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eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2019

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Titel der englischen Originalausgabe

Conviction

2019 by Denise Mina

Das Motto am Anfang stammt aus: Steven Pinker: Gewalt.

Eine neue Geschichte der Menschheit. FISCHER E-Books,

Kindle-Positionen 2819–2821

Printausgabe: © Argument Verlag 2019

Übersetzerin: Zoë Beck

Lektorat: Else Laudan

Covergestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: August 2019

ISBN 978-3-95988-143-2

Über das Buch

Anna McDonald führt in Glasgow ein unauffälliges Leben. Ihre Leidenschaft sind True-Crime-Podcasts. Eintauchen in eine Parallelwelt voller Rätsel und ungelöster Verbrechen … Ihr neuer Podcast klingt besonders verheißungsvoll: ›Der Tod und die Dana‹. Ein versunkenes Schiff, ein uralter Fluch, Explosion und Mord. Was will man mehr? Aber auf Anna wartet eine böse Überraschung.

 

Über die Autorin

Denise Mina, Jahrgang 1966, brach nach einer rastlosen Kindheit in Glasgow, Paris, London, Invergordon, Bergen und Perth die Schule ab, jobbte halbherzig in einer Fleischfabrik, in Bars, als Köchin und als Krankenpflegehelferin, qualifizierte sich per Abendschule fürs Jurastudium an der Universität Glasgow. Statt danach wie geplant in Kriminologie und Strafrecht zu promovieren, begann sie Kriminalliteratur zu schreiben. 2014 aufgenommen in die Crime Writers’ Association Hall of Fame. Sie hat 13 Romane publiziert, außerdem verfasst sie Shortstorys, Bühnenstücke, Graphic Novels und macht TV- und Radiosendungen. Denise Mina lebt in Glasgow.

 

Denise Mina

 

Klare Sache

 

Kriminalroman

 

Deutsch von Zoë Beck

 

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

 

 

Prolog

Sagt einfach die Wahrheit. Das habe ich auch meinen Kindern eingetrichtert. Wie lächerlich, Kindern so etwas beizubringen. Niemand will sie hören. Es muss einen Grund dafür geben, die Wahrheit zu sagen. Ich habe vor einiger Zeit damit aufgehört, und ich muss sagen, es war großartig. Die beste Entscheidung meines Lebens. Immer wieder lügen, sich einen Namen ausdenken, eine Vorgeschichte, eigene Vorlieben und Abneigungen, einfach ein Lügenmärchen stricken. Das ist so viel vernünftiger. Aber ich verrate Ihnen die Wahrheit, hier in diesem Buch. Dafür gibt es einen sehr guten Grund.

Ich habe mein Leben ruiniert, indem ich die Wahrheit sagte. Ich war noch sehr jung. Meine Mutter war gerade gestorben. Abends versammelten sich Männer in meinem Garten und schleuderten wüste Beschimpfungen gegen mein Haus, weil ich nicht lügen wollte. Alle verbreiteten sich darüber, was mit mir nicht stimmte, was Leuten wie mir fehlte. Jemand nagelte eine Katze an meine Haustür. Ein Mann brach bei mir ein und versuchte mich zu töten, damit ich endlich den Mund hielt.

Also hielt ich den Mund und lief weg. Ich änderte meinen Namen. Ich wurde verschlossen und vorsichtig und schottete diesen Teil meines Lebens ab. Ich sprach nie wieder darüber. Wenn die Rede auf etwas kam, das diese Geschichte auch nur am Rande berührte – Hausbrände, Gretchen Teigler, Fußball –, ging ich aufs Klo oder wechselte das Thema. Ich hatte nicht das Gefühl zu lügen, ich war einfach nicht mehr Sophie Bukaran. Ich war Anna McDonald, und das alles hatte nichts mit mir zu tun. Ich fühlte mich sicher.

Wenn man müde ist und jung und verängstigt und einen die ganze Welt hasst, dann ist es ein Luxus, den Mund zu halten.

Aber jetzt erzähle ich diese Geschichte wieder. Warum schreibe ich ein ganzes Buch darüber, das Sie dann lesen können? Was hat sich geändert? Ich würde es nicht machen, wenn an jenem Morgen nicht mein Leben implodiert wäre. Ich bin keine Heldin. Ich bin keine vor Zivilcourage strotzende Whistle­blowerin, die sich lieber bis ins Grab verfolgen als mundtot machen lässt. Ich sage aus einem ganz anderen Grund die Wahrheit. Er ist weniger löblich, aber vielleicht ein bisschen nachvollziehbarer. Und: Es ist die Wahrheit.

Vorbemerkung von Else Laudan

Ein Krimi, ein Schauerroman, ein Roadmovie, ein Märchen, ein hochmoderner Überwachungsthriller. Die schottische Meistererzählerin Denise Mina greift tief in die Schatzkiste populärer Narrative, lässt es funkeln und blitzen. Aus traditionsreichen Zutaten, Fantasie und scharf geschliffenem Realismus kreiert sie einen wilden Ritt durch die historische und aktuelle Literaturküche, lässt Porzellan gegen Stahl scheppern, kombiniert Petits Fours mit dampfendem Haggis und Nouvelle Cuisine, tischt ein gewagt unterhaltsames Menu Surprise auf.

