Über das Buch

St. Peter-Ording, 1956. Anni hat sich endlich ihren Traum erfüllt, die Seeperle zu renovieren. Doch ihr Mann Hinnerk legt ihr immer wieder Steine in den Weg. Für Anni ist klar, dass es so nicht weitergehen kann. Aber traut sie sich ein Leben als geschiedene Frau und Mutter eines Säuglings zu? Edith ist mittlerweile verheiratet und verbringt viel Zeit in St. Peter. Sie setzt alles daran, das Sorgerecht für Pauline, ihre uneheliche Tochter, die ihr weggenommen wurde, zu bekommen. Und greift dabei nach ungewöhnlichen Mitteln. Helena unterstützt nun seit einiger Zeit Frauen, die ungewollt schwanger geworden sind, doch dann steht die Polizei vor ihrer Tür, jemand hat sie angezeigt. Und plötzlich haben die drei Freundinnen nur ein Ziel: Helena zu retten …

Über Marie Sanders

Hinter Marie Sanders verbirgt sich Bestsellerautorin Steffi von Wolff. Die 1966 bei Frankfurt geborene Journalistin arbeitete jahrelang für verschiedene Radiosender und hat zahlreiche Romane veröffentlicht. Schon immer war es ihr großer Wunsch, über die 50er Jahre zu schreiben, ein Jahrzehnt, das sie seit jeher fasziniert hat. Steffi von Wolff lebt in Hamburg, die Sommer verbringt sie zum Schreiben auf einem Boot in Dänemark.

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Marie Sanders

Die Frauen vom Nordstrand

Schicksalswende

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Nachwort

Dank

Impressum

Für »Omaheile« Elli Heil,
die für mich schon immer mehr als eine Oma war!

Prolog

St. Peter a. d. Nordsee, Dezember 1953

»Ach, Moin, Herr … Brunner, nicht wahr?«

Sigrun Broders schaute den Mann vor dem Tresen treuherzig an. Sie erinnerte sich an den Gast, der noch vor Kurzem hier mit seinem Bruder zur Erholung gewesen war. Ein paarmal war er mit Anni aus gewesen, das hatte Gerda Janssen, deren Mutter, Gott habe sie selig, gar nicht gern gesehen. Man ging doch nicht mit einem fremden Mann aus!

Aber Anni wäre nicht Anni gewesen, wenn sie es nicht einfach trotzdem getan hätte. Sigrun hatte damals schon vermutet, dass zwischen den beiden mehr war als nur Sympathie, aber sie hatte sich gehütet, was zu sagen. Mit ihren gerade mal fünfzehn Jahren war sie schon klug genug, sich nicht in die Angelegenheiten anderer einzumischen.

Er sah jedenfalls gar nicht gesund aus, der Herr Brunner, nicht so wohlgenährt und braun wie zur Zeit seines Aufenthalts hier. Da waren tiefe Ringe unter seinen Augen, und abgenommen hatte er offensichtlich auch.

»Stimmt genau, und Sie sind das Fräulein Sigrun, wenn ich mich recht erinnere?« Friedrich Brunner lächelte freundlich.

Sie nickte, und ihr Gesicht verfärbte sich tiefrot. »Hatten Sie reserviert?« Sigrun war heute Morgen die Ankünfte durchgegangen, da hatte aber kein Brunner gestanden – das hätte sie sich doch sicher gemerkt.

»Nein, ich bin … sozusagen spontan hier. Sagen Sie, Fräulein Sigrun, ob Sie wohl die Frau Janssen holen können?«

Sigrun sah nun traurig aus. »Die ist doch verstorben«, sagte sie. »Kürzlich erst. Sie war sehr krank.«

»Anni war krank?« Friedrich schrie fast.

Sigrun hielt ihre Hand vor den Mund. »Nein, nein, nicht die Frau Schwenck.«

»Die … Frau Schwenck? Wer soll das denn sein?« Nun verstand Friedrich gar nichts mehr.

Sigrun runzelte die Stirn. »Na, Anni. Anni Schwenck? So heißt sie doch, seitdem sie Hinnerk geheiratet hat.«

Bei dieser Eröffnung wurden Friedrich Brunner plötzlich die Knie weich, und er musste sich am Tresen festhalten.

»Sie hat geheiratet?«

Sigrun nickte eifrig. »Ja, wir hatten hier eine große Hochzeit mit einer wunderbaren Torte, und alle haben getanzt, und es war so schön, weil …«

»Sigrun«, unterbrach sie Friedrich jedoch schnell. »Können Sie mir dann bitte mal die Frau Schwenck holen?«

Anni war also verheiratet. Gut, damit hatte er rechnen müssen. Dennoch würde er ihr sagen, was er ihr zu sagen hatte, sonst würde er bald schon vor die Hunde gehen.

* * *

Seit der Hochzeit mit Manon war jeder Tag für ihn die Hölle gewesen, und Manon wusste ebenfalls nicht, wie sie mit ihm umgehen sollte. Natürlich hatte ihm die ganze Situation leidgetan, denn sie konnte ja nichts für seine Gefühle. Friedrich hatte sich so sehr bemüht, Anni zu vergessen, er hatte versucht, sich die Ehe mit Manon schönzureden, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen. Seine Frau war verzweifelt, sie liebte ihn aufrichtig, doch er distanzierte sich immer mehr von ihr – und endlich sagte er ihr die ganze Wahrheit. Danach fühlte er sich einerseits seltsam erleichtert und andererseits auch schäbig: Wieso konnte er diese Frau nicht so lieben, wie er eigentlich müsste?

Die sonst immer so kühle und beherrschte Manon hatte auf seine Eröffnung verständnisvoll und ruhig reagiert, und das würde er ihr nie vergessen.

»Wir wissen beide, dass unsere Verbindung eine Vernunftehe ist«, hatte sie zu ihm gesagt und die Kristallkaraffe mit dem Whisky geholt. »Ich habe das Glück, dass ich dich sehr, sehr mag, Fried, wirklich, aber ich kann nicht verlangen, dass du mich liebst. Jetzt erzähl mir erst einmal von deiner Anni.«

Und das hatte er getan – wie er sie kennengelernt und sofort zu einem Glas Wein eingeladen hatte, wie vertraut sie gleich am ersten Abend miteinander gewesen waren.

»Anni hat etwas so Starkes und gleichzeitig Weiches an sich, wie ich es noch nie vorher bei einer Frau erlebt habe«, seufzte Friedrich schließlich. »Versteh das bitte nicht falsch, ich meine nicht, dass du schlechter bist als sie, ich will damit nur sagen, dass meine Gefühle für sie anders sind als alles, was ich bisher kannte, ich … ach, ich weiß ja auch nicht, wie ich es erklären soll.« Hilflos hob er beide Hände. Manon ergriff eine davon und hielt sie fest.

