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Dr. Sonntag
– 6 –

Vom Himmel das Blau

Peik Volmer

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-436-9

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Ist es nicht erstaunlich, verehrte Leserin, geehrter Leser, wie schnell aus völlig unbekannten Menschen gute Bekannte, vielleicht sogar Freunde werden können? Bis vor kurzem kannten Sie Egidius noch nicht, seine Frau Corinna, und Daniel, den Schriftsteller. Haben Sie einen Sohn wie Lukas daheim? Ein lieber Junge, aber mit 15 mitten in der Pubertät! Dagmars Probleme scheinen gelöst. Endlich kennt sie ihre Eltern, und mit Anton scheint sie ihre große Liebe gefunden zu haben – im Gegensatz zu Frau Fürstenrieder! Den kleinen Hannes kann ich gut verstehen, aber auch Lily. Natürlich macht sie sich Sorgen um den Jungen, der ja unter einer psychischen Erkrankung leidet. Philipp und Chris gehen entspannter mit ihm um, vermutlich fühlt er sich bei den beiden wohler als bei seiner Mutter. Ich habe gerade eben das Ende des fünften Bandes noch einmal gelesen. Drei Informationen schulde ich Ihnen noch. Sie erinnern sich doch sicher an das Wichtelgeschenk für Ludwig, den jungen Assistenzarzt. Die Lotto-Ziehung fand am Samstag, den 22.12. statt. Dann die Frage, wo und mit wem Lukas Silvester feierte. Und drittens: Wie verlief eigentlich der Besuch bei Professor Tauber? Egidius Sonntag mit seinem untrüglichen Gefühl für das richtige »timing«, wie man sagt, hatte ja exakt zu dem Zeitpunkt angerufen, an dem der Chefarzt der Pädiatrie, alles für sinnlos haltend, beschlossen hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen ...

Zur rechten Zeit

»Könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen? Lasst mich doch einfach alle in Ruhe! Was habe ich euch denn getan? Ich – kann einfach nicht mehr!«

Tauber schluchzte auf. Egidius war alarmiert.

»Herr Tauber, ich stehe praktisch schon vor Ihrer Tür. Und: Nein, ich werde Sie nicht in Ruhe lassen. Ich bin ärztlicher Direktor, und die Qualität Ihrer hervorragenden Arbeit trägt zum exzellenten Ruf unserer Klinik bei. St. Bernhard wäre nicht die Institution, die sie ist, ohne Sie. Bitte, öffnen Sie mir, wenn ich klingele.«

Egidius hatte das Schlimmste befürchtet. Als auf sein Läuten hin der Summer ertönte, der die Eingangstür freigab, zischte er erleichtert und knurrte: »Dem Himmel sei Dank!« Er sprang die Treppen empor, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Tauber lag im Flur. Tränen liefen über sein Gesicht.

»Ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr! Warum tut Sie mir das an? Warum tut Antretter mir das an?«

»Aber lieber Herr Tauber, darf ich Sie erinnern? Sie sind geschieden!«

»Aglaja hat sich scheiden lassen, nicht ich!«

»Das mag sein, ändert aber nichts am Resultat!«, erwiderte Egidius bestimmt. »Sie müssen akzeptieren, dass Ihre Ex-Frau ihre eigenen Wege geht. Es steht ja auch Ihnen frei, Ihre eigenen Wege zu gehen. Der Weg allerdings, an den Sie gerade eben gedacht haben, ist völlig untauglich!« Mit dem scharfen Auge des Arztes hatte er den kleinen Ritz in der Haut über dem linken Handgelenk seines Kollegen entdeckt, der leicht blutete, allerdings nicht lebensgefährlich.

Egidius kletterte über den liegenden Kollegen hinweg.