Typisch Mina, wie hinter dem Kleinen stets das Große durchscheint, hinter dem Privaten das Gesellschaftliche: Privilegien, Dünkel, Vorurteile, Imponiergehabe, alltägliche Gewalt, Siegerrecht. Die oft sarkastische, hyperpräzise Beobachterin erfasst ganz nebenbei mit knappen Chiffres, wie und wo wir alle wider besseres Wissen Spiele mitspielen, Kompromisse eingehen, den Blick abwenden auch von dem, was uns angeht. Aber Denise Mina belehrt uns niemals, sie erzählt »nur« eine Geschichte. Eine bei aller Rasanz escheresk angelegte Geschichte, die aus etlichen ineinandergreifenden Storys besteht, und jede davon ist so süffig wie subtil aufgeladen mit Wahrheiten über unsere Welt.

Für mich ist das Erzählen die wahre Heldin dieses Romans. Das Erzählen wird bedroht, entführt, missbraucht, verunglimpft, glorifiziert, vereinnahmt, totgesagt, neu erfunden, angeprangert, rehabilitiert. Das Erzählen wechselt die Gestalt, die Ebene, entzieht sich und taucht wieder auf. Das Erzählen überlebt – und triumphiert.

1

Der Tag, an dem mir mein Leben um die Ohren flog, fing gut an.

Es war früh an einem Novembermorgen, und ich wachte ohne Wecker auf. Das gefiel mir. Es war ein Zugeständnis an unsere Paartherapie: Ich störte Hamish nicht morgens um sechs mit meinem Wecker, und er spielte nicht den ganzen Abend auf seinem Handy Candy Crush und ignorierte die Kinder.

Ich freute mich auf meinen Tag. Auf meinem Handy erwartete mich ein neuer True-Crime-Podcast, über den ich schon viel Gutes gehört hatte. Ich wollte mir den ersten Teil anhören und in die Geschichte hineinschnuppern, bevor ich die Kinder für die Schule weckte, und mir dann später das Ganze gönnen, während ich mich durch die öden Pflichten des Tages ackerte. Ein guter Podcast kann so ziemlich alles zum glorreichen Mehrere-Welten-Erlebnis aufwerten. Ich habe mal einer assyrischen Invasion getrotzt, während ich Sachen aus der Reinigung holte. Ich erlebte, wie einem bestialischen Mörder Gerechtigkeit widerfuhr, während ich Unterhosen kaufte.

Ich lag im Bett und genoss die Vorfreude, während ich zusah, wie das Licht von der Straße über die Zimmerdecke kroch, und darauf lauschte, wie die Heizung ansprang und diese vornehme alte Dame von einem Haus ächzte und die Knochen knacken ließ. Ich stand auf, zog Pullover und Hausschuhe an und stahl mich aus dem Schlafzimmer.

Ich liebte es, vor allen anderen aufzustehen, wenn es im Haus ruhig war und ich lesen oder in einer stillstehenden Welt einen Podcast hören konnte. Ich wusste, wo alle waren. Ich wusste, sie waren in Sicherheit. Ich konnte mich entspannen.

Hamish störte sich daran. Er fand es gruselig. Warum brauchte ich diese Zeit für mich allein, in der ich durchs Haus schlich? Warum musste ich so viel allein sein?

Die Paartherapeutin nannte das Vertrauensprobleme.

Ich versuchte, Hamish zu beruhigen. Ich habe nicht vor, dich zu ermorden oder so etwas. Aber das war offenbar nicht gerade beruhigend. Eigentlich könnte das für Hamish sogar recht feindselig klingen, Anna, wenn man es mal aus seiner Sicht betrachtet. Wirklich? (Ich ließ es feindselig klingen.) Klingt das tatsächlich feindselig? Dann sprachen wir eine Weile darüber. Es war ein dämlicher Vorgang. Beide waren wir feindselig und traurig. Unsere Beziehung befand sich längst im Todeskampf.

Ich schlich auf Zehenspitzen über den Flur, mied die am lautesten knarrenden Dielen und sah nach den beiden Mädchen. Sie schliefen tief und fest in ihren Bettchen, die Schul­uniformen lagen auf den Stühlen bereit, Socken steckten in den Schuhen, Krawatten unter den Krägen. Ich wünschte, ich hätte etwas länger verweilt. Ich sollte sie nie mehr so unschuldig zu Gesicht bekommen.

Ich ging zurück in den Flur. Ein Geländer aus Eichenholz schlängelte sich sanft vom obersten Stockwerk bis nach ganz unten. Es war so geschnitzt, dass es sich in die gewölbte Hand fügte, in der Berührung rau, und es folgte den Windungen der Treppe wie eine große, lange Schlange aus gelbem Marzipan. Es führte hinab in eine prachtvolle Diele mit Marmorsäulen, die die Haustür flankierten, und einem Bodenmosaik, das das Wappen von Hamishs Vorfahren zeigte. Das Haus war 1869 von Hamishs Urgroßvater gekauft worden. Er kaufte es neu von Greek Thomson, dem Architekten.

