Über die Autorin

Heide Pinkall, *20.09.1970 in Brake (Unterweser) studierte ev. Theologie und Religionspädagogik sowie Geschichte an der Universität Oldenburg. Bis 2005 war sie als Gymnasiallehrerin zunächst in Rostock, danach in Lüchow (Wendland) und in Loxstedt bei Bremerhaven tätig. Seit 2006 arbeitet sie als Fotografin in ihrer Heimatstadt Brake.

Heide Pinkall

Auf Einladung
eines Unbekannten

Ein Reisebericht

für Kalu

Über dieses Buch

Manche Geschichten kann man sich einfach nicht ausdenken, dafür sind sie zu absurd.

Dieses Buch erzählt von einer Reise nach Indien, die außerhalb jeglichen „Standards“ ist. Mir wäre noch nicht einmal die Idee gekommen, sie zu planen, wäre sie nicht einfach so „passiert“. Ich war vorher schon einmal dort, aber diesmal lernte ich ein völlig anderes Land kennen, das einem Touristen in der Regel verschlossen bleibt, selbst, wenn er eine hochwertige Studienreise gebucht hat.

Den Bericht habe ich während der letzten 13 Jahre so häufig überarbeitet und verfeinert, dass er mir schließlich lesbar erschien. Vertiefende Hintergrundinformationen und ein Glossar runden ihn ab. Alle Begriffe, die mir auf irgendeine Art „erklärungsbedürftig“ erschienen, sind bei der ersten Erwähnung im Text kursiv gedruckt und können im Anhang nachgeschlagen werden.

Ohne Fotos wäre die Erzählung aber nicht vollständig. Nur guckt sich wohl niemand freiwillig 2880 Bilder an – nicht einmal ich selbst. Über 90% habe ich wieder aussortiert. Trotzdem blieben so viele übrig, dass es nicht sinnvoll war, sie alle abzudrucken, ohne beim Buchumfang die Grenzen des guten Geschmacks zu überschreiten. Also, was tun?

Um alle mir relevant erscheinenden Fotos in ausreichender Qualität in das Buch integrieren zu können, habe ich mich einer Technik bedient, die im Jahre 1994 zur Markierung von Elementen in der Automobilproduktion des Toyota-Konzerns entwickelt wurde. Inzwischen sieht man diese kryptischen meist schwarzen Quadrate an jeder Ecke – in Werbeanzeigen, auf Türen und an sonstigen Orten. Sogar auf Käse habe ich schon einen solchen zweidimensionalen „Quick Response Code“ gefunden, besser bekannt unter der Abkürzung „QR-Code“. Warum soll man diese Technik nicht auch in einem konventionellen Buch nutzen?

Jedem Kapitel habe ich einen solchen scannbaren Code vorangestellt. Dahinter verbirgt sich jeweils ein kleines virtuelles Fotoalbum, das meine Worte optisch ergänzen soll.

Wer kein Smartphone hat oder benutzen möchte, kann die Bilder sehen, indem er (oder sie) „zu Fuß“ diese Internetseite aufruft:

www.heide-pinkall.de/Indien-2006/Start.html

Blättern kann man in diesem Album einfach durch Klicken auf das jeweilige Bild.

Und nun genug der Vorrede. Viel Spaß auf der Reise durch Indien!

Die Vorgeschichte

30. April 2006: Es geht los

1. Mai 2006: Delhi

2. Mai 2006: von Delhi nach Agra

3. Mai 2006: von Agra nach Jaipur

4. Mai 2006: die Reise nach Neemuch

5. Mai 2006: die Verlobung

6. Mai 2006: die Hochzeit

7. Mai 2006: der Müll-Händler

8. Mai 2006: beim Fotografen

9. Mai 2006: im Tempel

10. Mai 2006: Lebensgefahr

11. Mai 2006: Abschied von Freunden

12. Mai 2006: im Gepäcknetz

13. Mai 2006: in Jodhpur

14. Mai 2006: die Janoi-Zeremonie

15. Mai 2006: im Paradies

16. Mai 2006: von Udaipur nach Delhi

17. Mai 2006: zurück nach Hause

Die Vorgeschichte

Der 10. Dezember 2005 war ein düsterer ungemütlicher Wintertag. Ich saß bei meinem Vater in der Küche und hatte das Notebook aufgeklappt. Das war nichts Besonderes. Und womit ich mich gerade beschäftigt hatte, kann ich heute nicht mehr sagen. Dinge von Weltrang waren es jedenfalls nicht. Ich werde wohl e-Mails angeguckt haben, denn auf einmal fiel mein Blick auf einen merkwürdigen Absender, der einen noch merkwürdigeren Betreff angegeben hatte.