»Du musst dich nicht rechtfertigen. Bei wahrer Liebe sind die Wahrnehmungen und Gefühle nun mal anders«, sagte sie sanft. »Wie sieht sie aus?«, wollte sie dann wissen, und Friedrich erzählte dankbar von Annis Haaren, von ihren Augen und ihrer ganzen Ausstrahlung.

»Sie hat ein so großes Herz«, erklärte er. »So wie du auch, Manon. Ich danke dir.« Sie hielten sich immer noch an den Händen.

»Nur dass ich nicht Anni bin«, lächelte Manon und versuchte, ihre Traurigkeit hintenanzustellen. Dann ließ sie seine Hand los und lehnte sich in ihrem Lieblingssessel zurück. »Ich glaube, ich möchte jetzt noch einen Drink. Aber keinen Whisky.«

Friedrich stand auf und begab sich an ihren üppig bestückten Barschrank.

»Was hättest du gern?«

»Einen Gin Tonic«, bat Manon.

Friedrich bereitete ihn zu, und seine Hand zitterte, als er die Zitrone schnitt. Er war durcheinander und dankbar gleichzeitig. Für sich selbst nahm er noch einen Whisky auf Eis, dann setzte er sich mit den Getränken wieder zu ihr.

»Auf die Liebe«, seufzte Manon und lächelte schwach.

»Du bist zu gut für diese Welt«, sagte er dann. »Auf dich, und ja, auf die Liebe.«

»Mach dir um mich keine Sorgen«, erklärte Manon nach einem Schluck Gin mit fester Stimme. »Ich komme zurecht. Aber es ist ja nicht mit anzusehen, wie du leidest, seit Monaten schon. Fahr hin zu deiner Anni. Lern sie kennen und verbring Zeit mit ihr. Und wenn es passt, können wir über eine leise Trennung sprechen. Was sagst du dazu?«

Friedrich stand auf und gab seiner Frau einen Kuss auf die Stirn. »Ich danke dir, Manon.«

* * *

Und genau das hatte er getan – nun war er hier, um endlich mit Anni zu reden, wie er es schon vor Monaten hätte tun sollen.

»Hallo, Herr Brunner?« Friedrich kam zurück in die Gegenwart. »Ja? Ach so, entschuldigen Sie, Fräulein Sigrun … Also, können Sie sie holen bitte?«

Sigrun sah ihn verwundert an. »Ich hab es doch jetzt schon dreimal gesagt. Die Frau Schwenck ist weg. Einfach so, nach der Beerdigung von der Frau Janssen war das. Fort ist sie, bei Nacht und Nebel, morgens war sie nicht mehr da, und die kleine Lisbeth auch nicht.«

»Lisbeth?« War das eine von Annis Freundinnen? Nein, die hießen doch anders …

»Natürlich, die kleine Tochter von der Frau Schwenck.«

Anni hatte also auch ein Kind. Aber das Schlimmste war immer noch: Sie war nicht da.

»Hören Sie, Fräulein Sigrun, das kann doch nicht sein. Anni kann doch nicht einfach verschwunden sein!« Er schüttelte den Kopf. Das war sicher ein merkwürdiges Missverständnis, so einfach war das.

Aber Sigrun nickte eifrig. »Doch, ist sie. Niemand weiß, wo sie hin ist, auch nicht die Frau Doktor Barding und die Edith Müller, und mit den beiden war sie ja eng befreundet.«

»Hat sie denn wenigstens etwas zurückgelassen, einen Brief, eine Nachricht, irgendwas?«

Nun schüttelte Sigrun den Kopf. »Nein, nichts. Nur einen Koffer hat sie mitgenommen.« Nun tat ihr Herr Brunner doch leid, weil er so hilflos aussah. Wie ein getretener, ausgesetzter Hund.

Friedrich stand da, ihm wurde wieder ganz schwindelig. Er musste sich unbedingt setzen, sonst würde er hier direkt am Empfang der Seeperle umfallen.

»Sie sind ja ganz weiß im Gesicht, Herr Brunner«, kam es da auch schon von Sigrun. »Ist Ihnen nicht gut?«

»Ich …«, Friedrich atmete tief ein und aus, und langsam verschwand der Schwindel.

»Danke, es geht schon, Fräulein Sigrun«, sagte er. »Wenn Anni zurückkommen sollte, dann sagen Sie ihr bitte, dass ich heute hier war. Sagen Sie ihr … Nein, sagen Sie nur, dass ich zu ihr wollte. Würden Sie das tun?«

Wieder nickte Sigrun eifrig. »Natürlich, Herr Brunner.«

»Danke.« Friedrich drehte sich um und verließ die Seeperle. Die eiskalte Dezemberluft tat ihm gut. Er setzte seinen Hut auf und ging zu seinem Wagen.

Anni war also fort. Damit hatte er nicht gerechnet.

Was sollte er denn jetzt nur tun?

Kapitel 1

Hamburg, Amt für Fürsorge, November 1955

Anni saß auf einem unbequemen Holzstuhl und umklammerte den Griff ihrer Handtasche so fest, dass ihre Fingerknöchel ganz weiß wurden. Sie war angespannt bis in die Haarspitzen, ihr war heiß und kalt gleichzeitig. Gemeinsam mit Mutti, ihrer Chefin, hatte sie überlegt, was sie heute anziehen sollte. Dieser Termin war wohl der wichtigste in ihrem ganzen bisherigen Leben. »Du musst seriös aussehen«, hatte Mutti gesagt. Gemeinsam waren sie losgegangen und hatten dieses schlichte Pepita-Kostüm aus Tweed im Kaufhaus Hermann Tietz erstanden.

Annis blonde Haare waren hochgesteckt, und sie hatte ein wenig Rouge aufgetragen – ansonsten sah sie wie immer natürlich und frisch aus, auch die Anspannung konnte ihrer Ausstrahlung nicht viel anhaben.

Sie schaute sich in dem Wartebereich des Amtes um: lange Sitzreihen mit Holzstühlen, mit Sand gefüllte Aschenbecher, aus denen es qualmte, einige abgegriffene Zeitschriften. Es roch nach Rauch, Bohnerwachs und Schweiß, keiner der Wartenden lächelte, sondern die Anwesenden starrten entweder auf den Linoleumboden, blätterten in den abgegriffenen Illustrierten oder unterhielten sich hier und da im Flüsterton.