Hamish war sehr stolz auf seinen familiären Hintergrund. Er wusste gar nichts über meinen. Das muss ich betonen. Ich sage es nicht nur, um ihn zu schützen, jetzt, da alles herausgekommen ist. Er war ein langjähriges Mitglied der Anwaltskammer und hoffte darauf, wie seine Vorfahren ein Richteramt zu bekommen. Er hätte das nicht aufs Spiel gesetzt, nur um mit mir zusammen zu sein.

Als ich ihn kennenlernte, war ich Anna, die neue Aushilfe aus Irgendwo-bei-Aberdeen. Ich suchte mir Hamish sehr sorgfältig aus. Ich liebte ihn wirklich, das muss ich sagen, und ich tu es noch immer, manchmal. Aber ich suchte mir bewusst einen älteren Mann mit Geld und Status. Einen pomphaften Mann voller Fakten und Meinungen. Er war das perfekte Versteck.

Hamish war in diesem Haus geboren und hatte nie woanders gelebt. Seine Familie war seit zweihundert Jahren im oder für das schottische Gerichtswesen tätig. Er verreiste nicht gern ins Ausland. Er las nur schottische Autoren. Das erschien mir sehr seltsam. Ich glaube, ich fand es ein wenig exotisch.

An jenem Morgen war es kalt im Flur. Ich ging in die weiß schimmernde, nach deutschem Design gefertigte Küche und kochte eine Kanne starken Kaffee. Ich nahm mein Handy. Der True-Crime-Podcast hieß Der Tod und die Dana. In der Beschreibung stand: »Eine versunkene Jacht, an Bord eine ermordete Familie, ein bis heute ungelöstes Rätsel …«

Oh ja: gewichtiger Tonfall, Geheimnisse, Morde, dieser Podcast hatte alles. Und der Fall hatte sich ereignet, als meine Töchter noch klein waren, in der Zeit der kleinen Strickpullis und der Warterei vor der Schule, schweigendes Herumstehen in der zeitlosen Phalanx von Müttern, fern von der großen weiten Welt. Ich wusste nichts über diesen Mordfall.

Ich goss mir einen großen Kaffee ein, setzte mich hin, legte mein Handy vor mich auf den Küchentisch und klickte auf Start. Ich erwartete eine fesselnde Story, bei der es ums Ganze ging.

Ich hatte keine Ahnung, dass ich Leon Parker wiedertreffen würde.

2

Episode 1: Der Tod und die Dana

Hi.

Mein Name ist Trina Keany, Redakteurin hier beim MisoNetwork. Herzlich willkommen zum Podcast Der Tod und die Dana.

Laut der französischen Polizei ist dieser mysteriöse und verstörende Fall abgeschlossen. Sie haben ihn aufgeklärt. Amila ­Fabricase wurde wegen Mordes an drei Mitgliedern derselben Familie verurteilt. Aber Amila Fabricase kann es nicht getan haben: Die Morde konnten nur von jemandem an Bord begangen werden, und etliche Zeugen, Überwachungskameras und Passkontrollen belegen, dass Amila zur Tatzeit in einem Flugzeug nach Lyon saß.

An dem fraglichen Abend aß eine wohlhabende Familie – ein Vater und seine beiden Kinder – an Bord ihrer angedockten Privatjacht, der Dana, zu Abend. Die Crew war auf Drängen des Vaters an Land geschickt worden, und die Familie blieb unter sich.

Während Amila sich in der Luft befand, verließ das Schiff in der Dunkelheit den Hafen. Segel wurden nicht gesetzt. Funk und Navigationslichter blieben ausgeschaltet. Trotzdem navigierte die Dana durch die heiklen Sandbänke der bretonischen Meerenge, änderte den Kurs um zweiunddreißig Grad und fuhr auf den Atlantik hinaus. Nach einigen Meilen auf offener See kam es zu einer Explosion im Rumpf, und das Schiff sank. Alle drei an Bord befindlichen Personen kamen ums Leben.

Wie also konnte das geschehen? Warum waren die Behörden so wild entschlossen, etwas zu glauben, das nachweislich nicht stimmte? Und warum wurde nie Einspruch gegen die Verurteilung eingelegt?

Noch bevor sie unterging, hatte die Dana bereits den Ruf, auf ihr laste ein Fluch. Abergläubische Kommentatoren sahen in ihrem Untergang den Beweis dafür. Einen Monat später schienen bizarre Unterwasseraufnahmen des Wracks die Spuk­geschichten über rachsüchtige Geister an Bord zu bestätigen.

 

Trina Keanys Südlondoner Akzent war weich, ihr Timbre tief, die Betonung melodisch. Ich legte die Beine auf dem Stuhl neben mir hoch und nippte von dem köstlichen Kaffee.

