Für Karlheinz Müller,

meinen theologischen Lehrer und Wegbegleiter

Einleitung: Auferstehung statt Wiederbelebung

»Viele glauben uns nicht mehr.«

Ob dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz wirklich bewusst war, was er da mit einfachen Worten, schnörkellos und ohne unmittelbar mitgelieferte spirituelle Überhöhung sagte? Beim Eröffnungsgottesdienst der Herbstvollversammlung der deutschen Bischöfe in Fulda im September 2018 stand Kardinal Marx mit diesem Satz inmitten der Bischöfe, als stehe er gemeinsam mit ihnen zwischen den Trümmern einer alten, verfallenen Kirche. Ich dachte für einen kurzen Moment an ein häufig gebrauchtes Bild in der Bibel, das Amtsträger in der Kirche gerne für sich beanspruchen. Eigentlich heißt es da im Matthäusevangelium in Anlehnung an ein alttestamentliches Bild: »Als Jesus die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen; denn sie waren müde und erschöpft wie Schafe, die keinen Hirten haben« (Matthäus 9,36; vgl. Numeri 27,17). Aber statt des Originalzitats ging mir beim Anblick der Oberhirten durch den Kopf: »Denn sie waren müde und erschöpft wie Hirten, die keine Schafe haben.« Und ich hätte in diesem Augenblick tatsächlich darauf gewettet, dass es diese Worte sind, die in der Bibel stehen: erschöpfte Hirten ohne Schafe.

Mir hat sich dieses Bild eingeprägt. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, also der Repräsentant einer Institution, die letztlich von nichts anderem lebt als von der Glaubwürdigkeit, sagt in der Mitte seiner Kollegen: »Viele glauben uns nicht mehr.« Auf mich wirkt diese nüchterne Feststellung wie eine Bankrotterklärung. Eine Kirche, der viele Menschen nicht mehr vertrauen, ist am Ende. Sie hat im strengen Sinne aufgehört, Kirche zu sein.

Keine Äußerung, die von Bischöfen nach Bekanntwerden der Missbrauchsstudie zu hören war, hat die Lage der Kirche so auf den Punkt gebracht wie diese wenigen Worte – ausgesprochen übrigens am Grab des Heiligen Bonifatius, der als »Apostel Deutschlands« verehrt wird. Traditionell treffen sich die Bischöfe dort zu Beginn ihrer Herbstvollversammlung zum gemeinsamen Gottesdienst. Diesmal schien es mir fast so, als stünden die Oberhirten und ihnen voran ihr Vorsitzender nicht nur am Grab des Bonifatius, sondern gleichsam am Grab der alten Institution Kirche, erschüttert und erschöpft. Wie Hirten eben, die keine Schafe haben.

Doch in mir regen sich bei diesem Anblick weder Mitleid noch Traurigkeit. Wie viele andere Menschen innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche spüre ich eher Wut und immer noch die Erschütterung über eine Institution, die ihre Glaubwürdigkeit verspielt hat. Gut, dass sie tot ist, denke ich mir. Seltsam, dass sich bei diesem Gedanken in mir aber noch ein anderes Gefühl meldet. Es ist beinahe so etwas wie neue Lebensenergie. Ich schaue auf die Kirche in Trümmern und spüre in mir Lebendigkeit.

In den letzten Jahren habe ich immer wieder einmal etwas flapsig gesagt: »Ich interessiere mich eigentlich nicht mehr so für die Kirche.« Was ich damit gemeint habe: Viel interessanter ist es für mich, mit der Botschaft Jesu außerhalb des Kirchenraumes auf der Straße unterwegs zu sein und danach zu fragen, welche Bedeutung das Evangelium für die gesellschaftlichen Themen hat, die uns gemeinsam umtreiben. Welche Relevanz hat die Botschaft Jesu für Menschen in einer Zeit, die durch existenzielle Verunsicherungen und durch politische Spaltung geprägt ist? Der rasante Klimawandel, eine immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich und die aus all dem resultierenden Flucht- und Migrationsbewegungen stellen auch die Kirchen vor neue Herausforderungen. Es gilt für mich eine Antwort darauf zu finden, ob wir als Christen zu diesen Entwicklungen etwas Positives beitragen können. Die Kirche habe ich in dieser Hinsicht häufig nur noch als Institution wahrgenommen, die vor allem mit einem beschäftigt schien: ihrem eigenen Überleben. Diese Kirche war es, die mich immer weniger interessierte. Und ausgerechnet in dem Moment, in dem diese alte Kirche stirbt, beginne ich mich wieder dafür zu interessieren, was Kirche und mehr noch: was Christsein in Zukunft bedeuten könnte.

