
  128. 15.1.8 Verlauf und Prognose
  129. 15.2 Bulimia nervosa
  130. 15.2.1 Diagnostische Kriterien DSM-5: F50
  131. 15.2.2 Epidemiologie
  132. 15.2.3 Symptomatik
  133. 15.3 Binge-Eating- und -Drinking-Störung
  134. 15.3.1 Diagnostische Kriterien DSM-5: F50.8
  135. 15.3.2 Binge Drinking
  136. 15.3.3 Therapie
  137. 15.4 Andere, näher bezeichnete Fütter- oder Essstörung: DSM-5: F50.8
  138. 15.5 Nicht näher bezeichnete Fütter- oder Essstörung: DSM-5: F50.9
  139. 16 Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen
  140. 16.1 Einführung
  141. 16.2 Symptomatik
  142. 16.3 Epidemiologie und Diagnose
  143. 16.4 Pathogenese
  144. 16.5 Psychosoziale Auswirkungen
  145. 16.6 Therapeutische Maßnahmen
  146. 16.6.1 Therapie mit Biologika
  147. 16.6.2 Medikamentöse Behandlung
  148. 16.6.3 Psychotherapeutische Behandlung
  149. 16.6.4 Andere Behandlungsarten
  150. 17 Asthma bronchiale
  151. 17.1 Allgemeine Anmerkungen
  152. 17.2 Definition, Häufigkeit und Symptomatik
  153. 17.3 Stressfaktoren
  154. 17.4 Komorbiditäten
  155. 17.5 Entwicklungspsychologische Aspekte
  156. 17.6 Psychodynamische Aspekte
  157. 17.7 Psychotherapeutische Aspekte
  158. 18 Hauterkrankungen
  159. 18.1 Psychodynamische Aspekte
  160. 18.2 Dermatitis artefacta
  161. 18.3 Trichotillomanie
  162. 18.4 Onychophagie
  163. 18.5 Die atopische Dermatitis (AD)
  164. 18.5.1 Klinik
  165. 18.5.2 Ätiologie und Pathogenese
  166. 18.5.3 Psychodynamik
  167. 18.5.4 Therapie
  168. 18.6 Akne vulgaris
  169. 18.7 Psoriasis
  170. 18.8 Allgemeine psychotherapeutische Anmerkungen
  171. 19 Migräne
  172. 19.1 Psychodynamik
  173. 20 Ausscheidungsstörungen
  174. 20.1 Enuresis
  175. 20.1.1 Historische Anmerkungen:
  176. 20.1.2 Definition und Einteilung
  177. 20.1.3 Diagnostische Kriterien DSM-5: F 98
  178. 20.1.4 Organische Ursachen
  179. 20.1.5 Prävalenz und Alters- und Geschlechtsverteilung
  180. 20.1.6 Pathophysiologische Anmerkungen
  181. 20.1.7 Komorbiditäten sowie assoziierte psychische und Verhaltensstörungen (Necknig, 2014).
  182. 20.1.8 Ätiologie
  183. 20.1.9 Psychodynamik
  184. 20.1.10 Zusammenfassung der Hypothesen bei der funktionellen Enuresis
  185. 20.1.11 Therapie
  186. 20.2 Enkopresis
  187. 20.2.1 Einführung
  188. 20.2.2 Definition und Diagnostische Kriterien DSM-5: F98
  189. 20.2.3 Klinik und Komorbiditäten
  190. 20.2.4 Organische Ursachen und Differentialdiagnose
  191. 20.2.5 Prävalenz und Alters- und Geschlechtsverteilung
  192. 20.2.6 Entwicklungsphysiologie und -pathologie:
  193. 20.2.7 Psychodynamik der Enkopresis:
  194. 20.2.8 Symptomatik und Begleiterscheinungen
  195. 20.2.9 Ätiologie und Diagnostik
  196. 20.2.10 Auslösende und aufrechterhaltende Bedingungen
  197. 20.2.11 Therapie
  198. 20.2.12 Prognose
  199. 21 Tic-Störungen und Tourette-Syndrom
  200. 21.1 Tic-Störungen
  201. 21.1.1 Einführung
  202. 21.1.2 Diagnostische Kriterien DSM-5: F95.1
  203. 21.1.3 Epidemiologie und Prävalenz
  204. 21.1.4 Pathophysiologische Aspekte
  205. 21.1.5 Komorbidität und psychopathologische Probleme
  206. 21.2 Tourette-Syndrom
  207. 21.2.1 Diagnostische Kriterien DSM-5: F95.2
  208. 21.3 Umweltfaktoren
  209. 21.4 Stress und Tic-Störungen
  210. 21.5 Psychodynamik
  211. 21.6 Therapeutische Möglichkeiten und Interventionen
  212. 21.7 Zusammenfassung
  213. 22 Psychosomatische Phänomene im Rahmen verschiedener Ursachen
  214. Literaturverzeichnis
  215. Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

Das Werk »Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter«, das im Jahre 1993 erschienen ist, war auf dem Hintergrund des Denkens und Konzeptualisierens im Rahmen der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Universitätsklinik und -poliklinik (KJUP) in Basel entstanden. Verschiedene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatten sich daran beteiligt.1 Die klinische Erfahrung, Produktivität und Kreativität all dieser im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychologie sehr erfahrenen Kolleginnen und Kollegen war in den Text eingeflossen und hatte ihn, gerade durch die manchmal leicht unterschiedlichen Optiken, bereichert und ergänzt.

Nachdem das Buch bald ausverkauft gewesen und über lange Zeit keine neue Auflage vorgesehen war, trat Herr Dr. Poensgen vom Kohlhammer-Verlag auf Anraten von Herrn Dr. Hans Hopf 2015 mit der Idee hervor, es zu überarbeiten und neu herauszugeben. Als Frau Privatdozentin Dr. med. Barbara Steck, ehemals auch eine langjährige, tragende Mitarbeiterin der KJUP, eine erfahrene Wissenschaftlerin und zudem gute Freundin, sich bereit erklärt hatte, bei dieser Aufgabe mitzumachen, stand dem Ansinnen nichts mehr im Wege.

