Über die Autorin:

Birte Stährmann, Jahrgang 1967, aufgewachsen in Flensburg, lebt mit ihrem Mann in Stuttgart.

Referentin für Presse-, Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising bei einer Non-Profit-Organisation.

Autorin zahlreicher Fachbücher (unter dem Namen Birte Mensdorf).

Bisherige Romanveröffentlichungen:

»Der Duft nach Vanille

«, tredition, 2016 »Wellen kommen, Wellen gehen«, tredition, 2018

 Ihr erster Roman »Der Duft nach Vanille« stand mehrere Male in Folge auf der halbjährlich erscheinenden Bestsellerliste Belletristik des Indie-Katalogs.

 Ihr zweiter Roman »Wellen kommen, Wellen gehen« war Buch des Monats April 2018 bei tredition.

Mehr von der Autorin unter
www .birtestaehrm ann.de

Birte Stährmann

SCHATTEN UND LICHT
IN LISSABON

Roman

Für alle, die eine Schattenzeit erleben –
das Licht wird zurückkehren.

Licht schenken mir viele liebe Menschen -
mein geliebter Mann Martin,
meine Familie,
meine Freunde.
Ich danke euch für euch!

TEIL I

1

Stuttgart, März 2018

Immer schon vaterlos.

Und nun auch mutterlos.

Zurückgeworfen auf sich selbst fühlte Mirjam sich, als sie den Schlüssel in die Wohnungstür steckte. Statt einer freudigen Begrüßung empfing sie die Stille einer unbehausten Wohnung und abgestandene, von der Kraft der ersten milden Tage aufgeheizte Luft.

Die Räume waren ungewohnt leer. Ein Entrümpelungsunternehmen hatte am Vormittag alle Möbel, Kleider, Bücher und Sachen mitgenommen, für die Mirjam keine Verwendung hatte. Nun war sie noch einmal zurückgekehrt, um nach dem Rechten zu sehen.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie die Balkontür weit öffnete, hinaustrat und träumend die Zeit ihrer Kindheit und Jugend an sich vorüberziehen ließ. Vor ihr breiteten sich die Felder und Streuobstwiesen aus. Rechts vom Haus der Apfelbaum, auf den sie als Sechsjährige geklettert war – und zu ängstlich gewesen war, um wieder allein hinunterzufinden. Am Rande der Felder die Ahnung von fröhlichem Gekreische, Kindern, platschendem Wasser, dem Duft nach Sonnencreme und frittiertem Fett im Freibad – Abkühlung an einem heißen Sommertag.

Irgendwo mittendrin der Schrebergarten der Eltern ihrer besten Schulfreundin. Dort hatte Mirjam ihre erste Zigarette geraucht, den ersten Rausch erlebt, wurde zur Verführerin und zur Verführten – ein Ort der Freiheit, an dem alles möglich schien.

Auf den Wegen rund um die Felder lernte sie das Radfahren. Im Ort selbst holte sie samstags bei der alteingesessenen Bäckerei frische Brötchen, im Schreibwarenladen mit Buchhandlung bekam sie ihren ersten Schulranzen. Dann die Bücherei, in der Mirjam bergeweise Bücher auslieh und mit Begeisterung las; diese hatten ihr gezeigt, dass es noch eine andere Welt geben musste als ihr Leben in Möhringen, einem Vorort von Stuttgart, auf den Fildern gelegen.

Die Glocken der nahegelegenen Martinskirche tönten laut und tief; erst vier Schläge für die volle Stunde, dann zweimal fünf Schläge. Mirjam fröstelte.

In ihrem Lederbeutel fand sie nach kurzem Suchen die Packung mit den Zigaretten und zündete eine an. Mit einer Mischung aus Genuss und Gier inhalierte sie den ersten Zug, dann weitere und fand langsam zu sich. Zwei Jahre hatte Mirjam nicht mehr geraucht, doch die vergangenen Wochen hatten ihre Spuren hinterlassen. »Warum hast du mich allein gelassen, liebe Mutti? Das ist nicht fair!«

Sechs Wochen lag die Beerdigung zurück.

Angelika Neumann
* 25. Juni 1949
† 6. Februar 2018

So stand es auf dem schlichten Holzkreuz, das in dem aufgeworfenen Erdhügel mit den inzwischen verwelkten Blumen steckte. Nun war Mirjam allein auf der Welt, hatte nur noch ihren Partner Stefan und Robert, den Lebensgefährten von Angelika, fünf Jahre jünger als diese. Seit Mirjams zwölftem Lebensjahr war Robert der Mann an der Seite ihrer Mutter. Obwohl sie nie zusammengelebt hatten, führten sie eine innige Liebesbeziehung.

Robert, der Mirjam wie eine Tochter angenommen hatte, der sie manchmal besser verstand als ihre Mutter. Und doch war da immer die Sehnsucht nach einem echten Vater. Der Wunsch, wie ihre Freundinnen mit beiden Eltern aufzuwachsen. Die Erwartung, von der Schule nach Hause zu kommen, von ihrer Mutter mit einem warmen Mittagessen begrüßt zu werden und am Abend ihrem Vater begeistert erzählen zu können, was sie alles erlebt hatte. Doch da hatte es nie jemanden gegeben.

Als Mirjam im Alter von zehn Jahren ihre Mutter an einem stürmischen, regnerischen Herbstabend gefragt hatte, wer denn ihr Papa sei, hatte diese zunächst einen heißen Kakao gekocht und sich dann zu ihr aufs Sofa gesetzt.

