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Die Autoren

Prof. i.R. Dr. Johanna Hartung und Prof. Dr. Joachim Kosfelder lehren Psychologie an der Hochschule Düsseldorf in den Bachelor-Studiengängen Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik der Kindheit und Familienbildung sowie im Master-Studiengang Soziale Arbeit und Pädagogik mit Schwerpunkt Psychosoziale Beratung.

Johanna Hartung Joachim Kosfelder

Sozialpsychologie

4., überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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4., überarbeitete Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032926-3

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-032927-0

epub:    ISBN 978-3-17-032928-7

mobi:    ISBN 978-3-17-032929-4

Inhalt

 

 

  1. Vorwort zur 4. Auflage
  2. 1   Sozialpsychologie – eine Bezugswissenschaft für die Soziale Arbeit
  3. 1.1   Sozialpsychologische Fragen im sozialpädagogischen Alltag. Ein Beispiel: Kinder spielen ihre Lebenswelt
  4. 1.2   Was ist Sozialpsychologie?
  5. 1.2.1   Der Beitrag der Sozialpsychologie zu multifaktoriellen Erklärungsmodellen
  6. 1.2.2   Zum Geltungsbereich sozialpsychologischer Theorien und Befunde
  7. 1.3   Zum Verständnis sozialpsychologischer Forschung
  8. 1.3.1   Experimentelle Forschung
  9. 1.3.2   Auswahl der Untersuchungsstichprobe
  10. 1.3.3   Feldforschung
  11. 1.3.4   Verfahren der Datenerhebung
  12. 2   Soziale Wahrnehmung und Attribution
  13. 2.1   Eindrucksbildung. Wahrnehmung und Beurteilung von Personen
  14. 2.1.1   Könnte uns so etwas auch passieren? Studierende erleben sich in einem Experiment
  15. 2.1.2   Verzerrungen bei der Wahrnehmung und Beurteilung von Personen
  16. 2.1.3   Warum sind Urteile über Personen so stabil? Zum Mechanismus der »sich selbst erfüllenden Prophezeiung«
  17. 2.2   Attribution. Ursachenzuschreibung für das Handeln einer Person
  18. 2.2.1   Prozessmodelle der Attribution
  19. 2.2.2   Attributionstendenzen
  20. 2.3   Eindrucksbildung und Attribution in der Praxis Sozialer Arbeit
  21. 2.3.1   Zur Eigendynamik der Eindrucksbildung im Interaktionsgeschehen
  22. 2.3.2   Zur Eigendynamik der Attribution im Interaktionsgeschehen
  23. 2.3.3   Anregungen zur Reflexion der eigenen Eindrucksbildung und Ursachenzuschreibung
  24. 3   Einstellungen, Einstellungsänderung und Verhalten
  25. 3.1   Was sind Einstellungen?
  26. 3.2   Wie entstehen Einstellungen und welche Funktion erfüllen sie?
  27. 3.3   Unter welchen Bedingungen üben Einstellungen Einfluss auf das Verhalten aus?
  28. 3.4   Einstellungsänderung durch gezielte Einflussnahme
  29. 3.4.1   Was erhöht die Erfolgswahrscheinlichkeiten einer gezielten Einflussnahme?
  30. 3.4.2   Einflussnahme durch Werbung
  31. 3.4.3   Reaktanz. Widerstand gegen massive Beeinflussung
  32. 3.5   Kann das Verhalten die Einstellung verändern?
  33. 3.5.1   Zur Selbstrechtfertigung einstellungskonträren Verhaltens
  34. 3.5.2   Wie unangemessene Belohnungen Einstellungen destabilisieren können
  35. 3.6   Gesundheitsförderliche Einstellungen und Gesundheitshandeln. Strategien der Gesundheitsförderung
  36. 3.6.1   Furchtappelle und defensiver Optimismus
  37. 3.6.2   Konkretisierung von Bewältigungsmöglichkeiten und gesundheitliche Kompetenzerwartung
  38. 3.6.3   Weitere gesundheitsrelevante Einstellungen
  39. 4   Kommunikation
  40. 4.1   Komponenten des Kommunikationsprozesses
  41. 4.2   Modalitäten der Kommunikation
  42. 4.3   Soziale Steuerung durch Kommunikation
  43. 4.4   Zur Bedeutungsvielfalt von Mitteilungen
  44. 4.5   Kommunikative Kompetenz
  45. 4.5.1   Verstehensoptimierung durch aktives Zuhören
  46. 4.5.2   Mitteilungsoptimierung durch Ich-Aussagen
  47. 4.5.3   Verständigungsoptimierung durch die Unterbrechung dysfunktionaler Kreisläufe
  48. 4.5.4   Training kommunikativer Kompetenz
  49. 4.6   Psychosoziale Beratung als kommunikatives Handeln
  50. 4.6.1   Beratungskonzepte und -strategien
  51. 4.6.2   Basisfertigkeiten der Beratung
  52. 4.6.3   Kultursensitive Beratung
  53. 5   Interaktion in Gruppen
  54. 5.1   Was ist eine Gruppe?
  55. 5.2   Wie entwickeln sich Gruppen?
  56. 5.3   Konformität und Innovation
  57. 5.3.1   Konformität. Zum Einfluss von Mehrheiten auf die Urteilsbildung eines Individuums
  58. 5.3.2   Innovation durch Minderheiteneinfluss
  59. 5.4   Gruppenleistung
  60. 5.4.1   Sind Gruppen bessere Problemlöser als Individuen?
  61. 5.4.2   Wie wirken sich Leitung, Kommunikation und Kooperation auf die Gruppenleistung aus?
  62. 5.5   Anregungen für die Moderation und Gestaltung von Teamgesprächen
  63. 5.5.1   Handeln in komplexen Situationen
  64. 5.5.2   Moderation von Teamgesprächen
  65. 6   Konflikt und Kooperation zwischen Gruppen
  66. 6.1   Was ist Intergruppenverhalten?
  67. 6.2   Erklärungen von Intergruppenverhalten
  68. 6.2.1   Theorie des realistischen Gruppenkonflikts
  69. 6.2.2   Theorie der sozialen Identität
  70. 6.3   Konflikthafte Intergruppenbeziehungen in natürlichen Kontexten
  71. 6.3.1   Fremdenfeindlichkeit
  72. 6.3.2   Rechtsextremismus
  73. 6.4   Verminderung von Intergruppenkonflikten
  74. 6.4.1   Förderung von Kontakt zwischen Gruppen
  75. 6.4.2   Pädagogische Ansätze zur Förderung interkultureller Gruppenbeziehungen
  76. 6.4.3   Interkulturelle Handlungskompetenz als Schlüsselqualifikation
  77. 7   Aggressives Verhalten
  78. 7.1   Was ist aggressives Verhalten?
  79. 7.2   Erklärungen aggressiven Verhaltens
  80. 7.2.1   Theorien aggressiven Verhaltens
  81. 7.2.2   Personale und soziale Einflussfaktoren. Welche Personen haben ein erhöhtes Risiko, aggressives Problemverhalten zu entwickeln?
  82. 7.2.3   Aktuelle, situative und kognitive Einflussfaktoren. Was regt aggressives Verhalten an?
  83. 7.2.4   Senkt aggressives Verhalten die Aggressionsbereitschaft? Der Mythos des Katharsis-Effektes
  84. 7.2.5   Anregungen für die Problemanalyse in der Praxis Sozialer Arbeit
  85. 7.3   Prävention und Verminderung aggressiven Verhaltens
  86. 7.3.1   Aufbau eines Repertoires an nicht-aggressivem Alternativverhalten zur Zielerreichung
  87. 7.3.2   Erhöhung der Hemmschwelle für aggressives Verhalten
  88. 7.3.3   Komplexe personenbezogene und lebensweltorientierte Interventionen
  89. 8   Prosoziales Verhalten
  90. 8.1   Was ist prosoziales Verhalten?
  91. 8.2   Entwicklung prosozialen Verhaltens
  92. 8.3   Erklärungsmodelle prosozialen Verhaltens
  93. 8.3.1   Theoretische Annahmen
  94. 8.3.2   Einfluss sozialer Normen
  95. 8.3.3   Personale Einflussfaktoren
  96. 8.3.4   Aktuelle situative Einflussfaktoren
  97. 8.3.5   Prozess des Hilfehandelns
  98. 8.4   Beziehungskonstellationen zwischen Helfendem und Hilfebedürftigem
  99. 8.5   Soziale Unterstützung durch soziale Netzwerke
  100. 8.5.1   Struktur- und Beziehungsmerkmale sozialer Netzwerke
  101. 8.5.2   Einfluss der Person und ihrer Lebensumstände auf das soziale Netzwerk
  102. 8.6   Netzwerkförderung als Handlungsfeld Sozialer Arbeit
  103. 8.6.1   Personenbezogene Netzwerkförderung
  104. 8.6.2   Strukturbezogene Netzwerkförderung
  105. 8.6.3   Ehrenamtliches soziales Engagement
  106. 8.6.4   Koordination von alltäglicher, ehrenamtlicher und professioneller Unterstützung
  107. Literaturverzeichnis
  108. Stichwortverzeichnis

