Stefan Cernohuby (Hrsg.)

FUNDBÜRO DER FINSTERNIS

Kann Spuren von Grauen enthalten

 

Horror 5

 


Stefan Cernohuby (Hrsg.)

FUNDBÜRO DER FINSTERNIS

Kann Spuren von Grauen enthalten

 

Horror 5

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: Juni 2015

    Stefan Cernohuby, die Autoren &

    p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild: Andreas Schwietzke

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

 

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 036 8

 


Stefan Cernohuby (Hrsg.)

FUNDBÜRO DER FINSTERNIS

Kann Spuren von Grauen enthalten

 


Bettina Ferbus: Das Geheimnis der Frisierkommode

 

 

 

»Ist sie nicht schön?«

Anna strich mit den Fingern über das cremeweiß lackierte Holz und folgte dem perfekten Oval des Spiegels. Michael nickte, obwohl er die Frisierkommode schrecklich altmodisch fand. Aus welchem Jahrhundert stammte sie? Der Antiquitätenhändler hatte es ihm gesagt, aber Michael hatte die Jahreszahl wenige Minuten später bereits wieder vergessen.

»Ich bin so froh, dass wir auch den Schemel gekauft haben. So etwas bekommt man heutzutage gar nicht mehr. Ich werde ihn neu polstern und beziehen lassen. Was hältst du von burgunderrotem Samt?«

Michael nickte und tat so, als würde ihn die Farbe des Bezugs tatsächlich interessieren. Dabei gefiel ihm der Schemel genauso wenig wie die Frisierkommode. Aber er konnte seiner Frau nichts mehr abschlagen. Nicht seit dieser Sache mit Thomas. Wenigstens bestand Anna nicht darauf, auch noch das dazu gehörende Bett zu kaufen.

 

Kaum hatte die Frisierkommode im Schlafzimmer Einzug gehalten, nahm Anna immer öfter davor Platz. Zuerst dachte sich Michael nichts dabei. Es war eben ein neues Spielzeug. Im Gegenteil – er hoffte, wenn sie sich öfter im Spiegel sah, würde sie mehr auf ihr Äußeres achten und wieder zu der gepflegten, attraktiven Frau werden, die ihn durch acht Jahre seines Lebens begleitet hatte.

Anfangs schien es auch so. Anna ging zum Friseur. Sie kaufte sich ein neues Kleid und schminkte sich wieder. Auch der Frisierkommode wollte sie neuen Glanz verleihen. Sie holte sich bei einem Restaurator Tipps, wie sie die kleinen Schäden, die der Zahn der Zeit auf dem Möbelstück hinterlassen hatte, am besten beheben konnte.

Eines Tages sah Michael sie jedoch, wie sie mit verzücktem Lächeln in den Spiegel starrte. Die Farbe auf dem Pinsel in ihrer Hand trocknete. Der Riss im Lack, den sie hatte ausbessern wollen, war vergessen.

»Tommy«, sagte sie leise. Die linke Hand war nach dem Spiegel ausgestreckt und berührte sanft das glatte Glas.

»Thomas ist tot, Anna.«

Sie drehte sich nicht zu Michael um, wandte die Augen nicht von der reflektierenden Fläche.

»Kannst du ihn denn nicht sehen?«

Doch Michael sah nur Annas Gesicht, sah die Sehnsucht in ihren Zügen. Er trat zu ihr, legte ihr sanft die Hand auf die Schulter.

»Du siehst, was du sehen möchtest. Anna, Liebling, komm zu mir in die Küche. Ich habe Kaffee gemacht. Dann können wir uns gemeinsam die Urlaubsprospekte ansehen, die ich mitgebracht habe.«

»Ich möchte nicht auf Urlaub fahren.«

Annas Stimme klang tonlos.

»Dadurch wird Tommy auch nicht wieder lebendig.«

»Aber so nah wie hier kann ich ihm nirgends sein.«

»Anna, ich bitte dich! Du hast ein Leben. Wirf es nicht weg!«

Da drehte sich Anna doch zu ihm um. Tränen schwammen in ihren Augen.

»Welches Leben? Mein Leben ist mit Tommy in den Teich gefallen.«

»Jetzt fang doch nicht wieder damit an!«

Michaels Unterlippe zitterte, als er seinen Zorn mühsam zurückhielt. Er hasste diese Diskussion, die sich stets wieder im Kreis drehte. Wie oft hatte er versucht, Anna davon zu überzeugen, dass das Leben weiterging, auch wenn Eltern ihr Kind verloren. Aber sie warf ihm nur Kaltherzigkeit vor.

»Du hast kein Gefühl! Du hast ihn nicht wirklich geliebt.«

»Das ist nicht wahr, Anna. Das weißt du.«

»Manchmal glaube ich, du hast das Tor absichtlich offen gelassen.«

Dieser Vorwurf war wie ein Messer in Michaels Eingeweiden. Sein Bauch krampfte sich schmerzhaft zusammen. Ganz wie an diesem fatalen Tag vor kaum sechs Monaten, als er das Tor offen vorgefunden hatte. Das Tor, durch das man jenen Bereich des Gartens betreten konnte, in dem sich der kleine Teich befand. Er war nicht tief. Wenn Michael hineinwatete, ging ihm das Wasser gerade mal bis zu den Oberschenkeln. Doch war es mehr als tief genug, dass ein Dreijähriger darin ertrinken konnte.

»Der Gutachter hat gesagt, der Mechanismus war beschädigt. Ein Materialfehler. Das Schloss ist nicht eingeschnappt. Niemand kann etwas dafür.«

»Wir hätten ein Vorhängeschloss nehmen sollen.«

»Du hast recht, Schatz.« Michael senkte den Kopf. Sie sollte seinen Zorn nicht sehen. Aber er hasste, dass sie immer wieder damit anfing. Sie hatten diese Unterhaltung schon zu oft geführt. Er fasste nach ihrer Hand. »Komm, du musst etwas essen.«

»Ich habe keinen Hunger.«

»Anna, ich bitte dich. Wie viel hast du bis jetzt schon abgenommen? Keines deiner Kleider passt dir mehr.«

Anna hob nur die Schultern und wandte sich wieder dem Spiegel zu. Michael ging in die Küche. Er machte Kaffee, legte Kekse auf einen Teller und ging wieder ins Schlafzimmer zu Anna, in der Hoffnung, dass der Duft ihren Appetit wecken würde. Doch sie hatte nur Augen für den Spiegel.