So freuen wir beide uns über dieses neue, gemeinsam verfasste Werk, welches der Entwicklung heutiger psychosomatischen Sichtweisen Rechnung trägt und einerseits gegenwärtige somatische Erkenntnisse, andererseits aktuelle psychoanalytische und psychodynamische Konzeptualisierungen2 zu vereinen sucht. Psychoanalytisches Denken liegt allen Überlegungen zugrunde, wenngleich manchmal auch andere Therapieverfahren angeführt sind.

Jeder Mensch somatisiert zu gewissen Zeiten seines Lebens. Stress erhöht die psychosomatische Vulnerabilität. Der Körper übernimmt es, sich dem Patienten, dem Gegenüber und der gesamten Umgebung mitzuteilen. Psychosomatische Patienten sind es gewohnt, psychophysisch zu leiden. Es ist, als hätten sie aber nie gelernt, auf ihren Seelenschmerz wirklich zu hören. Unsere angeborene Kommunikationsbereitschaft umfasst nicht nur Emotionen und kognitive Inhalte, sondern auch physiologische, mittels des Körpers zum Ausdruck gebrachte Bedürfnisse und psychische Begehren. Wie vermag ein Individuum die Sprache seines Körpers zu hören? Wahrscheinlich vor allem durch nonverbale Informationen wie Gesten, Haltungen und Bewegungen, Gefühlsempfindungen und -ausdrucksformen (der eigenen Stimmfärbung und Tonalität, des eigenen Blickkontakts und Geruchs), durch vegetative (z. B. Schwitzen oder Erröten) und taktile (z. B. Wahrnehmen von Temperatur oder Spannungen/Druck) Symptome, sowie durch verbale Äußerungen. Da Affekte die Brücken zwischen Psyche und Soma darstellen, sind interaktive Botschaften der primären Betreuungspersonen für das Kind höchst bedeutungsvoll, vor allem in der Art und Weise der kommunikativen Übermittlung, damit sie vom Kind »gelesen«, »verstanden« und »interpretiert« werden können.

Die Wurzeln des psychosomatischen Geschehens liegen in der frühesten Kindheit, oft in Spannungszuständen zwischen Säugling und den primären Bezugspersonen. Die frühesten psychischen Strukturbildungen, zum Beispiel die Bildung des Kern-Selbst, sowie Introjektions -und Projektionsprozesse und nicht etwa die Verdrängung oder höher entwickelte komplexe Abwehrkonfigurationen spielen dabei eine besonders wichtige Rolle. Der menschliche Säugling ist im Verhalten biologisch zwar darauf ausgerichtet, sich an der Stimme, am Blick und dem Lächeln der Hauptbeziehungspersonen zu orientieren; psychologisch aber baut er eine sehr intime Beziehung zum Unbewussten der primären Betreuungsperson auf.

Alle Symptome stellen Selbstheilungsversuche dar, sind Konfliktlösungsversuche, um mit interpsychischen konfliktgeladenen Spannungsfeldern und Seelenschmerz umzugehen. Bei vielen Patienten mit ausgeprägten psychischen Schmerzen besteht das Gefühl, ein schweres Vergehen begangen, nämlich weiter gelebt zu haben, da sie sich unerwünscht und abgelehnt gefühlt haben. So kann sich zum Beispiel ein Kleinkind als absolut monströs und keinesfalls liebenswert empfinden. Dies geschieht besonders leicht, wenn der Projektionsdruck der hauptsächlichsten Beziehungspersonen keinen Raum dafür ließ, dass ein Kind seine eigenen Empfindungsweisen zu entwickeln imstande war. Botschaften wie: »Du hast so zu sein, wie ich mir dich erträume oder vorstelle«, oder: »Du sollst empfinden und denken, so wie ich es von dir erwarte und verlange«, und ebenso Botschaften, deren verbaler Inhalt nicht mit der nonverbalen Kommunikation übereinstimmt, wie z. B.: »…geh nur, …amüsiere dich mit deinen Freunden« (verbale Botschaft), während die Melodie/Tonalität der Stimme lautet: »…wie kannst du es nur wagen, mich allein zu lassen!«, hinterlassen vor allem im Kleinkindesalter, aber auch bei Latenzkindern, schwere Konfusionen und den Eindruck, eigenes Empfinden und Denken sei mit Gefahren verbunden und nicht erlaubt, wie auch mit der Gewissheit, bezüglich der Berechtigung, eigenständig zu funktionieren, grundsätzlich eingeschränkt zu sein.

Die psychosomatische Symptomwahl wird wahrscheinlich immer geheimnisvoll bleiben. Das Kind erfindet sich gleichsam selbst und zieht die äußere Realität nur noch ungenügend in Betracht. Es scheint aus unerträglichen Erfahrungen des Nicht-Seins oder der Bedeutungslosigkeit in ein sich selbst Haltendes und damit in etwas Fassbareres zu fliehen.

Früheste traumatische Erfahrungen entsprechen möglicherweise Traumszenarien, die nicht geträumt werden können (McDougall, 1992). Oft haben sie etwas mit Übererregung, Überstimulation oder übermäßigen Schmerzerfahrungen zu tun. Diese letzten bewirken gegebenenfalls, dass die Psyche nicht mehr mit den üblichen Formen symbolischer Wortbildungen zu denken vermag. Dies gilt besonders, wenn ein Säugling oder ein Kleinkind Zuviel an rätselhaften Botschaften der Hauptbetreuungspersonen (Laplanche, 2005, 2011) in sich aufgenommen hat. In diesen Fällen versucht die Psyche einerseits mittels eigenartigen, oft paradoxen Bildern oder Szenerien und andererseits auch der gesamte Körper angesichts des noch Undenkbaren und des damit Nicht-Aussprechbaren neue Lösungswege zu finden, um dem Seelenschmerz zum Ausdruck zu verhelfen. Das Abgespaltene bleibt dynamisch sehr aktiv. Der gesamte Körper versucht gleichsam, die undenkbaren, nicht verbalisierbaren Affekte, Empfindungen, Ideen, Bilder und Szenerien in das biologische Substrat einzuschreiben.