»Es tut mir leid, Mirjam. Ich weiß nicht, wer dein Vater ist. Die siebziger Jahre waren eine wilde Zeit in meinem Leben. Als ich mit dir schwanger wurde, war ich gerade mit keinem Mann fest zusammen und wollte auch gar nicht herausfinden, wer dein Vater ist. Oma und ich haben das doch ganz gut ohne einen Mann hinbekommen, oder?«

Mirjam spürte, wie schwer es ihrer Mutter fiel, über dieses Thema zu reden, und hakte nicht nach. Nur manchmal, wenn sie besonders wütend war, benutzte sie ihren fehlenden Vater als Waffe. Als jedoch Robert in Angelikas und damit auch Mirjams Leben trat, wurde es immer weniger wichtig, wer ihr Vater war.

Doch jetzt, nach dem Tod ihrer Mutter, stellte sich Mirjam diese Frage wieder.

Ihre Mutter erzog Mirjam schon früh zur Selbstständigkeit. Sie war Pflegedienstleiterin des inzwischen geschlossenen Stuttgarter Bürgerhospitals und entsprechend gefordert.

In ihren ersten Schuljahren verbrachte Mirjam die Zeit nach Schulschluss meist bei ihrer Großmutter Karolina, die nur ein paar Querstraßen entfernt wohnte und sie liebevoll mit einem warmen Essen erwartete. Ihr Großvater war gestorben, als sie drei Jahre alt war; an ihn konnte sie sich nicht mehr erinnern.

Als sie in die sechste Klasse des Königin-Charlotte-Gymnasiums kam, wurde ihre Oma krank und starb wenige Wochen später. Eine schwere Zeit folgte für Mirjam und ihre Mutter. Mirjam hatte noch heute den Klang der Stimme ihrer Großmutter im Ohr und die Worte, mit denen sie sie immer begrüßte:

»Na, kleine Prinzessin – was hast du heute alles erlebt? Doch bevor du erzählst, komm erst einmal in unser Schloss und stärke dich.«

Als ihre Oma starb, war es vorbei mit dem warmen Mittagessen und dem herzlichen Willkommen. Mirjam wurde zum Schlüsselkind. Nach der Schule gab es Müsli mit Milch und erst am Abend eine warme Mahlzeit. Ihre Mutter versuchte, Vater und Mutter zugleich zu sein, aber oft war sie nach einem anstrengenden Arbeitstag zu müde, um sich Mirjams temperamentvolle Erzählungen anzuhören oder etwas mit ihr zu unternehmen. Immer jedoch vermittelte sie Mirjam das Gefühl, geliebt und gewollt zu sein, selbst als diese in die Pubertät kam und störrisch ihre Grenzen austestete. Auch in diesen Jahren hatte Angelika Vertrauen in Mirjam, dass sie ihren eigenen, guten Weg finden würde.

Nach dem Tod ihrer Großmutter freute sich Mirjam, wenn sie nach der Schule bei einer ihrer Freundinnen zum Mittagessen eingeladen war und sie anschließend gemeinsam die Hausaufgaben machten, bevor sie spielen gehen durften. Sie war froh, nicht so viel Zeit allein in der Wohnung verbringen zu müssen.

In der Pubertät wurde das anders – da waren ihre Freundinnen begeistert, wenn sie Mirjam nach der Schule nach Hause begleiteten und tun und lassen konnten, was sie wollten.

Gefühle grenzenloser Freiheit empfand Mirjam zusammen mit ihrer Mutter in den Sommerferien. Jedes Jahr flohen sie für drei Wochen aus der aufgeladenen Hitze der Stadt. Die heiße Luft war selbst im fast zweihundert Meter höher gelegenen Möhringen unerträglich. Sie luden ihr Auto voll und fuhren in kleine Orte an der Küste der Bretagne und wohnten in Steinhäusern mit Schieferdach. Es waren unbeschwerte Sommerwochen, auch wenn das Wetter oft wechselhaft war. Beide lasen gern und wussten sich auch sonst zu beschäftigen. Im Alltagsgebrauch lernte Mirjam die französische Sprache und in geschützten Felsenbuchten des Atlantiks das Schwimmen. Sie verliebte sich in die vielen Blauschattierungen des Meeres, die je nach Lichteinfall wechselten, und manchmal auch in einen französischen Jungen.

Baguette, Crêpe, Galette, frischer Fisch und Obst vom wöchentlichen Markt waren in den Ferien ihre Hauptnahrungsmittel. Diese Urlaube schenkten Mutter und Tochter eine besondere Nähe. Robert respektierte, dass diese Zeit nur ihnen beiden gehörte.

Auch als Mirjam erwachsen geworden war, hatten sie die Gewohnheit beibehalten. Erst seit Stefan vor zwei Jahren in das Leben von Mirjam getreten war, hatte sie mit der Tradition gebrochen. Selbst wenn ihre Mutter damals enttäuscht war, hatte sie es Mirjam nicht spüren lassen.

»Was würde ich nur dafür geben, noch einmal mit dir in die Bretagne zu fahren! Ach, Mutti, warum hast du nicht mehr Zeit bekommen?«

Der Abschied von ihrer Mutter kam erwartet und war doch überraschend. Mirjam war dankbar, dass ihre Mutter nicht lange leiden musste, und zugleich traurig, dass ihnen nach der Diagnose der Krebserkrankung nur wenige Monate blieben. Das Sterben kam viel zu schnell.

Auch wenn Mirjam mit einundvierzig Jahren mitten im Leben stand und bis vor kurzem glaubte, sie wäre angekommen: Seit dem Tod der Mutter dachte sie viel über ihr Leben nach.

»Welche Träume hast du, meine liebe Tochter, die ungelebt sind?« Diese Frage hatte die Mutter ihr wenige Tage vor dem Tod gestellt. Sie überreichte ihr zwei mit Stoff bezogene Kartons, die mit Schleifen verschlossen waren. Auf dem obersten lag ein Brief ihrer Mutter.