---Ursprüngliche Nachricht---

From: "vijay j."

To: "Heide Pinkall”

Subject: seine reiseleiter!

Er hatte wirklich Glück, dass ich diese Mail überhaupt geöffnet habe. Zwar gab es damals noch nicht so viel Spam wie heute, aber es gab ihn. Und meine Lust, mich mit „unschlagbaren“ oder zweideutigen Angeboten zu beschäftigen, hielt sich schon immer in sehr engen Grenzen.

Dieser seltsame Betreff erregte allerdings meine Aufmerksamkeit. Und das hat der Absender seinem nicht ganz perfekten Deutsch zu verdanken.

„Seine Reiseleiter“… Aha… Da es zu der Zeit noch unüblich war, automatische Post von einer schlecht funktionierenden Übersetzungssoftware zu bekommen, konnte ich davon ausgehen, dass sich jemand bemüht hatte, etwas auf Deutsch zu schreiben, ohne es richtig zu können.

Also… was wollte dieser Typ von mir???

Hello,

Ich bin ein jung, 27 jahr alt, aus India. Ich habe meine B.Sc. (Maths-Physics-Chemistry) gemacht und ich weiB Deutsch Sprache.

Ich habe im eine firma als computer operator und Correspondence incharge gearbeitet. Ich habe erlebnung auf naturlische Krauten und gewuerzen.

Wenn sie India fahren denn ich kann seine reiseleiter und ubersetzer hier. Ich weis mehr uber Hinduism, Ayurveda, Yoga etc.

Sie konnen mich fragen jeder uber hinduism.

Bitte mail mich wenn sie moschten mehr uber misch weissen.

Ich warte fur seine antwort.

Danke Schon!

Mit freundlichen Grussen!

-Diwakar Sharma

Hm. So richtig wusste ich nicht, was ich jetzt davon halten sollte. War ja schon etwas seltsam… Wollte der mit mir anbandeln? War das ein Versuch, mir irgendwie Geld aus der Tasche zu ziehen? Oder wollte er tatsächlich nur Kontakt zu einer Deutschen haben? Warum dieser junge Mann ausgerechnet mir geschrieben hatte und wie er überhaupt an meine Adresse gekommen war, weiß ich bis heute nicht. Ich hatte niemanden gesucht, mich nirgends angeboten und mich nicht auffällig verhalten. „Facebook“ steckte noch in den Kinderschuhen, und ich hatte noch nie etwas davon gehört. Es gab keinen Anlass und keinen erkennbaren Grund.

Ich machte die Mail wieder zu und ließ sie liegen. Aber trotzdem hatte ich das Gefühl, ich müsste ihm antworten – weil er sich so viel Mühe gegeben hatte, mir auf Deutsch zu schreiben.

Am 12. 12. 2005 schrieb ich zurück:

Hallo Diwakar,

dankeschön für Ihre nette eMail!

Ich habe mich gefreut, etwas aus Indien zu hören. Auch wenn auf meiner Homepage davon noch nichts zu lesen und zu sehen ist, aber ich war vor fast einem Jahr auch schon einmal in Indien. Es war eine sehr interessante Reise. Indien ist so sehr anders als Deutschland, dass ich einfach an jeder Ecke unglaublich viele Fotomotive gefunden habe. Ich habe eine Rundreise gemacht: Delhi, Varanasi, Khajuraho, Orcha, Agra, Jaipur, Udaipur, Dungarpur, Ahmedabad, Mumbai. Mit Hin- und Rückflug war ich 16 Tage unterwegs (25.12.2004 - 09.01.2005). Mitgebracht habe ich 3614 Digitalfotos und noch ein paar hundert Papierbilder. Das hat ganz schön lange gedauert, bis ich die sortiert hatte. Eigentlich sollten auch alle ausgewählten Fotos in ein Fotoalbum kommen - zusammen mit Postkarten und anderen Mitbringseln. Aber dazu bin ich noch nicht gekommen.