Gestern war das passiert, was Anni seit ihrer überstürzten Flucht mit ihrer kleinen Tochter Lisbeth aus St. Peter im Dezember 1953 befürchtet hatte. Alles hatte sie geschafft, sie war nach Hamburg gekommen und hatte dort mit einiger Mühe ihre Freundin Rena ausfindig gemacht. Diese hatte ihr, kurz nachdem sie ihren gewalttätigen Mann Gerhard verlassen und aus Wien geflohen war, eine Karte geschrieben: Bin in Hamburg. Mir geht es gut. R.

Das war der einzige Anhaltspunkt, den sie für ihre Suche gehabt hatte.

Zurückschreiben konnte sie ihr nicht, es stand keine Adresse dabei, und Anni glaubte nicht, dass Rena irgendwo offiziell gemeldet war. Sie hatte nur hoffen können, dass es ihr gut ging.

Anni schaute auf die große Uhr. Die Minuten schienen sich wie Kaugummi zu dehnen, quälend langsam verging die Zeit. Anni lehnte sich zurück und hing ihren Gedanken nach. Was ihr Mann Hinnerk wohl mit der Seeperle, ihrem wunderschönen Hotel in St. Peter, gemacht hatte? Hatte er es wirklich verkauft? Weil sie rein rechtlich nun ihm gehörte, konnte er das auch einfach entscheiden, ohne sich um Anni kümmern zu müssen. Keine Lust mehr zu arbeiten hatte er. Und dann, bei einer Scheidung, wäre womöglich ein Vormund für Lisbeth bestellt worden, das hatte Anni unter allen Umständen vermeiden müssen. Also hatte sie nach der Beerdigung ihrer Mutter Gerda, die kurz nach ihrem Vater Ole gestorben war, St. Peter heimlich und schnell wie der Wind verlassen. Nur Helena und Edith, ihre besten Freundinnen in St. Peter, wussten Bescheid. Sie würden dichthalten, da war sich Anni sicher. Wie gut, dass es ihre Vermieterin Hedwig Sterzel gegeben hatte. Ohne viele Fragen hatte sie Anni und Lisbeth in ihre große Wohnung aufgenommen und sich rührend mit um die Kleine gekümmert.

Die Gedanken flogen in Annis Kopf hin und her. Plötzlich vermisste sie St. Peter, die alte Haushälterin und gute Seele Isa, sie vermisste Helena und auch Edith, die nach ihrer Heirat nach Frankfurt gezogen war. Ob Edith wohl das Sorgerecht für ihre Tochter zurückbekommen hatte? Anni hätte zu gern einiges gewusst, aber die Furcht, Lisbeth weggenommen zu bekommen, hatte sie daran gehindert.

Anni schaute wieder auf die Uhr. Erst eine weitere Minute war um. Dennoch, wie schnell die Zeit in den letzten Monaten vergangen war …

Kapitel 2

Hamburg, Dezember 1953

Direkt nach ihrer Ankunft in Hamburg hatte Anni die Zimmeranzeigen in einer Zeitung studiert – nur wenig später war sie auf gut Glück in den Stadtteil Eppendorf gefahren und hatte bei einer älteren Dame geklingelt. Glücklicherweise hatte diese ihr sofort ein kleines Zimmer mit Bad- und Küchenbenutzung vermietet. Anni hatte ihr erzählt, ihr Mann sei noch in Gefangenschaft und sie wolle in Hamburg auf eigene Faust ihre Schwester finden, denn die Suche übers Rote Kreuz hätte bislang nichts gebracht. Hedwig Sterzel hatte bereitwillig auf Annis winzige Tochter Lisbeth aufgepasst und ihr auch mal das Fläschchen gegeben, wenn sie hungrig war, während Anni Abend für Abend losgezogen war und nach Rena gesucht hatte. Sie besaß ein Foto von ihr und hatte dieses herumgezeigt, bis sie schließlich zu einem Lokal in einer ruhigen Seitenstraße nahe der Reeperbahn geschickt worden war. Um Zutritt zu bekommen, musste man zunächst läuten und wurde daraufhin durch eine geöffnete Klappe an der schweren Eingangstür kurz gemustert.

»Ja, bitte?«, hatte ein bedrohlich dreinblickender, glatzköpfiger Mann Anni kurz angebunden gefragt.

»Ich … ich habe einen Termin«, hatte Anni geistesgegenwärtig behauptet.

»Aha.« Er hatte daraufhin die Tür geöffnet und Anni eingelassen.

»Treppe hoch, dann links, da steht Kontor an der Tür, da sitzt Mutti«, hatte er, ein Riese mit unglaublich breiten Schultern, ihr nuschelnd mitgeteilt. Mit »Mutti« meinte er wohl die Inhaberin, dachte Anni, die kurz darauf zaghaft an besagte Tür klopfte.

»Ja«, antwortete eine tiefe Stimme. Anni öffnete die Tür und stand in einem kleinen Raum, der von einem riesigen, verschnörkelten Schreibtisch dominiert wurde. Über und über war dieser mit Unterlagen überhäuft, in einem wuchtigen Schrank dahinter sah es nicht besser aus. Lose Zettel lagen überall, und verschiedenste Ordner stapelten sich auf dem Boden neben anderen Papieren. Es sah aus, als hätte jemand verzweifelt und hektisch etwas gesucht und dann nichts wieder in Ordnung gebracht. Anni fand das furchtbar. Aus der Seeperle war sie eine gewisse Ordnung in den Unterlagen gewohnt und hasste es, wenn man nichts wiederfinden konnte.

›Hier müsste dringend mal Grund reingebracht werden‹, war deshalb ihr erster Gedanke. Am liebsten hätte sie sofort angefangen, die Post zu sortieren …

»Haben wir einen Termin, Süße?«, fragte die korpulente, rothaarige Frau, die hinter dem Schreibtisch saß und an einer gelblichen Zigarettenspitze sog, mit rauer Stimme. Ein voller Aschenbecher neben ihr ließ ahnen, dass sie sehr viel Zeit so verbrachte.

»Nein«, gab Anni zu. »Nicht wirklich. Ich suche jemanden, eine Freundin. In einer anderen Bar hat man mir gesagt, dass ich sie hier finden würde. Bitte, können Sie mir weiterhelfen?«

Sie hatte Glück gehabt, zwei Herren hatten Rena auf dem Foto erkannt und Anni geholfen, wenn auch zögerlich. Niemand wollte mit dem Chérie in Verbindung gebracht werden, und schon gar nicht als möglicher Gast. Zuerst hatten die beiden Männer behauptet, die Frau auf dem Foto noch nie gesehen zu haben, aber Anni hatte gemerkt, dass etwas nicht stimmte, daraufhin nachgehakt und weitergebohrt. Schließlich hatten sie sie ans Chérie verwiesen.