»Hier findest du noch mehr über mein Leben, als du selbst an Erinnerungen hast. Ich möchte dich bitten, die Kartons erst zu öffnen, wenn ich nicht mehr da bin und wenn du dich wieder besser fühlst. Stell sie am besten neben das Sofa hier im Wohnzimmer.« Eine innige, tränenreiche Umarmung folgte, bei der Mirjam gespürt hatte, wie zart und kraftlos ihre Mutter geworden war.

Die Kartons hatte Mirjam noch nicht angerührt, aber die Frage blitzte immer wieder auf:

»Welche Träume hast du, die ungelebt sind?«

Ohne dass Mirjam es bisher gewagt hatte, sie zu beantworten, spürte sie: Da war viel Ungelebtes in ihr. Eine Ahnung, dass ihr Leben noch mehr für sie bereithielte, wenn sie sich öffnen und es zulassen würde.

Unwillkürlich strich Mirjam über den rechten Oberarm. Dort hatte sie sich an ihrem achtzehnten Geburtstag ein kunstvolles Taijitu-Tatoo stechen lassen. Der Gegensatz von Yin und Yang sollte sie daran erinnern, den eigenen Weg des Lebens zu suchen und zu finden.

»Führe ich das Leben, das ich mir erträumt habe?« fragte Mirjam sich nun immer wieder. Würde ihr der Inhalt der beiden Kartons, ihrer Mutter, helfen, diese Fragen zu beantworten? Heute fühlte sie sich stark genug, sie zu öffnen.

Mitten in ihre Erinnerungen und Fragen hinein klingelte das Telefon. Mirjam wollte nicht abnehmen und erklären müssen, dass ihre Mutter gestorben war. Nach mehrmaligem Klingeln sprang der Anrufbeantworter an.

»Hier spricht Angelika Neumann. Derzeit bin ich nicht persönlich da, aber ich freue mich über eine Nachricht. Ich rufe dann gern zurück.« Mirjam brach beim Klang der geliebten Stimme ihrer Mutter in Tränen aus.

2

Nachdem Mirjam sich gefangen hatte, verließ sie die Wohnung. Heute war nicht der richtige Tag, um zu entscheiden, was sie mit der Wohnung und den restlichen Möbeln machen wollte, oder mehr über ihre Mutter zu erfahren. Sie wollte so schnell wie möglich in ihr gewohntes Leben zurückkehren.

Mirjam tat es gut, mit der Stadtbahn zu fahren. Auf dem Weg zwischen der Haltestelle Vaihinger Straße bis zur Endhaltestelle Hölderlinplatz im Stuttgarter Westen hatte sie Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen.

Die Bahn fuhr an Feldern entlang, auf denen frisches Grün spross; das Korn und der Raps schossen bereits in die Höhe. Wie verschieden doch das Leben im ländlich geprägten Möhringen von dem in der Stadt war! Als Kind hatte sie die Jahreszeiten unmittelbar am Wachsen auf den Feldern und dem Blühen und Reifen der Obstbäume erlebt. Nun, mitten in der Stadt lebend, spürte sie den Wechsel der Jahreszeiten eher über die unterschiedlichen Temperaturen.

Die Haltestelle Weinsteige markierte für sie den Übergang vom Land in die Stadt – wenn die im Talkessel liegende Stadt sich aus der Vogelperspektive zeigte und die mehrstöckigen Häuser in langen Straßenzügen, mit nur wenig Grünflächen dazwischen, eng aneinandergerückt zu sehen waren. Wie so häufig lag auch heute ein Dunstschleier über der Stadt Stuttgart, ein Zeichen von Feinstaub. Wann würde es endlich gelingen, die Belastung zu senken, damit die Menschen wieder gesündere Luft einatmen konnten?

Nach dem Abitur war Mirjam froh, in eine eigene Wohnung ziehen zu können und aus ihrem Heimatort wegzukommen, wo jeder den anderen zu kennen schien. Ihre Mutter hatte Verständnis für ihren Freiheitsdrang, zumal Mirjam das Geld für die Miete selbst verdiente. Sie zog in eine Wohngemeinschaft nach Heslach, einem vom Weinbau und vom Arbeitermilieu geprägten Stadtteil im Stuttgarter Süden. An der Universität studierte sie Geschichte und Deutsch, mit dem Ziel, Lehrerin zu werden. Es war ein freies, alternatives Studentenleben mit Diskussionen bei Bier und Wein bis früh am Morgen, Musikfestivals am Wochenende und einem großen Freundeskreis.

Alle waren ähnlich eingestellt wie sie – wählten die Grünen oder links, engagierten sich gesellschaftspolitisch und waren weder an Besitz noch an Statussymbolen interessiert. Neben ihren alljährlichen Reisen in die Bretagne mit ihrer Mutter entdeckte Mirjam in den Semesterferien Europa mit dem Rucksack per Zug.

Um die Miete zu finanzieren, schrieb sie als freie Mitarbeiterin für verschiedene Zeitungen wie für das »Stadtmagazin« und das »Amtsblatt«. Das machte weitaus mehr Freude, als den Unterricht vorzubereiten. Als Mirjam im Referendariat feststellte, dass sie keine gute Lehrerin werden würde, wuchs in ihr der Wunsch, beruflich etwas anderes zu tun. Es fiel ihr schwer, bei den Schülern Disziplin durchzusetzen. Mit dem Schreiben und Recherchieren tat sie sich dagegen leicht.