Auf der Reise habe ich schon viel über Hinduismus gelernt, ebenso über Islam und Buddhismus. Sicher wissen Sie noch viel mehr. Aber ich wußte vorher fast überhaupt nichts. Jetzt weiß ich ein bißchen. Es ist eine Religion, die mir schon sehr fremd ist, und vieles kann ich nicht nachvollziehen. Aber das ist wohl normal. Ich bin ja Christ. Bisher hatte ich ja auch nie Erfahrungen mit Hinduismus gemacht. In Deutschland gibt es diese Religion ja nicht - natürlich abgesehen von den hier lebenden Indern, von denen viele sicher Hindus sind. Aber ich kenne persönlich keinen. Sind Sie Hindu?

Ich bin übrigens Religionslehrerin. Von daher habe ich natürlich auch berufliches Interesse an Religionen. Vor allem lehre ich natürlich über das Christentum, weil die meisten meiner Schüler ja auch Christen sind. Aber im Unterricht werden auch alle anderen großen Religionen behandelt: Judentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus.

Übrigens können wir auch gerne "Du" zueinander sagen. Das ist in Deutschland unter jüngeren Leuten so üblich, wenn sie in der Freizeit miteinander zu tun haben.

Für heute viele Grüße von Heide

Das war der Anfang. Fortan bekam ich ab und zu elektronische Post aus Indien. Die deutsche Sprache hatte sich mein neuer Brieffreund ganz alleine mit Hilfe eines Buches und des Internets beigebracht. In seiner Heimatstadt Neemuch lebten zwar über 100.000 Einwohner, in Indien gilt das aber als „klein“ und provinziell. Das kulturelle Angebot war daher begrenzt. Und einen Deutschlehrer gab es hier dementsprechend nicht. Seine Energie und den Willen, diese für ihn exotische Sprache trotzdem lernen zu wollen, fand ich schon beeindruckend und anerkennenswert.

Meine Begeisterung hielt sich trotzdem in Grenzen. Aber ich wollte ihm gerne die Möglichkeit geben, auf Deutsch zu korrespondieren. Schließlich ist das eine gute Art, eine Sprache zu lernen. Und für mich war es ja eigentlich kein Problem, dann schreibe ich eben mal ein paar Zeilen… Aber worüber bloß??? Ich kannte ihn doch gar nicht, und über „ich bin 35 Jahre alt und wohne in Brake…“ ist man ja schnell hinaus. So hatte ich erst einmal Mühe, die Mails mit Inhalt zu füllen.

Er schrieb mir, dass er zwei Brüder habe und keine Schwester – und dass ihn alle Leute „Kalu“ nennen statt „Diwakar“. Er arbeitete irgendwo als „computer operator“. Was das eigentlich ist, wusste ich zwar nicht, aber es klang jedenfalls nicht so, als ob er völlig auf den Kopf gefallen wäre. Andererseits hätte ich mich darüber aber auch nicht stundenlang unterhalten können…

Ich ließ seine Post wieder liegen, weil ich schlicht nicht wusste, was ich schreiben sollte. Trotzdem war er hartnäckig genug, sich nochmals ins Gespräch zu bringen.

Obwohl ich auf seine Mail vom 7. Januar 2006 noch nicht geantwortet hatte, kam dann am 24. eine „gute Nachricht“ – so der Betreff. Seine Verlobung sei „geschehen“ und seine Hochzeit in 4 – 5 Monaten zu erwarten. Die Zukünftige heiße Teena und wohne in Ajmer. Da vorher nie davon die Rede war, dass er eine Freundin hatte, vermutete ich ganz richtig: Er hatte auch keine. Teena hatte er gerade einmal fünf Minuten gesehen. Die Hochzeit war von seinem Vater und ihrem Großvater und Bruder arrangiert worden. In Indien ist das ganz normal und die „Liebeshochzeit“ eher die Ausnahme.

Dass er bis zur offiziellen Eheschließung wohl täglich mit ihr telefoniert hatte, durften seine Eltern nicht wissen. Das tat er „einsamlich“. Auch heute noch bin ich der Meinung, dass dieses großartige Wort in den deutschen Sprachschatz aufgenommen werden sollte. Und er war ganz begeistert, dass sie so eine „susse Stimme“ habe. Das fand ich ja irgendwie total sympathisch.