Die Frau hustete, nickte Anni zu und deutete auf einen roten Samthocker vor ihrem Schreibtisch. »Dann setzen Sie sich erst mal hin, Kindchen, Sie sind ja ganz durchgefroren.«

Das stimmte. Es war eiskalt an diesem Abend, und Anni war froh, sich ein wenig ausruhen zu können. Außerdem war es hier herrlich warm, auch wenn die Luft durch den Zigarettenrauch komplett vernebelt war.

»Also: Wer sind Sie und wen suchen Sie denn?« Die Rothaarige stand hustend auf und holte aus einem Barschrank eine Kristallkaraffe und zwei Gläser.

»Was zu trinken?«

Anni schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Mein Name ist Anneke. Anneke Janssen.« Sie hatte beschlossen, nicht den Namen zu nennen, den sie seit der Heirat mit Hinnerk trug.

Die Frau goss sich ein. »Darauf einen Dujardin, heißt es doch so schön.« Sie lachte. »Also, Anneke. Ich bin Johanna, aber alle hier nennen mich Mutti. Wen suchen Sie denn?«

»Rena«, sagte Anni. »Oder vielmehr Carmen, so nennt sie sich jetzt anscheinend.«

»Mhm.« Die Frau musterte Anni. »Sind Sie auch aus dem Gewerbe?«

»Nein.« Anni schüttelte den Kopf und fragte sich, wie Johanna nur darauf kam. Nichts an ihrem Äußeren wies darauf hin, dass sie in einer Bar oder einem Bordell arbeiten könnte: Sie trug einen dunkelgrauen Rock, eine beige Bluse, Pullover und dicke Strumpfhosen, darüber eine Jacke, die ein wenig wärmer hätte sein können. Farbloser und unprätentiöser ging es kaum.

»Schade. Bist jung und siehst unerfahren aus – das mögen viele Männer. Aber gut, Carmen. Woher kennst du sie?«

»Sie ist meine längste und beste Freundin«, gab Anni zögerlich an.

»Weiß sie das auch?«, fragte die Frau, die offenbar gelernt hatte, dass Vorsicht in weiten Teilen besser war, als später das Nachsehen zu haben.

»O ja, das tut sie. Und ich bin sicher, sie freut sich, wenn sie hört, dass ich hier bin.« Annis Stimme war endlich wieder fest und sicher, aber langsam bekam sie Kopfschmerzen. Dieser Raum musste unbedingt gründlich gelüftet werden.

»So, so«, lautete die Antwort. Dann drückte sie auf einen Knopf, der sich auf einer Schaltanlage befand, und kurz darauf kam der Mann, der Anni die Tür geöffnet hatte, in den Raum.

»Bubi, hol mal bitte Carmen her, wenn sie frei ist«, sagte Johanna, der glatzköpfige, riesengroße Bubi nickte knapp und verschwand wortlos wieder. Johanna steckte sich eine neue Zigarette an und stellte das Radio lauter. »Das könnte ich andauernd hören«, sagte sie, während die Kilima Hawaiians »Es hängt ein Pferdehalfter an der Wand« sangen.

Und dann hörte Anni schnelle Schritte, die Tür flog auf, und Rena stand im Raum. »Ja, Mutti, was ist denn? Ich …«, fing sie an, dann sah sie Anni und schlug die Hände vor den Mund.

»Anni!«, rief sie aus und rannte auf Anni zu, die aufgestanden war. Sie umarmte die Freundin so heftig, dass beide beinahe umgefallen wären.

»Wie kommst du hierher, wie hast du mich gefunden, warum bist du in Hamburg? Oh, wie ich mich freue, ich kann es gar nicht glauben! So eine lange Zeit, Mutti, das ist Anni, meine Freundin, ach Anni, lass dich mal anschauen …«

Anni lachte. »Wenn du wie ein Wasserfall redest, kann ich ja nicht antworten«, sagte sie dann und drückte Rena fest an sich. »Tut das gut, dich zu sehen! Ach Renalein! Ich hab dich so vermisst!«

Johanna stand auf und lächelte. »Dann lass ich euch mal alleine, ihr zwei«, sagte sie. »Wenn ihr was trinken wollt, Weinbrand und Whisky sind im Barschrank. Bedient euch!«

»Danke, Mutti«, brachte Rena hervor, die Anni gar nicht loslassen wollte.

Und dann waren sie endlich allein.

»Also, ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich brauche jetzt unbedingt einen guten Schluck«, meinte Rena schließlich.

Anni nickte. »Heute muss das sein.«

»Weißt du was?« Rena bückte sich vor dem kleinen Bosch-Kühlschrank. »Ha! Ich wusste es. Eine Flasche Champagner ist noch da. Den hat Mutti zum Fünfzigsten geschenkt bekommen, obwohl sie gar keinen Champagner mag, deswegen können wir den ohne schlechtes Gewissen nehmen.«

Sie nahm die Flasche und öffnete sie. Dann holte sie zwei Gläser aus einem Schrank und goss ihnen beiden großzügig ein.

»Hui«, sagte Rena, reichte Anni ein Glas und setzte sich mit ihrem eigenen hin. »Wer fängt an?«, fragte sie dann aufgeregt.

Anni lächelte und betrachtete die Freundin, die sie anstrahlte. »Gern du!«, meinte sie. »Aber erst stoßen wir an.«

Rena wirkte sehr gelöst auf sie, so als würde sie sich wohlfühlen. Gut, für Annis Geschmack war sie ein bisschen zu sehr geschminkt – die Augen dunkelgrau betont, viel Rouge, ein sehr roter Lippenstift. Auf eine bestimmte Sorte Männer übte Rena mit ihrer engen schwarzen Corsage mit Strapsen, Nylons und hochhackigen Lackpumps bestimmt eine starke Anziehung aus. Diese Aufmachung war zwar ungewohnt, aber Anni war so froh, ihre Freundin wiederzuhaben, dass für den Moment alles andere egal war.

Rena hob ihr Glas: »Also, auf uns, Annikind! Ich könnte schreien vor Freude darüber, dass du hier bist.«

Sie stießen an, und Anni genoss den Champagner, der ihr durch die Kehle rann. Tat das gut!