»Ich mach mal Kaffee«, erklärte er. »Milch steht im Kühlschrank?«

»Die ist nicht mehr gut!«

»Dann eben schwarz. Soll ja schön machen!«

Wenig später saßen die Kollegen sich im spärlich möblierten Wohnzimmer des Pädiaters gegenüber. Man merkte dem Raum immer noch an, dass er offenbar nur eine Art Notbehelf war. Zwei Sessel, ein Couchtisch, ein kleiner Esstisch und zwei Stühle. Auf einem kleinen Rollwagen stand ein altmodischer Fernseher mit integriertem Videorecorder, worüber Egidius gegen seinen Willen grinsen musste.

»Der gehört ins Museum, oder?«

»Für die ›Tagesschau‹ reicht’s! Und ›Criminal minds‹!«

Egidius’ Gesicht wirkte wie ein Fragezeichen.

»Ich sehe es eben gern.« Tauber klang trotzig, wie ein kleiner Junge. Fehlte nur noch das Aufstampfen mit dem Fuß.

Schweigend tranken die Herren ihren Kaffee. Egidius sprach nach einer längeren Pause.

»Ich verstehe gut, wie Sie sich fühlen, Herr Tauber. Mir würde es nicht viel anders gehen, wenn Corinna … Ich will mir das gar nicht vorstellen. Ihr Leben aber ist zu wichtig, um es wegzuwerfen. Darf ich Sie an den Fall dieses syrischen Jungen erinnern? Wie hieß er noch gleich?«

»Nazem. Nazem Almansour.«

»Bitte. Sie haben ihn gerettet, und dem Jungen geht es gut. Glauben Sie, dass jemand anders das geschafft hätte?«

»Jeder ist ersetzbar, Herr Sonntag. Bichler ist ein fantastischer Mann und etwas, was in unserer Zunft nicht häufig ist. Er ist ein guter Mensch.«

»... der alles, was er kann und weiß, von Ihnen gelernt hat. Sie haben doch auch mal den Eid des ollen Hippokrates geschworen, oder? Erinnern Sie sich? Unter anderem steht da, dass sie geloben, ›diese Kunst zu lehren ohne Entgelt und ohne Vertrag; Ratschlag und Vorlesung und alle übrige Belehrung meinen und meines Lehrers Söhnen mitzuteilen‹. Diesen heiligen Eid wollen Sie brechen? Mal ganz von der Verpflichtung abgesehen, alles für Ihre Patienten zu tun!«

»Und wer hilft dem Helfer?«

»Ich. Ich habe nämlich nicht vor, Sie fallenzulassen. Ich befürchte, dass Sie sich noch einmal ein der Entzugsklinik vorstellen müssen. Und Sie werden sicher psychotherapeutisch betreut werden müssen. Aber glauben Sie mir, es lohnt sich. Ich glaube an Sie. So, und jetzt nehme ich Sie mit!«

»Wohin?«

»Entweder zu mir nach Hause oder in die Klinik!«

»Nein, Sie können mich hier lassen. Ich verspreche Ihnen, dass Sie sich keine Sorgen machen müssen. Und gleich nach den Feiertagen stelle ich mich in Garmisch vor. Lech-Mangfall-Klinik. Die erinnern sich sicher noch an mich!«

»Na gut. Ich vertraue Ihnen. Versprechen Sie mir, dass Sie sich melden, wenn es Ihnen schlechter geht. Und bitte bedenken Sie, Herr Kollege, dass wir nicht auf der Welt sind, um den Erwartungshaltungen anderer zu entsprechen. Leider ist Ihre Erwartungshaltung Ihnen selbst gegenüber viel zu hoch. Bitte erwarten Sie von sich nur, was Sie zu leisten imstande sind.«

Egidius Sonntag verabschiedete sich, und fuhr nachdenklich heim. Er würde um Tauber kämpfen. Wer konnte glauben, dass ein Mann, der unzähligen Kindern geholfen, ihnen das Leben gerettet hatte, vor seinen eigenen Problemen kapitulierte? »So viel zum Thema ›Halbgott in Weiß‹«, knurrte er leise. Ob irgendein Patient je darüber nachdachte, dass auch ein Arzt gepeinigt wurde durch Ängste, ein gebrochenes Herz, Selbstzweifel?