 

Anna verbrachte mit jedem verstreichenden Tag mehr Stunden vor der Frisierkommode. Sie vernachlässigte den Haushalt und sie vernachlässigte sich selbst. Es wurde noch schlimmer als in der Zeit nach Tommys Tod. Gelegentlich konnte Michael sie zwar dazu überreden, eine Kleinigkeit zu essen, aber bald war ihr die Zeit zu schade, um sich unter die Dusche zu stellen oder frische Kleider anzuziehen. Ihr Haar wurde fettig und strähnig, ihre Haut bleich und teigig. Die dunklen Ringe unter ihren Augen wurden von Tag zu Tag tiefer, denn sie wollte auch nicht mehr schlafen. War ihr der kleine Thomas früher auch in ihren Träumen begegnet, so sah sie ihn nun nur noch im Spiegel.

Michael wagte kaum, zur Arbeit zu gehen. Sobald er im Büro war, konnte er nur noch an seine Frau denken. Jede Stunde rief er zu Hause an, und wenn Anna nicht abhob, verstärkten sich seine Sorgen noch. Dann waren seine Gedanken nur noch bei Anna und ihrem Spiegel. Im Geist sah er sie vor der Frisierkommode sitzen. Die Ellbogen auf dem weiß lackierten Holz abgestützt, das Kinn in die Hände gelegt.

Wenn er nach Hause kam, saß sie meist tatsächlich vor dem Spiegel. Dann starrte sie mit einem verträumten Ausdruck im Gesicht auf das silberbeschichtete Glas. Sie lächelte, merkte nicht, wie spitz ihre Nase geworden war. Sie sah die Furchen um ihre Mundwinkel nicht, sah nur Thomas.

Dann kam der Tag, an dem Michael selbst glaubte, ihn zu sehen. Es war, als würde er durch die Züge seiner Frau hindurch das Gesicht seines Jungen wahrnehmen.

»Papa!«

Michael schauderte und wendete sich ab. Doch die Stimme des Jungen verstummte nicht. Im Gegenteil. Nun hörte Thomas auch noch sein glockenhelles Lachen. Wie sehr er diesen Ton vermisst hatte. Seine Brust zog sich zusammen, er konnte kaum noch atmen, so sehr quälte ihn das Wissen, dass er sein Kind nie wieder in den Armen halten würde. Er biss sich auf die bebende Unterlippe und hoffte, dass der Schmerz die Tränen vertreiben würde, mit denen er kämpfte. Der Impuls, sich umzudrehen, um wenigstens einen kurzen Blick auf das Gesicht seines Jungen werfen zu können, wurde mit jeder verstreichenden Sekunde stärker.

 

Michael riss sich los und taumelte ins Wohnzimmer. Er warf sich auf die Couch, barg sein Gesicht in den Kissen. Dieser verdammte Spiegel musste weg. Er saugte Anna das Leben aus und nun hatte er es auch noch auf Michael abgesehen.

Die Frisierkommode mochte aus Holz, Lack und Leim bestehen, aber sie erschien Michael in diesem Moment wie eine gierige Kreatur. Das Oval des Spiegels wandelte sich zu einem hungrigen Maul, das alle Hoffnung, alle Freude restlos verschlang.

Anna verließ das Schlafzimmer nur noch selten, aber Michael war geduldig. Er wartete.

»Papa«, flüsterte es aus dem Spiegel, wenn er an der Schlafzimmertür vorbei ging. Michaels Finger zuckten. Es verlangte ihn danach, die einen Spalt offen stehende Tür ganz aufzustoßen und hineinzugehen. Das sich bewegende, sprechende Abbild seines Kindes war besser als gar kein Kind. Mit Gewalt musste Michael sich dazu zwingen, auf dem Gang zu bleiben. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Er presste die Fingerknöchel gegen die Augäpfel, bis grellbunte Muster Tommys Bild vertrieben und Tränen des Schmerzes unter den geschlossenen Augenlidern hervorquollen.

Michael stand im Wohnzimmer vor dem offenen Kamin, als er hörte, wie Anna zur Toilette ging. Hastig schnappte er sich den Schürhaken und rannte ins Schlafzimmer. Er schlug die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel im Schloss um.

»Papa! Nein!«

Michael hörte nicht auf das Flehen des Kindes im Spiegel. Welcher böse Geist auch immer in diesem schrecklichen Möbelstück hausen mochte, es war nicht Thomas. Er holte aus. Eisen traf auf Glas. Sprünge zogen sich wie ein Spinnennetz über den Spiegel.

»Michael! Tu das nicht!«

Von draußen warf sich Anna gegen die Tür. Michael ließ den Schürhaken ein weiteres Mal niedersausen. Splitter fielen zu Boden. Doch der Großteil des Spiegels blieb an seinem Platz. Er war an der hölzernen Rückwand angeklebt.

Michael schlug erneut zu. Holz gab knirschend nach. Sprünge zeigten sich im Lack. Wieder und wieder drosch er auf die Frisierkommode ein. Stück für Stück sprengte er den Spiegel aus seinem Rahmen.

Plötzlich war da Anna. Er hatte nicht gehört, wie sie die Tür aufgebrochen hatte und er sah sie erst, als sie zwischen ihm und dem Spiegel stand. Seine Hände hielten den Schürhaken fest umklammert. Er musste die Bewegung stoppen! Den Schlag zur Seite ablenken! Aber es war, als würde ihn der Schürhaken führen und nicht umgekehrt.

Annas Hände fassten nach dem kalten Eisen, versuchten, es aufzuhalten. Michael konnte sehen, wie ihre Handgelenke unter der Wucht des Schlages erbebten, wie die Ellbogen nachgaben und sich das spitze Ende des Schürhakens in ihren Kopf bohrte. Mit einem widerwärtigen Knacken gab der Knochen nach. Der Schädel verformte sich. Blut, Knochensplitter und Gehirnmasse spritzen. Die Frisierkommode und die Wand dahinter wurden rot und grau gesprenkelt.

Annas Gesicht wurde schlaff, ihre Augen starr. Die Beine gaben unter ihr nach. Wie eine Marionette, deren Fäden durchschnitten worden waren, fiel sie zu Boden. Mit einem Aufschrei warf Michael den Schürhaken fort und ging neben seiner Frau in die Knie.

»Das wollte ich nicht!«, schrie er. Tränen liefen über sein Gesicht, sammelten sich am Kinn und tropften in die sich ausbreitende Blutlache unter Annas Kopf.

Mit bebenden Fingern strich Michael über die Wangen seiner Frau. Ihr deformierter Schädel verschwamm vor seinen Augen, verzerrte sich in seinem tränengetrübten Blick zu einer grinsenden Totenfratze, die von Spiegelscherben wie von einem Strahlenkranz umgeben wurde.