 

Aber fangen wir ganz von vorn an und setzen erst einmal den Rahmen.

Die Île de Ré ist ein schicker Ferienort vor der französischen Westküste. Sie hat eine skurrile Vorgeschichte. Die lange, flache Insel ist im Grunde eine Sandbank zwischen La Rochelle und dem Golf von Biskaya. In der Vergangenheit war die Insel meist vom Festland abgeschnitten und sehr arm. Die Wirtschaft hing an der Salzernte und Gefangenentransporten. Von Saint-­Martin, der Hauptstadt der Insel, wurden französische Gefangene in die Strafkolonien von Neukaledonien und Guayana gebracht. ­Dreyfus fuhr von Saint-Martin aus zur Teufelsinsel. Der Autor von Papillon, Henri Charrière, verließ die Insel 1931 in einem Gefangenenschiff.

Weil sie arm und abgeschnitten war, blieb die Insel unerschlossen. Sie behielt ihre alten kopfsteingepflasterten Straßen, die hübschen sonnengebleichten Häuschen mit den Terrakotta­dächern und den pastellgrün oder blau gestrichenen Türen und Fensterläden. Hohe, rosafarbene Malven explodieren im Sommer auf den Bürgersteigen. Die Insel gehört zum UNESCO-Welterbe. Aber die Bevölkerung ist heute sehr wohlhabend, und das liegt an der Brücke.

In den späten 1980ern wurde mit großem finanziellem Aufwand eine lange Straßenbrücke gebaut, um die Insel mit La Rochelle zu verbinden. Französische Urlauber entdeckten nach und nach das unverdorbene Eiland. Es wurde zu einem moderaten Ferienort, unaufdringlich und vergleichsweise bescheiden. Das Klima ist angenehm, so sonnig wie der Süden Frankreichs, aber durch die Atlantikbrise, die die Hitze abmildert, kühler. Die Insel ist flach. Überall gibt es Fahrradwege.

Während der nächsten zwei Jahrzehnte verlangte es mehr und mehr Menschen nach einfachem Leben in idyllischer Umgebung. Kinostars, Musiker, ehemalige Präsidenten und ­Industrielle zogen dorthin. Es begann ein erbitterter Wettbewerb um Immobilien. Selbst schlichte Häuser wurden erst teuer, dann unerschwinglich. Die Hütten armer Fischer stehen leer, nur gelegentlich bewohnt von Luxustouristen, die am Jachthafen im Stadtzentrum anlegen. Die Läden verkaufen kein Pferdefleisch mehr und auch keine Haushaltswaren, sie verkaufen Gucci und Chanel. Die Insel atmet Reichtum.

Manche Einheimischen haben sich gewehrt. Es wurden Ferien­häuser niedergebrannt. Zugezogene berichteten von Schikane und massiven Vorurteilen. Eine Familie aus Neuseeland behauptet, man habe sie von der Insel gejagt. Aber meistens ist es friedlich.

Als die Dana an jenem Tag in Saint-Martin anlegte, weilten dort viele Hobbysegler, die sie erkannten und bewunderten. Sie war ein wunderschönes Schiff.

Die Dana war keine Privatjacht von der Sorte, an die wir heute spontan denken: Sie hatte keine Plasmabildschirme oder Hubschrauberlandeplätze, keine vier Stockwerke mit weißen Sofas und Minibars. Sie war ein Segelschiff, ein Schoner. Schoner sind berüchtigt. In früheren Zeiten liebten Piraten und ­Kaperer ­Schoner wegen ihrer Schnelligkeit. Sie haben hohe Segel und einen gewölbten Bug, der tief im Wasser liegt wie der Pistolengurt eines schmalhüftigen Cowboys.

Die Dana war also schön, und sie war berühmt. Nachdem sie das Prädikat »die Jacht mit dem größten Fluch auf See« erhalten hatte, wurde in den 1970ern ein Spielfilm über sie gedreht, ganz in der Tradition von Amityville Horror. Wie dieser und andere Horrorstreifen aus jener Zeit wirkt Der Fluch der Dana heute auf uns knarzig, war aber damals sehr erfolgreich, wie auch das Buch, auf dem er beruhte. Die Verrufenheit des Schiffs begleitete es fortan und sorgte für neugierigen Rummel, wo es auch anlegte.

An jenem Nachmittag legte die Jacht in Saint-Martin an, wurde an Bug und Heck vertäut, und ein Landesteg wurde ausgefahren.

