JOACHIM EILTS

Mit der Nase
im Wind

UNVERGESSLICHES JAGEN
NAH UND FERN

Kosmos

Inhalt

Zum Geleit

Einleitung

Auf den roten Bock

Entenwetter

Bei Hanjo im Sauerland

»Superhund«

Am Dachsbau

Manchmal kommt es anders …

Winterliche Reizjagd

Damkalb und Schmaltier

In freundschaftlichen Revieren

Brunftgeruch und Urgeschrei

Kaninchen satt

Eine magische Nacht

Der Pornobock

Stoppeltauben

Jägerlatein

Tolle Ranz

Keiner kannte ihn

Zur rechten Zeit

Auf Ibex in Wolkenhöhe

Unbändige Passion

Der »Gams«-Bock

Faulpirsch im Winterwald

Klug, gewitzt, misstrauisch

Alle Vier

Auf dem rechten Weg

Bernds Lebensbock

In klirrend kalter Winternacht

»Topjakt«

Warum? – Darum!

Gut getrieben

Drückjagdmusik

Fortlaufender Erfolg

Rehwild-Ansitzjagd

Das Lachen Afrikas

Gans fantastisch

Fahlgraues Gesicht und schwarze Stangen

Elchfieber in »Moose Country«

Egal, woher der Wind weht …

In die Röhre geschaut

Mit Carsten

Nach alter Väter Sitte

Kunterbunt

Was bleibt, ist die Erinnerung

Zum Geleit

Als mich Akki bat, ein Vorwort für sein neues Buch zu schreiben, fiel mir eine »Wild-und-Hund«-Ausgabe aus dem Jahr 2003 in die Hände. Damals begann die Redaktion, in einer kleinen Rubrik über die Erlebnisse und die Arbeit im Testrevier zu schreiben.

Einer der ersten Berichte widmete sich der denkwürdigen Erlegung eines Damhirsches. Im Revier hatte sich ein Hirsch gezeigt, der ein ganzes Gewirr an Zaunlitzen und Abwurfstangen um den Träger hatte und in langer Schleppe hinter sich herzog. In der Jagdbehörde und im Hegering war man sich schnell einig, diesen Hirsch auch außerhalb der Schusszeit zu erlegen, weil er immer Gefahr lief, mit dem Kulturmüll hängen zu bleiben und elendig zu verludern.

Alle waren wir heiß auf den Damhirsch. Doch als Wechselwild kam Damwild nicht allzu häufig in Anblick. Am Ende war es natürlich Akki, dem der Gesuchte vor die Büchse zog. Unser Freund ließ sich für diesen ersten Hirsch im Testrevier nicht lumpen, und wir zechten nach der Bergung ordentlich in der Alten Post. Wir hatten oft den Eindruck, dass bei dem Dusel, den der Ostfriese hatte, etwas nicht stimmen konnte. Entweder war er der Geliebte Dianas, dabei heißt seine Frau Erika, oder er verwendete besondere Mittel, die ihm zu diesem steten jagdlichen Erfolg verhalfen.

Darauf angesprochen, grinste er verschmitzt und meinte, das mache der Artgeruch. Wir tippten hingegen auf seine grünen Gummistiefel, die er sommers wie winters zu Arbeitseinsätzen oder auch zur Jagd trug. Akki lief die Beute hinterher, und es war jedes Mal eine Freude, sich von ihm dann das Jagderlebnis schildern zu lassen.

Er beherrschte die Kunst des Fabulierens und Erzählens, die bei Weitem nicht jedem gegeben ist. Sein Hang zum Dramatischen war unter uns Redakteuren der »Wild und Hund« legendär. Eine Erlegung war selten ein nüchterner Abschuss. Bei Akki war jede Jagd ein Gesamtkunstwerk. Für dieses Drama mit ostfriesischem Humor und augenzwinkernder Selbstironie liebten wir ihn in seinen 13 Jahren, in denen er mit uns im Testrevier jagte.

Joachim (Akki) Eilts ist in der Lage, das Besondere zu sehen, das meist eben in den Kleinigkeiten am Rand liegt, die aber nur von jemandem erkannt werden, der die Natur begierig aufsaugt und sich von ihr einweben lässt. Akki suchte dieses Eintauchen in die Natur immer wieder. Egal ob als Angler oder als Jäger.

Dass er es versteht, die Stimmungen bei seinen Pirschgängen und das intensive Erleben zu Papier zu bringen, zeigen seine zahlreichen Publikationen in den Magazinen »Fisch & Fang«, »Wild und Hund«, »Deutsche Jagdzeitung« und »Jagen weltweit« sowie seine sechs Angel- und Jagdbücher.

Jetzt fügt er dieser Sammlung ein siebtes hinzu. Der Titel »Mit der Nase im Wind …« verrät etwas über die Suche des Naturburschen, der auch im Un-Ruhestand immer noch leidenschaftlich dem Waidwerk nachgeht. Lassen Sie sich von ihm entführen, wenn er Sie auf kurzweilige Art mit zur Jagd in die zum Teil entlegensten Winkel der Welt nimmt. Spüren Sie die Jahreszeiten, wenn bei flirrender Hitze die Bremsen durchs Hemd stechen und der Schweiß bei der Pirsch in den Augen brennt. Fühlen Sie den Schauer, der über den Rücken geht, wenn in klarer Winternacht Füchse bellen oder Wölfe heulen.

Ich verspreche sicher nicht zu viel, wenn Sie mit diesem Werk ein Stück Leben eines echten Jägers in Händen halten.

Im Heumond

Heiko Hornung
Chefredakteur der »Wild und Hund«

Einleitung

Es klingelt. Dreimal nacheinander. Unser Sohn Carsten, seine Frau Simone, die beiden Töchter Neele und Mayla sowie unsere Tochter Carina mit ihrem Mann Fritjof und den Kindern Henri, Feline und Benjamin stehen vor der Tür und wollen uns besuchen. Wie sagt man beim Kegeln? Alle Neune. Großartig!

Wie immer sind Erika und ich hin und weg und freuen uns riesig. Fünf Enkelkinder! Zauberhaft. Hinreißend! Wir sind so unendlich reich!