Ich sei übrigens herzlich eingeladen, und er würde sich sehr freuen, wenn ich käme. Schon klar. Ich sagte zwar nicht direkt ab, schrieb aber recht allgemein, ich werde sehen, was sich machen ließe. Damit war das Thema für mich erledigt. Das war die höfliche Version. Gedacht habe ich, ob er nicht mehr alle Tassen im Schrank hat. Der hat ja wohl einen Vogel. Das ist nicht nur eine Meise, der hat schon mindestens die Größe eines Papageis. Ich kenne den Mann ja überhaupt nicht. Das war jetzt die 5. (fünfte) Mail, die ich von ihm bekommen hatte. Sonst verband mich mit ihm nichts. Und dann sollte ich zu seiner Hochzeit kommen? Nach Indien… Sonst noch Wünsche? Irgendwie war mir das auch ein bisschen suspekt.

Allerdings gäbe es diesen Bericht nicht, wenn ich nicht doch irgendwann zugesagt hätte… Wer oder was hat mich also „rumgekriegt“?

Als feststand, dass die Hochzeit am 6. Mai stattfinden sollte, wurde ich noch einmal in aller Form eingeladen, und Kalu bat mich inständig, die Einladung anzunehmen. Irgendwie reizte mich das ja schon. Nach Mallorca fliegt jeder Hans und Franz. Aber als Frau alleine nach Indien? Das macht nicht jede(r). Das hat schon etwas von Abenteuer. So ganz abgeneigt war ich nicht. Aber ich hielt es immer noch für völlig abwegig. Außerdem finanziert sich eine solche Reise leider nicht aus der Portokasse.

Schließlich fing ich an, Kalu ganz konkrete Fragen zu stellen: Wo ist eigentlich Neemuch – und wie kommt man da hin? Und ich hatte eine Bedingung: Ich brauchte ein gutes Hotel mit Klimaanlage und eigenem Bad am Zimmer – bei Außentemperaturen zwischen 40 und 45°C im Schatten ist das für einen „Standard-Mitteleuropäer“ sonst kaum auszuhalten. Ohne es zu wollen, hatte ich ihn damit auf die Probe gestellt. Er lieferte mir ganz brav die Informationen – und nebenbei DEN entscheidenden Satz: Das Hotel sei das beste im Ort. Es würde ihn zwar einen knappen Monatslohn kosten, aber es sei für ihn in Ordnung. Er heirate ja nur einmal im Leben. Natürlich hatte ich nie beabsichtigt, mir das Hotel bezahlen zu lassen. Aber genau an dieser Stelle und durch diesen Satz hatte er bei mir „gewonnen“. Er wollte also nicht mein Geld. Es ging ihm offenbar tatsächlich um MICH.

Ich war immer noch unsicher aber eigentlich fest entschlossen, zuzusagen. Ich musste nur noch ein paar Probleme und Bedenken aus dem Weg räumen, die mich daran hinderten. Mein Hauptproblem hatte fünf Buchstaben: Delhi! Diese Stadt kannte ich schon - und das unübersichtliche Gewirr von Menschen, die nicht alle bester Absicht waren. Ich sah mich nachts um halb Eins mutterseelenallein dort auf dem Flughafen. Das machte mir Angst. Um diese Zeit war ich schon einmal dort – allerdings mit einer wohlorganisierten Reisegruppe und bestens ausgebildeter Reiseleiterin. Vorausgesetzt, man hatte die einzige Hürde genommen und in Frankfurt das richtige Flugzeug gefunden, brauchte man sich um sonst gar nichts zu kümmern. Das ist eine sehr angenehme Art zu reisen – vor allem, wenn man sich in einem Land befindet, das einem sehr fremd ist und manchmal auch bedrohlich erscheinen kann. Man weiß immer, an wen man sich wenden und wen man fragen kann. Jedenfalls konnte ich mich noch gut daran erinnern, dass damals sofort nach Verlassen des Delhier Flughafens jemand meinen Koffer schnappen wollte – wahrscheinlich, um mich in ein Taxi zu lotsen. Nur mit Mühe konnte unser Busfahrer ihn von meiner Seite vertreiben. Aber was ist, wenn ich jetzt ganz alleine den Flughafen verlasse? Da bin ich ja verraten und verkauft!

