Einleitung

Vor einiger Zeit erzählte mir eine Schwester, die in einem Rehabilitationszentrum für psychisch Kranke arbeitet, von einem Patienten. Es war ein junger Mann, intelligent, gutaussehend. Doch er machte keinerlei Fortschritte. Bei allen Versuchen, mit ihm zu arbeiten, sei es nun Arbeitstherapie, Musiktherapie, oder was auch immer, hatte er stets zwei Sätze parat: »Das kann ich nicht, das bringt mir nichts.« Der Arzt sagte ihm schließlich in einem Gespräch: »Deine Worte sind dein Leben. Deine Worte sind deine Krankheit.« Die negativen Einreden haben diesen jungen Mann krank gemacht. Sie haben sich so in sein Inneres gebohrt, dass sie ihn daran hindern, sich heilen zu lassen. Solange er an diesen Worten festhält, wird er nie gesund werden.

Die Geschichte von diesem Patienten hat für mich ein neues Licht auf die Erfahrungen geworfen, die die alten Mönche mit der Wirkung der Gedanken auf die Gesundheit bzw. Krankheit eines Menschen gemacht haben. Evagrius Ponticus († 399) hat ein eigenes Buch geschrieben, in dem er über 600 solcher negativer Einreden aufzählt, die einen krank machen können. Er nennt es Antirrhetikos (= Sammlung von Gegenworten).[1]

Darin setzt er den negativen Einreden Sätze aus der Heiligen Schrift entgegen, um die krankmachenden Gedanken zu vertreiben und zu besiegen. Die Beschäftigung mit Evagrius hat mich hellhörig gemacht, bei mir selbst auf die Wirkung negativer Einreden zu achten. Und in Beichtgesprächen entdeckte ich, wie bei vielen Menschen negative Einreden die Ursache für ihre Schwierigkeiten im Alltag sind, für ihre Probleme mit Mitmenschen, mit der Arbeit, mit ihren Gefühlen und Stimmungen. Wenn wir uns genau beobachten, so entdecken wir, dass wir ständig von irgendwelchen Sätzen leben, die wir uns vorsagen, oder die uns automatisch in bestimmten Situationen durch den Kopf gehen, mit denen wir auf Missgeschicke, auf Mitmenschen, auf Anforderungen in der Arbeit reagieren: »Das ist zu schwer für mich, das kann ich nicht; schon wieder dieser Typ; das kann auch nur mir passieren.« Oft reagieren wir aber auch mit positiven Einreden: »Halb so schlimm, das wird schon vergehen.« Vielen fallen in solchen Momenten Sprichwörter ein, die ihnen helfen, mit schwierigen Situationen fertig zu werden. Unser früherer Abt Burkard Utz hatte für alles, was auf ihn zukam, den Satz parat: »Wie’s kommt, wird’s g’fressen.« Das war seine Art, auf Herausforderungen des Alltags zu reagieren, sicherlich eine bessere Methode, als sich hängenzulassen und sich vorzusagen, dass man das ja nie schaffen werde.

Die Erfahrungen der alten Mönche mit den Einreden veranlassten mich, Jugendliche bei Kursen auf ihre Einreden hin zu befragen. Von dem, was die Kursteilnehmer aufgeschrieben haben, sei eine kurze Auswahl vorgestellt. An negativen Einreden wurden genannt:

Schon wieder aufstehen. Ich hab keine Lust. Ich bin so müde. Blödes Wetter heute. Jetzt geht der Stress schon wieder los. Viel zu wenig geschlafen. Blöde Arbeit. Wenn die Arbeit doch schon rum wäre. Keiner mag mich. Warum muss ich immer allein sein? Warum muss ich mit allem allein fertig werden? Warum hab ich so wenig Freunde? Warum macht man es mir so schwer? Warum immer ich und nicht die anderen? Warum schenkt man mir nichts, rein gar nichts? Ich habe Angst. Ich kann das nicht. Ich kann nicht mehr. Ich bin unsicher und ungeschickt. Ich bin so stumpf und leer. Es hat doch keinen Sinn. Schaff ich doch nicht. Das lerne ich nie. So was Blödes. Du bist ein Idiot. Warum bloß jetzt? Warum ausgerechnet du? Ach hättest du das lieber gelassen. Schon wieder zu viel gegessen. Keine Zeit für mich. Alles regt mich auf. Du kannst dich einfach nicht beherrschen. Wieder mal nicht geschafft. Die anderen sind viel besser als ich. O je, schon wieder dieses Fach, dieser Lehrer. Hoffentlich ist die Schule bald aus. Das kann auch nur mir passieren. Ich Rindvieh. Null Bock. Muss das sein? Lasst mir doch meine Ruh. Ich bin zu gestresst. Ich will jetzt nichts mehr hören. War das ein blöder Tag. Wenn doch nur schon alles vorbei wäre. Ich glaub, ich spinn. Du bist dumm. Was soll das alles. Alles Schwindel. Am liebsten wäre ich tot.

Solche negativen Sätze tauchen immer wieder unbewusst auf. Sie lähmen uns, rauben uns Energie und halten uns in einer negativen Stimmung fest. Oft genug machen sie uns krank. Sie lassen uns nicht mehr los. Sie sind wie ein Raster, mit dem wir automatisch auf die Ereignisse unseres Alltags reagieren.