Mit einem unartikulierten Aufschrei krümmte sich Michael zusammen und umklammerte seinen Bauch. Er hatte mit der Leere gekämpft, die Tommys Tod hinterlassen hatte. Nun wurden weitere Stücke aus seinem Inneren gerissen. Er krallte die Finger in sein Fleisch, um nicht auseinander zu brechen. Der Schmerz höhlte ihn aus, fraß ihn von innen auf. Der Boden unter seinen Füßen verschwand, als wäre er nicht mehr als ein Trugbild gewesen. Michael glaubte zu fallen. Endlos. Ihn umgab ein Vakuum, das alle Liebe, alle Wärme aus ihm heraussaugte. Es gab nichts mehr, das ihn in dieser Welt hielt.

Halb blind tastete er nach einer Spiegelscherbe. Sie schmiegte wie von selbst in seine Hand. Der erste Schnitt war noch zaghaft. Er ritzte kaum die Haut seines Halses. Der zweite ging schon etwas tiefer. Warm und feucht lief roter Lebenssaft über die bleiche Kehle. Michael hielt inne, keuchte, weil ihm der Schmerz den Atem raubte. Er begrüßte ihn. Die Pein seines Körpers lenkte ihn von der Qual in seinem Inneren ab.

Beim dritten Mal drang die Scherbe tief genug ein, um die Halsschlagader zu durchtrennen. Im Rhythmus des Herzschlags ergoss sich das Blut auf den Boden, tränkte den Teppich und vermischte sich mit der bereits stockenden Lache um Annas Kopf.

Michael bettete sein Haupt in den Schoß seiner Frau. Er fühlte, wie die Kraft seinen Körper verließ, das Leben aus ihm herausströmte und Kälte sich ausbreitete. Schon kroch Dunkelheit heran und verengte sein Blickfeld, als er spürte, wie die Scherbe in seiner Hand bebte. Sie entwand sich seinen schlaffen Fingern.

Einer nach dem anderen erhoben sich die Spiegelsplitter aus dem Blut. Von einem leisen Klirren begleitet fügten sie sich wieder zusammen.

»Nein.«

Es hätte ein entsetzter Schrei werden sollen, doch es kam nur mehr als kaum hörbares Flüstern über Michaels Lippen. Grauen war in seinen brechenden Augen zu lesen, als die Schäden an der Frisierkommode verschwanden und der Spiegel höhnisch und vollkommen unversehrt auf ihn herabgrinste.

 

 


Ruth M. Fuchs: 11.12.13

 

 

 

Eigentlich hatte der Regen Markus in das alte Antiquariat getrieben. Es schüttete wie aus Kübeln und er hatte seinen Schirm im Auto vergessen. Aber so ein Wolkenbruch dauert ja meistens nicht lange, sagte er sich und so begann er, sich in dem Geschäft ein wenig umzusehen, um sich die Zeit zu vertreiben, bis der Regen nachließ.

Schließlich wühlte er lustlos in einer Schachtel, in der allerlei alte Postkarten lagen. Karten, die irgendwer mal irgendwem geschrieben hatte. Und dann hielt er plötzlich eine Karte in der Hand, die sein Interesse weckte. Auf der Karte war das Bild eines kleinen Mädchens mit einem Wust lockiger Haare und daneben der Spruch: »Dies selt’ne Datum muss mich reizen – zu diesem Kärtchen: 11, 12, 13.«

Ja, das Datum war bemerkenswert, der 11.12.1913. Wenn man es umdrehte, wurde der 13.12.11 daraus, der Tag, an dem er Hilda heiraten würde.

»Was soll die Karte kosten?«, wandte er sich an den alten Mann, der das Antiquariat offenbar betrieb.

»Sie wollen sie kaufen?« Der alte Mann wirkte alles andere als begeistert.

»Natürlich will ich sie kaufen, was denn sonst?«, antwortete Markus etwas gereizt. In was für einen Laden war er denn da geraten? Wollte der Kerl kein Geld verdienen? Oder gab er sich absichtlich, als könne er sich kaum von seinen Schätzen trennen, um den Preis hochzutreiben?

»Schon gut.« Der Antiquar zuckte mit den Schultern. »Sie wissen sicher, was Sie tun. Dieses ungewöhnliche Datum und dann auch noch auf Postamt 14 abgestempelt. Und die Marke: Die Freimarken Germania auf nicht staffiertem Grund mit Wasserzeichen Rauten …«

Markus hatte keinen Schimmer, wovon der Mann sprach. Aber der Preis war niedrig, also kaufte er die Karte und steckte sie ein. Er würde sie Hilda schenken, am Tag der Hochzeit oder vielleicht am Morgen danach, nahm er sich vor. Inzwischen hatte der Regen nachgelassen, also verabschiedete sich Markus und ging wieder hinaus.

Wieder daheim legte er die Karte in die oberste Schublade seines Schreibtisches. Das Etui mit den Eheringen, die er gerade vom Juwelier geholt hatte, legte er darauf.

 

Als Markus am nächsten Morgen aufwachte, fühlte er sich wie gerädert. Eigentlich schlief er sonst immer wie ein Bär, doch diesmal hatte er das Gefühl, alle fünf Minuten aufgeschreckt zu sein. Er erinnerte sich dunkel an wirre Träume, konnte sich aber nicht mehr entsinnen, was genau er geträumt hatte. Lediglich eine Szene fiel ihm wieder ein. Da hatte eine Frau vor ihm gestanden. Eine schöne Frau. Eigenartigerweise trug sie einen Brustharnisch über einem langen, weißen Gewand. Sie hatte blondes Haar, das ihr in Locken auf die Schultern fiel. Auf diesen Locken saß so etwas, das Markus an die Stephanskrone erinnerte, die er vor ein paar Jahren mit Hilda bewundert hatte, als sie im Urlaub in Ungarn gewesen waren. Oder war es vielleicht doch ein Helm gewesen? Markus war selbst über sich erstaunt, dass er sich an so viele Einzelheiten erinnerte. Aber er sah diese Frau regelrecht vor sich. Mit der rechten Hand hatte sie sich auf ein Schwert gestützt und links hatte ein Schild an ihrem Bein gelehnt. Sie hatte stolz aufgerichtet vor ihm gestanden, ihn angelächelt und gesagt: »Markus, der Name eines Kriegers.«

Über sich selbst lächelnd schüttelte Markus den Kopf. Manchmal träumte man schon komische Sachen. Achselzuckend machte er sich einen Kaffee und Toast und begab sich dann zur Arbeit.