Vorwort zur 4. Auflage

 

 

 

Die Sozialpsychologie – als Teildisziplin der empirischen Psychologie – betrachtet die Vielfalt menschlichen Erlebens und Verhaltens in seinen sozialen Bezügen. Das Individuum wird als Akteur im sozialen Kontext betrachtet, dessen Denken, Fühlen und Handeln sich in der Interaktion mit der sozialen Umwelt entwickelt, das gestaltend auf seine soziale Umwelt Einfluss nimmt und seinerseits durch Bedingungen der sozialen Umwelt beeinflusst wird. Die Sozialpsychologie versucht, Personen im Spannungsfeld ihrer sozialen Beziehungen zu verstehen und einen Beitrag zum Verständnis zwischenmenschlicher und aktueller gesellschaftlicher Phänomene zu leisten. So thematisiert sie beispielsweise Prozesse der Kommunikation, der Meinungsbildung, der Verhaltenswirksamkeit von Einstellungen und Überzeugungen, des Medieneinflusses, des Konflikts und der Kooperation zwischen Personen und Gruppen, des prosozialen Handelns und des Bürgerengagements. Der Zugang erfolgt über die Erforschung der Erscheinungsformen und der beeinflussenden Bedingungen des Erlebens und Verhaltens von Individuen und Gruppen. Auf dieser Basis können Anregungen für Handlungsstrategien zur Einflussnahme auf die interaktiven Prozesse entwickelt und erprobt werden.

Das vorliegende Lehrbuch bietet eine Auswahl von Themenbereichen der Sozialpsychologie, die für Handlungsfelder und Problemstellungen Sozialer Arbeit bedeutsam sein können. Der Transfer sozialpsychologischer Erkenntnisse auf Aspekte Sozialer Arbeit wird exemplarisch skizziert. Dabei greifen wir u. a. auf eigene Praxiserfahrungen zurück: Johanna Hartung als Sozialpädagogin in der Vorschulpädagogik, der offenen Kinder- und Jugendarbeit im sozialen Brennpunkt, der Jugendberufshilfe, der Arbeit mit straffälligen Jugendlichen und der Kooperation mit Bürgerinitiativen sowie als Klinische Psychologin in der Beratung, Therapie und in der Bildungsarbeit mit Erwachsenen; Joachim Kosfelder als Klinischer Psychologe in Beratung, Psychotherapie und Supervision sowie in der Aus- und Weiterbildung von Fachkräften der Sozialen Arbeit, von Beraterinnen und Beratern sowie von Psychotherapeutinnen und -therapeuten.

Hinweise auf aktuelle, wirksame Interventionsprogramme für die psychosoziale Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sowie auf Basisstrategien der Beratung, in denen eine Integration sozialpsychologischer Kenntnisse mit solchen aus anderen Teilgebieten der Psychologie (Klinische Psychologie, Pädagogische Psychologie, Entwicklungs- und Gesundheitspsychologie) gelingt, unterstützen das Anliegen des Buches, fachlich fundiertes, anwendungsrelevantes Wissen zur Weiterentwicklung professioneller Handlungskompetenz zu nutzen. So werden für eine Vielfalt psychosozialer Handlungsfelder übergreifende (z. B. systemische Familienberatung) und spezifische Beratungsstrategien (z. B. im Umgang mit nicht freiwillig erschienenen Klienten) skizziert sowie Kompetenzen für die kultursensitive Arbeit mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen benannt.

Das Lehrbuch soll Studierende, Lehrende und praktisch tätige Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie Kindheitspädagoginnen und Kindheitspädagogen anregen, sozialpsychologische Kenntnisse mit Beiträgen aus den anderen Bezugswissenschaften Sozialer Arbeit (wie Soziologie, Politik-, Rechts- und Erziehungswissenschaft, Sozialmedizin, Medienpädagogik) zu einer interdisziplinären Betrachtungsweise zu integrieren und für die Planung, Entwicklung von Handlungsstrategien und Evaluation Sozialer Praxis zu nutzen.