Henri, der Älteste, ist acht Jahre alt, Mayla, die Jüngste, drei. Vor zehn Jahren dachten wir schon, unsere Kinder wüssten nicht, wie es geht, und wir würden enkelkinderlos bleiben. Aber wir wurden eines Besseren belehrt …

Schon im Säuglingsalter zeigte ich allen Enkelkindern bei jeder und wirklich jeder Gelegenheit mein »Angel- und Jagdmuseum«. Dieser Raum ist für mich das schönste Zimmer der Welt. Es hat unendlich viel zu erzählen. Noch bevor die kleinen aufgeweckten Energiebündel reden konnten, hatten sie alles mehrfach gesehen: versteinerte Dinosaurier-Eier, die gewaltige Säge eines fünf Meter langen Sägefisches aus Afrika, gigantische Zähne vom Megalodon, dem prähistorischen Riesenhai, ein uraltes Ulu-Messer mit Karibugeweihgriff aus Alaska, Original-Goldgräber-Werkzeug vom Run am Klondike River, nostalgisches Angelgerät, Hahnflinten, Steinzeit-Werkzeuge, Decken, Schwarten, Felle, unterschiedliche Trophäen aus aller Herren Länder und vieles andere mehr.

Was mich riesig freute war, dass sich – ohne Ausnahme – alle Enkelkinder für das Sammelsurium in Großvaters Zimmer interessierten.

Luderplätze beschicken, Wildfütterung in Notzeiten, Erdsitze bauen, Angeltörns, Gummipirsch mit dem Fernglas, die Chips der Fotokameras wechseln, Rehwildansitze … Jedes meiner Enkelkinder ist damit aufgewachsen.

Und auch heute stürmt die gesamte Rasselbande im Schweinsgalopp mit größter Selbstverständlichkeit und ohne Aufforderung in die Asservatenkammer und macht sich selbstständig: Henri und Neele greifen sich ein paar Lockinstrumente und beginnen lautstark zu reizen, Feline guckt sich ehrfürchtig meine Tierschädelsammlung an, Benjamin und Mayla lassen sich auf die Schwarzbärdecke am Boden plumpsen und brummen sich gegenseitig Freundlichkeiten in die Ohren …

Einfach nur schön. Die pure Lebensfreude. Mir geht das Herz auf, und ich bekomme feuchte Augen. Mehr Glück geht nicht.

Neele will wissen, wie eine Hahnflinte funktioniert, und Feline fragt, wie der große schwarze Vogel mit den breiten Federn »am Hintern« auf dem Schrank heißt. Inzwischen hat sich Mayla die Hasenklage vom Haken genommen und pustet, was das Zeug hält. Benjamin fragt mir Löcher in den Bauch … »Opa, erzähl mal, wie du den schwarzen Rehbock da oben an der Wand geschossen hast«, sagt Neele, und die anderen klatschen erwartungsvoll in die Hände. Es bleibt nicht die letzte Geschichte, die ich zum Besten geben muss.

Henri, er kann bereits fließend lesen und schreiben, blättert in meinen Jagdbüchern und fragt: »Opa, steht das hier schon alles drin?« – »Nein«, antworte ich und komme ins Grübeln.

Schließlich und endlich fällt es mir wie Schuppen aus den Haaren: Ich habe noch hundert unveröffentlichte Geschichten im Kopf und sollte tatsächlich ein weiteres Jagdbuch schreiben.

Kaum ein Jahr später ist es vollbracht: »Mit der Nase im Wind … – Unvergessliche Jagderlebnisse nah und fern«.

Schön, liebe Leserin, lieber Leser, dass Sie mich auf meiner Reise durch die jagdliche Vergangenheit begleiten.

Joachim Eilts

Auf den roten Bock

Ende Juli. Später Nachmittag. 30 Grad im Schatten. Erika, die Frau, die mir seit mehr als 50 Jahren das Leben verschönert, will in Ruhe ihre Hausarbeiten erledigen und drückt mir die noch druckfrische »Jagen weltweit«, die soeben mit der Post gekommen ist, in die Hand. Gleich darauf verbannt sie mich auf die Liege im abgeschlossenen Innenhof unseres Hauses. Widerspruch volkommen zwecklos. Es gibt schlimmere Schicksale und so nehme ich jetzt meines in demütiger Ergebenheit an …

Wie so oft nehme ich mir die Rubrik »Jagdgeschichte« als Erstes vor und lese die Auszüge aus dem Jagdtagebuch des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand über seine Erlebnisse von 1892 bis 1893 in Afrika.

Urplötzlich muss ich laut lachen. So laut, dass der Bauch vibriert. »Während der Jagd«, schildert Franz Ferdinand, »da soll uns keine Post, kein Telegraf, keine schnaubende Lokomotive die wohltuende Ruhe stören.« Herrlich! Das waren noch Zeiten: Eine Postkutsche, ein Telefonat, eine schnaubende Lokomotive. Himmlische Verhältnisse im Vergleich zu heute!

Aber genau die himmlischen Verhältnisse, die wohltuende Ruhe, finde ich ein paar Tage später während der Hochbrunft des Rehwildes im Teufelsmoor zwischen Hamburg und Bremen. Ich habe einen Bock meiner Wahl frei.

Alljährlich, und damit bin ich in guter Gesellschaft, zieht mich die Blattjagd auf den roten Bock neu in den Bann. Das wird sich niemals ändern. Genauso wenig, wie ich auf meine täglichen Tassen Tee mit Kluntjes – so heißt in meiner norddeutschen Heimat Kandiszucker –und Sahne verzichten werde. Eine Zeremonie, die meine Familie und ich seit ewigen Zeiten mit stetig steigender Begeisterung vollziehen.

Bereits um 16 Uhr pirsche ich durchs nasse, hohe Gras in Richtung Hochsitz, denn lediglich zwei Stunden zuvor hatte es heftig geregnet. Es quatscht und gluckert bei jedem Schritt. Die Temperatur? 24 Grad.

Urplötzlich stehen im 40 Meter entfernten Graben mit empörtem Gequake vier Stockenten auf. Den Grund dafür kann ich nicht erkennen. Ich jedenfalls bin es nicht. Gleich darauf sehe ich, wie ein dicker Frosch mit lautem Plumps in den entengrützegrünen Teich, den ich gerade passiere, springt.

Ich bin da. Vielversprechend sieht sie aus, die drei Meter hohe Leiter am Waldrand. Zweimal schon in den vergangenen Jahren habe ich von hier aus geblattet und jedes Mal einen braven Bock erlegt.