»Gerhard zu heiraten war der größte Fehler meines Lebens«, sagte Rena dann und lehnte sich in dem grünen Clubsessel zurück. »Ich hätte es gleich wissen müssen – ach, eigentlich habe ich es ja gewusst. Du weißt ja bestimmt noch, was vorher passiert ist.« Sie presste die Lippen zusammen. Anni nickte. »Natürlich weiß ich das. Und es war nicht das letzte Mal, dass er dir Gewalt angetan hat, stimmt’s?«

»Nein«, sagte Rena, und nun war ihre Stimme hart. »Auf der ansonsten so wunderschönen Hochzeitsreise nach Italien hat er mich täglich vergewaltigt. Jeden Abend nach dem Essen gingen wir noch in eine Bar, egal, wo wir waren, und Gerhard hat angefangen, sich zu betrinken. Ich konnte irgendwann kaum mehr etwas essen, mir war nur noch übel. Und getrunken habe ich auch so gut wie nichts. Gerhard dafür umso mehr. Nun, kaum waren wir im Hotel angekommen, fing er einen sinnlosen Streit an, meistens darüber, wie prüde und frigide ich sei, aber als seine Frau habe ich gefälligst zu tun, was er sagt. Einmal war es so schlimm, dass ich aus dem Hotelzimmer geflohen bin, hinunter an die Rezeption, im Bademantel. Die nette Concierge hat sogar die Polizei gerufen, und einer der Polizisten sprach Deutsch. Da könnten sie nichts machen, hat er gesagt, und ich hab ihm angesehen, wie unangenehm ihm das war. So etwas ist innerhalb einer Ehe eben nicht strafbar.« Sie nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas und füllte sich nach.

»Als wir dann zurück in Wien waren, hörte es natürlich nicht auf. Dazu kam noch dieser entsetzliche Kontrollzwang. Überall hat Gerhard herumgeschnüffelt, alles überwacht. Es war nicht zum Aushalten. Einmal stürmte er sogar beim Friseur hinein, während ich unter der Haube saß. Er brüllte herum und hat einen von diesen Rollwagen, weißt du, wo die Wickler und die Bürsten draufliegen, einfach umgetreten, nur weil er mich nicht sofort gesehen hatte. Am schlimmsten war es aber, wenn wir eingeladen waren oder selbst Gäste hatten. Er hat bestimmt, was ich anziehe, was ich sage, wie ich mich bewege – und wehe, irgendwas hat ihm nicht gefallen. Das bekam ich dann zu spüren, wenn wir alleine waren. Grün und blau hat er mich geschlagen. Und es war ja Sommer, Anni, aber ich habe keine kurzärmligen Kleider mehr getragen, ich bin so gut wie nie mehr aus dem Haus gegangen. Wir hatten zwei Angestellte, eine Zugehfrau, die kam jeden Tag, und eine Köchin, die kam, wenn wir Gäste erwarteten. Die Zugehfrau hat einmal zu mir gesagt, so Männer wie meinen, die müsste man erschießen. Das seien keine Männer, sondern Schweine. Aber sie konnte mir auch nicht helfen.« Renas Stimme war immer leiser geworden, und Anni legte eine Hand beruhigend auf ihren Arm.

»An einem Abend hat Gerhard mich so geschlagen, dass die Haut über meinem Auge aufgeplatzt ist und ich am nächsten Tag zum Arzt gegangen bin. Ich habe versucht, dort anzudeuten, was passiert ist, aber der gute Mann ist überhaupt nicht darauf eingegangen, sondern hat sogar noch so blöde Witze gemacht, ob meinem Mann das Essen nicht geschmeckt habe. Ich wäre so gern nach Hause gefahren, Anni. Ich hab euch alle, vor allen Dingen dich, so sehr vermisst. Aber ich konnte ja noch nicht mal unbeaufsichtigt telefonieren. Wenn er nicht da war, hat er das Telefon abgeschlossen. Dass ich nicht auf deiner Hochzeit sein konnte, fand ich ganz schrecklich, aber Gerhard hatte mich nicht nach St. Peter fahren lassen.« Nun kamen Rena die Tränen. »Und dann hat er mir meinen Schlüssel abgenommen und gesagt, ich dürfe die Wohnung nur noch mit ihm verlassen. Irgendwann konnte ich nicht mehr, Anni. Ich konnte einfach nicht mehr.« Sie trank ihren Champagner leer.

»Hast du denn mit deiner Mutter gesprochen?«, fragte Anni, aber konnte die Antwort schon erahnen. Lore Dittmann war eine Meisterin im Verdrängen von Dingen, die nicht in ihr Weltbild passen wollten.

»Natürlich, mehrfach. Heimlich von meiner Schneiderin aus.« Renas Stimme klang bitter. »Ich solle mich zusammennehmen und besser verhalten, hat sie gesagt. Dein Mann schlägt dich ja nicht ohne Grund, da wird doch etwas vorgefallen sein, hat sie gemeint. Ich habe geweint und sie gebeten, zu mir zu kommen, aber sie kam nicht. Ich solle jetzt erst einmal schwanger werden, dann würde Gerhard sicher nicht mehr zuschlagen. Kann ich bitte ein Taschentuch haben?« Anni holte eins aus ihrer Handtasche, Rena putzte sich die Nase und wischte ihre Augen trocken. »Davor hatte ich am meisten Angst, dass ich schwanger werde«, sagte sie dann, und Anni nickte.

»Nach einem besonders schlimmen Abend saß ich mit meinem Kaffee am Frühstückstisch, Gerhard hatte wunderbare Laune, ließ sich sein Essen schmecken und erzählte mir, dass er demnächst in München zu tun hätte, da sollte ich mitkommen. ›Wir machen uns ein paar schöne Tage, mein Schatz‹, hat er gesagt. An diesem Morgen war alles plötzlich so unwirklich. Gerhard las die Zeitung, dann holte er seine Jacke und machte sich bereit zum Gehen. Er fragte mich, was ich denn heute vorhätte – natürlich nichts, ich hatte ja keinen Schlüssel, um wieder in die Wohnung zu kommen. Einmal war ich so dumm und hab das Haus trotzdem verlassen, dann musste ich warten, bis er nach Hause kam, und du kannst dir vorstellen, was dann passierte. Ich hatte einfach immer schreckliche Angst. An diesem Tag aber, da ging es einfach nicht mehr. Mir war alles egal. Zum Glück wusste ich, wo Gerhard die Pässe aufbewahrte, und zum Glück war etwas Bargeld im Haus – ich habe gar nicht weiter nachgedacht. Als er gegangen war, bin ich sofort ins Schlafzimmer und hab gepackt. Da stand plötzlich Berta in der Tür. ›Sie machen es richtig, Frau Stöberl‹, hat sie gesagt. ›Der schlägt sie sonst eines Tages tot. Ich hab nix gehört und nix gesehn. Gott beschütze Sie, gute Frau.‹ Eigentlich wollte ich gleich nach Haus, nach St. Peter, aber ich hatte Angst, dass meine Mutter mich zurückschicken würde. Nun, ich habe mich dann dazu entschlossen, wenigstens in die Richtung zu reisen.«

Sie schaute sich um und hob beide Hände. »Und hier bin ich gelandet. Mutti ist unfasslich lieb zu mir, sie ist wirklich wie eine Mutter für uns alle. Ich bin froh, dass ich hier gelandet bin und nicht in so einer Kaschemme.«

»Aber warum hast du dich denn überhaupt für diesen … Beruf entschieden?«, wollte Anni wissen. »Du hättest doch auch was Seriöses machen können.«

»Ja? Was denn?«, fragte Rena zurück, und ihre Stimme klang ein wenig schnippisch. »Für alles andere braucht man Papiere, und die möchte ich nicht vorlegen. Nicht auszudenken, wenn Gerhard mich ausfindig macht. Er bringt mich um, ich weiß es. Hier bin ich sicher, wir kümmern uns alle umeinander. Und weißt du was? Jeder einzelne meiner Kunden ist netter als mein eigener Mann. Keiner hat auch nur ansatzweise Gewalt bei mir anwenden wollen.«

Sie lächelte die Freundin an. »Nun bist du dran, ich will alles hören. Was machst du in Hamburg? Fährst du bald wieder zurück nach St. Peter? Wie geht’s deinen Eltern?«

Anni holte Luft und brachte Rena auf den neuesten Stand.