Der Satz »Markus, der Name eines Kriegers« spukte aber immer noch durch seinen Kopf. Wie war er nur darauf gekommen? Was bedeutete ›Markus‹ eigentlich? Es wollte ihm nicht mehr einfallen. Kurz entschlossen schaute er im Internet nach. Und da stand als Bedeutung: »dem römischen Kriegsgott Mars geweiht«. Na, das erklärte alles! Markus lachte erleichtert auf. Warum ihm beklommen zumute gewesen war, konnte er sich gar nicht mehr erklären. Aber nun war das Rätsel gelöst: Er hatte diese Erklärung irgendwo aufgeschnappt und dann war sie in abgedrehter Form in seinem Traum wieder aufgetaucht. Ganz einfach.

 

»Das ist Sabine, eine Freundin, die du noch nicht kennst«, stellte Hilda Markus beim Polterabend eine mollige, kleine Person vor.

»Hallo!« Er lachte sie an und ergriff herzlich die angebotene Hand. »Ich bin Markus.«

»Der Name eines Kriegers …«

»Wer hat das gesagt?« Ein wenig ärgerlich sah Markus sich um. »Will da einer Spielchen mit mir treiben?«

»Aber, Liebling, was hast du denn?« Beunruhigt legte Hilda ihm die Hand auf den Arm.

»Na, du hast es doch auch gehört!«

»Was denn? Ich habe nichts gehört.«

Ruckartig hörte Markus auf, sich umzusehen. Er blickte Hilda forschend ins Gesicht. Da war nur echte Besorgnis in ihren Augen. Offenbar hatte sie wirklich nichts gehört.

»Ach nichts«, log er und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich höre anscheinend Stimmen. Das muss die Nervosität sein.« Liebevoll hauchte er ihr einen Kuss auf die Wange. Hilda sah noch immer bestürzt aus, ließ sich aber besänftigen.

»Komm, Sabine, ich zeige dir das Haus«, schlug sie vor und ging dann mit ihrer Freundin davon.

Markus holte sich ein Bier und nahm einen tiefen Schluck. Bald war er wieder ganz der Alte und schaute sich zufrieden um. Anscheinend amüsierten sich die Gäste bestens. Doch was war das? Dort stand eine Frau mit blondem, lockigem Haar, die einen silbernen Brustharnisch über einem weißen, fließenden Kleid trug. Markus starrte sie mit offenem Mund an. Da bewegte sie sich und aus dem Brustharnisch wurde eine filigrane Silberstickerei, die das Oberteil ihres weißen Abendkleides zierte.

Verwirrt blinzelte Markus mehrmals mit den Augen. Ich habe zu viel getrunken, schalt er sich selbst. Aber das konnte doch gar nicht sein, es war doch erst sein zweites Bier.

Ein bisschen frische Luft würde ihm jetzt bestimmt gut tun, entschied er und ging durchs Zimmer, um durch die Glastür in den Garten zu kommen.

»Markus, der Name eines Kriegers«, hauchte ihm eine Frauenstimme ins Ohr, als er gerade nach draußen treten wollte.

Hektisch fuhr er herum. Doch da war kein weibliches Wesen in der Nähe, lediglich sein Kumpel Helmut mit seiner Frau Silvia. Und Silvia war zwar nett, hatte aber eine Stimme, die vermutlich zu einem Flüstern gar nicht fähig war. Trotzdem trat Markus neben sie: »Was hast du gerade gesagt?«

»Ich hab nichts gesagt.« Ehrlich erstaunt sah sie ihn an.

»Na, macht nichts.« Brüsk wandte sich Markus um und ging hinaus in den Garten. Das ihm Helmut und Silvia verdutzt nachsahen, bekam er nicht mit.

Draußen war der erste Schnee gefallen und der ganze Garten glitzerte im Mondlicht wie mit Zuckerkristallen bestreut. Ohne lange zu überlegen, schlug Markus den Weg ums Haus herum ein. Als er um die erste Ecke bog, verebbten die Geräusche der Gäste von drinnen. Es war still. Markus atmete auf.

Die Hände in den Hosentaschen vergraben bog er um die zweite Ecke. Da stand sie vor ihm. Sie war eine hochgewachsene, schlanke Frau, mit blonden Locken, die ihr unter einer Art Krone hervor auf die Schultern rieselten. Sie trug einen silbernen Brustharnisch über einem weißen, fließenden Kleid, das bis auf ihre Füße wallte. In der rechten Hand hielt sie ein Schwert.

»Heil dir, Markus«, begrüßte sie Markus lächelnd. »Tapferer Krieger, der mich gefreit.«

 

»Markus, Liebster!«

Seine Lider waren schwer wie Blei. Nur mühsam und mit großer Willensanstrengung bekam Markus die Augen auf. Über sich sah er das besorgte Gesicht Hildas.

»Dem Himmel sei Dank, du bist wach«, rief sie und lächelte. Doch in ihren Augen standen Tränen.

Sie umklammerte seine Hand und er wünschte sich, dass sie weniger fest zudrücken würde.

»Was ist passiert?«, fragte Markus und versuchte, sich aufzurichten. Er fühlte sich ein wenig schwindelig und ihm war schrecklich heiß. Offenbar waren sie im Schlafzimmer und er lag auf dem Bett.

»Wir haben dich ohnmächtig im Garten gefunden«, erläuterte ihm Hilda. »Du hast Fieber. Hast dir wahrscheinlich irgend so einen Virus eingefangen.« Sie versuchte ein Lachen, doch es klang nicht echt. »Wir werden die Hochzeit absagen müssen.«

»Kommt gar nicht infrage!« Markus riss sich zusammen und setzte sich endgültig auf. »Ich hol mir ein Mittel gegen Grippe aus der Apotheke und dann geht das schon.«

»Wenn überhaupt, dann hole ich das«, bestimmte Hilda und lachte nun wirklich. »Du bist so tapfer, mein Liebling«, erklärte sie noch. »Aber jetzt leg dich wieder hin, du müder Krieger!«

Dann eilte sie davon, die nächste Apotheke zu suchen, die nachts geöffnet hatte.

Markus ließ sich wieder zurücksinken. Die Gäste waren offenbar schon alle fort. Den Polterabend hatte er wohl gründlich verdorben. Aber bei der Hochzeit würde ihm das nicht passieren. Einmal gründlich ausschlafen und so ein Grippehammer, der angeblich über Nacht wirkte, sagte er sich, dann würde er das schon hinkriegen. Erschöpft drehte er sich zur Seite und blickte in das Gesicht der blonden Frau mit dem Brustharnisch. Sie lag so nahe neben ihm, dass er ihren süßen Atem riechen konnte und die Wärme ihres Körpers spürte. Ihre roten Lippen waren zu einem Lächeln verzogen und ihre Augen blickten liebevoll.