Eigentlich konnte ich ganz dankbar sein, dass ich schon seit einigen Monaten wegen schwerer Depressionen aus dem Verkehr gezogen oder besser vom Schuldienst befreit war. Das ist zwar insgesamt nicht lustig, aber es hatte in diesem Fall auch Vorteile. Erstens hätte ich sonst für die Reise gar keine Zeit gehabt, und zweitens war mein Psychotherapeut zufällig ein großer Indienkenner. „Das ist ja großartig!“, sagte er. „Eine Hochzeit in Indien sollten Sie sich auf keinen Fall entgehen lassen“. Und sicher war er überzeugt, dass es für mich keine bessere Therapie hätte geben können. Vielleicht ist sie ein bisschen unkonventionell und wird von keiner Kasse übernommen. Aber ja, er hatte recht.

Um mich ein bisschen in die richtige Richtung zu schubsen, erzählte er, dass Delhi eigentlich ganz harmlos sei. „Im Flughafen gibt es einen Prepaid-Taxischalter. Dort löst man seine Fahrt ins Hotel. Dabei werden Name und Adresse aufgenommen. Mit dem Taxi muss man dann noch einmal an einem Polizeiposten vorbei. Der kontrolliert alle Angaben. Und damit bürgt der Taxifahrer für Leib, Leben, Hab und Gut des Passagiers und ist ganz brav.“ Ein Hotel konnte er mir auch empfehlen. „Wenn Sie im Hotel sind, können Sie sich sogar ein Auto mit Fahrer mieten, und der kutschiert einen dann den ganzen Tag in der Gegend herum – wohin man will.“

Das beruhigte mich ein bisschen – und ich fing an, mich mit dem Gedanken anzufreunden. Mein Vater war alles andere als begeistert. Er machte sich Sorgen. Einige Freunde hingegen hatten auf einmal richtig Hochachtung vor mir. Niemals hätten sie gedacht, dass ich mir so etwas zutraute.

Kurz darauf informierte ich mich im Internet über Flugmöglichkeiten und die dazugehörigen Preise und gab der entsprechenden Fluggesellschaft am 8. April 2006 die Nummer meiner Kreditkarte bekannt. Damit hatte ich einen Flug nach Delhi gebucht. Ein Zurückrudern gab es jetzt nicht mehr – mindestens keins ohne finanzielle Einbußen. Es war das Ticket mit dem günstigsten Preis (698,42 €). Und deswegen war es nicht stornierbar. Aber vielleicht war das auch gut so. Jetzt musste ich fliegen – und mich bemühen, auch unbeschadet wieder zurückzukommen.

Bis zu meinem Abflug bereitete ich mich so gut vor, wie es irgend ging. Ich fuhr nach Hamburg zum indischen Konsulat und besorgte mir ein Visum. Ich informierte mich beim Auswärtigen Amt und im Reiseführer über Risiken und Dinge, die man tun oder besser lassen sollte. Ich legte eine Reiseroute fest und buchte Hotelzimmer über das Internet sowie einen Inlandsflug von Udaipur zurück nach Delhi. Und schon jetzt wuchs ich ein ganzes Stück über mich hinaus. Für alle Fälle notierte ich auch noch die Telefonnummer der deutschen Botschaft in meinem Notizbuch. Das einzige, was ich nicht hingekriegt habe, ist das Lesen des indischen Bahn-Fahrplans. Das soll auch eine Wissenschaft für sich sein – aber dafür hatte ich ja Kalu.

Genau eine Woche vor Abflug machte sich dann auf einmal eine fürchterliche innere Unruhe in mir breit. Ich dachte erst, das seien die Depressionen, weil das Phänomen immer mal wieder auftauchte. Diesmal war es aber anders. Ich hatte plötzlich Angst vor meinem eigenen Mut. Mir wurde bewusst, was ich mir da eingebrockt hatte – und mir war deswegen schon fast schlecht. Aber die Suppe musste ich jetzt auslöffeln.

30. April 2006: Es geht los

Meine Anreise gestaltete sich nicht ganz reibungslos. Schon auf dem Weg zum Flughafen in Bremen kam es zu Verzögerungen, weil der Fahrplan der Straßenbahn wegen des Sonntags gestreckt wurde. Am Schalter standen dann vor mir zwei Leute, die in die USA einreisen wollten und deren Check-In deswegen dreimal so viel Zeit in Anspruch nahm wie bei anderen Leuten. Außerdem war die Schlange vor der Sicherheitskontrolle so lang, wie ich es selten zuvor in Bremen erlebt hatte. Die eigentlich reichlich bemessene Zeit wurde dann tatsächlich knapp, und ich kam gerade noch rechtzeitig zum Boarding.