Sie erzählte, dass erst ihr Vater mit seiner beginnenden Demenz von der Flut überrascht und ertrunken war und sich dann ihre Mutter mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen hatte.

»Mein Gott, Anni, das ist ja furchtbar. Erst Ole, dann Gerda, und so kurz aufeinander. Das muss ein schwerer Schlag für dich gewesen sein.« Rena streichelte Annis Hand.

»Es war nicht leicht, das ist wahr.« Anni atmete tief durch. »Allerdings ist auch etwas Schönes passiert: Ich habe eine Tochter bekommen, Rena. Sie heißt Lisbeth.«

»Ein Kind!« Rena strahlte. »Oh, Lisbeth, wie deine Urgroßmutter! Was für eine schöne Idee. Anni, ich freue mich so sehr für dich! Wo ist sie jetzt?«

»Bei meiner Vermieterin, Frau Sterzel. Ich hätte sie ja schlecht mit hierher nehmen können. Wir haben ein Zimmer in Eppendorf bekommen, ohne große Fragen. Ich sagte nur, mein Mann sei noch in Gefangenschaft und ich würde in Hamburg meine Schwester suchen. Frau Sterzel wohnt alleine in einer großen Wohnung, ich darf Küche und Bad mitbenutzen, und das ist mit einem Säugling natürlich von großem Vorteil.«

Rena nickte. »Ja, viele Damen mit größeren Wohnungen vermieten unter. Die Männer und Söhne sind im Krieg geblieben, in Gefangenschaft oder werden noch vermisst, das ist ein großes Problem für die Frauen. Und nicht alle möchten meinen Beruf ausüben …«

»Wie lange möchtest du das denn noch machen?«, fragte Anni.

»So lange es geht erst mal. Ich verdiene hier sehr, sehr gut, und das Beste ist, ich muss nichts davon einem gewalttätigen Ehemann abgeben.« Rena lächelte schief. »Aber sag mal …« Sie runzelte die Stirn. »Warum musstest du dir hier ein Zimmer nehmen? Das heißt, du bist nicht nur kurz hier? Ist etwas passiert?«

Anni nickte. »Hinnerk hat sich nicht gerade als Traummann entpuppt. Ich habe herausgefunden, dass er spielsüchtig ist, außerdem will er die Seeperle verkaufen und Privatier werden, ist das zu fassen? Dabei habe ich doch monatelang renovieren lassen … Aber das Schlimmste ist, er will sich scheiden lassen, und das hieße, dass der Staat mir Lisbeth wegnehmen könnte. Die Gesetze sind da nicht gerade frauenfreundlich.«

»Meine Güte!«, rief Rena. »Das ist ja entsetzlich. Einer Mutter ihr Kind wegnehmen? Also heißt das, du bist mit Lisbeth weggelaufen?«

Anni nickte. »In einer Nacht-und-Nebel-Aktion. Edith Müller und Helena Barding haben mir geholfen, mich in aller Frühe nach Flensburg zum Bahnhof gefahren.«

»Helena Barding? Die neue Ärztin?«

Anni nickte. »Und Edith Müller ist Lehrerin aus Kassel. Sie war als Betreuerin von hessischen Kinderkurgruppen in St. Peter. Mit den beiden habe ich mich angefreundet. Hoffentlich lernst du sie mal kennen, wir sind richtig gute Freundinnen geworden, und sie sind die Einzigen, die wissen dürfen, wo ich bin. Sonst weiß niemand Bescheid.«

»Nicht einmal Isa?«

»Nein, da hätte ich Angst, dass sie tratscht. Du weißt doch, wie sie ist.«

Isa arbeitete für Annis Familie, seit Anni denken konnte. Die Seeperle ohne Isa, die kochte und Kuchen und Torten und Brot und Salate fabrizierte und sich auch sonst um alles kümmerte, die die gute Seele der Seeperle war, konnte man sich überhaupt nicht vorstellen. Aber Anni hatte Angst, dass Hinnerk sie ausquetschen könnte oder Isa sich versehentlich verplapperte.

»Sie wird sich schreckliche Sorgen machen«, sagte Rena.

»Ja, und ich werde Helena und Edith bitten, ihr zu sagen, dass es Lisbeth und mir gut geht. Aber alles andere ist zu gefährlich.«

»Das verstehe ich.« Rena nickte.

»Ich bin also morgens ganz früh mit dem Zug weggefahren. Und nun bin ich hier und habe dich endlich gefunden.«

»Aber was wird nun? Wie sind deine Pläne?«

»Ein bisschen Geld habe ich, aber nicht furchtbar viel, ich werde …«

»Ich gebe dir Geld«, sagte Rena sofort.

»Nein, das möchte ich nicht. Ich möchte für Lisbeths und meinen Unterhalt selbst sorgen«, erklärte Anni mit fester Stimme. »Das heißt, ich werde mir etwas suchen.«

»Aber was denn? Du hast keine Ausbildung, und wenn du in ein Hotel gehst, um da zu arbeiten, dann werden die doch deine Papiere sehen wollen.«

»Das stimmt.« Anni überlegte. »Vielleicht in einem Café, oder …«

»Da ist doch die Gefahr viel zu groß, dass dich jemand erkennt«, meinte Rena. »Nein, wir müssen etwas anderes finden.«

Anni wurde warm ums Herz, weil Rena »wir« gesagt hatte.