Frühkindliche Traumata stellen eine tödliche Bedrohung des gesamten Selbst dar, denn nicht-symbolisierte oder -symbolisierbare Erlebnisinhalte können nicht in der üblichen Art verdrängt werden. Sie lassen sich nur projektiv entfernen oder durch Verwerfung vom bewussten Erleben fernhalten. Für das, was durch Projektion aus der Psyche entfernt wird, existiert keine Kompensation. Es hinterlässt Leerstellen, existentielle »Lücken«, unaushaltbare Vernichtungsangst und sprachlose Verzweiflung. Höchstens in Form halluzinatorischer Verfolgungsängste, von Drogenabhängigkeit oder mittels Somatisierung vermag es wiederzukehren. Auch ein Festungswall ausgeprägtester Blockierungen kann zum Überleben beitragen.

Bei psychosomatischen Patienten ist es unabdingbar, auf früheste, präverbale Bedeutungsträger zu hören, die ersten Bilder eines Gegenübers entziffern zu können und zu verstehen, was für Annahmen der Säugling sich darüber gemacht hat, wer und wie das Gegenüber wohl sei. Dies ist besonders schwierig, da sich in ein und der gleichen Person oft verschiedene Organisationseinheiten finden, die auf sehr unterschiedlichem Entwicklungsniveau angesiedelt sein können, aber gleichzeitig am Werke sind.

Natürlich sind alle Störungen und/oder Erkrankungen im Bereich der Psyche-Soma-Existenz von Kindern und Jugendlichen nicht ohne einen intensiven Einbezug des Umfelds, z. B. die familialen Konstellationen, im Sinne eines übergeordneten Systems, zu betrachten. Das Buch ist bewusst nicht als klassisches Lehrbuch konzipiert, sondern als ein Text, der – gewachsen aus den Erfahrungen im klinischen und ambulanten Behandlungsbereich und den theoretischen Entwicklungen psychoanalytischen Denkens – gewisse Basisannahmen deutlich zu machen versucht und zu eigenem Weiterdenken anregen soll.

Die psychotherapeutische Arbeit an der Entwicklung interpersonaler Beziehungen bewirkt Veränderungen der Ich-Funktionen, der Selbst- und Objektrepräsentanzen, der Affektwahrnehmung und der Besetzung des eigenen Körpers. Sie steht im Zentrum aller Überlegungen.

Wer sich vertieft mit dem Gebiet der Psychosomatik, d. h. der engsten Verbindungen von Körper und Seele, auseinandersetzen möchte, tut gut daran, das Kapitel der frühesten Störungen ganz zu lesen. Wer sich vor allem rasch ein Bild über ein bestimmtes Symptombild machen möchte, kann sich auch nur gerade das entsprechende Kapitel vornehmen, da die verschiedenen Teilbereiche auch eine eigene Geschlossenheit aufweisen.

Dieter Bürgin und Barbara Steck

Frühjahr 2019

1     Frau Dorothee Biebricher (†), Dipl.Psychol., an den Kapiteln »Essstörungen«, »Adipositas« und »Asthma bronchiale«; Prof. Dr.med. Kai von Klitzing an den Kapiteln »Entzündliche Darmkrankheiten« und »Tic – Störungen«; Prof. Dr. med. Peter Riedesser (†) am Kapitel über »Konversion«; Frau Dr.med. Barbara Rost an den Abschnitten über »Essstörungen in der Adoleszenz« und »Hautkrankheiten« und an einem Fallbeispiel beim Kapitel »Konversion«; Herr Dr. phil. Joachim Schreiner, Dipl. Psychol., an den Kapiteln »Enuresis« und »Enkopresis«.

2     Ergänzende theoretische Teile sind – etwas breiter angelegt – in unserem letzten Buch dargestellt: Bürgin D. & Steck B. (2013). Indikation psychoanalytischer Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter. Klett-Cotta.

Einleitung

 

 

In den Praxen der Kinder- und Jugendmedizin, Psychiatrie, Psychologie, Psychotherapie und den entsprechenden Polikliniken und Kliniken sind Kinder und Jugendliche mit sog. psychosomatischen Krankheiten eine häufige Patientengruppe.

Alle, die psychosomatisch leidende Personen behandeln, stehen im Kontakt mit Menschen, welche zu einem Teil ihrer inneren Erfahrungen kaum mehr Zugang haben. Möglicherweise haben zu viele Affekte die Fähigkeit zu denken und zu empfinden eingeschränkt oder blockiert und damit die Körper-Psyche-Schnittstelle unterbrochen. Damit kann auch die eigene Körpersprache nicht mehr »gehört« und verstanden werden.

Zu einer ganzheitlichen Erfassung einer in der Sprechstunde präsentierten Problematik solcher Patientinnen und Patienten gehört nicht nur die sorgfältige somatische Abklärungsuntersuchung, sondern auch das Verstehen der jeweiligen sozialen Einflüsse, der innerseelischen und innerfamiliären psychischen Strukturen und Dynamiken sowie der Wechselwirkungen zwischen diesen Perspektiven und Zugängen.