Nach dem Referendariat entschloss Mirjam sich deshalb zu einem Volontariat bei dem »Stuttgarter Blatt«. Sie war offenbar gut und hatte Glück, denn danach wurde sie ins Team der Lokalredaktion übernommen. Später wechselte sie zur »Zeitung am Sonntag«, um mehr über Reisen schreiben zu können. Das war keine gute Entscheidung, denn als die Zeitung im Jahr 2016 eingestellt wurde, verlor Mirjam, wie die anderen Kolleginnen und Kollegen, ihre Stelle. Seitdem hielt sie sich als sogenannte »feste Freie« über Wasser, mit weniger finanzieller Planungssicherheit. Mirjams Glück war, dass sie nur wenig Geld zum Leben brauchte, da sie weiterhin in der Wohngemeinschaft lebte und kein Auto besaß. In einer Stadt wie Stuttgart mit viel zu viel Verkehr und einem gut ausgebauten Nahverkehrsnetz war es ohnehin einfacher und schneller, mit Bussen und Bahnen unterwegs zu sein. Brauchte Mirjam einen Wagen, mietete sie ihn kurzfristig beim Carsharing-Verein, dessen Mitglied sie war.

Vor einem Jahr war Mirjam des Lebens in der Wohngemeinschaft überdrüssig geworden. Ihre langjährigen Mitbewohnerinnen hatten inzwischen eigene Wohnungen bezogen und zu den Neuen konnte sie keine wirkliche Nähe aufbauen. War sie inzwischen zu alt für diese Art des Wohnens? Es passte gut, dass ihr Freund Stefan, mit dem sie seit einem Jahr zusammen war, fragte, ob sie nicht zu ihm ziehen wolle. Stefan hatte sich kurz zuvor in der Johannesstraße im Stuttgarter Westen eine großzügige Eigentumswohnung gekauft. Mirjam musste nicht mehr Miete als bisher zahlen. Und sie glaubte zu spüren, dass es mit vierzig Zeit wurde, Wurzeln zu schlagen, auch in einer Beziehung.

Mirjam hatte Stefan bei der Wohnungs-Einweihungsparty von Freunden kennengelernt und sich bis tief in die Nacht hinein angeregt mit ihm unterhalten. Er war acht Jahre älter als sie, einen Kopf größer, hatte eine sportliche Figur und Lachfalten um die tiefblauen Augen. Als Rechtsanwalt arbeitete er in einer großen Kanzlei. Ein Beruf, von dem sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht die beste Meinung hatte, aber bis dahin hatte sie auch keine Juristen in ihrem Freundeskreis.

Stefan war anders als sie sich einen Anwalt vorgestellt hatte. Er engagierte sich ehrenamtlich für Flüchtlinge und beriet diese in Fragen zu ihrem Aufenthaltsstatus und Bleiberecht. Obwohl sie ein sehr unterschiedliches Leben führten, fühlten sie sich schnell zueinander hingezogen und wurden ein Paar.

Stefan hatte sich sowohl von Mirjams Äußerem angezogen gefühlt als auch von ihrem wachen Verstand, wie er ihr wenige Wochen nach dem Kennenlernen gesagt hatte. Er mochte es, wie tief sie sich mit gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen beschäftigte und ihre eigene Meinung fundiert vertrat.

Ihm gefielen ihre dunkelbraunen halblangen, lockigen Haare, ihre grünbraunen mandelförmigen Augen, die manchmal etwas melancholisch blickten, und ihre sinnlich vollen Lippen. Er mochte ihren schlanken Körper, der dennoch weiblich geformt war.

Mirjam selbst sah all dies auch im Spiegel und nahm es doch anders wahr als Stefan. Oft fühlte sie sich unsicher mit ihrem Aussehen. Sicherheit empfand sie dagegen bei der Wahl ihrer Garderobe; sie hatte ein Gespür für individuelle Kleidung, die zu ihr passte. Mirjam liebte geometrische Muster, weich fallende, fließende Stoffe, gern auch figurbetont, aus Naturmaterial. Bei Farben bevorzugte sie Grünund Rottöne, aber auch dunkles Blau. Und sie wählte meist auffälligen, auf ihre Kleidung abgestimmten Schmuck, wie große Ringe und Ohrringe.

In der Anfangszeit hatte es sich richtig angefühlt, dass ein attraktiver und erfolgreicher Mann wie Stefan sie begehrte. Doch nach dem Tod ihrer Mutter hatte Mirjam angefangen, über ihr Leben nachzudenken – und zweifelte an ihrer Beziehung zu Stefan.

Solange sie noch nicht zusammenwohnten, war alles unkompliziert. Es war eine leichte und meist unbeschwerte Zeit. Stefan war großzügig. Es war selbstverständlich für ihn, dass er Mirjam zum Essen oder ins Theater einlud und das Hotelzimmer bei ihren gemeinsamen Urlauben bezahlte, obwohl Mirjam dies zunächst nicht recht war. Sie war ein unabhängiger Mensch, und es fiel ihr schwer, sich so oft einladen zu lassen.

Enttäuscht war sie jedoch von Anfang an, dass er sich nicht für ihre Arbeit als Journalistin interessierte. Stefan erzählte gern und viel von seinen Aufgaben als Anwalt und Mirjam hörte ihm aufmerksam zu.

Dass er nur wenig Motivation zeigte, ihre Mutter und Robert kennenzulernen, störte sie zunächst nicht. Aber als ihre Mutter schwer krank wurde und Stefan weiterhin kaum Anteil nahm, war Mirjam verärgert und traurig zugleich. Immer wenn sie den Versuch machte, sich mit ihm über ihre Mutter zu unterhalten, versuchte er sich zu entziehen.