Millionären widerspricht man nicht

Frau Fürstenrieder hatte eine kalte Platte arrangiert und eine Thermoskanne voll Früchtetee zubereitet. Dem gemütlichen Fernsehabend stand nichts mehr im Weg. Ludwig hatte es sich auf der Couch bequem gemacht und sah auf die Uhr.

»Ach, verflixt!«, schimpfte er. »Ich wollte unbedingt die Lottozahlen sehen, wegen dem Schein!«

»Wegen des Scheines«, korrigierte Frau Fürstenrieder mild. »Warte noch ein Viertelstündchen. Am Ende der Tagesschau werden die noch einmal verlesen! Was schauen wir uns an?«

»Wo ist die Programmzeitschrift?«

»Hier!«

»Die endete gestern. Freitag. Ich meine die neue, mit dem Programm ab heute!«

»O weh! Die muss ich vergessen haben! Wie dumm!«

»Macht nichts. Es gibt ja den Bildschirmtext!« Ludwig ergriff die Fernbedienung. »Also: Erstes – Drama mit Christiane Hörbiger als alkoholischer Architektin. Zweites – Komödie mit Christine Neubauer als verliebte Nonne. Bayern – ­Zünftig aufgspuit. Volksmusik aus dem Tölzer Land. RTL – Casting-Show. SAT1 – Erotikkomödie mit der Ferres als Mutter, deren Mutter und deren Schwester in einer Dreifachrolle. RTL II – Kochshow. Kabel – Sylvester Stallone. Rambo I-IV, 1982. ARTE – eine tschechische Tragödie mit französischen Untertiteln. VOX – Arztserie. Nein, Arzt­serien hasse ich! Die sind immer voll unglaubwürdig. Und viel zu schmalzig!«

»Das hört sich ganz entsetzlich an, außer der Komödie im 2.!«

»Kommt nicht infrage! Die Neubauer als Nonne? Und dann noch verliebt? Ob der Papst das weiß? Nein, werte Frau Fürstenrieder. Nur über meine Leiche!«

In diesem Moment gab es einen kleinen Knall, begleitet von einer Art Blitz. Der Bildschirm wurde dunkel. Es stieg heller Rauch auf. Frau Fürstenrieder stieß einen Schrei aus, und griff sich and Herz.

»Was war das? Ich dachte, mein Herz bleibt stehen!«

Ludwig hatte sich vorsichtig dem Gerät genähert und einige Knöpfe betätigt.

»Der Rauch erinnert etwas an den Vatikan – habemus Papam! Passend zu dem Nonnen-Spektakel! Ich schätze, der Fernseher hat den Geist aufgegeben. Und wenn Sie meine ehrliche Meinung hören wollen: Angesichts dieses Programms bin ich ganz auf seiner Seite!«

»Dann eben die Weihnachts-CD. Und wir schwatzen ein wenig.«

Der junge Arzt ergriff die Hülle. »Vom Regen in die Traufe! Klausjürgen Wussow liest die Weihnachtsgeschichte! Und Peter Alexander singt Heidschi-Bumbeidschi! Mir bleibt aber auch nichts erspart!«

»Mitgehangen, mitgefangen!«, rief Frau Fürstenrieder, boshaft kichernd. Sie wies mitunter deutliche charakterliche Defizite auf.

»Und was ist mit meinen Lottozahlen?«

»Morgen. Am Kiosk. In der Sonntagszeitung!«

»Kommt nicht infrage. Wozu gibt es denn das Internet?«

Ludwig tippte auf seinem Mobiltelefon herum.

»Und? Hast du?«

»Das sind doch die Zahlen von heute, oder? 29.12.2018? Und der Schein?«

»Die Ziehung von heute. 29.12.18.«

Ludwig verglich. Er schaute auf die Zahlen auf dem Tippschein, dann auf das Display seines Handys. Wieder und wieder.

»Was ist denn nun?«, erkundigte sich Frau Fürstenrieder ungeduldig. »Ein Dreier? Oder gar ein Vierer?«

Der junge Doktor streckte ihr den Schein mit dem Telefon hin. Er war ziemlich blass um die Nase.