»Sie haben mir zwei Mittel empfohlen, da habe ich beide genommen. Such dir eines aus!«

Markus schrak hoch. Vor ihm stand Hilda, eine Tüte mit dem Aufdruck einer Apotheke in der Hand. Das Bett neben ihm war leer. Er hatte geträumt.

 

Markus erwachte ausgeruht und in blendender Laune. Das Grippemittel hatte hervorragend gewirkt. Keine Spur mehr von Fieber.

Hilda verabschiedete sich mit einem Kuss von ihm, bevor sie lachend davon tänzelte, um sich bei einer Freundin umzuziehen. »Es bringt Unglück, die Braut vor der Hochzeit in ihrem Brautkleid zu sehen«, hatte sie ihm gesagt und er hatte sich gefügt. Er würde sie also erst vor dem Standesamt wiedersehen.

Vor sich hinsummend kleidete er sich an und ging dann zum Schreibtisch, um die Ringe zu holen. Sie waren aus Gelb- und Weißgold gefertigt, Hildas zusätzlich noch mit einem Brillianten. Der Ring für Hilda lag neben dem Etui, auf der Karte, die Markus in dem Antiquariat gekauft hatte. Wahrscheinlich hatte Hilda der Versuchung nicht widerstehen können, den Ring zu betrachten. Ach ja, seine süße, neugierige Hilda. Lächelnd steckte Markus den Ring wieder an seinen Platz. Da fiel sein Blick auf die Karte. Zum ersten Mal fiel ihm dabei auch die Marke auf. Sie zeigte eine blonde Frau mit einer Krone oder vielleicht einem Helm auf dem Kopf, gekleidet in einen Brustharnisch. Man konnte auch Blätter erkennen, wahrscheinlich Lorbeer, und den Knauf eines Schwertes, den sie in der rechten Hand hielt. Sie sollte wohl Bavaria darstellen oder Athene oder Minerva oder irgend so was. Es war die Frau, die er mehrfach vor sich gesehen hatte. Markus schüttelte schmunzelnd den Kopf. Das Unterbewusstsein spielte einem manchmal schon üble Streiche. Jetzt war also klar, woher diese Figur stammte. Dazu noch die Aufregung um die Hochzeit, die Hektik mit den Vorbereitungen und eine Grippe. Kein Wunder, dass er ein wenig durchgedreht war.

Da klingelte es an der Tür. Bestimmt sein Trauzeuge. Markus warf noch einen letzten Blick auf die Briefmarke, dann schob er die Lade wieder zu, ohne die Karte herausgenommen zu haben. Er würde sie Hilda später geben, vielleicht nach der Hochzeitsnacht.

 

Vor dem Standesamt wartete schon ein Grüppchen von Freunden. Mittendrin in einem fließenden Etwas von einem langen Kleid mit silbernen Pailletten auf dem gerafften Oberteil – Hilda, seine Braut. Und wie schön sie war mit ihrem blonden Haar, das in Kringellocken auf ihre Schultern fiel, gekrönt mit einem Kranz aus silbernen Blumen. Markus war hingerissen. Von der Trauung selbst bekam er kaum etwas mit. Lediglich, als er Hilda den Ring ansteckte, fiel ihm auf, dass der viel zu groß für den Finger war. Dabei war er doch extra angepasst worden.

»Ich hab wohl zu viel abgenommen, um in das Kleid zu passen«, flüsterte Hilda mit einem schelmischen Lachen. »Da wachse ich, fürchte ich, schnell wieder rein.«

»Das will ich aber auch hoffen«, murmelte Markus. Er hatte nie verstanden, dass Hilda extra hatte abnehmen wollen, um ihr Kleid eine Nummer kleiner kaufen zu können. Ihre Figur war doch schon vorher toll gewesen. Aber was spielte es für eine Rolle, wenn sie es so wollte. Markus sah ihr zärtlich in die Augen. Dann erklangen Ohs und Ahs, als er die Braut innig küsste.

 

Die Feier war feucht und fröhlich gewesen. Trotzdem war das Paar froh, sich um Mitternacht zurückziehen zu können. Hilda hatte sich für die Hochzeitsnacht extra ein Negligé aus weißer Seide und Spitze gekauft. Doch plötzlich schrie sie auf: »Mein Ring! Er muss mir vom Finger gerutscht sein!«

Hektisch begann sie, zwischen den Kissen zu suchen.

»Was soll’s«, tröstete Markus. »Er kann ja nicht verschwunden sein. Wir werden ihn nachher in aller Ruhe suchen.«

Liebevoll zog er sie an sich. Schnell war der Ring schnell vergessen.

 

Als Markus wieder erwachte, schien die Sonne bereits hell ins Zimmer. Neben ihm rührte sich nichts. War Hilda schon aufgestanden? Schläfrig drehte er sich um – und schrie auf.

Vor Markus entsetzten Augen lag Hilda auf dem Rücken und starrte blicklos zur Decke. Aus ihrer Brust ragte ein Schwert und die klaffende Wunde färbte die weiße Seide rot.

Zwischen Hildas Brüsten aber lag ihr Ehering, Gelb- und Weißgold mit einem glitzernden Brillanten.

 

 


Susanne O’Connell: Das Geheimnis von Brigus

 

 

 

Noch immer drehte John Nadeau die Postkarte zwischen seinen Fingern hin und her, wobei er abwechselnd auf das vorderseitige Motiv und die krakelige Handschrift mit den großschlaufigen »g«s auf der Rückseite starrte. Sein eigenes Schreibschrift-»g« hatte in der Unterlänge auch jene übergroße Schlinge, fiel ihm auf. Das war aber auch schon alles, was ihm bekannt vorkam. Wer mochte das wohl sein, der ihm eine Ansichtskarte aus Brigus sandte? Die Grußformel am Ende der kurzen Nachricht ließ für ihn keine Rückschlüsse auf den Absender zu. »Bis bald im Hier und Jetzt, Ihr …«, stand da, wobei er den Namen nicht entziffern konnte. Und dann: »P. S.: Erwarte Sie am Kai.« Kein Hinweis zum Wann und Warum.