Erst einmal ging es nach Frankfurt, von dort im Jumbo weiter nach Delhi. Unser Flug war unspektakulär, auf die Dauer auch recht langweilig. Zwar konnte ich aus dem Fenster gucken, aber die Sicht war im allgemeinen nicht besonders gut. Außerdem flogen wir nach Osten und damit Richtung Nacht, so dass die Sonne sich nach deutscher Zeit schon gegen 17.00 Uhr verabschiedete – und zwar relativ schnell. Zwischendurch gab es unter uns ein recht heftiges Gewitter. Das sah sehr faszinierend aus, weil man irgendwie „über den Dingen“ schwebt. Die Wolken, über denen man fliegt, werden von unten durch die Blitze erleuchtet. Es erinnerte mich an Stephan Remmlers „Feuerwerk“, nur dass das Schauspiel ganz harmlos war. Eigentlich wollte ich das mit meiner Kamera filmen, habe aber nicht oft genug auf den Auslöser gedrückt, so dass keine Aufnahme zustande kam. Fotografieren kann ich deutlich besser, das merke ich immer wieder. Aber dafür war es zu dieser Zeit schon zu dunkel und das Flugzeug zu schnell.

Nach genau 6 Stunden, 36 Minuten und 55 Sekunden sind wir dann in Delhi gelandet. Das war zwar weniger, als ich erwartet hatte, die Zeit kam mir trotzdem außergewöhnlich lang vor. Mein Platznachbar spielte schon seit Stunden mit virtuellen Karten auf seinem Laptop. Ich selbst hatte an irgendwelche Beschäftigungsmöglichkeiten nicht gedacht. Und der Bollywood-Klamauk, den die Airline zur Unterhaltung ihrer Gäste bot, geht mir eher auf die Nerven.

Weit kamen wir allerdings nicht. Unser Gate wurde von einer französischen Maschine in Beschlag genommen, in der noch 42 Passagiere fehlten. Unser Flugzeug wurde deswegen sozusagen auf Reede geparkt. Nachdem wir dort bestimmt 20 Minuten gestanden hatten, wurde durchgesagt, dass die Franzosen jetzt nur noch einen Passagier vermissen und wir wohl in ca. 10 Minuten unseren endgültigen Parkplatz bekommen könnten. Die Leute standen schon ungeduldig auf, wurden aber wiederholt und zum Schluss recht energisch darauf hingewiesen, dass sie aus Sicherheitsgründen bitte angeschnallt auf ihren Sitzplätzen zu bleiben hatten. Um 01.06 Uhr Ortszeit setzte sich unser Flugzeug dann tatsächlich in Bewegung. Drei Minuten später konnte es am „Finger“ angedockt werden. In Deutschland war es jetzt 21.39 Uhr – eine Differenz von 3 ½ Stunden, die einem quasi „geklaut“ wurden. Mir kam es trotzdem vor wie 01.00 Uhr nachts.

Immerhin war diese unfreiwillige Wartezeit recht kommunikativ. Ich unterhielt mich mit meinem Platznachbarn, einem Amerikaner. Er war geschäftlich für eine große Computerfirma unterwegs. Erst war er in Deutschland, dann kamen mehrere Stationen in Indien, und in der Woche darauf sollte er nach Shanghai. „Gucken Sie mal, da rollt gerade eine Maschine zur Startbahn“, sagte er auf einmal. (Natürlich auf Englisch, aber ich übersetze hier.) Ich guckte aus dem Fenster, konnte den Namen der Fluggesellschaft aber nicht erkennen. Es war zu dunkel und auch zu weit weg. „Moment, ich gucke mal durch die Kamera“, sagte ich und fuhr das Teleobjektiv voll aus. „Nein, da steht ,Cargo‘…“ Es wäre ungewöhnlich gewesen, wenn ausgerechnet diesem Flugzeug 42 Passagiere gefehlt hätten.