Den Faktoren der Reifung und Entwicklung kommt in den Lebensabschnitten der Säuglings-, Kinder- und Jugendzeit viel größere Bedeutung zu als beim Erwachsenen, vor allem der Einschätzung, ob der junge Patient in einem Normbereich situiert werden kann, in welchem die vorhandenen biologischen, intrapsychischen und interpersonalen Ressourcen ausreichen, um seine körperliche, seelische und soziale Entwicklung im gegebenen Umfeld zu ermöglichen. Oder aber, ob das Störungsgeschehen die Selbstregulationsfähigkeit überschreitet und äußere Hilfe unverzichtbar wird. Im vorliegenden Buch wird deshalb versucht, die genannten Krankheitsphänomene einerseits aus entwicklungsbiologischer und -psychologischer Sicht sowie andererseits vor dem Hintergrund entwicklungspsychopathologischer Kenntnisse und Erfahrungen darzustellen. Ziel des Buches ist es, die in den psychosomatischen Krankheiten oft enthaltenen – körperliche und interaktionelle Aspekte übergreifenden – verkörperten Botschaften der Patienten und ihrer Umgebung in ihrer Komplexität vertiefend darzustellen und eben jenen Patienten sowie deren Umfeld mit Hilfe der daraus hervorgegangenen, integrativen Sicht, die den gegebenen Umständen angemessenste Behandlung angedeihen zu lassen.

Wir versuchen in diesem Buch von den frühesten körperlichen und psychischen Entwicklungsschritten auszugehen und zu betrachten, wie sich diese beiden Aspekte, als Teil eines Ganzen, eigenständig und doch in steter Wechselwirkung zueinander entwickeln. Es zeigen sich bereits sehr früh Phänomene, die weder als rein psychisch noch als eindeutig somatisch bezeichnet werden können, sondern eine gegenseitige Verflochtenheit zum Ausdruck bringen, die sich in Reifungs- oder Entwicklungsstörungen und damit schließlich in auffälligem Verhalten manifestieren können. Wir benutzen den Begriff Reifung (im Sinne von Spitz, 1969) zur Bezeichnung einer nach genetischen Plänen erfolgenden Entfaltung und den Begriff der Entwicklung für die in der Interaktion mit der jeweils spezifischen Umgebung erfolgenden Ausgestaltungen.

 

 

 

I           Allgemeiner Teil

1          Entwicklung und deren Störungen bezüglich Alter und Beziehungspersonen

 

1.1       Entwicklungslinien des ersten Lebensjahres

In einer kurzen schematischen Übersicht werden einige Entwicklungslinien des ersten Lebensjahres dargestellt, welche leicht überprüfbar sind. Natürlich besteht bezüglich der Zeitangaben eine sehr große Variabilität. Die Sequenz der entsprechenden Entwicklungsschritte aber wird auch bei großer zeitlicher Unterschiedlichkeit einzelner Schritte eingehalten. Wir folgen hier den von Hellbrügge, Lajosi, Menara, Schamberger, Rautenstrauch (1978) beschriebenen Abläufen.

1.1.1     Entwicklung der Körperdrehung und des Kriechens

Im ersten Monat kann der Kopf für einen Augenblick angehoben werden. Mit drei Monaten geht das schon für eine Minute. Im fünften Monat gelingt es, dass der Säugling sich aktiv von Seite zu Seite sowie aus der Bauch- in die Rückenlage zu drehen vermag. Im sechsten Monat braucht er zum Abstützen in Bauchlage nur noch eine Hand. Mit acht Monaten vermag er auf dem Bauch rückwärts zu kriechen und sich aus Bauchlage zum Sitzen zu bringen. Mit zehn Monaten beginnt er auf allen vieren zu kriechen, im elften Monat kriecht er bereits viel auf Händen und Knien. Die Beherrschung der Motorik erweitert das Blick- und Explorationsfeld massiv, auch durch die Lokomotion.

1.1.2     Entwicklung des Sitzens

Während bei Neugeborenen der Kopf bei einem gehaltenen Sitzen schlaff vorwärts fällt, kann er mit zwei Monaten bereits aufrecht gehalten werden. Mit sechs Monaten spielt das Kind in Rückenlage, mit angehobenem Kopf mit seinen Füßen. Es sitzt mit wenig Hilfe. Mit acht Monaten zieht es sich selbst auf und sitzt kurze Zeit frei ohne Halt. Ende des zehnten Monats sitzt der Säugling auf der Unterlage mit geradem Rücken und gestreckten Beinen, was sich in den Folgemonaten noch stabilisiert. (Der Weg geht vom Liegen zum Sitzen und Stehen. Die Hilflosigkeit verringert sich zusehends).

1.1.3     Entwicklung des Stehens und Gehens

Das Neugeborene vermag, angemessen gehalten, automatische Schreitbewegungen durchzuführen. Bereits mit fünf Monaten übernimmt es mit den Füßen für kurze Zeit fast sein ganzes Gewicht. Im sechsten Monat streckt es die Beine in Hüften und Knien und »tanzt« auf den Zehenspitzen. Bereits im siebten Monat vermag das Kind für einen Augenblick, zum Stehen heraufgezogen, zu stehen. Im neunten Monate stellt sich das Kleinkind selbst auf, wenn es an den Händen gehalten wird. Im zehnten Monat zieht es sich an Möbeln oder anderen Dingen zum Stehen hoch. Am Ende des elften Monats geht das Kleinkind seitwärts am Gitter des Laufstalls oder an Möbeln herum, schreitet auch vorwärts, wenn ihm beide Hände gereicht werden. Am Ende des ersten Lebensjahres vollzieht ein Kind, zum Stehen heraufgezogen, seine ersten selbstständigen Schritte. Das Vorhandene (das Schreitvermögen) wird zuerst blockiert und dann wieder gelernt.

1.1.4     Entwicklung des Greifens und der Handbeherrschung

Der Greifreflex ist bereits bei der Geburt vorhanden. Am Ende des ersten Monats führt der Säugling die Hand unwillkürlich zum Mund. Einen Monat später bildet sich der Hand-Greif-Reflex zurück, die Hände können häufiger offengehalten werden. Am Ende des dritten Monats werden die Hände sehr genau betrachtet und es ist ein Übergang zu aktivem Greifen zu beobachten. Am Ende des sechsten Monats werden Oberflächen mit den Handflächen betastet, einen Monat später wechselt ein Kind einen Würfel oder anderen Gegenstand zwischen den beiden Händen aus. Mit acht Monaten kann zwischen Daumen und Zeigefinger ein Gegenstand erfasst werden. Das Berühren mit dem Zeigefinger ist meist am Ende des neunten Monats festzustellen. Ein Gegenstand, der dem Kind auf den Kopf gelegt wird, wird von ihm selbst entfernt. Am Ende des zehnten Monats reicht der Säugling auf Anfrage dem Erwachsenen ein Spielzeug, kann es aber noch nicht loslassen. Dies gelingt erst zwei Monate später.