 

Düsseldorf, im Juni 2019

Johanna Hartung und Joachim Kosfelder

1          Sozialpsychologie – eine Bezugswissenschaft für die Soziale Arbeit

 

 

1.1       Sozialpsychologische Fragen im sozialpädagogischen Alltag. Ein Beispiel: Kinder spielen ihre Lebenswelt

 

Als Studentin der Sozialpädagogik arbeitete ich, Johanna Hartung, in einer großstädtischen Notunterkunft in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Für die meisten Familien erwies sich die Notunterkunft nicht – wie eigentlich intendiert – als eine Übergangseinrichtung, sondern angesichts von gesellschaftlicher Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit als Dauereinrichtung, in der die Kinder absehbar ihre gesamte Kindheit verbringen würden. Angesichts soziologischer Befunde zur Transmission von sozialer Benachteiligung zwischen den Generationen bewegte uns die Frage, wie Kinder diese Lebenssituation erleben, welche Ursachen sie dafür in Betracht ziehen und welche Veränderungsphantasien und -strategien sie entwickeln, um daraus Anregungen für eine sozialpädagogische Unterstützung der Kinder und ihrer Familien abzuleiten.

Anstelle einer direkten Befragung der Kinder wählten wir den Zugang über das Rollenspiel zu Themen aus ihrer alltäglichen Lebenswelt, der Notunterkunft am Kuthsweg (Hartung, 1977). Die in diesem spielerischen Kontext entwickelten Aussagen und Verhaltensweisen der Kinder werteten wir vorsichtig – unter Berücksichtigung möglicher Verfremdungseffekte durch das Spiel – als Hinweise auf ihre Einstellungen und griffen sie in anschließenden Rollenspielen und Gesprächen auf. Die folgenden wörtlichen Passagen aus den Rollenspielen geben einen Einblick in die Denk- und Ausdrucksweise der Kinder.

Zunächst Ausschnitte aus dem Spiel, in dem sich die Kinder in der Rolle Erwachsener zu den Ursachen des Wohnens in der Notunterkunft äußerten:

»Vorher haben wir auf der Erkrather Str. 134 gewohnt. Der Hausmeister hat uns gesagt, dass wir ausziehen müssten, weil das Haus abgerissen wird. Da hat er gesagt: ›Ziehen Sie doch solange in den Kuthsweg‹, weil gar keine Wohnung mehr frei war. Er sagte: ›Das ist nur für 2 bis 3 Wochen‹, aber dann sind Monate, Jahre draufgegangen.«

»Meine Schwester musste zum Kuthsweg ziehen. Sie hat keine andere Wohnung gekriegt; das ist alles besetzt, nein, nicht besetzt, sondern die Leute können die Miete nicht aufbringen. Die Mieten sind so hoch, da kann man ja nicht gegen angehen. Dann machen sie die noch höher! … Das macht der Rechtsanwalt oder der Bestimmer. Wenn ich den mal in die Finger kriege, dem haue ich die Nase platt! … Aber wissen Sie, warum wir nicht in die Neubauten rein kommen? Die machen das extra. Wegen dem Geld! Es gibt doch sowieso keine Arbeit. Sehen Sie ja selbst, eine Million Menschen stehen da und suchen Arbeit. Und die kriegen alle kein Geld. Deshalb machen die die Mieten so hoch. Und dann sitzen wir vor der Türe und müssen zum Kuthsweg ziehen.«

Neben gesellschaftlichen Ursachen weisen die Kinder den Bewohnern der Notunterkunft – insbesondere einzelnen Familien und Hausgemeinschaften – ein massives Verschulden an ihrer Lebenslage zu:

»Ich hab schon mal für zwei Wochen am Kuthsweg gewohnt, dann bin ich weggezogen. Da war es so dreckig. Die Leute waren so dreckig. Die meisten kommen besoffen nach Hause, klopfen an anderer Leute Türen, schlagen Scheiben ein und sind viel verkommener …«

»Bitte, bitte nicht in Haus 43! Ich krieg einen Herzinfarkt! Wenn Sie mich da reinkriegen würden, dann hätte ich jeden Tag einen Herzanfall und zuckerkrank wäre ich dann auch. … Mein Bruder, der hat eine Tochter, die ist da eingezogen; die ist dreckig wieder rausgekommen. Die hat von ihren Möbeln welche im Keller stehen gehabt. Alles war angeschlitzt mit Messern. Das sind ja nur die kleinen Strolche, die da rumlungern.«

Als Strategien zur Veränderung der Lebenslage nennen die Kinder Strategien wie Lottospielen, Hoffen auf Erbschaften und kriminelle Handlungen. Letzteres wird allerdings verworfen:

»Mein Mann arbeitet auf der Post. Der kann mir auch nicht einfach das Geld geben; nachher kommt er noch ins Gefängnis. Nee, das sehe ich gar nicht ein, wegen dem bekloppten Zeug, und dafür soll mein Mann noch in den Bau gehen! Wegen der Miete!«

Bei der Darstellung realistischer Hilfsstrategien greifen die Kinder ihre jüngsten Erfahrungen mit den durch die Bewohner und den Hausmeister erzielten Verbesserungen der Wohnsituation auf:

»Seit der neue Hausmeister da ist, da ist der Kuthsweg schön geworden. Der Hausmeister hat Farbe besorgt von der Genossenschaft, und dann haben wir gestrichen.« Es folgt eine genaue Beschreibung dessen, wer welche Arbeit geleistet hat. »Nur Herr Hein, der hat nichts gemacht, der hat lieber in seiner Bude das Bier gesoffen.«

Der neu eingerichtete Jugendclub wird beschrieben: »Groß ist er zwar nicht, aber auch schön. Wenn die Mädchen rein wollen, sind die Jungen vielleicht gerade Fußball spielen, dann ist schon Platz genug.« Es wird über die Unterschriftensammlung gesprochen, die die Jugendlichen zur Durchsetzung ihrer Forderungen durchgeführt haben. Bei der Diskussion, wie man erreichen könnte, dass die Wohnungen ein Bad bekommen, wird vorgeschlagen: »Zur Stadtverwaltung gehen! Da müssten sich ein paar Frauen aus Bau 20, 43, 16 und 18 zusammentun, und dann müssten sie mal hingehen. Das nutzt ja nichts für die Männer; um fünf Uhr machen die (die Stadtverwaltung) zu, und um sechs kommen die erst nach Hause.«

Die Ablehnung und Diskriminierung einiger Familien, die sich u. a. in wüsten Beschimpfungen und Anschuldigungen äußert, kann im Laufe der Spielreihe allmählich aufgelockert werden, so dass die Bewohner unter der Gesprächsleitung des Hausmeisters einige Vorschläge und Angebote sozialer Unterstützung machen. So überlegen sie gemeinsam mit Frau Hein, wie man ihren Mann bewegen könnte, »mit dem Saufen aufzuhören und arbeiten zu gehen«. Hier ein Ausschnitt aus der Diskussion bei der gespielten Hausversammlung:

Hausmeister:

»Warum sagen Sie ihm nicht, er soll stempeln gehen?«

Nachbarin:

»Geht er doch schon.«

Hausmeister:

»Nee, er ist doch jetzt arbeitslos. Er kann doch stempeln gehen!« (Der achtjährige Michael, der den Hausmeister spielt, hält »Stempeln« anscheinend für eine Art Berufstätigkeit.)