Die Jugendlichen haben bei der Umfrage aber auch eine Reihe positiver Sätze aufgeschrieben. Es ist teilweise Temperamentssache, oft Sache der Grundeinstellung zum Leben, ob einer mehr mit positiven oder negativen Sätzen reagiert:

Es wird sich schon alles finden. Davon geht die Welt nicht unter. Alles geht einmal vorbei. Morgen sieht die Welt wieder anders aus. Alles hat seinen Sinn. Schön auf mich zukommen lassen. Let it be. Take it easy. Packen wir’s an. Es wird schon klappen. Wird schon wieder werden. Sieh es nicht so eng. Es kann nicht immer schönes Wetter sein. Halb so wild. So wie es kommt, ist es gut. Gott begegnet mir in jedem Menschen. Gott liebt mich so, wie ich bin. Immer mit der Ruhe. Macht nichts. Das nächste Mal geht’s besser. Ran an den Feind. Du kannst das.

Dabei stoßen die Jugendlichen auch immer wieder auf Sprichwörter, die ihnen ein Stück weiterhelfen:

Wo ein Wille, da ein Weg. Übung macht den Meister. Was uns nicht umbringt, macht uns nur stärker. Aller Anfang ist schwer. Auf Regen folgt Sonnenschein. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Was du heute kannst besorgen, verschiebe nicht auf morgen. Unkraut vergeht nicht. Hab Sonne im Herzen. Frisch gewagt ist halb gewonnen. Eile mit Weile. Es wird nicht alles so heiß gegessen, wie es gekocht wird.

Auch eine Reihe von Stoßgebeten werden genannt, die manchen tagsüber immer wieder einfallen und ihnen helfen, schwierige Situationen zu bewältigen:

Herr, sei bei mir. Herr, verlass mich nie. Herr, hilf mir. Herr, ich kann nicht mehr, mach du weiter. Gib mir Kraft. Lass mich nicht allein. Lieber Gott, steh mir bei. Danke für diesen Tag. Danke für diesen Augenblick. Segne das bevorstehende Gespräch. Zeige mir den rechten Weg. Schenke mir Geduld für …

Für viele war es auch eine Hilfe, sich immer wieder Psalmverse oder selbstgeformte Gebete vorzusagen:

Der Herr ist mein Licht und mein Heil. Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir mangeln. Nur zu Gott hin wird stille meine Seele. Meine Zeit in deinen Händen. Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil, du bist ja bei mir. Dir allein, Vater, möchte ich dienen. Gott, du bist mein Freund. Du lässt dich mit mir ein, nimmst mich an, so wie ich bin. Verbirg dein Angesicht nicht vor mir, o Herr.

Es ist nicht unwichtig, welche Sätze wir uns vorsagen. Die einen lähmen uns, halten uns in schlechter Laune, in Selbstmitleid und Ärger gefangen. Die anderen geben uns Kraft, Mut, inneren Schwung, die Bereitschaft, schwierige Dinge anzupacken.

Im Gespräch untereinander erkannten viele Jugendliche, wie sehr sie sich von negativen Einreden leiten lassen und wie wichtig es wäre, sie durch positive Einreden zu ersetzen. Denn alle Willensanstrengungen, uns zu ändern, nützen nichts, wenn wir den negativen Gedanken in uns zu viel Raum lassen. Wir müssen an die Wurzel unserer Stimmungen heran. Und das sind die Einreden. Alle unsere inneren Haltungen, unser Neid, unser Ärger, unser Selbstmitleid, unsere Ängste, unsere Wut, unsere Freude, unsere Geduld, unsere Zufriedenheit, unsere Liebe, sie alle formulieren sich in Sätzen, die wir uns immer wieder auch vorsagen. Unser Geist ist so strukturiert, dass sich alles in uns auch sprachlich formuliert. Wir haben nicht einfach Ärger, er drückt sich bei uns auch immer in irgendwelchen Sätzen aus, in denen uns unsere innere Haltung bewusst wird. Und mit den Sätzen können wir zugleich unsere innere Haltung beeinflussen. Daher ist es eine wichtige Aufgabe, sich mit den Sätzen zu beschäftigen, die sich in uns von selbst formulieren und die doch eine so immense Wirkung auf unsere Einstellung, auf unsere Stimmung, auf unser Denken, Fühlen und Handeln haben.

Wir wollen dabei die Erfahrungen der alten Mönche befragen. Wie sind sie mit ihren Gedanken umgegangen? Welche Ratschläge geben sie, auf die negativen Einreden zu reagieren? Und welche Methoden haben sie entwickelt, in uns solche Gedanken zu entwickeln, die uns heilen, uns für Gott öffnen und uns zu unserem eigentlichen Wesen führen?

[1] Evagrius Ponticus, Antirrhetikos, herausgegeben von W. Frankenberg, Evagrios Ponticus, Berlin 1912; Deutsche Ausgabe: Evagrius Ponticus, Die große Widerrede. Antirrhetikos, übersetzt von Leo Trunk, mit einer Einführung von Anselm Grün und Fidelis Ruppert, Quellen der Spiritualität Band 1, Münsterschwarzach, 3. Aufl. 2012