Hoffnungsvoll mache ich mich fertig. Filzmatte unter den Hintern, das geladene und natürlich gesicherte Gewehr diagonal auf die Brüstung, Fernglas und Blatter um den Hals …

Bereits 15 Minuten später erklingt die erste Arie auf meinem Lieblingsblatter, dem Rottumtaler Rehwildblatter von Klaus Demmel, den er mir nach eindrucksvoller Demonstration im Wild-und-Hund-Testrevier in Obertiefenbach in Rheinland-Pfalz vermachte. Der große Vorteil des Mundblatters ist, dass ich beide Hände frei habe, wenn es darauf ankommt. Pause. Nichts. Nun denn. Blatten ist Geduldssache. Weil sich nach dem Verklingen der letzten Strophen für eine halbe Stunde kein rotes Haar zeigt, versuche ich mein Glück mit dem Kitz-Angstgeschrei. Schade, keine Bewegung.

Immer wieder, nach entsprechenden Ruhepausen, schallt meine Liebesmelodie über die Wiesen. Aber kein Bock lässt sich betören. So vergehen die Stunden. Bis auf drei liebestolle Hasen null Anblick. Seltsam.

Wie spät ist es? 19 Uhr. Ja Wahnsinn. In einer Entfernung von zirka 200 Metern kommt mir eine Rotte Sauen in Anblick. Zwei Bachen mit acht Frischlingen. Mag sein, dass sie auf dem Weg zur mir bekannten Kirrung sind. Sicher haben die »Frösche« Kohldampf.

Na bitte: Plötzlich erscheint kaum hundert Meter entfernt ein fuchsrotes Reh. Ein Bock? Ja. Aber viel zu jung. Ein Jährling. Mir scheint, er weiß nicht recht, was er von den verführerischen Tönen halten soll. Dennoch gelingt es mir, ihn bis auf zehn Meter an die Leiter zu locken. Nur widerwillig verdrückt er sich. Wieder und wieder wandert mein Blick von links nach rechts über die Wiesen und Felder.

20.30 Uhr. Jetzt wird es spannend: Für einen ganz kurzen Augenblick huscht ein Rotfuchs über die Wiese und verschwindet auf Nimmerwiedersehen hinter hohem Gras am Rand eines Grabens.

Was ist das? Zweige wackeln. Täusche ich mich, oder hat sich da etwas bewegt? Entwarnung. Es ist nur ein Eichhörnchen, das von einem Ast des Busches auf den anderen springt und sich wie zuvor Reineke Voss gleich darauf ebenfalls verdrückt. Stoisch ertrage ich die unzähligen Mücken, die sich trotz des Vergrämungsmittels auf Händen und Hals niederlassen, um mich gierig anzuzapfen.

Ich lasse die saugenden Plagegeister gewähren. Komme sowieso nicht dagegen an. Verdammt. An den Nasenflügeln und an den Ohren macht sich eine dicke Stubenfliege zu schaffen. Miststück. Zeit, mal wieder ein wenig zu fiepen.

21 Uhr: Oh! Völlig unvermittelt steht wie hingezaubert ein starker Bock kaum 80 Meter entfernt am Waldrand und beginnt, vertraut zu äsen. Mein lieber Schwan!

Das Doppelglas gibt Aufschluss: großes viereckiges Gebäude, starker Träger, dicke knuffige Stangen mit Rosen, die aussehen, als trüge er eine Mütze auf dem Haupt. Definitiv kein junger. Der passt. Ein Superbock.

Das Gegenlicht der Abendsonne umkränzt ihn mit goldenem Saum. Was für ein Bild! Das Herz schlägt mir bis zum Hals, der Mund ist trocken, die Zunge klebt.

Es dauert ein wenig, aber dann wird aus dem Bewunderer wieder der Jäger. Ich weiß: Jetzt oder nie. Seit Jahren hatte ich keinen derartigen Recken mehr vor. Vielleicht ist es sogar der stärkste Bock, den ich je in Anblick bekam. Jetzt nur keinen Fehler machen.

Als er mit erhobenem Haupt breitstehend in meine Richtung äugt, fixiere ich in Zeitlupe das Absehen des Zielfernrohrs auf dem Blatt und halte den Atem an. Im Schuss versinkt der Bock im hohen Gras. Zweimal noch sehe ich kurzes Schlegeln, dann ist Ruhe.

Jetzt, Gott sei Dank erst jetzt, schüttelt mich das Jagdfieber. Ich zittere am ganzen Körper. In meinen Ohren pfeift das Blut. Dennoch verbleibt das Zielfernrohr nach dem Durchrepetieren exakt an der Stelle, wo der Bock liegen muss. Um ihn problemlos finden zu können, merke ich mir den Hochspannungsmast im Hintergrund. Diese Richtung heißt es beizubehalten. Sonst tappe ich schon bald im wahrsten Sinne des Wortes im Dunkeln, denn das Licht wird von Minute zu Minute schwächer.

Nanu. Donnergrollen! Das Gewitter, ich habe es nicht kommen sehen, nähert sich mit atemberaubender Geschwindigkeit. Erst jetzt registriere ich die zunehmenden Sturmböen. Beim Anblick des Bockes und während der Spannung vor dem Schuss hatte ich alles andere ausgeblendet. Eijeijeijeijei! Pausenlos erhellen Blitze die Landschaft, und binnen kurzer Zeit haben mich die herabstürzenden Wassermassen auf der dachlosen Leiter bis auf die Haut durchnässt. Ist mir so was von egal! Der Bock meiner Begierde liegt. Und das ist das Wichtigste.

Oh mein Gott! In eine 200 Meter entfernte, starke Eiche schlägt der Blitz ein und lässt den Baum förmlich explodieren. Mit bloßem Auge erkenne ich, dass meterlange Holzstücke wie Geschosse etwa 50 Meter weit durch die Gegend fliegen. Nur kurz erhellen rot züngelnde Flammen den Ort des Geschehens, werden jedoch vom Starkregen innerhalb kurzer Zeit gelöscht. Ein Sommergewitter der Extraklasse.

Am nächsten Tag, das steht fest, werde ich mir die Stelle genau anschauen, kann jedoch bereits jetzt mit dem Spektiv erkennen, dass sich im Stamm des Baums sogenannte Blitzrinnen befinden. Was für ein Erlebnis!

Etwa zehn Minuten nach dem Blitzeinschlag in der Eiche ist das Gewitter weitergezogen, und ich begebe mich im Dämmerlicht von der Leiter aus in Richtung Hochspannungsmast. 80 bis 90 Meter entfernt müsste er liegen, mein Teufelsmoor-Bock. Die Farben der mich umgebenden Natur verblassen. Schon werden im zwei Kilometer entfernten Dorf die ersten Lichter angeknipst.