Nachbarin:

»Sie müssen mal zum Sozialamt gehen.«

Frau Hein:

»Die geben mir nichts wegen dem da!« (meint ihren Mann)

Nachbarin:

»Dann schmeißen Sie ihn doch einfach raus!«

Frau Hein:

»Der kommt immer wieder! Der haut mir die Bude klein!«

Nachbarin:

(energisch) »Dann holen wir mal die ganzen Leute aus dem Haus zusammen. Dann kriegt der mal Senge. Dann geht der aber in den Keller mit seinem dollen Kopp.«

Hausmeister:

»Rausschmeißen brauchen Sie ihn ja nicht unbedingt. Sie können ja Ihren Mann mal zur Vernunft bringen.«

Auf Frau Heins Bitte bietet sich der Hausmeister an, mit Herrn Hein zu reden. Es folgt ein offenes und erstaunlich anteilnehmendes Gespräch zwischen Herrn Hein, der seine Alkoholprobleme offenbart, dem Hausmeister und anderen Teilnehmern der Hausversammlung. Am nächsten Tag begleitet der Hausmeister Herrn Hein zum Arbeitsamt.

Als Herr Hein mit seinem ersten Lohn stolz nach Hause kommt und fernsehen will, sagt Frau Hein freundlich zu ihm: »Otto, der Fernseher ist kaputt. Den hast du doch damals kaputt geschlagen, als du so blau warst. Das hatte ich ganz vergessen. Komm essen, Schätzchen!«

Was haben diese durch eine Spielidee angeregten Aussagen der Kinder zum Erleben ihrer Lebenslage, zur Ursachenzuschreibung und zu Möglichkeiten der persönlichen und kollektiven Einflussnahme mit Sozialpsychologie zu tun?

Die Sozialpsychologie richtet ihr Augenmerk auf die Schnittstelle zwischen Individuum und sozialer Umwelt: Wie wirkt sich die soziale Umwelt auf das Erleben und Verhalten der Person aus? Wie beeinflusst die Person durch ihr Verhalten ihre soziale Umwelt? Fragen, die sich in unserer sozialpädagogischen Arbeit in der Notunterkunft gestellt haben, sind auch zentrale Fragen der sozialpsychologischen Theoriebildung und Forschung, die auch in diesem Lehrbuch vorgestellt werden: Wie wirkt sich soziale Benachteiligung auf die Selbst- und Fremdbeurteilung aus? Welche Bedingungen (Merkmale der Person und der Umwelt) fördern Kontrollüberzeugung im Sinne der Überzeugung, auf relevante Aspekte des eigenen Lebensalltags selbst Einfluss nehmen zu können? Welche Bedingungen reduzieren die Abwertung von Fremdgruppen oder die Ausgrenzung von Personen? Welche Bedingungen fördern kooperatives und prosoziales Handeln? Welche Bedingungen stabilisieren alltägliche soziale Netzwerke wechselseitiger Unterstützung?

Bei der Beantwortung dieser und anderer Fragen versucht die Sozialpsychologie als empirische Wissenschaft – über den Einzelfall hinausgehend – Regelhaftigkeiten festzustellen, die unser Verständnis der wechselseitigen Beeinflussung von Person und Umwelt verbessern. Die Erkenntnis solcher Regelhaftigkeiten erleichtert eine zielgerichtete Einflussnahme durch pädagogische, psychosoziale und gesellschaftspolitische Maßnahmen mit dem Ziel einer verbesserten Lebensqualität der Menschen.

 

1.2       Was ist Sozialpsychologie?

 

Die Sozialpsychologie, als Teilgebiet der Psychologie, betrachtet die Vielfalt menschlichen Erlebens und Handelns in seinen sozialen Bezügen. Das Individuum wird als Akteur im sozialen Kontext betrachtet,

•  dessen Wahrnehmung, Denken, Fühlen und Handeln sich in der Interaktion mit der sozialen Umwelt entwickelt,

•  das gestaltend auf seine soziale Umwelt Einfluss nimmt und

•  seinerseits durch Bedingungen der sozialen Umwelt beeinflusst wird.

Die soziale Umwelt, auch als sozialer Kontext bezeichnet, umfasst (nach Bierbrauer, 2005)

•  gesellschaftliche und situationsbezogene Rahmenbedingungen, in die das Verhalten und Erleben einer Person eingebunden ist,

•  kontextbezogene Werte, Normen und Rollenerwartungen,

•  Handlungen von Personen und Interaktionen zwischen Personen und Gruppen,

•  andere Personen, seien sie real anwesend oder auch nur in der Vorstellung präsent (z. B. indem sich eine Person mit ihnen vergleicht).

Die Sozialpsychologie versucht Prozesse der wechselseitigen Einflussnahme zwischen Individuum und sozialer Umwelt zu erkunden und

1.  intersubjektiv nachvollziehbar zu beschreiben

2.  Bedingungen und Einflussfaktoren herauszufinden, die die beobachteten Phänomene erklären können

3.  aus den Erklärungen überprüfbare Voraussagen über menschliches Erleben und Verhalten unter spezifischen Bedingungen abzuleiten

4.  auf der Basis reflektierter sozialer Normen zu bewerten und

5.  begründete Empfehlungen für (psychosoziale, pädagogische, politische …) Interventionen, Initiativen und Maßnahmen abzuleiten.

Die Sozialpsychologie greift Theorien und Erkenntnisse sozialwissenschaftlicher Nachbardisziplinen (Soziologie, Politikwissenschaft, Sozialmedizin …) und anderer Teilgebiete der Psychologie (Allgemeine Psychologie, Entwicklungspsychologie, Klinische Psychologie …) auf und integriert sie in ihre spezifische Betrachtungsweise: Die wechselseitige Beeinflussung von Individuum und sozialer Umwelt wird auf der Ebene des Erlebens und Verhaltens von Personen und Gruppen untersucht. So ist beispielsweise der Zusammenhang von Armut und Gesundheit ein Thema aller der o. g. Fachdisziplinen. Während die Soziologie diesen vorrangig auf der Ebene gesellschaftlicher Makrostrukturen (Machtverteilung zwischen gesellschaftlichen Subgruppen, Gesetzgebung, Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, Einkommen, Bildung …) untersucht, betrachtet die Sozialpsychologie diesen Zusammenhang unter einem höheren Auflösungsgrad. Sie versucht vermittelnde Mechanismen zwischen Merkmalen des sozialen Kontextes und dem individuellen Denken und Verhalten zu erhellen.