Man sah ein ungleiches Paar sich dem Schiff nähern. Die junge Frau war schlank, gebräunt, blond und wirkte sehr italienisch. Sie trug ein ärmelloses, knöchellanges Kleid von ­Missoni und Sandalen. Ihr Begleiter war ein schlaksiger Teenager in ausgebeulten kurzen Hosen, Skateschuhen und einem übergroßen T-Shirt. Ein Augenzeuge dachte sogar, der Junge wäre ein Horrorfan, der das Glück hatte, unerwartet über die Dana zu stolpern, weil auf seinem T-Shirt ein Motiv des Kult-Horrorfilms Drag Me to Hell prangte. Der Zeuge erinnerte sich, noch gedacht zu haben, der Junge müsse hocherfreut darüber sein, das berühmte Schiff zu sehen. Er war überrascht, als ein Mann mit demselben Haar und demselben Gesicht, ganz offensichtlich der Vater, dem Jungen von der Jacht aus zuwinkte. Er fragte sich: Hatte der Vater die Jacht gekauft, um dem Jungen eine Freude zu machen, oder trug der Junge das T-Shirt, um den Vater zu erfreuen? Das blieb ihm im Kopf.

 

Ich war ganz entspannt, hatte die Füße nun auf den Tisch gelegt und trank so starken Kaffee, dass ich etwas ins Schwitzen kam. Meine Gedanken schweiften ab zu dem Tag, der vor mir lag, aber dann sagte Keany:

 

Tatsächlich handelte es sich bei den ungleichen jungen Leuten um Geschwister, die ihren Vater Leon Parker besuchten, den neuen Besitzer der Jacht.

 

Erschrocken setzte ich mich auf. Ich musste mich verhört haben. Ich war noch nicht ganz wach, es war früh am Morgen. Mein verschlafener Verstand musste mir einen Streich gespielt haben, so dass ich Leons Namen zu hören glaubte. Ich hatte jahrelang nicht mehr an ihn gedacht und war verblüfft, dass mir sein Name jetzt begegnete.

 

Er hatte seine beiden Kinder nach Saint-Martin auf die Dana eingeladen. Sie wollten den einundzwanzigsten Geburtstag der älteren Tochter Violetta feiern. Die Kinder kannten sich kaum. Sie lebten in unterschiedlichen Ländern und hatten unterschiedliche Mütter. Leon hatte vor kurzem wieder geheiratet und versuchte nun, aus den Scherben seiner Vergangenheit eine Familie zu schmieden, was möglicherweise auf Drängen seiner neuen Frau geschah. Es war eine deutliche Abweichung von seinem bisherigen Verhalten.

Er gedachte ihnen an Bord seiner Jacht ein Festmahl auszurichten und seiner Tochter zur Volljährigkeit ein traumhaft schönes antikes Diamantcollier zu schenken.

 

Ich saß kerzengerade in der kalten morgendlichen Küche und wollte es immer noch nicht wahrhaben, bestimmt hatte ich den Namen falsch verstanden, aber zugleich schlug mein Herz immer schneller. Es war, als wüsste mein Blut schon, dass er es war, bevor mein Verstand es fassen konnte.

 

Als der Landesteg befestigt war, stürmte eine junge Frau vom Schiff. Sie hatte eine Reisetasche dabei, hielt eine Hand über ihr rechtes Auge, und der Kapitän brüllte etwas hinter ihr her.

Das war Amila Fabricase, die Schiffsköchin.

Amila verließ das Schiff schnell und mit einem lauten Klong Klong Klong auf dem Metallsteg. Der Lärm zog die Blicke mehrerer Zeugen auf sich. Sie drängte sich durch die Menge, rannte quer durch den Ort und blieb nur stehen, um einen Kellner in einem Café zu fragen, wo sie ein Taxi zum Flughafen bekommen könnte. Als er sie später beschrieb, sagte er, sie habe sich die Hand über ein Auge gehalten, ihr Gesicht sei aschfahl gewesen, sie habe gezittert, Tränen seien über die verdeckte Gesichtshälfte gelaufen und vom Kinn getropft. Der Kellner brachte sie dazu, sich hinzusetzen, und rief ihr ein Taxi. Sie schien große Schmerzen zu haben, er dachte, ihr Auge sei verletzt, und fragte sie, ob er es sich einmal ansehen solle, aber das wollte sie nicht. Er half ihr ins Taxi, das sie zum Flughafen bringen sollte, und sie bedankte sich bei ihm.

Der Kapitän der Dana schäumte vor Wut. Die Familie hatte sich zu einem Festmahl versammelt, aber die Köchin war fort. Er rief bei der Agentur an, die Amila vermittelt hatte, und forderte Ersatz an, aber es war Hochsaison, und niemand stand zur Verfügung. Er hinterließ zornige Nachrichten auf Amilas Handy und bestand darauf, dass sie ihren Lohn zurückzahlte: Alle Crewmitglieder waren zu Beginn der Reise bar bezahlt worden. Das ist eine sehr unübliche Verfahrensweise, und es ließ den Kapitän schlecht dastehen. Amila hatte ihr gesamtes Geld mitgenommen. Sie rief ihn nicht zurück.

Die beiden jungen Leute sahen Amila aufbrechen, sahen den Kapitän schimpfen, aber dann kam ihr Vater über den Landesteg. Sie umarmten sich und machten sich zu dritt auf zu einem Spaziergang, während der Kapitän vor Wut schäumte und das Abendessen organisierte.