Trotz der nunmehr stark einsetzenden Dunkelheit stehe ich schließlich wassertriefend vor dem Recken. Als ich das Haupt ehrfürchtig aus dem Gras hebe, wird mein Hals immer länger, und die Augen fallen mir fast aus dem Kopf. Was für ein Bock. Ich bin sicher, dass er ein Gehörngewicht von mehr als 400 Gramm auf die Waage bringt.

Wieder zittere ich am ganzen Körper. Nicht wegen der völlig durchweichten Kleidung, sondern vor Aufregung.

Nur langsam beruhige ich mich und schaue mir die Beute mit der Taschenlampe genauer an: Die weit über Lauscher hohen dicken, dunkelbraunen Stangen des ungeraden Sechsers mit fantastischer Perlung und gewaltigen Rosen rauben mir den Atem.

Links eine Gabel, rechts eine Sechserstange. Riesig das Gebäude. 22 Kilogramm aufgebrochen wiegt er, mein Traumbock, und ist, wie ich später feststelle, mindestens sechs Jahre alt.

Unglaublich. Immer wieder taste ich mit den Fingern über die Stangen, streiche dem Recken über die Decke und möchte die Zeit anhalten.

Ich genieße den Moment. »Keine Post, kein Telegraf, keine schnaubende Lokomotive.« Himmlische Ruhe. Großartig! Sinnbildlich nehme ich meine Freundin Diana ganz fest in die Arme und tanze mit ihr auf den Wolken. Wohl wissend, dass ich überhaupt nicht tanzen kann.

Nachdem ich im Alter von 18 Jahren drei Abende einen Tanzkurs besucht hatte, fing mich der Tanzlehrer am vierten Abend vor der Tür zum Saaleingang ab. Mit der Bemerkung, es hätte wirklich keinen Sinn, gab er mir meine 50 Mark Teilnahmegebühr zurück. »Herr Eilts, sie haben kein Taktgefühl!«

Zurück zum Wesentlichen, der Jagd: Was für ein Bock! Unmengen von Adrenalin pressen sich durch die Adern, und ich bin völlig aus dem Häuschen. Mein glühendes Jägerherz wird erst erkalten, wenn es sich, müde geworden, weigert, weiterzuschlagen.

Nach der roten Arbeit binde ich die Läufe des Recken zusammen, hänge ihn über die Schulter und mache mich in nunmehr schwarzer Nacht auf den Nachhauseweg. Ich habe Hunger. Der Magen knurrt, hängt mir in den Kniekehlen.

Drei Wochen später ruft mich der Präparator an, der mir das »Gehörn«, oder besser gesagt, das Geweih, abgekocht und aufs Brett montiert hat, und sagt: »Gut geschätzt, Akki. Genau 406 Gramm wiegt sie, deine Trophäe. Nochmals Waidmannsheil!« – »Waidmannsdank!«

Entenwetter

Der erste Samstag Anfang November: Heftiger Wind und Starkregen bewirken, dass es sich die meisten Zweibeiner zu Hause auf dem Sofa gemütlich machen. Von wegen Mistwetter. Entenjagdwetter! Also Hatz, meinen geliebten Deutsch-Drahthaar, geschnallt, und nichts wie raus.

Während der nun folgenden herbstlich feuchten Pirsch mit meinem Hund durchs Revier eines Freundes zum Unterstand an einem kleinen See, blättere ich die Seiten im Buch meines Lebens um 65  Jahre zurück. Und ich sehe, wie der fünfjährige Stöpsel, kaum 800 Meter von hier entfernt, mit zwei geschulterten Angelruten, viel zu großen Stiefeln und mindestens ebenso großem Eifer zum Kanal stapft, um für die Familie ein paar Flossenträger zu fangen. Wie heißt es so schön? »Wir hatten ja nichts.«

Meine Großmutter, bei der ich aufwuchs, bezeichnete mich schon damals als »richtigen Angler«. Immerhin war ich im Besitz von zwei einteiligen Bambusruten und zwei Nottingham-Grundrollen aus Holz, die mit Messinghülsen an den Handteilen fixiert wurden.

Noch heute habe ich das Bild der mit starker Nähseide angewundenen Rutenringe vor mir und erinnere mich, dass sie liebevoll mit Klarlack versiegelt waren.

Das alles sowie kräftige Hanfschnüre, Korken, Bleie, Haken und einen selbst gefertigten Unterfangkescher hatte ich von meinem Onkel Epi, der eigentlich Evert hieß, »geerbt«. Ich bettelte so lange, bis er schließlich resignierte, weil er seine Ruhe haben wollte.

Und damit ich bei Verlust nicht aufgeschmissen war, schenkte er mir sogar noch eine alte Zigarrenkiste aus Holz, in der sich weiteres Zubehör befand: Posen, Spaltbleie, Wirbel, Stahlvorfächer und selbst gemachte Kunstköder. Ich hütete die Schätze wie meine Augäpfel. Jede Nacht verstaute ich sie unter meinem Bett, damit sie mir ja nicht gestohlen wurden.

Mein Bett war natürlich kein normales Bett wie jedes andere. Nachts in meinen Träumen wurde es zum Boot, mit dem ich zu den besten Angelplätzen ruderte, zum Zelt, dem selbst der steife Nordwind und schwere Regentropfen nichts anhaben konnten, zur Veranda, von der aus ich einen prächtigen Überblick auf die im Wasser dümpelnden Korken hatte.

Und weil ich die Schulbank noch nicht drücken musste, hatte ich herrlich viel Zeit. Zeit, in der wunderbaren Natur Ostfrieslands herumzustrolchen. Zeit zum Angeln.

Mag sein, dass mir die Fische, die ich damals fing, größer vorkamen als sie in Wirklichkeit waren, aber ich erinnere mich, dass ich an manchem Tag einen ganzen Eimer voll nach Hause schleppte. Manchmal tat mir der Rücken richtig weh, denn von unserem Haus über die Wiesen und Felder bis zum Kanal waren es gut 900 Meter. 15 Pfund Fisch im Eimer – stramme Leistung für einen Dreikäsehoch. Meine Fänge konnten sich wirklich sehen lassen. Mit Brot, gekochten Kartoffelstückchen und Würmern, die ich unter Kuhfladen fand, erbeutete ich unzählige Weißfische und Barsche. Sehr zur Freude meiner Oma. Sie drehte die Brassen durch den Fleischwolf und machte Frikadellen davon. Die Rotaugen und Rotfedern legte sie in Sauer, und die Barsche filetierte sie. Frisch mit Margarine und Salz in der Pfanne gebraten, waren sie ein Hochgenuss. Butter konnten wir uns nicht leisten.