Damit man »begreifen« kann, muss der Greifreflex erst blockiert werden, so dass sich die Hand öffnen lässt. Erst danach kann man etwas willentlich »erfassen«. Der Wechsel von einer Hand zur anderen und die Kombination mit dem Sehen und In-Den-Mund-Nehmen ermöglicht eine komplexe, dreidimensionale Wahrnehmung. Das Sprachverständnis ist in einfacher Form bereits ab dem zehnten Monat vorhanden.

1.1.5     Entwicklung der Sinnesorgane des Spielverhaltens

Das Neugeborene reagiert unwillig auf extreme sensorische Einwirkungen, insbesondere auf Licht und Geräusche, nämlich mit Stirnerunzeln, Schreien oder Zappeln. Am Ende des dritten Monats sucht es mit den Augen nach dem Ort der Entstehung eines Tones. Spielzeuge in der Hand werden am Ende des vierten Monats genau angeschaut, am Ende des fünften Monats auch in den Mund gesteckt und von einer Hand in die andere gegeben (Hand-Mund-Augen-Koordination). Am Ende des achten Monats lauscht das Kleinkind bereits einer Unterhaltung, lässt Dinge fallen, nimmt sie wieder hoch und erprobt, insbesondere am Ende des zehnten Lebensmonats, das Hinunterwerfen von Gegenständen. Am Ende des elften Monats findet es ein Spielzeug unter einer Tasse oder in einem zugedeckten Plastikkubus und zieht Gegenstände an einer Schnur zu sich heran. Eine Reizüberflutung kann nun durch Verhaltenssignale mitgeteilt werden. Räumlichkeit und Zeitlichkeit werden experimentell ausgebaut (Wegstoßen und Herholen; Aktivität und Passivität).

1.1.6     Entwicklung des Hörens

Was ein Kind in jungen Jahren hört, scheint für den Rest seines Lebens in seiner Psyche eingeschrieben zu sein (Sacks, 2007). Musik ist mit den frühesten Erlebnissen verbunden; Erinnerungsspuren werden bereits vor der Geburt gebildet und musikalische Erinnerungen sind besonders langandauernd. Das Hörorgan und das Trommelfell entwickeln sich in der achten Schwangerschaftswoche. Ab der 20. Schwangerschaftswoche kann das Ungeborene akustische Signale wahrnehmen. Taktile und auditive Wahrnehmungen sind die wichtigsten sensorischen Modi des Fötus in der Interaktion mit seiner Mutter. Der Fötus hat keine Möglichkeit, die Stimme seiner Mutter zu beeinflussen, aber er kann anhand ihrer Stimme wahrscheinlich emotionale Unterschiede im mütterlichen Gefühlszustand erkennen. Erst nach der Geburt ist das Kleinkind in der Lage, zu schreien und zu weinen, d. h. Laute zu evozieren und mit diesen seine Gefühle kundzutun (Maiello, 2001). Der hörende Fötus ist eingebettet in ein inneres Klangkontinuum, das durch die Herztöne und die Stimme der Mutter gekennzeichnet ist. Der stetige Rhythmus der Herztöne erhält einen existenziellen Charakter. Der Tonfall der mütterlichen Sprache prägt das fötale Ohr mit melodischem Dialekt. Im Moment der Geburt entdeckt das Kind, dass der vertraute Herzschlag und die »Melodie« der mütterlichen Stimme eine Veränderung erfährt.

Attraktiv für Kleinkinder sind nicht die Wortinhalte der Eltern, sondern ist die »Musikalität« der elterlichen Sprache. Diese wird in fast allen Kulturen im Dialog mit dem Säugling »überhöht«. Vor dem Erwerb sprachlicher Kompetenz ist das frühe Kommunikationssystem vor allem eines das sich der Affekte als »Boten« bedient (Rose, 2004; Rose zit. in Sabbadini, 2002). Die Stimme der Mutter, die den affektiven Zustand des Säuglings widerspiegelt, ist ebenso wichtig wie die »Spiegelung« im Gesicht (Klanghülle des Selbst [Anzieu, 1976]).

1.1.7     Entwicklung von Sprachäußerungen

Das Neugeborene reagiert mit Schreien auf unangenehme Wahrnehmungen. Am Ende des zweiten Monats sind häufige Lautäußerungen zu beobachten, eine Art »plaudern«. Einen Monat später kann das Kleinkind bereits drei Laute von sich geben, die sich deutlich unterscheiden lassen. Auch das Schreien differenziert sich (zum Beispiel Hunger- und Schmerzschreien). Am Ende des vierten Monats ist Freude an spontaner Lautbildung mit Lautwiederholung vorhanden, »gurren«, »jauchzen« und »lallen« verstärken sich am Ende des sechsten Monats. Einen Monat später lallt ein Kind Silben, am Ende des achten Monats werden diese verdoppelt. Am Ende des zehnten Monats treten »Lall«-Monologe auf, das Kind sagt Mama und Papa, aber noch ohne sichere Differenzierung, und bemüht sich, Laute nachzuahmen. Am Ende des elften Monats kann es den Kopf schütteln, um nein zu sagen, und am Ende des ersten Lebensjahres ist es fähig, mindestens zwei sinnvolle Worte in Kindersprache zu sprechen.

(Lallmonologe mit Verdoppelungen entsprechen eigenem Experimentieren. Daneben besteht viel Imitation. Beides ermöglicht es, das kulturelle Sprachangebot anzunehmen und auszubauen. Knapp vor Ende des ersten Lebensjahres beginnt sich die Verneinung auszubilden).