Ein Beispiel dafür bietet die Gesundheitspsychologie (vgl. Schwarzer, 2005; Faltermaier, 2017). Als ein Anwendungsbereich der Sozialpsychologie (vgl. Stroebe & Jonas, 2002; Haisch, 2003) beschäftigt sie sich damit, wie gesundheitsrelevantes Verhalten durch

•  Wissen,

•  Vorbilder und Normen der sozialen Bezugsgruppe,

•  Kontrollüberzeugung, personale Kompetenzen,

•  soziale Unterstützung und

•  Zugänglichkeit von Ressourcen

beeinflusst wird (image Kap. 3). Unter den Bedingungen von Armut und sozialer Benachteiligung sind in allen der genannten Einflussfaktoren Defizite und Beeinträchtigungen anzunehmen, so dass die Wahrscheinlichkeit, gesundheitsförderndes Verhalten zu entwickeln und gesundheitsschädigendes Verhalten zu reduzieren, verringert ist. Gesundheitsförderliche Trainingsprogramme (Beispiele image Kap. 3.6) können an den o. g. Einflussfaktoren ansetzen, um das Gesundheitsverhalten positiv zu beeinflussen.

1.2.1     Der Beitrag der Sozialpsychologie zu multifaktoriellen Erklärungsmodellen

Das Erleben und Verhalten eines Menschen ist ein hoch komplexes Geschehen: Das Erleben umfasst Kognitionen (u. a. Wissen, Überzeugungen, Einstellungen, Erwartungen), Emotionen und die Motive des Handelns. Das Verhalten einer Person lässt sich bezüglich seines Grades an Zielgerichtetheit und Reflexivität differenzieren in eher zielorientiertes Handeln und eher spontanes, intuitives Verhalten.

Die Erklärung menschlichen Erlebens und Verhaltens kann angemessen nur auf dem Hintergrund multifaktorieller Erklärungsmodelle erfolgen (plakativ formuliert: »Es gibt nichts, was nur eine einzige Ursache hat«). Zur Erklärung menschlichen Erlebens und Verhaltens sind demnach immer mehrere Einflussfaktoren (i. S. von mitverursachenden Komponenten) in Betracht zu ziehen. So können sowohl Merkmale der Person, deren Erleben und Verhalten erklärt werden soll (personale Einflussfaktoren), als auch Merkmale der physikalischen und der sozialen Umwelt (situative Einflussfaktoren) bedeutsam sein. Personale Merkmale umfassen u. a. Fähigkeiten, Persönlichkeitseigenschaften, Einstellungen, Beeinträchtigungen der bio-psycho-sozialen Gesundheit, aktuelle Motive und Stimmungen. Als situative Einflussfaktoren werden neben Merkmalen der physikalischen Umwelt (wie Aspekte der baulichen Umwelt, Lärm, Hitze, Enge) vor allem Merkmale der sozialen Umwelt (wie die Mehrheitsmeinung in einer Gruppe, das zu beobachtende Verhalten anderer Personen, das unterstützende Netz alltäglicher sozialer Beziehungen …) in Betracht gezogen.

Der Einfluss personaler und situativer Einflussfaktoren kann zudem unter einer zeitlichen Perspektive betrachtet werden (aktuelle und lebensgeschichtliche Einflussfaktoren). So können längerfristige Einflüsse und Effekte angenommen werden (z. B. die Auswirkung der Einbindung in ein unterstützendes soziales Netzwerk auf die Bewältigung chronischer Krankheiten), langfristige Effekte von in der Vergangenheit liegenden Ereignissen (z. B. ein traumatisches Ereignis oder positive Beziehungserfahrungen in der Kindheit auf das psychosoziale Wohlbefinden im Erwachsenenalter) und auch kurzfristig wirksame Einflüsse und Effekte (z. B. die Wirkung der Sichtbarkeit einer Waffe als aggressiver Hinweisreiz auf die Bereitschaft, einer anderen Person Schmerzen zuzufügen).

Aus diesem Spektrum möglicher Einflussfaktoren widmet sich die Sozialpsychologie besonders den aktuellen situativen Bedingungen, also den aktuellen Wirkungen der physikalischen und sozialen Umwelt. In unserem alltagspsychologischen Denken unterschätzen wir vielfach den Einfluss solcher aktueller situativer Bedingungen und führen das Verhalten einer Person eher auf stabile personale Merkmale (z. B. Persönlichkeitseigenschaften) zurück, so dass die Befunde der Sozialpsychologie häufig den intuitiven Alltagsurteilen und -erwartungen widersprechen.

Bei der Entwicklung sozialpsychologischer Annahmen und deren Überprüfung wird in Betracht gezogen, dass die Umwelt nicht »per se« wirkt, sondern über ihre Bedeutung, die subjektive Interpretation, die sie durch das Individuum erfährt. Ein großer Anteil sozialpsychologischer Erklärungen und Versuche ihrer Überprüfung schließt dementsprechend die Art, wie Menschen ihre »Wirklichkeit konstruieren«, ihre Kognitionen, Emotionen und Motive ein (umfassende Darstellung kognitiver und motivationaler Theorien der Sozialpsychologie in Frey & Irle, 1993, 2002b; Bierhoff & Frey, 2016). Die subjektive Interpretation der Umwelt wird von anderen Personen und Gruppen mitbeeinflusst, auch unabhängig davon, ob diese in einer spezifischen Situation real anwesend sind oder nicht. Die Orientierung an Anderen, an der sozialen Bezugsgruppe, stellt für das Individuum eine zentrale Quelle von Wissen, Normen, Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensvorschriften dar, die sein Denken, Fühlen und Handeln anhaltend beeinflussen.

1.2.2     Zum Geltungsbereich sozialpsychologischer Theorien und Befunde

Soziale Bedeutungen, i. S. von Werten, Normen, Rollenerwartungen, die in einer Situation verhaltensrelevant werden (Thomas, 1991), entwickeln sich im Prozess der Interaktion des Individuums in seinem sozialen Kontext, sie sind also nicht losgelöst von historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen zu sehen (Gergen, 1973; Moghaddam, 1998; vgl. Thomas, 2003, 2016). Sozialpsychologische Theorien und Erkenntnisse können demnach keine ahistorischen, universellen (nomologischen) Aussagen über das »Wesen des Menschen« machen, wie es in Teilbereichen der Allgemeinen Psychologie angestrebt wird (vgl. Schermer & Drinkmann, 2018, in dieser Reihe). Die Sozialpsychologie sucht nach Regelhaftigkeiten menschlichen Erlebens und Verhaltens unter näher zu konkretisierenden Bedingungen. Verschiedene Theorien in der Sozialpsychologie beanspruchen diesbezüglich einen unterschiedlichen Geltungsbereich (Reichweite) ihrer Erklärungsansätze.