Einmal fing ich derart gut, dass die Weißfische, Barsche, ein großer Zander und sogar ein stattlicher Hecht nicht in den Eimer passten, was zur Folge hatte, dass ich zweimal laufen musste.

Meine Großmutter begann sofort damit, herrliche Fischfrikadellen zu braten, denn am nächsten Tag bekamen wir Besuch, und dem wollte sie etwas Besonderes bieten. Immer wieder drückte sie mich und sagte: »Hest gaut mogt, min Kerlke!« Richtig stolz war ich, denn ich hatte dafür gesorgt, dass die ganze Familie satt wurde.

Wo sich einst die Wiese zum Kanal befand, steht heute eine Siedlung mit vielen Häusern und Straßen. Mein Onkel und meine Großmutter sind längst tot, aber manchmal, wenn ich dort vorbeikomme, laufen sie neben mir her, und dann sehe ich auch den kleinen Jungen wieder, wie er mit einem morschen Stock die Kuhfladen umdreht und mit klopfendem Herzen die Würmer darin ins Marmeladenglas bugsiert.

Als er genug gesammelt hat, schraubt er den mit Luftlöchern versehenen Deckel zu, schultert die Bambusrute und stiefelt zum Wasser. Vorwitzig schaut der aus einem gegabelten Weidenzweig geschnitzte Rutenhalter aus dem Eimer.

Wenn der Knabe in einigen Stunden wieder nach Hause kommt und die Beute in die rostige Spüle in Omis Küche kippt, ist er völlig ausgehungert. Aber Großmutter hat den Tisch bereits gedeckt, und wenn dann die frisch gebratenen Plötzen aus der Pfanne dampfend auf den Teller kommen, schmatzt und futtert er lautstark wie ein Frischling auf einem abgeernteten Kornfeld. Was für eine wundervolle Kindheit!

Ich bin vom Thema abgekommen. Heute, über sechs Jahrzehnte später, gilt es den Stockenten. Und, wenn sie denn kommen, natürlich ebenfalls den Krickenten und Graugänsen.

Wir sind da. Der Unterstand, ähnlich einer Fasanenschütte, nur mit höheren »Beinen«, in unmittelbarer Nähe des Wassers ist erst wenige Wochen alt. Die mit einem Dach versehene »Höhle« ist mit Zweigen und Ästen getarnt und bietet sowohl mir als auch Hatz jede Menge Bewegungsfreiheit.

Instinktiv drücken wir uns weit nach hinten in den Holunderbusch. Tarnung ist nun mal das A und O. Wenn die Breitschnäbel auf dem Wasser einfallen, kann ich problemlos schießen. – Noch drei Stunden bis zur Dunkelheit.

Ich will die Erfolgsaussichten erhöhen: Die geladene Flinte in den Händen, den Blick aufmerksam gen Himmel gerichtet, bringt das Mundstück meines Entenlockers zwischen den Lippen authentische Töne hervor.

Mir scheint, Hatz bewundert mich ob der erstaunlich echt klingenden Entenmelodie. Vielsagend wippt der Kopf hin und her. Sein Stummelschwanz bearbeitet den Busch hinter ihm wie ein Schlagzeuger seine Trommel. Immer noch regnet es.

Nach einer kurzen Pause erfolgt das nächste »Quak, quaak, quaaak, quaaaak, quaaaaak«, und wieder heißt es Warten.

»Super Entenwetter«, sage ich zu meinem Hund. »Sie kommen, ich bin sicher!« Hatz hat keine Lust zu quatschen, tut so, als wäre ich gar nicht da, äugt unaufhörlich zum grauen Himmel.

Na bitte. Nach dem vierten Schnattern und Quaken meines Lockers nähert sich von rechts mit geräuschvollem Schwingenschlag ein Schoof Enten. Ich bin vorbereitet und kann von den fünf einfallenden Stockenten mit zwei Schüssen zwei Erpel erlegen, die beide mausetot aufs Wasser klatschen.

Hatz bleibt wo er ist. Erst auf mein Kommando schickt er sich an, die Beute zu apportieren. Er schwimmt zunächst auf die etwas weiter entfernte Ente zu, packt sie am Hals und nähert sich dann mit ihr im Fang der zweiten.

Was macht er denn jetzt? Hatz benötigt gerade mal zwei Versuche, und schon schwimmt er mit beiden Enten im Fang ans Ufer. Vor mir sitzend, scheint er regelrecht zu strahlen: »Da hast du sie!«

Nie zuvor hat er ein derartiges Kunststück vollbracht. Und auch danach nicht mehr.

Ich habe es mir angewöhnt, wenn irgend möglich, in erster Linie Erpel zu schießen. Die Enten danken es, sorgen im nächsten Jahr für reichlichen Nachwuchs. Bei der Jagd auf Fasanen werden aus gutem Grund ja auch ausschließlich die Hähne erlegt.

Endlich. Es hat aufgehört zu regnen. Sogar der Sturm lässt nach. Unglaublich, wie schnell sich das Wetter ändern kann. Der sich jetzt mehr und mehr rot färbende Horizont kündigt die bevorstehende Abenddämmerung an. Im Wasser des vor uns liegenden Sees spiegelt sich der halbe Mond.

Achtung! Geräuschvolle Schwingenschläge von links! Wieder nähern sich Stockenten. Gleich sieben kreisen über dem Wasser und fallen etwa 50 Meter entfernt ein. Nein. Ich schieße nicht. Das ist erheblich zu weit.

Kaum zu Ende gedacht, starten eine weitere Ente und ein Erpel aus dem Nichts kommend lediglich 25 Meter vor uns einen Landeversuch. Noch bevor der Erpel das Wasser erreicht, klatscht er tödlich getroffen ins kühle Nass. Donnernd rollt der Schuss über die Landschaft. Die zweite Patrone bleibt im Lauf.

Super. Ich habe sie, meine drei obligatorischen Stockis. Erika wird sie mir kross gebraten in Rotweinsoße zubereiten. Wenn sie mich ganz herzlich bittet, werde ich sie wieder mit bloßem Oberkörper verspeisen …

Schon fallen mit lautem Gepaake die nächsten Enten ein, und wieder hallt ein einzelner Schrotschuss durch das abendliche Ostfriesland. Unverkennbar. Hatz freut sich, den Wasservogel mit dem leuchtend grünen Kopf zu apportieren. Stolz wie Oskar kommt er mit der Beute im Fang aus dem Wirrwarr der Wasserpflanzen angeschwommen und gibt sie vorschriftsmäßig aus.