»Du weißt doch, ich habe derzeit einen schweren Fall« oder »Lass uns ein anderes Mal darüber sprechen« waren seine beliebtesten Ausflüchte. Aber ein anderes Mal gab es nicht.

Stefan, das realisierte Mirjam, wollte ein Leben führen, in dem er und seine Bedürfnisse im Mittelpunkt standen. Alles sollte leicht, unkompliziert und angenehm sein. Auch Mirjams Versuchen, über ihre Beziehung zu reden, wich er aus.

Immer noch tief verletzt war Mirjam, dass Stefan sie nicht zur Beerdigung der Mutter begleitet hatte und nicht mit ihrer Trauer umzugehen wusste. Sie erkannte, dass sie zu verschieden waren. Mirjam überlegte, sich zu trennen, ohne diesen Gedanken bisher zu Ende geführt zu haben. Vielleicht aus Angst und Bequemlichkeit, die Komfortzone zu verlassen? Und auch, weil es schwer war, eine bezahlbare Wohnung zu finden?

Was würde sie sonst verlieren? Das Leben teilten Stefan und sie nicht miteinander. Sie funktionierten ähnlich wie eine Wohngemeinschaft, in der die Aufgaben auch noch ungerecht verteilt waren. Denn Mirjam, die oft von zu Hause arbeitete, hatte den Haushalt und das Kochen fast vollständig übernommen.

Die gegenseitige körperliche Anziehung war abgekühlt, der Umgang miteinander nur noch selten zärtlich und liebevoll. Aber auch das schien Stefan nicht zu bemerken.

Durch den traurigen Tod ihrer Mutter hatte sich plötzlich das Wohnungsproblem gelöst. Mirjam hatte neuerdings einen eigenen Rückzugsort: die Wohnung ihrer Mutter, die diese ihr vererbt hatte.

All dies ging Mirjam durch den Kopf, während sie mit der Stadtbahn durch Stuttgart fuhr. Einem spontanen Impuls folgend stieg sie nicht am Charlottenplatz um, sondern fuhr bis zum Schlossplatz, um von dort über den Börsenplatz, durch den Stadtgarten und den Hoppenlaufriedhof – den ältesten noch erhaltenen Friedhof Stuttgarts – bis in die Johannesstraße zu Fuß zu gehen. Schon immer konnte sie beim schnellen Gehen am besten nachdenken. Der dicht mit Bäumen bestandene Friedhof schenkte ihr Ruhe. Mirjam wurde klar: diese Art von Beziehung, die sie mit Stefan führte, wollte sie nicht mehr. Es musste sich etwas ändern. Mirjam musste Stefan mit ihren Gedanken und Empfindungen konfrontieren. Sollte er heute wieder nicht bereit sein, mit ihr zu sprechen, würde sie ihre Koffer packen und ihn verlassen. Ab und zu war dieser Gedanke in den vergangenen Wochen bei Mirjam aufgeblitzt, aber heute würde sie ihn Wirklichkeit werden lassen.

3

Mirjam stand vor dem Haus, in dem sie mit Stefan lebte, und stieß die schwere Eingangstür aus Eichenholz auf. Es war ein vom Jugendstil geprägtes Bürgerhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert, das aufwändig saniert worden war. Im vierten Stock lag Stefans Wohnung, einen Aufzug gab es nicht. Mirjam, die sich gern bewegte, machten die vielen Stufen nichts aus. Dennoch verlangsamte sich ihr Tempo mit jedem Treppenabsatz. Im Zwischenstock vor der Wohnung hielt sie inne, um sich zu sammeln.

»Ist dir klar, was du vorhast? Bist du tatsächlich soweit, Stefan zu verlassen? Oder bist du zu spontan, ohne die Tragweite zu bedenken?« Während Mirjam das Selbstgespräch führte, wurde ihr klar, dass sie diesen Schritt schon früher hätte tun sollen.

Sie öffnete die Wohnungstür und trat in den langgestreckten Flur, der bis auf eine Kommode, eine Garderobe und eine Hängeleuchte leer war. Stefan liebte den reduzierten Einrichtungsstil und sammelte Möbel aus der Zeit des Bauhauses aus Chrom und Leder – fast alle Stücke in der Wohnung gehörten ihm.

Als Mirjam einzog, hatte er die Wohnung bereits eingerichtet. Nur in der Küche ließ er sich von ihren Ideen überzeugen, dort standen ein runder, abgenutzter Eichentisch ihrer Oma und Holzstühle mit geflochtener Sitzfläche. Ein Tisch, der zur Begegnung und zum Austausch einlud, der im Zusammenleben mit Stefan aber seine Wirkung verfehlt hatte. Dort, am Tisch ihrer Großmutter, wollte sie nachher mit Stefan reden, auch wenn er bisher nicht bemerkt hatte, dass sie da war. Aus dem Wohnzimmer klang, wie so häufig, das Dröhnen des eingeschalteten Fernsehers. Mirjam betrat zunächst ihr Zimmer und stellte ihre Tasche ab. Dieser Raum trug ihre Handschrift. Sie hatte ihn behaglich eingerichtet – mit einem abgewetzten, aber dennoch gemütlichen braunen Ledersofa, farblich passenden Kissen, einem Schreibtisch mit ihrem Notebook, einem Bücherregal. Die meisten ihrer Bücher standen noch in Kartons im Keller ihrer Mutter. Irgendwie war sie nicht dazu gekommen, sich weitere Bücherregale zu kaufen.

Jedes Möbelstück erzählte eine eigene Geschichte. Nichts gehörte zusammen und doch ergab sich eine harmonische Einheit.