1.1.8     Entwicklung des Sprachverständnisses

Das Sprachverständnis ist in den ersten sechs Monaten schwer zu prüfen. Am Ende des siebten Monats sucht ein Kind, von der primären Betreuungsperson gehalten, mit den Augen nach Gegenständen oder Personen, wenn diese mehrfach benannt worden sind. Einen Monat später geschieht dies bereits mit einer Kopfdrehung. Am Ende des neunten Monats macht ein Kleinkind »Patsch-Patsch-Bewegungen«, wenn es dazu aufgefordert worden ist. Einen Monat später reagiert es auf seinen Namen und auf die Aufforderung, etwas dem Gegenüber zu geben. Am Ende des elften Monats macht ein Kind spontan »winke-winke« und versteht Verbote wie »Nein«. Am Schluss des ersten Lebensjahres reagiert es auf die Bitte, einen Ball oder anderen bekannten Gegenstand zu suchen, zu finden und diesen zu holen. Suchbewegungen durchziehen alles, stets mit dem Ziel, sich eine Fertigkeit zu erwerben. Aufforderungen werden am Ende des ersten Lebensjahres, auch wenn meist nur zwei Worte gesprochen werden können, recht genau verstanden und folgsam ausgeführt.

1.1.9     Sozialentwicklung

Das Neugeborene lässt sich durch Hautkontakt, d. h. Streicheln, oder durch Stillen beruhigen. Am Ende des ersten Monats hat das Aufnehmen des Kindes auch eine beruhigende Wirkung, ebenso wie eine vertraute Stimme. Am Ende des dritten Lebensmonats finden wir das »blickerwidernde Lächeln«, d. h., auch ein fremdes, bewegtes Gesicht löst ein freudiges Lächeln aus. Einen Monat später verhält sich das Kind freundlich zu Fremden, leistet einen gewissen muskulären Widerstand im Spiel und freut sich, wenn man mit ihm spielt. Am Ende des fünften Monats ist es imstande, einen liebenswürdigen von einem strengen Sprachton zu differenzieren. Dasselbe gilt auch für die Mimik. Meistens hört es auf zu weinen, wenn man mit ihm spricht. Gegen Ende des sechsten Monats beginnt es, sich gegenüber Bekannten und Unbekannten unterschiedlich zu benehmen. Es streckt die Arme aus, um hochgenommen zu werden. Am Ende des siebten Monats zeigte es Genuß an zärtlichem sich Anschmiegen. Zum Ende des achten Monats taucht das »Fremdeln « unbekannten Erwachsenen gegenüber auf. Das Kleinkind beginnt, vertraute Erwachsene zu imitieren und beobachtet sehr genau. Einen Monat später versteht es das Versteckspiel und ärgert sich, wenn man ihm ein Spielzeug wegnimmt. Gegen Ende des zehnten Monats ist ein Verständnis für Lob zu beobachten. Am Ende des ersten Lebensjahres zeigt es sich fasziniert vom eigenen Spiegelbild, lächelt dieses an und spielt mit ihm. Es unternimmt erste Versuche, selbstständig mit einem Löffel zu essen.

Außenaktivitäten können also eine klare Beruhigungswirkung auf den Säugling ausüben (Wiegen, Streicheln). Der erste und der zweite »Organisator« (blickerwiderndes Lächeln, Achtmonatsangst/Fremdeln) (Spitz, 1969) manifestieren sich meist recht deutlich. Beide sagen etwas über die Beziehungsentwicklung aus (z. B. Entwicklung der Kontaktaufnahme zu einem besonderen Attraktor, dem menschlichen Gesicht; Bildung eines »ganzen« Objektes; Unterscheidung von fremd und vertraut). Im Versteckspiel zeigt sich der lustvolle Umgang mit der Trennungsangst. Das spiegelbildliche Konterfei eines Gegenübers evoziert Interesse.

1.2       Psychophysisches Gleichgewicht

Beim Säugling und Kleinkind können Reifung und Entwicklung verschiedenster Funktionen – in ihrer Wechselwirkung mit den Aktionen der zentralen Bezugspersonen – auch psychoanalytisch exploriert und verstanden werden. Dynamische Konflikte zwischen den beiden Protagonisten zeigen sich nicht nur in Funktionsstörungen physiologischer Abläufe sondern auch in psychischen Symptomen, die sich plötzlich manifestieren können. Beide Bereiche lassen sich – ganz anders als beim Jugendlichen und Erwachsenen – gut und zumeist direkt beobachten. Die Klinik ist oft bedeutend aussagekräftiger als eine nosographische Einteilung, die etwa bis zum dritten Lebensjahr außerordentlich schwierig vorzunehmen ist (DC: 0-3R, 2005). Denn die Ausdrucksformen sind höchst unterschiedlich und rasch wechselnd. Reifungsfaktoren, Entwicklungselemente, reaktive Erscheinungen, ungewöhnliche Verhaltensweisen, beginnende strukturelle Verzerrungen und komplexe Bedeutungen sind nur schwer auseinander zu halten. Zudem vermag jegliche, noch ungeordnete Funktionseinheit des Ich die Entwicklung gerade dieser Funktion zu beeinträchtigen. Die klinische Beobachtung hingegen zeigt uns die Entwicklung von funktionellen Störungen in Abhängigkeit von der Strukturierung des Ich, dem Zeitpunkt ihres Auftretens/Verschwindens und ob sich eine motorische Abfuhr oder eine eigentliche Transformation festhalten lässt.

Früh auftretende Probleme zeigen sich oft in einer Dysfunktion der Dyade »primäre Betreuungsperson« – Kind. Für jeden Menschen gibt es altersspezifische Schwellen, jenseits welcher die Integrationsfähigkeiten überschritten sind. Diese dyadischen Dysfunktionen transformieren sich – sofern die Schwellenwerte des Primärprozesses in traumatisierender Form überschritten worden sind und damit stressauslösende Belastungssituationen auftauchen – nicht selten in physiologische Funktionsstörungen des Kindes. Diese weisen auf einen damit verknüpften Besetzungsabzug des Säuglings von der äußeren Welt hin.