Aber es wartete noch eine weitere Überraschung auf mich. Schon kurz vor der Landung kam eine Stewardess zu mir und fragte, „Mrs. Pinkall??“ – Ich: „Ja, was ist mit mir?“ – „Ihr Gepäck ist nicht im Flugzeug… Melden Sie sich bitte nach der Ankunft an der Gepäckausgabe.“ Super, damit hatte ich weder etwas anzuziehen, noch konnte ich mich ordentlich waschen oder kämmen…

Immerhin hatte ich so die Ehre, bei über 400 Passagieren als erste von sechs Gästen namentlich auf einer Tafel begrüßt zu werden. Mit einem „Leidensgenossen“, der mir dann zugesellt wurde, begab ich mich nach einigen suchenden Blicken zur Gepäck-Reklamation. Er als Inder sprach den netten jungen Mann hinter dem Tresen sofort an. Und ich guckte in die Röhre, weil alle vorhandenen Mitarbeiter damit vergeben waren. Vielleicht dachten sie, wir gehören zusammen… Ich guckte also ca. 20 Minuten in der Gegend herum, musterte die Wage neben dem Tresen, weil sonst nichts zu sehen war und wollte eigentlich am liebsten sofort ins Bett. Auf Anraten eines anderen Mannes ging ich noch einmal das Gepäckband ab und entdeckte tatsächlich meinen kleinen flachen Koffer, den ich zusätzlich dabei hatte, um darin meine Hochzeitskleidung zu transportieren – und drei Schlüpfer, die ich nachträglich noch eingesteckt hatte, weil sie herumlagen und es nicht schaden kann, davon ein paar mehr zu haben. Ich hätte ja nicht geahnt, dass das eine sehr kluge Entscheidung war. Damals war die Anzahl der Gepäckstücke noch nicht begrenzt – man hätte auch zehn Taschen kostenfrei aufgeben können, sofern man das zulässige Gesamtgewicht nicht überschritt.

Nach Erledigung sämtlicher Formalitäten bekam ich ein „Female Overnight Kit“ mit Zahnbürste, Deoroller, Nagelfeile, Hygieneartikeln und einem T-Shirt. Außerdem erhielt ich ein einmaliges „Begrüßungsgeld“ von 2000 Rupien (damals ca. 36 €), um mir für die nächsten Tage neue Kleidung kaufen zu können. Das fand ich ja ganz nett. Da man keine indische Währung einführen darf, hatte ich noch kein Bargeld. Ich benutzte es erst einmal für das Prepaid-Taxi, zu dessen Schalter ich höchstpersönlich von einem örtlichen Mitarbeiter der Airline gebracht wurde. Er begleitete mich dann noch durch den bereits völlig leeren Flughafen bis zum bereitstehenden Taxi und erzählte dem Fahrer, wo er hinfahren sollte. Dann ging es los, eine geschätzte gute halbe Stunde nächtliche Stadtrundfahrt durch Delhi. 240 Rupien für eine Strecke von über 20 Kilometern. Das waren umgerechnet ca. 4,36 €. Da kann man nicht meckern – als Europäer mit entsprechendem Einkommen, versteht sich. Der Taxifahrer und sein Beifahrer wussten angeblich nicht, wo mein Hotel ist. Sie hielten erst einmal vor einem anderen und erkundigten sich nach dem Weg. „You have already booked there?“, fragten sie nebenbei. “YES – and I want to go there – alone please”. Aha, das war also einer dieser Versuche, mich in einem anderen „very good and cheap hotel“ abzuliefern, das wahrscheinlich weder besonders „cheap“ noch außergewöhnlich „good“ war, den Fahrern aber eine Provision zahlt. Pech gehabt, den Trick kannte ich… Auch mir wurde dann noch einmal der Weg beschrieben, damit mich die zwei Männer auch dort ablieferten, wo ich hinwollte.

Gegen 03.30 Uhr Ortszeit kam ich im Hotel an. Das sah zwar nicht so übermäßig einladend aus, weil es im Eingangsbereich etwas an eine Baustelle erinnerte, aber vielleicht war das auch nur eine Hinterlassenschaft der nächtlichen Putzkolonne. Am nächsten Morgen war davon nichts mehr zu sehen und der Eindruck der Eingangshalle ganz nett. Das Zimmer war normal, nicht schlecht aber auch nicht umwerfend – dafür allerdings recht teuer. Aber unter 100 € pro Nacht scheint es in Delhi kaum etwas Vernünftiges zu geben - jedenfalls nicht, wenn man keinen Inder vor Ort kennt, der für einen die Recherche direkt übernehmen kann. Dann kann man auch für ein Fünftel des Preises etwas Ordentliches bekommen. Wenn man nicht Ewigkeiten bleibt, kann man es vielleicht verschmerzen. Trotzdem bleibt der fade Beigeschmack, ganz schön ausgenommen zu werden. Egal. Erst einmal freute ich mich über ein sauberes, gutes Bett und schlief darin sofort vor Erschöpfung ein.