So beansprucht beispielsweise die klassische Theorie der Kognitiven Dissonanz von Festinger (1957, 2011) einen relativ breiten Geltungsbereich. Sie postuliert, dass Menschen danach streben, in ihrem kognitiven System – also zwischen ihren Wissenseinheiten, Einstellungen, Werten – ein inneres Gleichgewicht (Konsonanz) herzustellen. Wenn relevante Elemente des kognitiven Systems miteinander in Widerspruch geraten, gerät das System in Dissonanz. Wenn ich beispielsweise weiß, dass Rauchen das Krebserkrankungsrisiko erhöht und ich trotzdem rauche (image Kap. 3), oder wenn ich die Norm der sozialen Verantwortung vertrete und einer bedrohten Person nicht zur Hilfe komme (image Kap. 8), entsteht kognitive Dissonanz. Um den daraus resultierenden unangenehmen Spannungszustand zu reduzieren, kann ich mein Verhalten verändern. Bezogen auf die genannten Beispiele kann ich aufhören zu rauchen; ich kann Hilfe holen oder selbst helfend einschreiten. Ich kann aber auch versuchen, meine Kognitionen zu verändern, indem ich mir sage, es lohne sich eh nicht, alt zu werden oder die hilfebedürftige Person habe ihre bedrohliche Situation provoziert und mitverschuldet und sei für die Lösung des Problems selbst verantwortlich. Neben den Möglichkeiten, die Dissonanz durch Verhaltensänderung oder Kognitionsveränderung zu reduzieren, kann auch die Auseinandersetzung mit neuen Informationen und Meinungen zur Dissonanzreduktion führen. So könnte ich mich beispielsweise mit den Erfolgschancen einer Raucherentwöhnung beschäftigen und das Krebserkrankungsrisiko im Kontext anderer Risiko- und Schutzfaktoren näher betrachten. Angesichts der für die beobachtete Person bedrohlichen Situation könnte ich die Reaktionen der anderen Passanten beobachten, um daraus Hinweise abzuleiten, ob die Situation tatsächlich als bedrohlich einzuschätzen ist und ob ein Eingreifen sozial angemessen erscheint Die Orientierung an Anderen scheint eine Strategie zu sein, die in größeren Zuschauergruppen eine Verantwortungsdiffusion und ein Unterlassen von Hilfeleistung begünstigt (image Kap. 8).

Die Theorie der kognitiven Dissonanz beansprucht, einen grundlegenden Mechanismus menschlicher Informationsverarbeitung und Urteilsbildung zu beschreiben. Als kultur- und individuumsabhängig variabel werden demgegenüber die kognitiven Elemente selbst und die als Widerspruch empfundenen Beziehungen zwischen ihnen betrachtet. Darüber hinaus können allerdings auch der Grad, in dem Menschen kognitive Dissonanzen ertragen und nutzen – auch mit dem Ausdruck der Ambiguitätstoleranz bezeichnet – sowie das Ausmaß und die Art der Strategien zur Dissonanzreduktion, als individuums- und kulturabhängig variabel betrachtet werden.

»Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie.«

Dieser Satz wird Kurt Lewin zugeschrieben, einem der Begründer einer experimentellen und angewandten Sozialpsychologie. Lewin (1890–1947) emigrierte in den 1930er Jahren aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die USA und nahm dort mit seinem gestalttheoretischen Ansatz großen Einfluss auf die Entwicklung der sozialpsychologischen Theoriebildung, Forschung und Anwendungspraxis, die ihrerseits in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die europäische Sozialpsychologie stark geprägt hat (kritische Anmerkungen zur Geschichte der Sozialpsychologie s. Graumann, 2002; Stroebe, Hewstone & Jonas, 2014).

Psychologische Theorien (Alltags- und wissenschaftliche Theorien) versuchen, komplexe Phänomene menschlichen Erlebens und Verhaltens zu strukturieren, beschreibbar und erklärbar zu machen und damit die Voraussetzungen für Prognosen und zielgerichtetes praktisches Handeln zu schaffen. Sie eröffnen die Möglichkeit, über die Einzelbeobachtung hinausgehend, zutreffende Prognosen über menschliches Erleben und Verhalten unter bestimmten Bedingungen zu machen.

Als Gütekriterien einer wissenschaftlichen Theorie können genannt werden:

•  die Eindeutigkeit und Kommunizierbarkeit der verwendeten Begriffe und Aussagen,

•  die logische Konsistenz (Widerspruchsfreiheit) ihrer Aussagen,

•  die Überprüfbarkeit ihrer Annahmen,

•  die Einfachheit und Sparsamkeit der verwendeten Begriffe und Annahmen,

•  ein Bezug zu bereits bestehenden Theorien und Erkenntnissen,

•  ein hoher Informationsgehalt, d. h. ein möglichst breiter Bereich, auf den die Annahmen zutreffen.

In der Sozialpsychologie existiert eine Vielzahl – auch konkurrierender – Theorien, die teilweise mit unterschiedlichen Menschenbildern, Wissenschaftsverständnissen und Forschungstraditionen verbunden sind (zur wissenschaftstheoretischen Einordnung s. Rook, Irle & Frey, 1993. Eine differenzierte Darstellung sozialpsychologischer Theorien in Frey & Irle, 1993, 2002a, 2002b). Teilweise kommen die Theorien zu unterschiedlichen Voraussagen. Teilweise sind ihre Voraussagen identisch, es werden allerdings unterschiedliche kognitive, emotionale und motivationale vermittelnde Prozesse (Wirkmechanismen) angenommen. Von der – insbesondere bei der Vorbereitung auf eine Prüfung im Fach Psychologie – vielleicht verlockenden Vorstellung, es müsse doch eine oder zumindest einige wenige »wahre« Theorien geben, müssen wir leider Abschied nehmen. Thomas (1991, S. 33) formuliert dazu: »Eine Theorie ist lediglich ein Werkzeug … Sie ist nicht die Erkenntnis der letzten Wahrheit. Wer es lernt, eine Theorie nur als ein Werkzeug anzusehen, wird es aufgeben, nach der einzigen, der wahren Theorie zu fragen. Eine solche Theorie gibt es nicht. Jede Theorie verliert an dem einen oder anderen Punkt ihre Erklärungskraft. Man sollte deshalb immer fragen, auf welchen Phänomenbereich eine Theorie sinnvoll anwendbar ist … Wissenschaftliche Aussagen können nie den Anspruch erheben, Aussagen über Wahrheiten oder Unwahrheiten eines Sachverhaltes zu sein. Wissenschaftliche Aussagen sind immer nur Aussagen über den relativen Grad der Gewissheit eines Sachverhaltes. Jeder wissenschaftliche Begriff ist auf einer gedachten Skala von unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten anzusiedeln.« Um den »Grad der Gewissheit« zu erhöhen, sind wissenschaftliche Theorien kritisch zu überprüfen. Ergebnisse der Überprüfung können den Geltungsbereich einer Theorie näher bestimmen, zu ihrer Modifikation oder Differenzierung beitragen sowie Anregungen zur Integration mit anderen Theorien bieten.