Sie schlenderten durch den Ort und tranken in einer Kaffeebar Bier und Fanta. Die Barbesitzerin erinnerte sich, dass Leon rauchte und viel redete und dass sie alle gemeinsam lachten, aber auch angespannt wirkten.

Auf der Dana suchte der Kapitän noch nach einer Lösung für das Festmahl. Les Copains, ein Restaurant im Ort mit Michelin-Stern, fand sich bereit, eine Bouillabaisse zu liefern sowie Brot, ­Charcuterie als Vorspeise, Käseplatte und Salat. Bouillabaisse ist eine Fischsuppe. Wie bei vielen ländlichen Gerichten handelte es sich ursprünglich um eine einfache Speise, jetzt allerdings muss sich strengstens an das Rezept gehalten werden. Der Fischeintopf, der die Grundlage bildet, ist mit frisch gekochten Mies­muscheln, Langusten und Knoblauchbrot zu garnieren, was alles erst unmittelbar vor dem Servieren hinzugefügt gehört. Das wurde später noch wichtig für die Rekonstruktion des Ablaufs der Ereignisse. Das ­Restaurant wollte einen Souschef an Bord lassen, um die Bouillabaisse tadellos anzurichten, aber der Kapitän lehnte das ab. Leon Parker wollte die Jacht an diesem Abend für sich. Keinem Souschef war es erlaubt zu bleiben. Leon wollte, dass sie allein waren.

Les Copains schämte sich entsetzlich wegen der unsachgemäß servierten Bouillabaisse, deshalb verging eine Woche, ehe man zugab, dass man schon vor dem Kredenzen der Suppe gegangen war.

Das Abendessen wurde vom Les Copains auf die Dana geliefert und in der Kombüse vorbereitet, die zum Auftragen bereite Bouillabaisse in einem Warmhaltetopf, die Garnierung auf einem Extrateller daneben. Der Käse war auf einer Platte angerichtet, ebenso die Charcuterie. Die Crew deckte den Tisch in dem luxuriösen Speiseraum unter Deck. Leon hatte noch keine Gelegenheit gehabt, ihn zu benutzen, und war ganz erpicht darauf, ihn zur Geltung zu bringen. Eine Magnumflasche ­Champagner lag an Deck auf Eis, wie von Leon angewiesen. Die Crew wartete auf die Rückkehr der Familie.

Als sie sahen, wie die Parkers am Kai entlang auf das Schiff zukamen, stellten sich Kapitän und Crew in einer Reihe auf, um sie willkommen zu heißen. Leon ging als Letzter an Bord. Er gab dem Kapitän ein paar hundert Euro und wies ihn an, die Crew in eine Bar mitzunehmen und sich ein wichtiges Fußballspiel anzusehen, Frankreich gegen Deutschland im Europacup-Halbfinale. Sie sollten nicht vor elf zurückkommen.

Der Kapitän tat, was man ihm sagte. Er ging mit seinen Leuten in eine nahegelegene Bar, und sie sahen sich das gesamte Spiel an. Frankreich gewann und kam ins Finale, Deutschland schied aus. Die französische Crew hatte einen prima Abend. Sie gingen noch eine Pizza essen, bevor sie sich um zehn nach elf wieder am Hafenkai einfanden.

Aber die Dana war weg. Kein Mitglied der Familie Parker wurde je wieder lebend gesehen.

Es gab keinerlei Funkverkehr von Bord aus, aber Gäste eines nahegelegenen Dachrestaurants beobachteten Folgendes: Sonnen­untergang war gegen halb zehn. Man sah eine Person an Bord, möglicherweise Violetta, aber es war dunkel. Der Motor der Dana wurde angeworfen, und das Schiff fuhr hinaus auf die offene See.

Als die Marsstenge am Dachrestaurant vorbeiglitt, etwa siebzig Meter entfernt, klatschten die Zuschauer spontan Beifall. Aber die Gäste mit Segelerfahrung merkten, dass etwas nicht stimmte.

Die Navigationslichter auf dem Schiff waren aus.

Diese Lichter müssen ständig eingeschaltet sein, wenn ein Schiff in Bewegung ist: ein Licht am Hauptmast, eins vorn und eins hinten, und farbige Lichter an den Seiten – rot an Backbord, grün an Steuerbord, damit die anderen Boote wissen, in welche Richtung das Schiff fährt.

Zwei der Gäste waren so beunruhigt, dass sie die Küsten­wache anriefen, um zu melden, dass etwas mit der Dana nicht in Ordnung war. Jemand hatte ohne Positionslichter abgelegt. Es war von einem inkompetenten Segler auszugehen, der entweder keine Erfahrung hatte oder die Vorschriften nicht kannte. Die Küstenwache versuchte, Kontakt mit der Jacht aufzunehmen, aber der Seefunk war ausgeschaltet.

Die Dana fuhr direkt auf den Atlantik hinaus und querte dabei eine große Schifffahrtsstraße. Ohne Funk ist das gefährlich, weil moderne Containerschiffe riesig sind und blind fahren. Sie müssen sich auf Funkkontakt verlassen, um kleinere Schiffe zu warnen.