Und wo, zum Teufel, hatte er im ersten Moment gedacht, liegt überhaupt Brigus? Dann hatte er Karten gewälzt und die kleine Stadt auf Prince Edward Island in Neufundland ausfindig gemacht. Brigus, ein Name, der von Brickhouse kam. Ein Ort, in dem nicht einmal achthundert Seelen lebten. Wer von ihnen hatte ihm geschrieben? Dann gab er sich einen Ruck. Neunzehnhundert Kilometer, achthundert Einwohner. Notfalls würde er sie eben einzeln befragen. Bei dieser Vorstellung musste er grinsen.

 

John stand an Deck eines maroden Kutters, dessen Holzplanken bei jeder geringsten Welle in allen Fugen knarrten, fühlte den Wind mit seiner blonden Lockenmähne spielen und das Salz auf seiner Zunge kleben, als hätte er sie andauernd herausgestreckt. Dabei hielt er sie fest und steif an den Gaumen gepresst vor lauter Anspannung. Er wusste selbst nicht, was ihn dazu getrieben hatte, seine bequeme Wohnung in Quebec nach Erhalt der wenigen Zeilen anderntags zu verlassen, um ins Ungewisse zu reisen. Wahrscheinlich lag es vorwiegend an der seltsam anmutenden Koinzidenz zwischen dem Eintreffen der Nachricht und seinem soeben angetretenen Jahresurlaub, was er als übersinnliches Schicksalszeichen gewertet hatte. Obgleich Physiker, glaubte er an solchen Kram.

Hoffentlich erreicht der alte Kahn diese kleine Ortschaft, dachte er zweifelnd. Aber es war die schnellste Möglichkeit gewesen, um nach Brigus weiterzureisen, nachdem er sich intensiv durchgefragt und mehrere Schiffe gewechselt hatte. An die vielen erstaunten Blicke auf seine Frage nach der Ortschaft hatte er sich mittlerweile gewöhnt. Offensichtlich fuhr kaum ein Schiff jenes winzige Dorf an, viele der Befragten kannten es nicht einmal. Einer von ihnen aber hatte etwas vor sich hingenuschelt, das wie Ort ohne Wiederkehr in Johns Ohren geklungen hatte. Doch als er Was? gefragt hatte, hatte der Andere nur mit den Achseln gezuckt und war verschwunden.

 

»He«, ein krummnasiger Matrose stieß ihm seinen Ellbogen in die Rippen und wies mit seiner vor Schmutz starrenden Hand nach vorne, »da ist Ihr Brigus!«

John versuchte, den öligen Fischgeruch, den der Bursche aus all seinen Poren zu verströmen schien, zu ignorieren, steckte die Ansichtskarte in seinen Mantel und heftete den Blick auf die Küstenlinie vor sich. Alles, was er entdeckte, war eine schlecht einsehbare Hafeneinfahrt, die einem öden Weiler vorgelagert war. Vereinzelte, weiß getünchte Häuser hafteten dort verloren unterhalb einer kleinen Anhöhe am Hang. Nichts, rein gar nichts an diesem Fleck, wirkte einladend.

Das wurde keineswegs besser, als sie neben vier weiteren Booten anlandeten. Ein dicker Kerl mit dunkelblauem Strickpullover und gleichfarbiger Wollmütze, die er sich tief in die Stirn gezogen hatte, kam den Steg entlang gestolpert, während er gleichzeitig aufgeregt mit beiden Armen in der Luft herumfuchtelte, als wollte er abheben. Niemand vom Kutter reagierte auf ihn. Vielmehr vertäuten die Männer in Seelenruhe die Barke, ohne ihm auch nur ein Fünkchen Beachtung zu schenken. Umso mehr geriet der Dicke in Hektik und schrie jetzt zu ihnen herüber, dass er unbedingt von hier weg wolle, woraufhin ihn die Crew an Deck ließ. Dann stieß der Krummnasige John erneut in die Seite und raunte ihm zu: »Hör mal, wir haben hier nichts weiter zu erledigen. Bezahlt hast du ja, also machst du dich jetzt vom Schiff und wir fahren wieder weiter, okay?«

John beschlich ein ungutes Gefühl, als er an die Aussicht dachte, hier ab sofort auf sich allein gestellt zu sein und nicht einmal zu wissen, wo er etwas essen oder die nächste Nacht verbringen konnte, geschweige denn, wie er später wieder nach Hause gelangen sollte. Das lag weder allein an dem trostlos wirkenden Landstrich noch an dem Dicken, der unbedingt hier wegwollte. Vielmehr hatte John inzwischen den Blick schweifen lassen und einige ältere Leute am Ufer entdeckt, die ihn allesamt grimmig anstarrten. Wer von denen wollte ihn wohl hier am Kai erwarten? Er lachte kurz laut auf, als ihm einfiel, dass alles nur ein schlechter Scherz eines Arbeitskollegen gewesen sein konnte. Schließlich hatte ihm Ronald noch beim Hinausgehen aus dem Büro auf die Schulter geklopft und gesagt: »Mann, Nadeau, vier Wochen Urlaub! Wie hält man das nur aus? Wird einem da nicht langweilig?« Dann hatte er ihn neidvoll angesehen und gezischt: »Das wurde mir noch nie bewilligt. Musst bei dem Alten echt nen Stein im Brett haben«, womit er seinen betagten Chef gemeint hatte, mit dem John tatsächlich auf äußerst gutem Fuße stand.

 

Mangels einer passenden Ausrede, fand sich John kurz darauf allein an Land wieder. Unsicher, den schweren Seesack mit seinen Reisehabseligkeiten auf dem Rücken, tat er ein paar Schritte auf dem Steg Richtung Ufer, wobei er fast gegen einen alten Mann gestoßen wäre, der hinter einem dort abgelegten unscheinbaren Holzboot kauerte.

»Haben Sie mich jetzt aber erschreckt«, rief John, »was machen Sie denn da?«

»He«, krächzte der Alte, erhob sich umständlich und fuhr in typischem Inselslang fort, »das fragt der Richtige! Ich angle hier, wie man sieht.« Dabei hob er seine Angelrute demonstrativ in die Höhe. »Und das nicht erst seit heute! Bin Fischer, da hinten liegen meine Reusen«, sagte er, wobei er mit der Rute gen Westen deutete. »Aber was machen Sie Greenhorn bei uns, hä?«

Fast hätte John gelacht, so skurril empfand er den Anblick der verhutzelten Gestalt mit der seltsam anmutenden, olivfarbenen Regenkappe und dem um die Hüften zu weit sitzenden Ölzeug, an dem der zweite Knopf von oben nicht geschlossen war, was eine gewisse Nachlässigkeit seines Trägers erahnen ließ. Johns Lachen gefror jedoch, bevor es seine Kehle verließ, als er einen Moment zu lange in das leicht verhärmte, längliche Gesicht mit dem auf Unterlippenhöhe gestutzten weißen Kinn- und Backenbart schaute. Etwas Habichtartiges lag in jenen eisgrauen Augen, die ihn eindringlich musterten.