Einige Zeit lang saßen sie schweigend da und hingen ihren Gedanken nach, dann füllte Rena erneut die Gläser mit Champagner. Als sie die Flasche wieder auf den Tisch stellte und dafür einige Papiere zur Seite räumen musste, weil sonst kaum Platz war, runzelte sie die Stirn. Dann drehte sie sich zu Anni um. »Ich hab’s!«, rief sie. »Du arbeitest hier, im Chérie! Das ist genau das Richtige für dich!«

»Oh«, entfuhr es Anni. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Sicher machte Rena Witze …

Kapitel 3

»Also ich weiß nich.« Mutti hatte die Arme verschränkt und sah Rena und Anni abwechselnd an. Dann stand sie auf und holte sich ein Glas und schob es zu Rena. »Gieß mal ein.«

»Ich dachte, von Champagner bekommst du grauenhaftes Sodbrennen«, erinnerte Rena sie.

»Ist egal, ich brauch jetzt was zu trinken. Und außerdem müssen wir doch auf meine neue Mitarbeiterin anstoßen.«

Anni riss die Augen auf. »Heißt das, ich habe jetzt Arbeit?«

»Jo, heißt es«, sagte Mutti. »Ich hoffe, du bist wirklich so brillant wie Carmen sagt. Aber ich werd ja irre mit dem ganzen Kram und muss dringend Ordnung da reinbringen. Also versuchen wir es. Und ab sofort bin ich auch Mutti für dich.«

Anni strahlte Mutti an. »Gern«, sagte sie. »Danke.«

»Auf uns!«, rief Rena glücklich, und Anni nickte.

»Auf uns!«

»Wann kannst du denn anfangen, Anni?«, wollte Mutti wissen.

»Jetzt gleich, wenn du magst.«

»Nee, nee, erst mal muss ich die Sachen ein bisschen sortieren, herrje.« Sie schaute auf die verschiedenen Stapel Papiere, Unterlagen, Rechnungen und Ordner. Hinter ihr im Aktenschrank sah es nicht besser aus. Lose Blätter, Notizzettel, noch mehr Unterlagen, Pappkartons mit Zetteln drin – wenn man hier etwas finden wollte, brauchte man einen langen Geduldsfaden.

»Na gut, von mir aus könntest du wirklich gleich anfangen«, seufzte sie. »Ich muss die Steuerunterlagen sortieren, also du musst die sortieren, ach herrje, ich weiß gar nicht, wo ich was habe. Kinder, Kinder, was für ein Durcheinander! Seit Kriegsende ist alles so unordentlich geworden. Weil Fridtjof nich mehr da is! Der hat das alles gemacht, ich hab immer gesagt, Fridtjof, ich mach alles, was nicht aus Papier ist, ich kümmer mich ums Personal und dass geputzt ist und bestell die Getränke und alles, aber halt mir das Büro vom Leib.«

»Fridtjof ist Muttis Mann«, erklärte Rena. »Er ist noch in Gefangenschaft.«

»Wenigstens lebt er, aber keiner weiß, wann er zurückkommt«, sagte Mutti traurig. »Und die Briefe dauern ja, als sei er am Nordpol, so lange. Letztens kam einer an, der hat zwei Monate gebraucht. Was kann in den zwei Monaten auch alles passieren! Und ob meine Post da ankommt in dem Lager, weiß auch nur der Herrgott. Er könnte ja auch schon längst im nächsten sein, weiß man es denn? Ach, ach, es ist nicht einfach.«

»Das tut mir sehr leid«, sagte Anni. »Ich werde dir helfen, das hier alles auf Vordermann zu bringen. Es wird zwar eine Weile dauern, aber dann haben wir den Durchblick.«

»Das klingt wie Musik in meinen Ohren!«, freute sich Mutti. »Diese vermaledeiten Steuern bringen mich noch ins Grab. Anni, wollen wir es so halten, dass du morgen Vormittag herkommst, und ich zeige dir dann alles, was ich dir zeigen soll und was ich weiß? Natürlich, viel ist das nicht, ich sag es dir gleich.«

»Sehr gerne«, nickte Anni. »Ich muss nur schauen, wo ich Lisbeth unterkriege, meine Tochter. Sie ist noch sehr klein und kann nicht so lange alleine bleiben.«

»Ein Babylein!«, sagte Mutti mit glänzenden Augen. »Das kannst du doch mitbringen. Soweit ich noch weiß, schlafen Babys doch die meiste Zeit und melden sich nur, wenn sie Hunger haben.«

»Nicht alle, aber Lisbeth schon«, sagte Anni.

»Na dann!« Mutti stand auf, um das Fenster zu öffnen. »Hier kommt jetzt mal frische Luft in die Bude«, sagte sie und ging zur Tür. »Kommt mal mit. Ich zeig euch die Lösung.«

Mutti führte die beiden auf den Flur und öffnete die nächste Tür. »Hier bitte, eine kleine Küche und hier …«, sie deutete in die Richtung eines daran anschließenden, kleinen Raumes, in dem nur ein paar ausrangierte Möbel standen, »… hier kannst du dein Töchterchen im Kinderwagen reinschieben, dann kann sie schlafen. Es gibt eine Verbindungstür zu meinem Büro, die soll Bubi dann mal freiräumen.«

Von dem Zimmer aus führte eine weitere Tür nach draußen. Mutti machte eine einladende Handbewegung. »Bitte sehr.«

Rena und Anni gingen die paar Stufen hinunter, und nachdem ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sahen sie, dass sich ein kleiner, hübscher Garten ans Haus anschloss. »Da kann deine Tochter auch mal in der frischen Luft schlafen«, meinte Mutti. »Wir sind zwar aufm Kiez, aber hier draußen ist es herrlich ruhig. Und klauen kannse auch keiner, die Tür da ist der einzige Zugang.«

Mutti deutete auf einen Holztisch und Gartenstühle. »Da sitzen die Mädchen im Sommer manchmal in ihrer Pause oder einfach so zwischendurch. Wenn dich das stört, dann …«

»So ein Unfug, mich stört gar nichts. Das ist ja wunderbar hier!«, staunte Anni.

»In der Küche kannst du Wasser heiß machen fürs Fläschchen«, erklärte Mutti. »Oder stillst du?«

Anni schüttelte den Kopf. Deswegen hatte sie zwar ein schlechtes Gewissen, aber durch die ganze Aufregung in den Tagen vor ihrer Abreise hatte sie nicht die nötige Ruhe gehabt, um sich mit Lisbeth hinsetzen und ihr die Brust geben zu können.

»Dann ist ja alles geklärt.« Sie gingen wieder ins Haus, und Mutti verriegelte die Tür.

»Wir müssen nur noch über deine Bezahlung sprechen.«

Anni zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was da normal ist.«

»Normal ist hier schon mal gar nichts«, sagte Mutti resolut. »Ich werde dir einen ordentlichen Stundenlohn zahlen, ich bin keine Ausbeuterin und habe Ehre und Anstand im Leib.«

»Das stimmt«, sagte Rena mit Nachdruck.