Zehn Minuten später gelingt es mir, Erpel Nummer fünf zu erlegen, und ich mache Schluss, denn es wird zunehmend dunkler. Zwar fliegen mir auf dem Weg zurück zum Wagen die Enten und schließlich sogar an die 50 Graugänse fast die Mütze vom Kopf, aber schießen will ich nicht mehr.

Hatz allerdings passt das überhaupt nicht. Jedes Mal, wenn weitere Gänse in geringer Höhe laut kakelnd über uns hinwegsegeln, schaut er mich vorwurfsvoll an: »Was ist denn mit dir los? Hast du was mit den Augen?«

Bei Hanjo im Sauerland

Dass ich Hans-Joachim aus Lennestadt im Sauerland kennenlerne, ist reiner Zufall: Er hat bei einem Preisausschreiben von »Wild und Hund« eine Reise nach Manitoba in Kanada gewonnen, wo er einen Elch erlegen darf. Und auch mich zieht es zur gleichen Zeit ans gleiche Ziel: die Treeline Lodge am riesigen Nueltin Lake, um mein Glück auf ein Barren Ground Karibu sowie Kanadische Seeforellen (Namaycush) zu versuchen. Sowohl während des Hin- als auch Rückfluges sitzen Hans-Joachim und ich im gleichen Flieger.

Ich will’s kurz machen: Hans-Joachim ist Mitpächter in einem Revier im Sauerland, in dem es Rot- und Rehwild sowie Sauen und Raubwild gibt, und er lädt mich während der Jagd in Manitoba kurzerhand ein »mal vorbeizukommen«.

Es bleibt nicht bei einem Mal. Seit vielen Jahren verdonnert mich Hanjo mittlerweile schon »vorbeizukommen«. Jagdeinladungen, die ich gerne annehme, denn ich fühle mich bei ihm und seiner Familie in der Mittelgebirgsregion von Westfalen ausgesprochen wohl. Vielleicht, weil der Menschenschlag dort ähnlich tickt wie die Ostfriesen. Völlig unkompliziert!

Jedes Mal, wenn ich ansitze, habe ich hervorragenden Anblick und Erfolg, sowohl bei der Jagd auf Rot- und Rehwild als auch auf Sauen, Dachse und Füchse.

Unvergessen ebenfalls die Begegnungen mit einem uralten weißen Rotwild-Alttier, dem seltenen Schwarzstorch, den ich sogar fotografieren kann, sowie dem imposanten Uhu. Zwei besondere Geschichten will ich zum Besten geben.

Anfang Januar. 20 Zentimeter hoher Schnee, so weit das Auge reicht. Bereits eine Stunde nach Einsetzen der Dunkelheit sitze ich auf der geschlossenen Kanzel. Innerhalb weniger Minuten habe ich mich auf ihr eingerichtet.

Im Wald herrscht unwirtliche Stille. Von Osten geht ein leichter Wind, die Luft ist schneidend kalt, und über mir funkeln die Sterne. Der halbe Mond spendet wundervolles Licht. Die Zweige der Fichten drohen unter der weißen Last zu brechen.

Es geht auf Fuchs am Luderplatz. Hanjo hat mir einen, wie er sagt, magnetischen Luderplatz eingerichtet. Und anziehend ist der Ort wirklich, wie die Wildkamera beweist. Fast jede Nacht kommen die Räuber im dichten, roten Winterbalg vorbei, um sich am »Fuchsmagneten« den Magen vollzuschlagen.

Das Angebot: abgelaufene Hühnereier und Reste von selbst geräucherten Regenbogenforellen. Unwiderstehlich! Entfernung zum Hochsitz: 45 Meter. Zu weit für einen Schrotschuss, ideal für die Büchse.

Das Zielfernrohr ist mit einem Leuchtpunkt-Absehen ausgestattet. Eine große Hilfe, wie ich schon bald feststelle, denn die nunmehr aufkommenden Wolken bedecken den halben Mond. Gut, dass es geschneit hat und der Boden überall weiß ist. Für einen Schuss reicht das Licht allemal. Totenstille. Was für eine Wohltat. Immer wieder gleitet der Blick erwartungsvoll zum Luderplatz. Aber es tut sich nichts. Keine Bewegung. – Egal. Ich habe Zeit.

Von wegen keine Bewegung. Hundert Meter entfernt schiebt sich schemenhaft etwas aus der Dickung. Nach und nach ziehen zwei Bockkitze und die Ricke, ohne zu Verhoffen, über die Lichtung. Schon Minuten später ist das Trio hinter einer kleinen Erhebung wieder verschwunden.

»Auch Sauen können kommen«, hatte Hanjo gesagt. Aber damit rechne ich nicht wirklich.

Hallo? Irgendwo im Wald knackt es. Der Verursacher dieser Geräusche kann nur eine Sau sein. Also doch! Lautlos bringe ich die Büchse in Position, und schon erscheint 60 Meter entfernt ein einzelner Frischling. Maximal 30 Kilo. Hat sich wohl etwas von der Rotte entfernt.

So ein Mist. Ich kriege einen Hustenanfall und beginne fürchterlich zu würgen. Sofort halte ich die Hände vor den Mund, senke den Kopf, drücke ihn zwischen den Beinen in die Fleecejacke und schnappe, so leise wie möglich, nach Luft.

Gott sei Dank. Etwa eine Minute später sind Hustenreiz und Würgen vorbei und  … der Frischling weg. Schwein gehabt! Nicht ich, sondern die Sau.

In den folgenden 30 Minuten passiert nichts mehr, aber dann, als mir die Augen aufgrund der Kälte bereits zu tränen beginnen, sehe ich, dass sich ein roter Freibeuter zielstrebig dem Luderplatz nähert.

Das Einzige, was sich jetzt an meinem Körper langsam bewegt, ist der Daumen der rechten Hand, mit dem ich einsteche. Alles andere bleibt eingefroren. Ich verharre so lange in meiner Position, bis Reineke im Schnee zu buddeln beginnt, um an die Leckerbissen zu kommen. Erst als er mir sein Hinterteil zeigt, gehe ich mit der Büchse auf der Filzmatte vorsichtig in Position. Großartig: Das Leuchtpunkt-Absehen hebt sich deutlich ab!

Ich spüre, wie ich eine Gänsehaut bekomme, wie Puls und Blutdruck steigen. Keine Chance, das vor Aufregung und Jagdfieber rasende Herz zu beruhigen. Der Fuchs bekommt von alledem nichts mit, kratzt weiter voller Inbrunst im Schnee.