»Sie haben mir die Ansichtskarte geschickt, nicht wahr?«, platzte John heraus, einer plötzlichen Eingebung folgend.

»Ansichtskarte …«, der Betagte sprach das Wort aus, als könne er nichts mit dessen Bedeutung anfangen. Und tatsächlich fragte er: »… was ist das?«

»Herrgott noch mal«, antwortete John etwas ungehalten, »Sie werden mir doch wohl nicht weismachen wollen, dass Sie nicht wissen, was eine Ansichtskarte ist?«

Der alte Mann hob und senkte schwerfällig seine ausgemergelten Schultern. Verwunderlicherweise machte er ansonsten alles andere als einen schwerfälligen Eindruck auf John. Das Männchen stand kerzengerade vor ihm, als hätte es einen Stock verschluckt und starrte ihm nach wie vor auf diese beinah heimtückisch lauernde Art in die Augen, wobei er den Kopf nach vorne schob, wie man es von Aasgeiern her kennt.

John fiel ein, dass er die Postkarte in der Innentasche seines Mantels trug. Er kramte sie hervor und hielt sie dem Alten unter die Nase. »Na, erinnern Sie sich nun?«, fragte er ihn.

»An was soll ich mich nun erinnern, Sie Greenhorn?«, fragte der bizarre Alte. »Das ist doch eine ganz gewöhnliche Ansichtskarte, oder nicht?«

John erinnerte sich an seine Besuche abendlicher Meditationsveranstaltungen in Quebec und atmete tief ein und aus, während er dachte: Ich bin ganz ruhig, nichts kann stören, alles ist in Ordnung.

»Was machen Sie denn da?«, drang die dünne, unangenehme Fistelstimme erneut an sein Ohr. »Wenn Sie glauben, Sie könnten ewig vor sich und Ihren Ängsten weglaufen, dann haben Sie sich sicherlich getäuscht. Hier, an diesem Ort, kommt jeder zur Besinnung.« Dann kratzte sich sein Gegenüber an der etwas zu lang geratenen, schmalen Nase und ergänzte: »… jedenfalls auf die ein oder andere Weise.«

Das Gesicht des Alten erinnerte John an irgendetwas, doch er war zu müde, um darüber nachzudenken. Stattdessen sagte er: »Hören Sie, ich habe eine schrecklich weite Reise hinter mir. Können Sie mir vielleicht ein Gasthaus empfehlen, in dem ich übernachten kann?«

Wiederum sah ihn der Greis an, als habe er sich verhört. »Ein Gasthaus, sagen Sie? Was soll das sein, ein Gasthaus?«, fragte er, um sich anschließend unvermittelt zu schütteln und seine linke, freie Hand weit von sich in Richtung John zu strecken, als habe er den Satan höchstpersönlich vor sich. »Nein!«, rief er dann. »Nein, so etwas haben wir hier nicht.«

John begann, sich langsam Sorgen zu machen und legte seine Stirn in Falten. Wo soll ich nur schlafen?, überlegte er.

Als hätte der Alte seine Gedanken erraten, sagte er: »Nun, da Sie mich schon gefunden haben, können Sie auch mit zu mir kommen. Vorausgesetzt, Sie können Fisch backen und sind nicht allzu laut.«

»Ja, das kann ich, denke ich«, stotterte John, während er sich das Hirn zermarterte, ob das eine gute Idee war, »… und laut … nein, das bin ich nicht.«

Der Fischer packte ihn mit der knochigen Hand am Arm und sagte: »Hier entlang, mein Guter. Wie heißen Sie eigentlich?«

»John Nadeau. Und Sie?«

»Nadeau«, wiederholte der Andere, ohne seinen eigenen Namen zu nennen, »das könnte auch ein Nachname von hier sein, wissen Sie? Na, Sie können mir ja später erzählen, was Sie nach Brigus verschlagen hat. Ich habe Sie jedenfalls bislang noch nie hier gesehen – oder erinnere ich mich nur nicht mehr daran?« Wieder kratzte er sich an der Nase, wobei er Johns Arm kurz losließ.

Jetzt könnte ich entfliehen, dachte John und lachte im nächsten Moment bereits wieder über sich selbst. Ich habe Angst vor einem solchen Alterchen!

Doch irgendetwas an jenem Ort und seinen Bewohnern erschien ihm nicht ganz geheuer. So nahm er just in diesem Augenblick wahr, wie die Leute Spalier auf dem Weg standen, den er gemeinsam mit dem Namenlosen am Ufer entlangging.

»Schauen Sie meine Brüder und Schwestern nicht so an«, krähte sein Begleiter, »Sie wirken allesamt nicht allzu jung, will wohl wahr sein. Aber wissen Sie, wie heißen Sie gleich noch mal, Herr …, hierher kommt nicht allzu oft Besuch.«

Was hat denn das Alter der Einheimischen mit der Anzahl an Besuchern zu tun?, dachte John bei sich, sagte sich aber, dass es wohl nichts nutzen würde, nachzufragen oder darüber nachzudenken.

Der Alte blieb abrupt stehen, drehte sich zu John und sagte: »Wissen Sie, Neuankömmling, Sie haben verdammt gutes Zahnmaterial, wie es scheint.« Dabei stierte er auf Johns Mund, als wolle er ihn gleich mit beiden Händen aufreißen wie bei einem Gaul, den er kaufen wollte.

»Warum sagen Sie das?«, fragte John verunsichert.

»Ach«, der Greis machte eine wegwerfende Handbewegung, »hier gibt es keinen Zahnarzt – und wenn, dann könnte sich keiner von uns einen leisten.« Dann schwieg er und schritt, wie es schien, etwas munterer als zuvor weiter, bis sie an einem halb verfallenen Holzhaus ankamen. Erst hier sagte er: »So, da wären wir. Immer herein in die gute Stube.« John war gerade dabei, die Türschwelle zu passieren, als er einen Blick auf das Namensschild neben dem Eingang erheischen konnte.

»Sie heißen auch Nadeau?«, fragte er eine Spur zu schrill.