In den ersten Monaten hatte Mirjam es spannend gefunden, in dieser großen, aufgeräumten Wohnung zu leben. Doch auch bei warmen Temperaturen fröstelte sie in dem vor Chrom blitzenden Wohnzimmer, das von einem großen Plasmabildschirm dominiert wurde.

Dennoch wollte sie nicht vorschnell handeln. Zögernd betrat sie das Wohnzimmer. Stefan saß entspannt im Sofa, vor sich ein Glas Weißwein, und blickte fasziniert auf den Fernseher, auf dem ein Thriller zu laufen schien. Er blickte kurz auf, ohne sich vom Sofa zu erheben.

»Hallo Mirjam. Ich bin mitten in einem spannenden Film. Setz dich doch zu mir.«

»Nein. Ich muss dringend mit dir sprechen.«

Er seufzte. »Ich bin total groggy vom Tag.« Entnervt blickte er sie an.

»Das sagst du immer. Aber es ist wichtig! Ich werde uns etwas kochen und rufe dich, wenn es fertig ist. Deine DVD kannst du anschließend weitersehen.«

»Ich habe bereits nach dem Gerichtstermin eine Kleinigkeit mit einem Kollegen gegessen, mach bitte nur etwas für dich. Du kannst dir nicht vorstellen, wie anstrengend mein Tag wieder war. Lass mich am besten eine Weile in Ruhe.«

»Es lässt sich nicht verschieben. Es ist dringend.« Einen Moment wartete Mirjam auf Stefans Reaktion, doch diese blieb aus. Stefan starrte weiter gebannt auf den Bildschirm.

Mirjam zog sich aus dem Wohnzimmer zurück und schloss leise die Tür. Sie war enttäuscht und erleichtert zugleich. Plötzlich sah sie klar. Im Grunde ihres Herzens wollte sie nicht mit Stefan sprechen, denn es würde sich nichts ändern.

Im Flur nahm Mirjam die Kellerschlüssel vom Haken, stieg die Stockwerke hinunter und holte zwei Koffer und den großen Rucksack, der sie auf vielen Reisen begleitet hatte. In ihrem Zimmer, im Schlafzimmer und im Bad packte sie rasch das Nötigste ein, vor allem Kleidung, wichtige Unterlagen, Schmuck, ein paar Bücher und das Notebook.

Sie setzte sich an den Schreibtisch, nahm ein Blatt Papier und schrieb:

Hallo lieber Stefan,

alles hat seine Zeit. Auch unsere Beziehung.

Ich danke dir für viel Beglückendes, das ich in unserer Anfangszeit mit dir erlebt habe.

Seit einiger Zeit haben wir uns immer mehr voneinander entfernt. Es hat mich verletzt, dass du keinen Anteil genommen hast an der Krankheit meiner Mutter, an ihrem Tod und meiner Trauer. Immer wenn ich versucht habe, mit dir darüber zu sprechen, hast du Ausflüchte gesucht.

Nach ihrem Tod ist mir klar geworden, wie kostbar das Leben ist. Von einem Augenblick auf den anderen kann es vorbei sein. Ich möchte noch mehr »ich selbst« sein. Möchte eine Beziehung führen, in der einer für den anderen da ist und sich für die Welt des anderen interessiert. Unsere Beziehung entspricht nicht dieser Vorstellung.

Ich erwarte von einer Partnerschaft, dass in ihr beide mit ihren Bedürfnissen gleichberechtigt vorkommen. In der es Tiefe, Nähe und Leichtigkeit gibt. Ich habe feststellen müssen, dass das mit dir nicht möglich ist.

Du bist nur an meiner leichten und hellen Seite interessiert. An der Mirjam, mit der du das Leben genießen kannst.

Aber in den vergangenen Monaten ging es in meinem Leben um andere Dinge, die du nicht an dich heranlassen wolltest. Das hat mich verletzt, wütend und traurig gemacht. Und es hat mich zum Nachdenken gebracht.

Daher werden sich unsere Wege heute trennen. Ich passe nicht in deine Vorstellung vom Leben, und du nicht in meine.

Ich ziehe in die Wohnung meiner Mutter, die nun mir gehört. Meine persönlichen Dinge und Möbel werde ich in den nächsten Tagen abholen, dann lasse ich dir auch deine Schlüssel da.

Ich danke dir für die schönen Momente, die wir miteinander hatten.

Es grüßt dich herzlich
Mirjam

PS: Dies alles hätte ich dir gern persönlich gesagt, doch du warst nicht bereit, mir zuzuhören.

Sie hatte sich viel Zeit gelassen für den Brief, ihn wieder und wieder gelesen und für stimmig befunden. Über ihr Handy bestellte Mirjam ein Taxi. Den Brief legte sie gut sichtbar auf den Küchentisch.

Sie verließ die Wohnung, ohne sich noch einmal umzudrehen. Die letzten Geräusche, die sie vernahm, waren Schusssalven aus dem Fernseher.

4

Welche Träume hast du, die ungelebt sind?

Diese Frage schrieb Mirjam gut sichtbar auf eine Karte und hängte sie mit einem Magneten an die Kühlschranktür. Es war das Erste, was sie machte, nachdem sie die Wohnung ihrer Mutter, die nun ihre war, betreten hatte.