Ergebnisse einer einzelnen Studie sind nicht ausreichend, um daraus direkte Schlussfolgerungen auf andere Personen, Gruppen oder Settings abzuleiten, also Generalisierungen vorzunehmen. Die Schlussfolgerungen erfolgen über die Theorie: Die Ergebnisse einer Studie sind ggf. dazu geeignet, eine Theorie zu stützen oder zu spezifizieren, aus der sich dann wiederum Voraussagen für andere Person-Situation-Konstellationen ableiten lassen, die ihrerseits zu prüfen sind.

 

1.3       Zum Verständnis sozialpsychologischer Forschung

 

Zur Überprüfung sozialpsychologischer Theorien und Annahmen werden Strategien und Methoden der empirischen Sozialforschung eingesetzt (Näheres zu wissenschaftstheoretischen Grundlagen, empirischen Forschungsdesigns und -methoden sowie statistischen Auswertungsverfahren in Beller, 2016; Döring & Bortz, 2016; Schaffer, 2014; Manstead & Livingstone, 2014). Die folgende Darstellung ausgewählter Aspekte sozialpsychologischer Untersuchungsplanung und -methoden soll Ihnen als Leserin und Leser erleichtern, kritisch nachzuvollziehen, wie die im weiteren Verlauf des Lehrbuches referierten Befunde und Erkenntnisse sozialpsychologischer Forschung erarbeitet wurden (prägnante Beschreibung und Visualisierung klassischer und aktueller »Beispielstudien« sozialpsychologischer Forschung in Werth & Mayer, 2008).

1.3.1     Experimentelle Forschung

Bei der Lektüre des Buches werden Sie feststellen, dass viele der sozialpsychologischen Befunde Ergebnisse experimenteller Laborforschung sind. Zum besseren Verständnis sei deshalb diese Forschungsmethode ausführlicher, anhand eines klassischen Experiments vorgestellt, das der Frage nachgeht, unter welchen Bedingungen Personen unmoralischen Anordnungen Folge leisten.

Die Gehorsamsexperimente von Milgram

Würden Sie einen Unbekannten absichtlich exekutieren? Mit dieser provokativen Frage führt Bierbrauer (2005) die Leserinnen und Leser seines Lehrbuches zur Sozialpsychologie in die Problematik der Diskrepanz zwischen alltagspsychologischen Überzeugungen und empirischen Befunden der psychologischen Forschung ein. Es folgt eine eindringliche Darstellung des Ablaufs der klassischen Experimente von Milgram (1974), die der Frage nachgehen, ob und unter welchen Bedingungen Menschen unmoralischen Befehlen gehorchen bzw. sich widersetzen. Kaum einer der Leserinnen und Leser wird nach der Lektüre des Versuchsablaufes annehmen, sie oder er selbst würde den Anweisungen folgen und sich nicht widersetzen. Wie eigene Untersuchungen von Bierbrauer zeigen, unterschätzen Befragte auch den Prozentsatz von anderen Personen, die tatsächlich in einer solchen Situation Gehorsam leisten.

Wäre Milgram seiner Fragestellung nur mit Hilfe von Interviews nachgegangen, wäre er demnach zu völlig anderen Ergebnissen gekommen als durch den Einsatz eines Experiments.

An dieser Stelle eine Kurzdarstellung des Experiments:

Stanley Milgrams (1974) Forschung greift die politisch brisante Frage auf, wieso im nationalsozialistischen Deutschland biedere Bürger direkt oder indirekt an der millionenfachen Vernichtung von Juden und politisch anders Denkenden mitwirkten und warum Menschen Anordnungen von Autoritäten gehorchen, auch wenn sie ihren eigenen moralischen Überzeugungen widersprechen.

Milgram ging dieser Frage mit Hilfe eines Laborexperiments nach. Über ein Zeitungsinserat wurden Versuchspersonen für ein Experiment zum Thema Lernen und Gedächtnis geworben, das in einem psychologischen Labor der Yale Universität in den USA stattfand. Jeweils zwischen zwei der erschienenen Versuchspersonen loste der Versuchsleiter aus, wer in dem folgenden Experiment die Rolle des Lehrers und wer die des Schülers übernehmen sollte. Tatsächlich war die Auslosung nur vorgetäuscht; die Person, die die Rolle des Schülers erhielt, war ein eingeweihter Mitarbeiter des Versuchsleiters. Der Versuchleiter instruierte nun die tatsächliche Versuchsperson in der Rolle des Lehrers, es handele sich um ein wissenschaftliches Experiment, in dem die Wirkung von Strafe auf die Lern- und Gedächtnisleistung untersucht werden solle. Der »Schüler« wurde an einem Stuhl festgeschnallt und es wurden Elektroden an seinem Handgelenk befestigt. Der »Lehrer« wurde nun in einen Nebenraum geführt und in die Handhabung eines Elektroschockgenerators eingewiesen; mit Hilfe von 30 Schaltern, abgestuft von 15 bis 450 Volt, könnten dem Schüler Elektroschocks verabreicht werden. Zusätzlich zu den Voltangaben waren die Schalter beschriftet mit Hinweisen wie »Leichter Schock« bis zu »Gefahr. Bedrohlicher Schock«. Die beiden letzten Schalter waren nur mit »XXX« gekennzeichnet. Der Versuchsleiter wies darauf hin, dass die Stromstöße äußerst schmerzvoll sein könnten, aber keinen dauerhaften Schaden verursachen würden. Um sich die Effekte vorstellen zu können, erhielt der »Lehrer« einen Probeschock von 45 Volt. Der Lehrer erhielt nun die Aufgabe, dem Schüler zunächst Wortpaare vorzulesen; in der anschließenden Phase solle er nur das erste Wort vorgeben, der Schüler habe das zweite Wort zu ergänzen. Mache er einen Fehler, sei er mit einem Elektroschock zu bestrafen. Die Schockstärke habe mit 15 Volt zu beginnen und sei bei jedem weiteren Fehler um eine Stufe (jeweils 15 Volt) zu erhöhen.

Tatsächlich erhielt der »Schüler«, der Mitarbeiter des Versuchsleiters, keine Elektroschocks. Er simulierte entsprechend der Voltstärke Schmerzensäußerungen, Hilferufe, qualvolles Schreien, Rufe, nicht mehr weitermachen zu wollen und verstummte schließlich (detaillierte Darstellung in Aronson, Wilson & Akert, 2014). Auch dann noch musste er mit Elektroschocks bestraft werden, da nicht zu antworten, auch als Fehler gewertet werden sollte. Die Versuchsperson in der Lehrerrolle konnte die Reaktionen des Schülers im Nebenraum hören. Falls sie Bedenken äußerte oder mit der Verabreichung der Schocks zögerte, ermahnte sie der Versuchsleiter, sie müsse unbedingt weitermachen, ohne allerdings irgendwelche Sanktionen anzudrohen. Der Grad des Gehorsams wurde an der Höhe der verabreichten Schocks gemessen.