»Was?«, rief der Fischer, trat neben ihn, kniff die Augen zusammen und las laut mit seiner krächzenden Stimme: »Na-deau. Tatsächlich, Sie sagen es. Warum, wer heißt noch so?«

»Na, ich!« John kicherte irre vor sich hin. Dann fasste er sich wieder und sagte: »Ich werde mir für heute Nacht eine andere Bleibe suchen. Nichts für ungut.« Damit wandte er sich zum Gehen, als er fast zeitgleich ein paar eisige Finger an seinem Nacken spürte.

»Hiergeblieben, Bürschchen«, flüsterte der Alte, wobei er ihm so nahe kam, dass seine Barthaare Johns Ohrmuschel streiften. »Zu lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet, wollte schon ewig mal wieder einen Gast beherbergen. Und sehen Sie selbst, der Nebel zieht herauf, und die Nacht ist hier besonders finster. Wo also wollen Sie bleiben?«

Unschlüssig tippelte John auf der Stelle, bevor er schließlich doch die Beinahruine betrat und seinen Seesack fallen ließ. Der Gestank, der ihm im Inneren entgegenschlug, erinnerte ihn an Krummnase vom Kutter. Hier drin mussten irgendwo zuhauf Fischkadaver gelagert werden, so wie es roch. Herr Nadeau verschwand kurz hinter einer wurmstichigen Holztür und kam gleich darauf mit einem riesigen Exemplar von Kabeljau zurück, das er John in die Hand drückte.

»So, den backen Sie mir jetzt«, sagte er und zeigte zur Feuerstelle inmitten des Wohnraums. John wollte gerade entgegnen, dass er nicht genau wisse, wie man Kabeljau zubereitet, als er ein zischendes Geräusch vernahm und eine unangenehme Hitze zwischen seinen Fingern verspürte. Der Fisch brutzelte in seinen Händen! Er erschrak derart, dass er den Kabeljau fallen ließ. Doch statt auf den Holzdielen zu landen, fing ihn sein Gastgeber flink auf, senkte seinen Kopf über den Fisch und schmatzte unflätig, während er den gebratenen Leckerbissen mitsamt Gräten hinunterschlang. Eine Minute später hob Herr Nadeau sein Gesicht und John sah im fahlen Licht, wie seine Augen leuchteten. Sie strahlten eine seltsame Jugendlichkeit aus, die nicht recht zu seinem Alter passte.

John blinzelte, da er sich von jenem Strahlen geblendet fühlte, und meinte gleichzeitig, etwas schlechter sehen zu können als zuvor. Er wischte seine Hände, die noch immer schmierig waren von der schleimigen Haut des Fisches, an seiner Hose ab und ging langsam rückwärts Richtung Haustür. Jeder Schritt bereitete ihm Mühe, bis er endlich an der Tür anlangte.

»He, wohin denn?«, schnarrte der Alte. »Wenn Sie meinen, ich wäre schon so verkalkt, dass ich nur noch die Hälfte mitbekäme, haben Sie sich geirrt.« Mit erstaunlich schnellen Schritten war er bei John an der Tür und sagte: »Sie hätten auch was von dem Fisch essen sollen, hätte Sie zu Kräften gebracht.« Er beäugte ihn von oben bis unten. »Ja, Sie sehen irgendwie etwas saftlos aus, um es mal so auszudrücken.« Dann hustete er ein fieses Lachen. »Na, Sie werden schon noch dahinterkommen.«

»Ich werde hinter gar nichts mehr kommen, sondern jetzt gehen.« Damit wandte sich John um und ergriff die Türklinke. Ängstlich drückte er sie nach unten, doch entgegen seiner Vermutung, ließ sich die Tür ohne Weiteres öffnen, sodass er einen Schritt hinaus in die plötzliche, vollkommene Dunkelheit tun konnte.

Eine Sturmböe ergriff seine Beine, riss ihn von den Füßen und schleuderte ihn wieder zurück in die Hütte seines Gastgebers.

»Das war aber ein kurzer Ausflug«, griente der, beugte sich über John und riss ihm nun tatsächlich den Mund auf. Dann langte er mit seiner noch vom Fischfett triefenden Hand hinein und holte Johns Zähne heraus!

Was war das? Warum lösten sie sich vom Zahnfleisch und warum verspürte er keinen Schmerz dabei? Eine Sekunde später hielt ihm Herr Nadeau ein anderes Gebiss vor Augen und sagte: »Da sieh mal einer an, meine Zähne. Jedenfalls bis vor Kurzem. Jetzt sind’s Ihre.« Dann klapperte er mit den neuen Zähnen in seinem eigenen Mund, indem er sie mehrere Male aufeinanderkrachen ließ, und stellte fest: »Wirklich verdammt gutes Zahnmaterial!«

Sein altes Gebiss hielt er in der rechten Hand und machte sich einen Spaß daraus, es so zu bewegen, als würde John sprechen, während er mit Johns Stimme sagte: »Was ist denn jetzt los? Ich verstehe gar nichts mehr. Habe wohl die Karte nicht richtig gelesen.«

John schaute von dem Gebiss zu Herrn Nadeaus Gesicht und kapierte schlagartig, warum der Dicke vorhin so schnell wie möglich Brigus verlassen wollte und welchen Zusammenhang es zwischen dem Alter der Dorfbewohner und der Anzahl an Besuchern auf sich hatte.

»Die Karte«, stammelte er und erinnerte sich an die Zeilen auf der Rückseite der Ansichtskarte oberhalb der Grußformel:

Lieber Herr Nadeau,

kommen Sie doch nach Brigus, an diesen schönen Ort, an dem auch Sie ganz neue Seiten an sich entdecken können. Jeder, der einmal hier war, wird grundlegend verändert und nicht mehr in sein voriges Leben zurückkehren.

John versuchte, sich zu erheben, doch in dem gebrechlichen Körper des Alten fiel es ihm zu schwer, sodass er auf dem Boden liegen blieb. Sein bisheriger Körper stand vor ihm und sagte: »Ja, bleiben Sie ruhig liegen. Lange machen Sie es ohnehin nicht mehr. Was bin ich froh, dass Sie mich so rasch besucht haben!«

John lag da, schloss die Augen und konnte nun im Geiste die unleserliche Unterschrift auf der Postkarte entziffern:

Bis bald im Hier und Jetzt,

Ihr Alter Ego.

 

 

»Das Geheimnis von Brigus« erschien ebenfalls in »Unglumrian und andere Geschichten – Zehn dunkle Kurzgeschichten«, einem E-Book, das unter www.amazon.de/Unglumri an-andere-Geschichten-dunkle-Kurzgeschichten-ebook/dp/B00O94PFFS/ref=sr_1_1?s=digital-text&ie=UTF8&qid= 1412749305&sr=1-1&keywords=unglumrian zu finden ist.