Bereits im Taxi hatte ihr Handy geklingelt. Danach versuchte Stefan noch ein paar Mal, sie zu erreichen, und hinterließ dann beim letzten Mal eine Nachricht auf ihrer Mailbox. Er bat Mirjam, ihm noch eine Chance zu geben und sich mit ihm zu treffen. Sie schickte ihm eine kurze Antwort per SMS:

»Stefan, ich habe mir alles in Ruhe überlegt. Es gibt für mich keinen Neuanfang mit dir. Bitte ruf mich nicht mehr an. Viele Grüße von Mirjam.«

Mirjam war erstaunt – da war nicht der Hauch eines Zweifels, das Richtige getan zu haben. Den Entschluss, sich von Stefan zu trennen, hatte sie spontan getroffen; diesem war jedoch eine wochenlange Phase des Nachdenkens und Reifens vorausgegangen, in der ihr klar geworden war, dass ihre Beziehung keine Zukunft hatte. Die Trennung gab ihr die Gelegenheit, ihr Leben neu zu ordnen und dabei hoffentlich eine Antwort auf die Frage ihrer Mutter zu finden.

In den bereits vor einigen Tagen leergeräumten Schrank im Schlafzimmer sortierte Mirjam ihre Kleidung ein. Dabei stieß sie auf die bisher unberührten Kartons, die sie kürzlich im Schrank verstaut hatte. Sie spürte, dass nun der richtige Zeitpunkt gekommen war, um sie zu öffnen. Doch zuvor wollte sie sich noch stärken. Im Lebensmittelvorrat fand sie ein Päckchen mit Spaghetti, ein Glas Basilikum-Pesto, außerdem mehrere Flaschen Rotwein. Sie schenkte sich ein Glas ein und erhob das Glas.

»Prost, Mama. Auf das Leben, das wir miteinander hatten. Du wirst dich freuen, ich habe mich von Stefan getrennt! Du hast ihn ohnehin nie wirklich gemocht.«

Während die Spaghetti kochten, gönnte sie sich immer wieder einen kleinen Schluck und lauschte in die Stille.

Wie vertraut und fremd zugleich ihr diese Wohnung war! Auch früher schon hatte sie hier viele Stunden allein verbracht, doch dieses Mal war es anders – ihre Mutter würde nie mehr zurückkehren.

Diese Endgültigkeit in aller Schärfe zu spüren, war ein neues Gefühl, das Mirjam zuvor nicht zugelassen hatte. Es war traurig, doch nicht bedrohlich. Sie wusste, dass sie viel von ihrer Mutter in sich trug, und das gab ihr Kraft. Leichte und schwere Erinnerungen, gleiche Vorlieben und Abneigungen, ähnliche Vorstellungen vom Leben und vom Lieben …

Dieses »Erbe« ihrer Mutter war für Mirjam um vieles wertvoller als die Wohnung und das Ersparte es je sein konnten. Wenngleich diese es ihr leichter gemacht hatten, Stefan zu verlassen, denn ihr eigenes Konto war bis zum Anschlag belastet, da sie in den vergangenen Monaten weniger Aufträge angenommen hatte.

Mirjam war dankbar, dass es nichts Unausgesprochenes gab zwischen ihr und ihrer Mutter. Aber war wirklich alles geklärt? Ihr fragender Blick fiel auf die Schachteln. Was hatte es damit auf sich? War sie heute bereit zu erfahren, was ihre Mutter ihr erst nach ihrem Tode mitzuteilen wagte? Eine Ahnung durchzuckte sie.

Während Mirjam sich ihr einfaches, aber leckeres Essen schmecken ließ, spürte sie, wie müde und erschöpft sie war. Auch der Wein tat sein Übriges.

Draußen war es dunkel geworden. Lediglich die Laternen erhellten die Straße, die Felder dahinter blieben nur noch schemenhaft sichtbar.

Mirjam räumte den Wohnzimmertisch ab, an dem sie schon viele Jahre nicht mehr allein gegessen hatte, und wurde von der Stille der Wohnung umfangen. Einen Augenblick war sie versucht, das Radio oder den Fernseher einzuschalten, doch sie entschied sich dagegen.

»Ich muss lernen, mit mir allein zu sein.« Mirjam war klar: Es war ein weiter Weg, sich dabei wohlzufühlen, denn bisher hatte sie noch nie allein gelebt. Während der Kindheit und Jugend war sie mit ihrer Mutter zusammen in dieser Wohnung gewesen, als Erwachsene die meiste Zeit in der Wohngemeinschaft und bis heute hatte sie mit Stefan zusammengelebt. All dies gehörte nun der Vergangenheit an. Wie es sich im Heute lebte, darin musste sie erst Erfahrungen sammeln.

Mirjam spürte, dass sie Bewegung brauchte, um ruhiger zu werden. Sie zog sich Jacke und Schuhe an, nahm den Schlüssel und verließ die Wohnung.

Die meisten Wege entlang der Felder und Streuobstwiesen waren unbeleuchtet, doch der Rohrer Weg war von Straßenlaternen erhellt. Nur wenige Schritte von ihrer Wohnung entfernt ließ Mirjam das bebaute Gebiet hinter sich.

Mirjam dachte daran, dass es immer wieder Pläne gegeben hatte, das Naherholungsgebiet in Bauland umzuwandeln. Bisher war es einer linken Mehrheit im Stuttgarter Gemeinderat, mit den Grünen an der Spitze, und dem kleinen Möhringer Verein »Schutzgemeinschaft Rohrer Weg« weitgehend gelungen, dies zu verhindern. Das Gebiet stand unter Naturschutz, bot zahlreichen Vogelarten und kleinen Tieren ein Zuhause. Nicht nur Obst spendeten die Streuobstwiesen, sie waren Nahrungsquellen für Wildbienen und andere Insekten. Und nicht zuletzt ein Naherholungsgebiet für die Städter. Zu dieser Uhrzeit waren nur noch vereinzelt Menschen unterwegs, die ihre Hunde Gassi führten. Wie in Mirjams Kindheit üblich, grüßte man sich meist.