Ich bin bereit. Dann, als Reineke bilderbuchartig breitsteht, fackle ich nicht lange und schicke die Kegelspitz auf die Reise. Im Feuer glaube ich, den Freibeuter zusammensacken zu sehen.

In der Tat. Als ich Sekunden nach dem Schuss das Fernglas an die Augen nehme, hüpft mir das Herz vor Freude in der Brust. Er liegt. Zwar kann ich lediglich die rote Lunte erkennen, aber das genügt.

Es bleibt der einzige Fuchs in diesen Stunden, aber dennoch bin ich äußerst zufrieden. Von Emden bis Lennestadt sind es annähernd 400 Kilometer. Heißt, ich fahre 800 Kilometer, bis ich wieder zu Hause bin. 800 Kilometer für einen Fuchs? Aber ja doch!

Zwei Jahre später – das muss ich unbedingt noch erzählen – hat Hanjo außergewöhnliches Waidmannsheil auf einen echten Einstangenbock. Der Erste, der ihn Anfang Mai zweimal sieht, ist sein Jagdfreund Richard. Zu Schuss allerdings kommt er nicht.

Dann, am 13. Mai, entdeckt auch Hanjo während der Fahrt mit dem Wagen zur Kirrung den Abnormen. Eindeutig. Der Bock, der vor ihm über den Waldweg huscht, hat nur eine Stange auf dem Kopf. Dass es sich tatsächlich um einen der sehr seltenen echten Einstängler handelt und nicht um einen Bock mit gebrochener Stange, weiß er zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht.

Den darauffolgenden Tag, den 14. Mai, wird Hanjo sein ganzes Leben lang nicht vergessen: Bereits ab 18 Uhr macht er sich auf den Weg zur Kanzel »Wildacker 3«. Dann jedoch ändert er intuitiv seinen Plan und setzt sich auf eine etwas weiter entfernte ältere Kanzel. »Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die kann man nicht erklären«, wird er später sagen.

Nach einer Stunde ohne jeglichen Anblick überlegt er dann aber, ob er nicht doch zur »Wildacker 3« wechseln soll. Nein. Weil es bereits kurz vor 20 Uhr ist, bleibt Hanjo sitzen. Und urplötzlich steht, wie hingezaubert, zirka 70 Meter vor ihm inmitten einer Ginster- und Himbeerfläche, die Orkan Kyrill entstehen ließ, ein Stück Rehwild.

Da der Bereich dicht bewachsen ist, kann Hanjo das Reh allerdings nicht sicher ansprechen. Erst als es in eine kleine Lücke zieht, weiß er: Es ist der Einstängler!

Langsam und vorsichtig legt er das Fernglas zur Seite und macht sich fertig. Zu spät. Der Bock ist verschwunden. Hat sich verdrückt.

Dennoch bleibt Hanjo mit eingestochener Waffe im Anschlag. Und siehe da: Nur wenige Minuten später taucht der Begehrte abermals auf, will die verwüstete Fläche verlassen, um auf der anderen Seite des Weges im Dickicht unterzutauchen.

Kurz vor dem Einwechseln gelingt es Hanjo, den Bock nach kurzem Anschrecken zum Verhoffen zu bringen. Und weil der Einstängler dabei völlig breit steht, zögert er keine Sekunde und schickt das 10,5 Gramm schwere Kegelspitzgeschoss der 7x64 auf die Reise.

Vom Bock ist nach dem Schuss nichts mehr zu sehen. Leer ist die Bühne. Jetzt – zum Glück erst jetzt – wird Hanjo heftig vom Jagdfieber geschüttelt.

Wie immer bleibt er etwa 15 Minuten sitzen, bevor er abbaumt, und holt dann seine slowakische Schwarzwildbracke, seinen erfahrenen Kopov-Rüden »Finn« aus dem Auto. Der hat den Schuss natürlich gehört und weiß schon, dass es Arbeit gibt.

Am Anschuss angelangt, verweist der Hund Lungenschweiß, folgt der Fährte und steht bereits nach zehn Metern vor dem Bock, der mit sauberem Blattschuss längst verendet in den Himbeeren liegt.

Der Griff ans Haupt des Einstangigen macht Hanjo ergriffen: Keine zweite Rose, nicht mal ein Knubbel, kein Rosenstockbruch, ein echter Einstangenbock! Traumhaft! Inmitten des Hauptes: eine prächtige Sechserstange. Der pure Wahnsinn!

»Superhund«

Erwin ist von Beruf Landwirt. Führt seinen Hof in Schleswig-Holstein vorbildlich und ist ausgesprochen erfolgreich. Und Erwin ist Jäger, passioniert bis in die Zehenspitzen. Das Revier befindet sich direkt vor seiner Haustür.

Als er mich zur Entenjagd einlädt, freue ich mich sehr und mache mich Anfang November bereits kurz nach dem Frühstück mit der Flinte von Hamburg aus – dort befand sich damals die Redaktion von »Fisch & Fang« – auf den Weg.

»Kannst meinen Hund mitnehmen«, sagt Erwin, als ich ankomme. Und weiter: »Ich hab´ leider keine Zeit mitzukommen, aber der Teich befindet sich vier Kilometer entfernt etwa 50 Meter links des Feldweges. Wirst ihn nicht verfehlen. Da kannst du dich im Schilf verstecken und dein Glück versuchen. Die Enten fliegen im Moment auch tagsüber.«

Ja wunderbar. Ich gehe gerne allein auf die Jagd. Das heißt, allein bin ich natürlich nicht. Erwins Kleiner Münsterländer begleitet mich. Freudig springt er ins Heck meines Kombis und wackelt mit der Rute. Na prima, denke ich. Passion hat er.

Kurz bevor ich ins Auto steige, um loszufahren, ruft mir Erwin noch zu: »Bin mal gespannt, wie du mit Gero zurechtkommst!«

»Wird schon«, antworte ich.

Am Teich angekommen, bin ich begeistert: 80 mal 150 Meter groß, umgeben von hohem Schilf. Super. In einer Entfernung von hundert Metern gründeln acht Stockenten. Bereits nach wenigen Minuten habe ich mich im Schilf unsichtbar gemacht und setze mich erwartungsfroh auf den mitgebrachten Stuhl. Gero legt sich, ohne dass ich etwas gesagt habe, neben mich und zittert am ganzen Körper. Er kennt das Spiel, denke ich.

Als sich in der nächsten halben Stunde keine Ente in Schussweite blicken lässt, erhebt sich der Hund kurz, äugt mich an, gähnt, wackelt ein paarmal mit der Rute und legt sich wieder hin.