Meist lassen sich Funktionsstörungen als Vorformen eigentlicher psychophysischer Probleme beschreiben, die ein gestörtes psychophysisches Gleichgewicht zum Ausdruck bringen. Die Gleichgewichtsstörung baut sich auf einer Dysbalance der narzisstischen Ökonomie des Säuglings auf, d. h. der Säugling ist wegen der ungenügenden Art der Zuwendung, die er von den primären Betreuungspersonen erfahren hat, nicht mehr im Stande, das Andauern von massiven Unlustzuständen in seiner Innenwelt zu verhindern. Er versucht sie deshalb durch Externalisation loszuwerden oder durch autoerotische Aktivitäten ein Gegengewicht zu setzen.

Existieren Probleme bei der libidinösen Besetzung einer physiologischen Funktion, so besetzen der Säugling oder das Kleinkind automatisch die Motorik, als ob motorische Aktivitäten im Sinne einer Flucht bei diesem Entwicklungsstand bereits behilflich sein könnten. Bei der halluzinatorischen Wunscherfüllung werden die muskulären Innervationen in gleicher Art aktiviert wie beim Handeln, aber sie werden gleichzeitig auch blockiert, so dass keine Handlung entsteht.

Gewisse libidinöse oder aggressive Besetzungen werden unter bestimmten Bedingungen für Mechanismen aufgewendet, die den lebenserhaltenden geradezu zuwiderlaufen. Sie überschreiten physiologische Gesetzlichkeiten und können – lässt man sie anstehen – einen Säugling oder ein Kleinkind in Todesgefahr bringen (z. B. Dehydrierung bei Erbrechen). Man könnte diese Besetzungsform als eine pervertierende beschreiben, da ein primär angestrebtes Ziel um 180 Grad verschoben, d. h. ins Gegenteil verkehrt worden ist.

Intrapsychische, interpersonale und soziokulturelle Gleichgewichte, die auf Grund der Reifung und der Entwicklung stets von neuem abgeglichen werden müssen, scheinen somit untrennbar miteinander verknüpft zu sein. Die Störung von einem Balancesystem bewirkt mehr oder weniger massive und unterschiedlich lange anhaltende Störungen der anderen, auch ganz besonders deshalb, weil die Funktion der primären Symbolisierung sich in einem Zustand des »status nascendi« befindet und nur in geringem Ausmaß eingesetzt werden kann.

1.3       Säuglinge und primäre Beziehungspersonen

Wenn man vom »Säugling« spricht, so entspricht dies einer unstatthaften Gleichsetzung von verschiedensten Personen, nicht nur, was ihre ganze Körperlichkeit, sondern auch, was die Art ihrer Innenwelt angeht. Denn Säuglinge sind bereits bei der Geburt sehr unterschiedliche Wesen, einerseits wegen ihrer genetischen Ausstattung (z. B. bezüglich des »Temperaments«), dann wegen der intrauterinen Erfahrungen während der Schwangerschaft und schließlich dadurch, wie sich der »Fit« zwischen ihnen und den primären Betreuungspersonen auf ihre psychischen Reifungs- und Entwicklungsvorgänge auswirkt. Sie unterscheiden sich in ihrer Aktivität/Passivität (z. B. was den Gebrauch der Motorik angeht), ihrem nach-außen oder nach-innen Gewendetsein, ihrer Empfindsamkeit und Reagibilität (Schwellenhöhe für Außen- oder Innenreize), ihrer Art, mit Unlust umzugehen (z. B. Erregung oder Hemmung oder zyklischer Wechsel von beidem), ihrer Fähigkeit, Erlebnisse sich anzueignen (Mentalisierung im Sinne der französischen Schule), ihrer Neigung, sich für eine kürzere Entbehrungszeit autoerotisch zu beruhigen, ihrem Hunger nach Zuwendung (d. h. der narzisstischen Besetzung durch das Gegenüber) und ihrer Neigung, eine sich entwickelnde Rage gegen sich selbst oder nach außen zu wenden.

Die vom Körper und der Psyche des Säuglings wie auch der primären Betreuungspersonen und dem dyadischen Paar als solchem generierten und wechselseitig einwirkenden Variablen sind so unüberschaubar zahlreich, dass nur gröbere Störfaktoren (z. B. längere Dyskontinuitäten in der Betreuung, Unvermögen, die vom Säugling oder von den primären Betreuungspersonen ausgehenden Signale wahrzunehmen) eindeutige Voraussagen erlauben.

Säuglinge lassen bereits bei der Geburt enorme Unterschiede erkennen, zum Beispiel was Aktivität/Passivität, Empfindsamkeit, Bedürfnisintensität, Integrationsfähigkeit und zeitliche Regulierungskapazität angeht. All diese Faktoren dürften sich im Verlaufe der Schwangerschaft, d. h. der intrauterinen Entwicklung, bereits ausgebildet haben. Aber sie wurden für die Betreuenden noch nicht manifest erfahrbar.

Gelingt es den »primären Beziehungspersonen« (in der Mehrzahl sind dies die Eltern) den Körper ihres Säuglings bzw. Kleinkindes libidinös intensiv zu besetzen, so umfasst dies nicht nur die erogenen Zonen, sondern auch diverse Funktions- und Regulationsmechanismen. Diese Besetzungen geben den libidinösen Besetzungen der kleinen Kinder ein entsprechendes »Gerüst« für Entwicklungsabläufe. Identifizieren sich die Säuglinge mit den primären Betreuungspersonen, so übernehmen sie diese Gerüstanteile, die für ihre eigenen Regulationsfunktionen wie eine Aufbauhilfe wirken. Denn diese liefern so etwas wie ein Gegengewicht zu eventuell verkehrt laufenden Besetzungen.