»Ich glaube, ich habe gewonnen«, sagte er leise.

»Wie, gewonnen?«

Frau Fürstenrieder verglich. »1, 8, 11, 34, 37, 42. Superzahl 0.«

Sie griff sich ans Herz. »Ludwig, Junge! Sechs Richtige! Mit der Superzahl! Wie viel hast du gewonnen?«

»Keine Ahnung. Weiß man das nicht erst in der kommenden Woche?«

»Schon, aber so Pi mal Daumen ist das bekannt! Schau doch mal auf der Internetseite nach!«

»Habe ich schon. Das steht was von 7,5 Millionen Euro. Das kann doch gar nicht sein!«

»Natürlich kann das sein! Gewonnen ist gewonnen! Ludwig? Du bist Multi-Millionär! Du darfst es aber niemandem erzählen!«

»Warum nicht?«

»Weil du dann plötzlich sehr viele gute Freunde hast, von denen du vorher nichts geahnt hast. Sei klug und schweige, hörst du? Die von der Lottozentrale werden dir einen Berater schicken, der erklärt dir, wie du das Geld anlegst!«

»Den Berater brauche ich nicht. Ich weiß genau, was ich mit dem Geld mache! Wenn das alles so stimmt! Und ein Mensch weiß sowieso Bescheid. Der nämlich, von dem ich den Lottoschein bekommen habe!«

»Glaubst du, dass der sich die Zahlen notiert hat? Ach, egal! Darf ich fragen, was du vorhast?«

»Ganz einfach: Ich kaufe zwei Wohnungen. Eine für Sie, eine für mich. Haushaltsgeräte, Möbel und so. Und Fernseher! Besonders Fernseher!«

Er lachte.

»L-Ludwig«, stotterte Frau Fürstenrieder, »du musst mir nichts kaufen, schon gar keine Wohnung! Das ist doch viel zu verpflichtend! Dass könnte ich niemals annehmen!«

Er kniete sich vor ihr auf den Boden, und ergriff ihre Hände.

»Wer hat mich bei sich aufgenommen wie einen Sohn? Für mich gesorgt, gewaschen, gebügelt, genäht, gekocht? Sich mein Gejammer angehört? Mir Mut gemacht? Keine Widerrede. Das glaube ich nicht. Millionären widerspricht man nicht.«

Er lachte. Dann schwankte er plötzlich, und griff nach einer Stuhllehne.

»Ich glaube, ich werde ohnmächtig!«

*

Die Ohnmacht wich einem eigenartigen Gefühl der Interesselosigkeit. Erstaunlich. Man hätte doch annehmen sollen, dass ein Gewinn von derlei Ausmaßen zu Euphorie führt. Zu hemmungsloser Ausgelassenheit. Oder wenigstens zu einer kolossalen Erleichterung angesichts eines sich chronisch am Limit bewegenden Kontos.

Nichts von alledem. Eher Verunsicherung. Zweifel. Ängste. Da half es nur, einen Plan zu machen. Er hatte ja genügend Zeit zwischen den Feiertagen. Bis zum Drei-Königs-Tag ging die Feiertagsregelung. Er musste nur zweimal die Visite übernehmen.

Na denn! Bewaffnet mit einem Din-A-4-Bogen und einem Kugelschreiber verteilte er. Zwei Kinderhospize würde er bedenken. Die Krebsforschung, die AIDS-Forschung, die Stammzellforschung. Die beiden Wohnungen mit komplett neuer Ausstattung. Und seine Schulden bezahlen. Die Kollegen und der Verwaltungsleiter hatten seinetwegen auf 100 Euro ihres Gehalts verzichtet, ein halbes Jahr lang, oder? Und der Chef sogar auf 200 Euro. Das würde er zurückgeben, mit Zinsen. Und er würde sich was auf die hohe Kante legen. Keine peinlichen, angsteinflößenden Briefe von der Sparkasse mehr. Ach ja: Führerschein, und vielleicht ein kleines Auto. Erstmal einen Gebrauchten, zum Beulen reinfahren.