Wundersamerweise kreuzte die Dana die Schifffahrtsstraße, ohne dass etwas passierte, aber jetzt meldete die Küstenwache sie über Funk als Sicherheitsrisiko.

Das weckte die Aufmerksamkeit anderer Schiffe.

Ein Containerschiff in der Nähe stellte ein Crewmitglied ab, um die Dana im Auge zu behalten, bis die Küstenwache eintraf. Sehr viel später, nachdem Amila bereits wegen Mordes verurteilt worden war, interviewte man dieses Crewmitglied für eine Dokumentation. Er beschrieb, was er gesehen hatte.

 

Der Klang veränderte sich, wurde qualitativ besser und hatte das trockene Ambiente eines Studios. Der Mann sprach perfekt Englisch mit starkem niederländischem Akzent.

 

»Ja, wir haben sie mehrfach angefunkt, aber es kam keine Antwort. Ich sollte auf der Brücke bleiben und Wache halten, bis die Küstenwache kam. Es war eine klare Nacht, ich hatte ein Fernglas. Ich konnte die Umrisse sehen, wir näherten uns, aber da war niemand an Bord. Also, na gut. Das war schon eine merkwürdige … ähm … Situation. Die Lichter waren aus, sogar am Masttopp, aber der Motor lief weiter. Ich konnte die Abgase sehen, und das Schiff fuhr geradeaus. Vielleicht ein Stromausfall? Ich weiß es nicht. Aber während ich noch hinsah, ist diese Jacht auf einmal gesunken wie ein Stein.

Ich sah zu, wie sie einfach so unterging. Sie krängte nicht. Es ging alles sehr schnell, das Meer schwappte über das Deck, dann eine kleine Rauchwolke, als der Motor unter Wasser sank, die See verschluckte die Marsstenge, dann war das Wasser wieder ruhig. Sie ging einfach unter, und weg war sie.

Es war verrückt. Wir lachten alle. Wir wussten ja nicht, dass da eine Familie an Bord war. Wir dachten, da hat jemand die Jacht versenkt, um Versicherung zu kassieren, und er hat es richtig schlecht gemacht, so dass es rauskommen würde. Sie können sich nicht vorstellen, wie teuer diese Schiffe sind, selbst wenn sie nur im Hafen liegen. Das dachten wir in dem Moment. Weil, na ja, was sollte denn sonst dahinterstecken?«

Ja genau, was sonst?

Amila Fabricase wurde angeklagt und verurteilt, das Schiff versenkt zu haben. Die Polizei fand Hinweise darauf, dass sie mit Sprengstoff zu tun gehabt hatte, und behauptete, sie hätte welchen im Maschinenraum der Dana platziert, bevor sie von Bord gegangen war. Die Frage, die bei der Ermittlung anscheinend nie gestellt wurde, lautet: Wer steuerte das Schiff aufs Meer hinaus? Das muss jemand an Bord getan haben.

Mal angenommen, Leon Parker hätte ein bisschen was getrunken und beschlossen, nach dem Abendessen rauszusegeln. Mal angenommen, er hätte vergessen, die Lichter und den Funk einzuschalten – selbst dann hätten die Gäste im Dachrestaurant ihn fröhlich lossegeln sehen. Aber so war es nicht. Ein Zeuge im Hafen sah eine einsame Gestalt, sagte jedoch, sie bewegte sich geduckt, verstohlen, als wollte sie sich verstecken. Es geschah heimlich.

Amila wurde aufgespürt, durchsucht und vernommen, dann wurde gegen sie ermittelt.

Die wohlhabende Familie sah man sich kaum an.

Die Polizei richtete ihr Augenmerk nicht auf Leon, der die Kinder eingeladen und die Crew weggeschickt hatte, nachdem er sie in bar bezahlt hatte. Leon, der sowohl ablegen als auch das Schiff steuern konnte. Leon, der den Kapitän angewiesen hatte, das Abendessen im Speiseraum zu arrangieren, unter Deck, an einem warmen Juliabend, wenn ein Essen auf Deck doch so naheliegend gewesen wäre. Niemand prüfte, ob Leon Parker seine Familie umgebracht hatte. Die Polizei konzentrierte sich ausschließlich auf Amila.

Leon hatte erst vor kurzem in eine sehr mächtige Familie eingeheiratet. Sie sind bekanntermaßen medienscheu und haben gute Beziehungen. Ist es möglich, dass die Polizei angewiesen wurde, Leon nicht ins Visier zu nehmen? Ist es möglich, dass man den Behörden mit Nachdruck nahegelegt hat, die Polizei möge sich auf jemand anderen konzentrieren?

 

Ich tippte auf Pause. Ich wusste, es ging um meinen Leon. Meinen Freund Leon.

Mein Herz schlug bis zum Hals. Ich nahm mein Handy und öffnete die Homepage des Podcasts.