Stehen aber heftige projektiv-aggressive Aktivitäten, widersprüchliche Signale oder ein Besetzungsabzug der primären Beziehungspersonen im Vordergrund, so sind die Kräfte des Todestriebes, bzw. der Destruktion, oft so stark, dass diese Kinder sich in Richtung Selbstvernichtung bewegen; denn ein Säugling stirbt, wenn sich nicht eine erwachsene Person um ihn kümmert.

Alle ungenügenden oder unausgeglichenen Triebbesetzungen, alle größeren oder häufigeren Kontinuitätsunterbrechungen und zu massive Unterschiede zwischen der Ausstattung des realen und der des phantasmatischen Kindes in den Vorstellungen der Eltern stellen oft so massive Entwicklungsbeeinträchtigungen dar, dass aus diesen Gründen ein Übermaß an narzisstischer Rage freigesetzt wird. Dieses überfordert meistens das Kind und vielfach auch die Eltern, hat somit einen traumatisierenden Charakter, wirkt als Disstress auf den kindlichen Organismus ein und übersteigt die Integrationsfähigkeit des jeweiligen Ichs. Die Symptombildung bzw. Ausbildung einer psychophysischen Funktionsstörung oder der im Verhältnis zum Auslöser zu heftige Einsatz motorischer Aktivitäten zur Spannungsabfuhr oder der Versuch einer autoerotischen Beruhigung werden somit leicht ausgelöst.

Den Zeitpunkt, wann aus einer funktionalen Störung eine eigentliche somatische Läsion wird, kann höchstens im Einzelfall und unter Einbezug vieler Variablen zu erfassen versucht werden.

Geht man von einem Differenzierungsmodell der Psyche aus, so heißt das, dass sich intrapsychische Strukturen im Ich (und später im Über-Ich) in ungefähr normierten Zeitbereichen ausbilden. Es lässt sich dann von zeitgerechten, vorzeitigen oder verspäteten Entwicklungen sprechen. Damit sich diese Strukturen ausbilden können, sind der Säugling und das Kleinkind auf (Kontinuität vermittelnde) spezifische Betreuungspersonen und deren dazugehöriges, persönlich-emotionales wie auch deren sozio-kulturelles Milieu angewiesen.

Die Aufgabe der zentralen Betreuungspersonen besteht einerseits im Reizschutz, andererseits aber auch in der – dem jeweiligen Säugling und seiner Entwicklung angemessenen – variationsreichen Stimulation. Mütter oder andere signifikante Personen werden fortlaufend aufgefordert, sich gegenüber dem sich entwickelnden Säugling anzupassen und gleichzeitig behilflich zu sein, dessen Impulse zu regulieren und zu steuern. Beim Versuch, immer wieder neue Gleichgewichte zwischen polaren Positionen, bzw. Einstellungen zu finden, sind sie dauernd mit der Wahrnehmung ihrer ambivalenten, d. h. den liebenden und den ablehnenden Gefühlen, die sie gegenüber dem Säugling oder Kleinkind empfinden, konfrontiert. Dies ist besonders schwierig, wenn es bei der primären Betreuungsperson um unbewusste Aspekte wie die Nötigung zu projektiven Identifizierungen oder um die Auswirkungen widersprüchlicher oder paradoxer Signale geht, die – im Hinblick auf den Säugling mit einer hohen Desorganisationspotenz verbunden sind. Die überfürsorgliche Liebe lässt dem Kind keinen Raum für Eigenexploration, die zu stark phobisch-fernhaltende Haltung gibt ihm keine Möglichkeit, im Kontakt mit einem wirklichen Gegenüber sich selbst zu finden. Beide polaren Positionen hinterlassen einen Säugling oder ein Kleinkind in einer unerträglichen Deprivationsposition (welche die »psychische Aneignung« der gemachten Erfahrungen in hohem Maße erschwert und höchstens einen Ausweg über eine Verhaltens- oder Somatisierungsstörung möglich macht).

Befindet sich die Mutter in einem postpartal-psychotischen oder schwer depressiven Zustand, so kann sie nicht mehr zwischen sich und dem Säugling unterscheiden. Dieser wird zu einem Teil ihrer Innenwelt, sie spricht ihm alle ihre Gefühle und halluzinatorischen Wunscherfüllungen zu und kann seine Bedürfnisse und sein Begehren nicht mehr wahrnehmen.

Leidet eine Mutter unter starken neurotischen Ängsten, so wird der Säugling davon richtig eingehüllt, kann kaum mehr Eigenerfahrungen machen und vermag seine eigene Affektivität nicht im freien Kontakt mit dem Gegenüber zu explorieren und zu entwickeln.

Je älter ein Kind wird, desto differenzierter hat sich sowohl der somatische als auch der psychische Teil seiner Persönlichkeit entwickelt. Je homogener und altersentsprechender sich das Niveau der Funktionen ausgeformt hat, desto komplexer sind nicht nur die Aufgaben, die das Kind meistern muss, sondern auch die Möglichkeiten, mit denen es den auftretenden Schwierigkeiten zu begegnen vermag. Je unausgeglichener, retardierter oder regressiver sich die psychophysischen Funktionen erweisen, desto leichter werden sich dysfunktionale Problemlösungen einstellen, die dann als sog. »Symptome« oder Auffälligkeiten in Erscheinung treten und im günstigen Fall bewirken, dass von den betroffenen Eltern Hilfe gesucht und in Anspruch genommen wird.

1.4       Frühe Entwicklungsstörungen und psychosomatische Auffälligkeiten

Die frühen psychosomatischen Auffälligkeiten können als störende Abweichungen basaler vitaler Funktionen (wie z. B. der Nahrungsaufnahme und dem Appetit, der Verdauung und der Evakuation des Unverdaulichen, der Einatmung von sauerstoffgesättigter Luft und dem Ausatmen von CO2-haltiger Abluft etc.) verstanden werden. Werden diese Funktionen durch kleinere affektive Konflikte beeinträchtigt, so zeigt sich dies in den entsprechenden Funktionsstörungen.