Während ich mich umschaue, sehe ich vier Rabenkrähen, die in waghalsigen Manövern auf einen fast gänzlich weißen Bussard hassen. So lange, bis der sich in ein nahe gelegenes Wäldchen verdrückt.

Fast hatte ich die acht gründelnden Stockenten am Ende des Teiches vergessen, als sie sich kurz nach 16 Uhr erheben und … genau in meine Richtung streichen!

Nicht zu fassen. Bilderbuchartig fliegen sie in einer Höhe von 25  Metern an mir vorbei. Besser geht es nicht. Ich lasse einen der Erpel aufsitzen, ziehe mit und treffe. Richtig stolz bin ich, als auch der zweite Erpel, vier sind es insgesamt, tödlich getroffen auf die Wasseroberfläche schlägt.

»Apport!«, sage ich und wundere mich, dass Gero nicht da ist. Ich drehe mich nach allen Seiten … und traue meinen Augen nicht, als ich den Münsterländer aus dem Schilf preschen und über die Wiese davonlaufen sehe.

Was ist denn jetzt los? Wo will er denn hin? Die Enten treiben doch auf dem Wasser! Schon ist Gero hinter einer Baumreihe verschwunden.

Endlich dämmert es mir: Erwins Hund ist nicht schussfest. Hätte er mir eigentlich sagen müssen. Nun denn. Vielleicht kommt er ja bald zurück und bringt mir die Beute. Ich bleibe, wo ich bin, hoffe, noch einmal zu Schuss zu kommen.

Kaum 50 Meter entfernt klingeln vier Reiherenten an mir vorbei, und am anderen Ende des Teiches krächzt ein Graureiher. Etwa 20 Möwen leuchten strahlend weiß am nunmehr schiefergrauen Abendhimmel.

Wildgänse! Ich höre sie rufen, kann sie jedoch nicht sehen. Da sind sie ja. Etwa 40 Graugänse, 300 Meter hoch …

Aufpassen! Vier Stockis – zwei Enten und zwei Erpel – steuern genau auf mich zu und schicken sich an, kaum 20 Meter vor mir auf dem Wasser einzufallen.

Kurz bevor sie das kühle Nass erreichen, schieße ich zweimal nacheinander und bin äußerst zufrieden. Ein Erpel und eine Ente legen die Schwingen an und platschen mausetot auf die Wasseroberfläche. Mein lieber Schwan. Vier Schüsse, vier Enten. Passiert auch nicht jeden Tag. Mit leuchtenden Augen schaue ich aufs Wasser und freue mich riesig.

Ach du Sch…! Die Dämmerung setzt ein. Und nun? Vier Enten und kein Hund. Weit und breit keine Spur von Gero. So ein Mist.

Ha – Geistesblitz! Ich habe ja meine Angeln im Auto. Unter anderem auch eine Spinnrute. Das ist die Rettung. Ich montiere einen leichten Blinker, bestücke ihn mit einem großen Drilling und beginne zu werfen. Aber der Blinker ist zu leicht. Ich komme an die Enten nicht heran.

Nach dem sechsten Wurf hänge ich einen großen schwimmenden Wobbler mit drei Drillingen in den Wirbel. Der Köderwechsel lohnt sich. Es klappt! Ente überwerfen, etwas jonglieren, und schon verfangen sich die Drillinge in den Federn der Beute.

Großartig. Innerhalb von 15 Minuten habe ich alle vier Stockenten auf nicht ganz konventionelle Art »apportiert«. Das ist der Vorteil, denke ich, wenn man Angler und Jäger ist.

»Wwwufff!« Ich glaub’s nicht! Kaum fünf Meter neben mir taucht Gero auf. Und noch einmal: »Wwwufff!« Du blöder Hund, denke ich. Jetzt, wo ich fertig bin, kommst du an und tust, als wäre nichts gewesen. Bloß die Flinte nicht in die Hand nehmen, sonst haut er wieder ab! Ich locke ihn ins Auto und schlage die Tür zu. Das hätten wir.

Angeln? Aber ja! Ein paar Würfe will ich noch machen, denn ich weiß, dass Erwin hier vor Jahren mehrere Hechte, Zander und Barsche ausgesetzt hat. »Ich habe so viele Friedfische im Teich, dass sie garantiert keinen Hunger leiden werden«, erzählte er.

20-mal werfe ich den acht Gramm schweren rotgoldenen Blinker. Allerdings ohne Erfolg. Nichts. Standortwechsel. 30 Meter weiter rechts schlägt es dann tatsächlich in der Rute ein, und nach turbulentem Drill gelingt es mir, einen stattlichen Hecht auf die Schuppen zu legen. Gut sechs Pfund wiegt er. Erwin, der Fischliebhaber, wird sich freuen. Seine Frau ist eine ausgezeichnete Köchin.

Feierabend, denn von Minute zu Minute wird es dunkler. Mit sechs Stockenten und einem Hecht mache ich mich auf den Weg zurück zu Erwin und liefere die Beute ab. Zwar will er mir zwei Enten schenken, aber das muss ich leider ablehnen, denn ich komme erst in einer Woche wieder nach Hause. Außerdem habe ich dort die Truhe voll mit ostfriesischen Enten.

Ach so, ja. Als ich mich verabschiede, fragt Erwin noch, ob alles geklappt hat mit seinem Hund. »Ja prima«, höre ich mich sagen. »Alles gut. Super!« Ich bringe es einfach nicht übers Herz, ihm die Wahrheit zu sagen. Fast ungläubig schaut mich Erwin an. Er kratzt sich nachdenklich am Kopf und sagt dann: »Seltsam, das ist wirklich seltsam. Wenn ich mit Gero auf der Entenjagd bin, haut er fast immer ab, wenn ich schieße. Mir war schon der Verdacht gekommen, dass er vielleicht nicht schussfest ist.«

Am Dachsbau

Ende September im Wild und Hund-Testrevier bei Obertiefenbach im Taunus: 13 Jahre lang durfte ich während meiner »Fisch & Fang«-Zeit im Paul Parey Zeitschriftenverlag in diesem 540 Hektar großen Revier jagen.

Bereits eine Stunde vor Beginn der Abenddämmerung sitze ich auf einer drei Meter hohen Leiter inmitten des Fichtenwaldes und bin guter Hoffnung, den dritten Dachs des Jahres zu erlegen. Die Entfernung zum Bau beträgt exakt 40 Meter. Zu weit für die Flinte. Als Waffe führe ich daher meine bewährte Büchse im Kaliber 7 x 57 mit lichtstarkem Zielfernrohr.