Was meinen Sie, wie viel Prozent der Versuchspersonen gingen tatsächlich bis zur höchsten Voltstärke? Wie viel Prozent verweigerten den Gehorsam und stiegen vorher aus? Trotz erheblicher Anzeichen von Anspannung und Gewissenskonflikten (Zittern, Schwitzen, Stottern …) gingen tatsächlich 62,5% der Versuchspersonen bis zur höchsten Schockstufe von 450 Volt. Dass die Schockhöhe tatsächlich in Folge der Anweisung durch die Autoritätsperson erfolgte, zeigt der Vergleich mit einer Kontrollgruppe, in der die Versuchspersonen die Stärke der Schocks selbst wählen konnten (die meisten blieben unter 75 Volt, nur 5% gingen über 150 Volt).

In verschiedenen Varianten des Standardexperiments untersuchte Milgram, unter welchen Bedingungen die Gehorsamsrate sinkt, also Menschen Widerstand gegen unmoralische Befehle leisten. So wurde die räumliche Nähe zum Opfer variiert: In der ersten Bedingung befindet sich der Schüler im Nebenraum und ist weder zu sehen noch zu hören, trommelt allerdings bei 300 Volt gegen die Wand. Die zweite Bedingung entspricht dem Standardexperiment, der Schüler ist im Nebenraum zu hören. In der dritten Bedingung sitzen Schüler und Lehrer im gleichen Raum. In der vierten Bedingung muss der Lehrer die Hand des Schülers auf eine Schockplatte drücken. Wie erwartet, reduziert die Nähe zum Opfer den Grad des Gehorsams (von 65% über 62,5%, 40% auf 30%). Eine mögliche theoretische Erklärung für dieses Ergebnis ist, dass die räumliche Nähe »Empathie«, ein sich Einfühlen in das Opfer, aktiviert/erzwingt, was die Abwehr der Übernahme sozialer Verantwortung erschwert und die »Zivilcourage« zur Gehorsamsverweigerung stärkt (image Kap. 8 zum Hilfeverhalten).

Aus der Vielzahl der überprüften Varianten des Milgram-Experiments seien noch zwei interessante Ergebnisse skizziert:

•  Die höchste Gehorsamrate zeigt sich, wenn sich die Versuchsperson nur als »Rädchen im Getriebe« erlebt. In dieser Bedingung bedient eine andere Person den Schockgenerator und die Versuchsperson selbst liest nur die Aufgaben vor und überprüft die Richtigkeit der Antworten. 92,5% der Versuchspersonen wirkten unter dieser Bedingung bis zur höchsten Schockstufe mit.

•  Was passiert, wenn die Versuchsperson erlebt, dass zwei andere Versuchspersonen (tatsächlich instruierte Mitarbeiter des Versuchsleiters) den Gehorsam verweigern und aus dem Versuch aussteigen? Offenbar aktivieren Vorbilder Zivilcourage: 90% der Versuchspersonen brachen ihrerseits den Versuch ab, (nur?!) 10% gingen trotzdem bis zur höchsten Schockstufe.

Neben den experimentellen Variationen der Versuchsbedingungen wurden weitere Merkmale der Versuchspersonen erfasst und dahingehend überprüft, ob sie Einfluss auf die Gehorsamsrate haben, etwa das Geschlecht, das Bildungsniveau, die Berufsgruppe, der berufliche Status, generalisierte Einstellungen (»Autoritarismus«) und soziale Intelligenz. Durch Wiederholungen des Experiments in unterschiedlichen Ländern wurde versucht, den Einfluss gesellschaftlicher und kultureller Kontexte zu überprüfen (eine differenzierte Darstellung weiterer Versuchsvarianten und Befunde – auch aus aktuellen Studien – in Bierhoff & Hanke, 2017).

Milgrams Ergebnisse zum Autoritätsgehorsam provozierten eine rege fachinterne und öffentliche Diskussion um das politisch brisante Thema. Sie sensibilisieren für den Einfluss situativer Umstände auf das Handeln von Menschen. Der Verlust der moralischen Urteilskraft durch die Möglichkeit, die Verantwortung für das eigene Handeln einer Autorität zuzuschreiben (agentic- shift), deren Anweisungen man nur(!) gefolgt ist und die Einbindung in eine unmoralische Handlungskette, die scheinbar harmlos beginnt und dann schrittweise eskaliert, macht es Menschen offenbar schwer, sich dagegen aufzulehnen.

Parallel zur inhaltlichen Diskussion wurden forschungsethische Bedenken gegen Milgrams Experimente geäußert: Auch wenn den Versuchspersonen im Anschluss an das Experiment offenbart wurde, dass die Schüler instruierte Mitarbeiter waren und tatsächlich keine Schocks erlitten haben, seien die Versuchspersonen während des Experiments massiven psychischen Belastungen durch Normkonflikte ausgesetzt gewesen. Sie hätten möglicherweise schwerwiegende Beeinträchtigungen ihres Selbstbildes erlitten, wenn sie sich im Nachhinein eingestehen müssten, dass sie bereit gewesen wären, einen anderen Menschen schwer zu peinigen und zu schädigen. Wie würden Sie die Frage beurteilen, ob dieser potenzielle Schaden angesichts des aufklärerischen Nutzens des Experiments zu rechtfertigen ist?

Mehrere der von Bierhoff und Hanke (2017) referierten aktuellen Studien reduzierten die potenzielle psychische Belastung der Versuchspersonen, z. B. indem die Vergabe von Elektroschocks bzgl. der maximalen Voltstärke reduziert wurde oder Elektroschocks durch die Vergabe abwertender Kommentare ersetzt wurden.

Eine weitere kritische Frage ist die, für welche Bereiche menschlichen Erlebens und Verhaltens die in einem experimentellen Setting gewonnenen Erkenntnisse bedeutsam sein können. So ist die Situation einer einzelnen Person in einem psychologischen Labor, die ohne äußeren Druck den Anordnungen eines Wissenschaftlers folgt, nicht ohne weiteres übertragbar auf reale Alltagssituationen. Noch problematischer erscheint eine Übertragung der Ergebnisse und sozialpsychologischen Erklärungen auf kollektive gesellschaftliche Phänomene. Die Beteiligung deutscher Bürger an den Verbrechen des Nationalsozialismus lässt sich sicherlich nicht hinreichend erklären, ohne den historischen, wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Kontext zu berücksichtigen. Experimentelle Erkenntnisse können ggf. einen Beitrag zur Beschreibung und Erklärung derart komplexer Sachverhalte leisten.

Allgemeine experimentelle Prinzipien

Mit Rückgriff auf die Beschreibung des Milgram-Experiments sollen die allgemeinen Prinzipien experimenteller Forschungsmethoden vorgestellt werden.