3

Das Hintergrundbild zeigte die Dana, die in den Seilen im Trockendock hing. Es war durch eine Fisheye-Linse verzerrt, und der rot-weiße Bug bäumte sich auf wie ein großer, freundlicher Hund, der die Kamera beschnüffelt. Der Himmel dahinter war klar und blau, ein Côte d’Azur-Winterhimmel, und das lackierte Holzdeck blinkte in der Sonne.

Seitlich am Rand des Bildes gab es Dateien, jede beschriftet mit der Episode, auf die sie sich bezog. »Ep1«. »Ep2«. Sie waren gestaltet wie Papierstapel, die auf einem Schreibtisch abgelegt sind und auf die man von oben hinabsieht. Aber es war kein Schreibtisch, es war ein Foto einer Jacht.

Ich tippte auf »Ep1«, und eine ganze Reihe Fotos trennte sich auf und glitt über den Bildschirm.

Da war er: Leon Parker.

Ein grinsender, zahnlückiger, älterer Leon.

Seine Arme ruhten auf den Schultern zweier schlanker Jugendlicher, einem schlaksigen blonden Jungen im zu großen T-Shirt und einer schönen jungen Frau in einem gold-grün gestreiften Kleid. Sie grinste und trug ein klobiges Diamantcollier. Sie berührte es mit dem Mittelfinger, als wollte sie der Kamera den Stinkefinger zeigen. Alle drei prosteten mit Champagnerschalen in die Kamera.

Leon Parker war tot. Verdammt, das machte mich traurig. Ich hatte ihn jahrelang nicht mehr gesehen, aber manche Menschen sind einfach ein Verlust für die Welt. Leon Parker war einer davon.

Er war in den letzten zehn Jahren nicht sehr gealtert. Er war eins achtzig groß, massiv gebaut, ging um die Taille herum auseinander, sah aber immer noch gut aus für einen Mann Ende fünfzig. Seine Haare waren etwas grauer, immer noch recht lang und lockig, von der salzigen Seeluft zerzaust. Weißes Brusthaar kräuselte sich aus dem breiten Kragen seines offenen Hemds, in hartem Kontrast zu seiner wettergebräunten Haut. Er grinste, neben dem Schneidezahn fehlte ein Zahn. Er sah glücklich aus.

Mein Blick wanderte von dem blauen Himmelhintergrund, seinen Kindern und dem Diamantcollier zu der dünnen Zigarette, die zwischen Leons Fingern brannte. Leon drehte selbst. Ich wusste aus Erfahrung, dass er es einhändig konnte.

Auf dem Bild hatte er die Arme um seine Kinder gelegt, hielt aber die Zigarette zur Seite, als wollte er nicht, dass der Qualm ihnen zu nahe kam. Fast konnte ich seinen billigen Tabak riechen, warm wie Bratensoße, konnte ihn in sich hineinlachen hören, wenn er mit einer Geschichte fertig war, die er bestimmt schon hundert Mal erzählt hatte.

Ich wollte es mir nicht weiter anhören, aber ich musste wissen, was mit ihm geschehen war. Ich drückte auf Play.

 

Leon Parker war ein ganz besonderer Typ. Das konnte niemand leugnen. Was für Fehler er auch haben mochte – er wusste, wie man es sich gut gehen ließ. Geboren in einer Arbeiterfamilie im Londoner East End, arbeitete er als Wertpapierhändler in der City, wurde dann Geschäftsmann. Er riskierte viel, er machte Vermögen und verlor sie.

Nach seinem Tod grub man dieses kleine Interview mit ihm auf London Tonight aus. Aufgenommen wurde es auf der Straße am Schwarzen Mittwoch 1992, als in London die Märkte zusammenbrachen.

 

Das Geräusch von Bussen, die durch eine belebte Londoner Straße poltern. Ein Interviewer mit gepflegter Aussprache rief über den Lärm hinweg:

»Entschuldigen Sie, Sir, haben Sie heute Geld verloren?«

»Alles futsch.« Leons Stimme war rau und heiser. »Ich hab den ganzen Scheiß verloren.«

»Dann ist das ein schlimmer Tag für Sie?« Der Interviewer klang düster.

»Ach, na ja …« Leons Stimme wurde unvermittelt heller. »Mal verliert man, mal gewinnt man, was?«

Dann stieß er sein anzügliches Lachen aus, eine herrliche Mischung aus Verzweiflung und Freude am Spiel. Der Interviewer stimmte in sein Lachen ein. Ich merkte, wie ich ebenfalls lächelte.

Oh Gott, Leons Lachen. So dunkel und wild, man hätte darin einen Sack voller Kätzchen ertränken können.

Es katapultierte mich zurück zu einem Sommer in den schottischen Highlands, weit die Westküste hinauf, weiter als Inverness, jenseits der Black Isle, rauf nach Dornoch, wo die Berge alt und rund und hoch sind, wo kaum mehr Züge fahren, wo das Wetter überraschend mild und das Land vernarbt ist von verlassenen Bauernhöfen, die wieder mit den Feldern verschmelzen.

Zurück nach Skibo Castle.