Während ihres Spaziergangs wurde Mirjam klar, dass sie noch nicht bereit war, sich mit dem Inhalt der Kartons auseinanderzusetzen. Zuerst musste sie mehr ankommen in ihrem alten und neuen Zuhause.

In der Ferne war der Ruf eines Käuzchens zu hören. Dann das beruhigende Schlagen der Glocken der Martinskirche. Vier Schläge für die volle Stunde, elf Schläge zweimal hintereinander, in unterschiedlichen Tonhöhen, kündeten Mirjam, dass es Zeit war, nach Hause und ins Bett zu gehen.

5

Die Nacht war unruhig. Lange konnte Mirjam nicht einschlafen und lag wach, ohne klar denken zu können. Danach bestimmten wirre Träume ihren Schlaf, immer wieder wachte sie auf. Erst gegen Morgen kam Mirjam zur Ruhe. Um halb neun wachte sie auf, ihr Rücken und die linke Schulter schmerzten. Die Matratze ihrer Mutter war recht hart, aber daran würde sie sich gewöhnen.

Der warme Strahl der Dusche löste ihre Verspannungen und weckte ihre Lebensgeister. Danach – es war ein strahlend sonniger, wenn auch kühler Frühlingstag – beschloss Mirjam beim Bäcker frische Brötchen zu holen. Die Seniorchefin, die sie seit ihrer Kindheit kannte, begrüßte sie herzlich.

»Mirjam, wie schön, dich zu sehen! Das mit deiner Mutter tut mir sehr leid. Du bist dünn geworden, iss erst einmal etwas Gescheites.« Mit diesen Worten und einem warmen Lächeln packte sie ihr eine Butterbrezel ein, die Mirjam nicht bezahlen musste. Sie bekam feuchte Augen, bedankte sich und verließ rasch den Laden. Alles in Möhringen erinnerte sie an die Kindheit mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter. Nun war sie allein zurückgeblieben. Wie sehr die beiden fehlten!

Während Mirjam durch den Ort nach Hause in den Rosenrotweg ging, musste sie an Robert denken, den sie seit ein paar Tagen nicht mehr gesprochen hatte. Nach dem Frühstück wollte sie ihn anrufen und danach überlegen, wie sie ihren Umzug organisierte. Hoffentlich war er zuhause. Seit dem Vorruhestand im vergangenen Jahr hatte Robert als Vorsitzender eines Kunstvereins viel zu tun. Er organisierte Ausstellungen, und dann waren da noch seine eigenen Kunstwerke, die er in einem kleinen Atelier fertigte. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte er sich meist dorthin zurückgezogen. Beim Arbeiten an seinen Skulpturen aus Holz und Metall konnte er seine Trauer am besten verarbeiten, hatte er Mirjam kürzlich erzählt.

Ihr wurde klar, dass sie mit ihrer Rückkehr nach Möhringen den Ort gewählt hatte, an dem sie ihrem Kummer nicht ausweichen konnte. Was sie selbst überraschte – ihre Traurigkeit fühlte sich nicht nur diffus schmerzhaft an, sondern war durchwoben von positiven Gefühlen und Erinnerungen. Sie stürzte dabei nicht mehr ins Bodenlose, sondern fühlte, dass ihr Leben trotz allem schön war.

Der Austausch mit Robert tat Mirjam gut. Sie sprachen offen darüber, wie sehr ihnen Angelika fehlte. Schließlich erzählte sie ihm, dass sie sich von Stefan getrennt hatte und nun in der Wohnung ihrer Mutter leben wollte.

»Das hast du gut gemacht, Mimi. Es hat mich traurig gestimmt, dass Stefan nicht für dich da war, als Angelika krank war. Nicht einmal zu ihrer Beerdigung ist er gekommen. Ihr habt nicht zusammengepasst. Angelika und ich wollten uns nur nie einmischen.«

»Ich bin froh, es dir erzählt zu haben. Sonst weiß es noch niemand.«

»Was ist mit deinen Sachen? Kann ich dir beim Umzug helfen?«

Sie verabredeten, dass sie keine Zeit verlieren wollten und die Phase nutzen, in der Stefan bei der Arbeit war. So würden sie es hoffentlich umgehen können, ihm noch einmal zu begegnen.

Beim Carsharing-Verein mietete Mirjam einen Transporter, den sie wenig später in einer Tiefgarage am Möhringer Bahnhof abholte. Was für ein tolles System, dachte Mirjam sich, als sie die Schlüssel nach Eingabe eines Codes dem kleinen Tresor entnahm. Letztlich war sie viel flexibler als normale Autofahrer. Je nach Bedarf konnte sie ihr jeweiliges Wunschauto wählen, sofern es frei war. Da sie es gewohnt war, mit unterschiedlichen Autos zu fahren, fand sie sich zurecht. Auch den Transporter zu lenken, schreckte sie nicht, da sie einige Urlaube mit einem Kleinbus gemacht hatte.

Im Nachbarort Degerloch holte sie Robert in seiner Wohnung ab. Mit einer langen, liebevollen Umarmung begrüßten sie einander. Ein Gefühl der Vertrautheit durchströmte Mirjam in Roberts Nähe.

»Ich bin froh, dass du für mich da bist, Robert.« Damit meinte sie nicht nur die Hilfe beim Umzug, sondern schloss die Vergangenheit und Gegenwart mit ein.

»Das ist selbstverständlich, Mirjam. Und ohne mich stündest du schlecht da, oder? Hast du keine Möbel, die auseinandergebaut werden müssen?« Praktisch mitdenkend wie Robert war, hatte er seinen Werkzeugkoffer dabei. In einem Baumarkt kauften sie Umzugskartons und Einwickelpapier, um sogleich mit dem Packen beginnen zu können.