»Also«, sagte Mutti. »Bis morgen um, sagen wir, elf Uhr? Vorher muss ich ein bisschen ausschlafen.«

»Gern.« Anni nickte. Etwas Besseres hätte ihr gar nicht passieren können. Eine gute Arbeit, bei der niemand sie erkennen könnte, und Lisbeth konnte sie sogar mitnehmen, das war ja herrlich! Und verwerflich war es wohl nicht, die Büroarbeit für eine Bar zu erledigen, selbst wenn sie Chérie hieß. Auch das musste ja jemand tun.

Anni fühlte sich so leicht wie lange nicht mehr, und auch Rena war begeistert und drückte Annis Hand. Dann sah sie auf die Wanduhr und stand auf. »Ich muss dann mal, Anni. Ein Stammkunde wird gleich da sein.«

Anni wurde rot; so ganz kam sie mit der neuen Situation noch nicht klar. Aber sie nickte ihrer Freundin, wie sie hoffte, souverän zu. Rena lächelte sie an. »Du kannst dich nicht verstellen, Anni, ich kenn dich zu gut. Du weißt nicht so recht, wie du dich mir gegenüber verhalten sollst, oder?«

»Das stimmt«, sagte Anni. »Dein neuer Beruf ist ja nicht gerade alltäglich, das musst du zugeben.«

»Auf jeden Fall«, meinte Rena. »Aber wenn du hier ein paar Tage bist, wirst du feststellen, dass bei uns alles viel ehrlicher und anständiger ist als anderswo. Hier gibt es keine doppelte Moral und keine so hochgelobte Gottesfürchtigkeit. Wir hier, wir nehmen eben Geld für das, was viele Frauen teilweise mit Gewalt erdulden müssen. Und wenn sie etwas sagen, dann wird der eigene Mann nicht bestraft. Ist das etwa gerecht, Anni? Da ist es mir doch lieber, ich weiß, woran ich bin, und der Mann weiß es auch.«

»Nun«, sagte Anni. »Da hast du sicher recht. Aber eine Tatsache bleibt: dass die verheirateten Männer, die die … käufliche Liebe in Anspruch nehmen, ihre Frauen betrügen.«

»Solche gibt es natürlich auch«, gab Rena zu. »Du darfst aber auch eins nicht vergessen, nämlich dass viele Frauen Sex einfach als Last empfinden. Verhütung ist ja schon allein von der Kirche aus verpönt, also sind viele Frauen immer entweder schwanger oder liegen im Wochenbett, die sind froh, wenn ihr Mann sie in Ruhe lässt. Und viele lassen den Akt nur stillschweigend über sich ergehen, weil Freude beim Sex ja schmutzig und verwerflich ist.«

Nun meldete sich Mutti zu Wort. »Man darf nix schönreden«, sagte sie. »Selbstredend gibt’s Männer, die betrügen ihre Frauen, da beißt die Maus kein Faden ab. Das sind nicht wenige, und natürlich ist das nicht richtig. Wer heiraten will, sollte sich vorher überlegen, was er will. Mein Fridtjof hat immer gesagt, wenn Treue Spaß macht, ist es Liebe. Aber wir haben dieses Etablissement nicht übernommen, weil wir die Treue in Stein meißeln wollen. Das steht uns ja gar nicht zu. Wir wollen Geld verdienen wie jedermann.«

»Ich verstehe«, nickte Anni.

»Du wirst sehen, Anni, hier ist nix Verruchtes in dem Laden, wir sind wie eine große Familie, und Gott gnade demjenigen, der es wagt, Hand an meine Mädels zu legen. Den soll der Blitz treffen.« Mutti ballte eine Hand zur Faust.

Anni und Rena mussten lachen. »Oder wir rufen nach Bubi«, sagte Rena dann. »Der ist schneller da als der Blitz. Aber er musste, seit ich da bin, nur zweimal einschreiten, und das nicht mal, weil jemand übergriffig wurde. Einmal war ein Gast total betrunken und fiel ständig hin, und der andere hatte seinen Moralischen und hat die ganze Zeit wegen seiner Frau, die die Scheidung wollte, geheult. Das hat die anderen Gäste irritiert.«

»Aber sonst verläuft das alles hier in ganz ruhigen Bahnen«, sagte Mutti. »In den hinteren Räumen hier hast du deine Ruhe. Du musst da nichts befürchten, Anni.«

Rena lächelte ihr zu und stand auf. »Ich freue mich schon auf morgen!«

»Und ich mich erst!«, rief Anni noch, doch Rena war schon zur Tür hinaus.

»Ein so liebes Mädchen«, sagte Mutti. »Sie hat viel mitgemacht. Hat nicht alles erzählt, aber einiges durchblicken lassen. Mistkerl, ihr Mann. So einem gehören … Ich sag jetzt nicht, was man mit dem machen sollte, aber der soll mir nicht unter die Finger kommen.«

Anni nickte und überlegte kurz. »Um ehrlich zu sein bin ich froh, dass Rena von ihm weg ist. Dass sie sich getraut hat, Wien zu verlassen. Sie hat alles richtig gemacht. Ich kann zwar nicht behaupten, dass ich über ihre Berufswahl glücklich bin, aber es ist besser, als bei ihm zu bleiben. Sie hatte wohl keine Wahl.«

»Wenn Frauen irgendwann wirklich eine Wahl haben, bin ich die erste, die Hurra schreit«, bekräftigte Mutti. »Das sind Zustände ohne Worte. Und viele Herren sind gar nicht dafür, dass Frauen was zu sagen haben – da muss sich einiges ändern. Was Carmen betrifft, also Rena, das muss ja nicht immer so bleiben mit dem, was sie tut. Ich denke, das war für sie erst mal der einfachste Weg.«

»Sie muss zu einem Anwalt gehen«, sagte Anni.

»Hab ich ihr auch gesagt, aber zunächst will sie ein bisschen Geld zur Seite legen, damit sie ein Polster hat, für schwere Zeiten, hat sie erzählt.«

»Die schweren Zeiten hat sie doch nun hinter sich«, sagte Anni.

»Sie ist eben vorsichtig, die Carmen. Das ist ja auch nicht schlimm. Ich glaube, was sie gerade gar nicht braucht, ist noch mehr Druck von außen. Wir lassen sie mal machen und sehen zu gegebener Zeit weiter. So.« Mutti lächelte Anni an. »Ich muss mal wieder nach vorne, mich bei den Gästen sehen lassen. Es ist schon sehr spät – ich sag Bubi, dass er dich heimbringen soll.«

»Ach, das ist doch nicht nötig.«

»Wir sind hier in Hamburg und nicht auf dem Land, keine Widerrede.« Mutti drückte wieder auf einen Knopf, und wie aus dem Boden gestampft stand Bubi einige Sekunden später erneut vor der Tür.