Warum ist das so? Ich blicke auf die Trümmer dieser Kirche, in der ich aufgewachsen und in der ich Priester geworden bin. Mir ist im Herbst 2018 bewusst geworden, dass ich in viel größerem Maß Teil dieses Systems bin, das den Missbrauch von Menschen zu verantworten hat, als ich es bis dahin wahrhaben wollte. Wer in der katholischen Kirche arbeitet und ein Amt in ihr bekleidet, kann nicht so tun, als ginge ihn das alles nichts an oder als sei dies nur Angelegenheit der Bischöfe. Ich will nicht einfach wieder nur zuschauen und abwarten, welche Entscheidungen Bischöfe treffen oder welche Papiere mit wohlformulierten und gleichzeitig für die meisten Menschen bedeutungslosen Worten am Ende langwieriger synodaler Prozesse veröffentlicht werden. Nicht nur die Oberhirten, ich selbst stehe inmitten einer Trümmerkirche, die ihre Glaubwürdigkeit verloren hat. Ich habe kein Interesse daran, dieser alten Kirche wieder zu mehr Glaubwürdigkeit zu verhelfen. Ich habe kein Interesse an ein paar Reformen und schon gar nicht an Kampagnen zur Imagerettung der Institution Kirche. Die Schuldbekenntnisse, die ich aus dem Mund der Oberhirten höre, wirken auf mich schal, allzu gewohnt und ritualisiert. Ich glaube den Bischöfen ihre Erschütterung über das Ausmaß des Missbrauchs, aber ich glaube ihnen nicht wirklich, wenn sie von »Erneuerung« der Kirche sprechen. Auf mich wirkt das zu sehr wie ein hilfloser Versuch der Reanimation, der Wiederbelebung eines gestorbenen Systems.

Diese Kirche ist kaputt. Sie ist tot. Ich stehe an ihrem Grab. Ich bin wütend und erschüttert angesichts der Verbrechen, die Menschen in dieser Institution zu verantworten haben und die diese alte Kirche möglich gemacht hat. Aber ich fühle mich nicht erschöpft. Ich fühle mich eher wie in einem Zwischenstadium. Etwas Altes ist gestorben. Fast möchte ich sagen: Gott sei Dank! Es ist gut, dass diese Gestalt von Kirche, die für das Leid so vieler Menschen mitverantwortlich ist, am Ende ist. Das gilt es zu realisieren. Den Bruch, in dem wir uns befinden, gilt es anzuerkennen. Ich erlebe gerade bei vielen, die in der Kirche arbeiten oder sich ehrenamtlich engagieren, so etwas wie Endzeitstimmung. Das Ende der Kirche in ihrer alten Gestalt hat etwas Apokalyptisches, Katastrophales an sich. Es ist das Fanal einer Kirche, deren Repräsentanten in so vielen Fällen das Leben von Menschen zerstört haben. Die meisten in unserer Gesellschaft verbinden mit ihr nur noch eines: den unglaublichen Missbrauch von Macht. Da ist nichts mehr zu retten.

Biblisch lässt sich dieser Zwischenraum, in dem wir gerade kirchlich stehen, am ehesten mit der Situation der Apokalypse vergleichen. Die Enthüllung des Missbrauchs bringt täglich neue Schreckensbilder ans Licht. Es ist wichtig, diesen Schrecken auszuhalten und ihn nicht wieder wegzureden oder zuzudecken.

Mitten in diesem apokalyptischen Szenario wird für mich gleichzeitig etwas Neues sichtbar. Es ist fast so etwas wie eine neue Vision von Christsein, eine Zeitenwende am Ende einer Kirche, die für viele Menschen gestorben ist. In der Bibel ist die Apokalypse ebenfalls mit Bildern und mit Geschichten des Schreckens verbunden. Sie markieren das Ende und gleichzeitig sind sie Anzeichen für den Beginn einer neuen Zeit.

Die neutestamentlichen Autoren bewegen sich genau in diesem Zwischenraum. In diese Endzeitstimmung hinein gehört der Basissatz der Botschaft Jesu: »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!« (Markus 1,15). Im griechischen Text steht an dieser Stelle das Wort metanoeite. Das bedeutet mehr als nur »umkehren«. Es bezeichnet das Umdenken und den echten Sinneswandel infolge einer Erkenntnis. Ganz wörtlich geht es bei meta-noein um »um-denken« oder »nach-denken« im Unterschied zum »vor-denken« (griechisch: pro-noein).

Dem Aufruf zum »Nach-denken« und damit zum »Um-denken« geht die Feststellung Jesu voraus: »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe.« Es sind die ersten Worte, die Jesus im Markusevangelium spricht. Zu verstehen ist diese Ansage im Sinne von: »Das Maß ist voll. Die neue Welt Gottes ist bereits im Kommen.« Gemeint ist damit nicht einfach eine neue Spiritualität oder eine neue Religion, sondern viel mehr. Es geht um nicht weniger als eine neue Weltordnung. Deren Entstehen setzt in der Bibel aber voraus, dass etwas Altes zerbricht und untergeht. Weltuntergang meint in diesem Sinn: Die bisherige Art, Welt zu sehen und zu gestalten, die alte Weltordnung geht unter.

Wenn ich die jetzige Situation in der Kirche in dieser Weise mit den Augen des biblischen Apokalyptikers anschaue, dann bekommen die programmatischen Worte Jesu in Markus 1,15 einen aktuellen Klang: »Das Maß ist voll. Die neue Welt Gottes ist bereits im Kommen. Denkt um und glaubt an das Evangelium!« Wenn ich mir diese Perspektive wirklich zu eigen mache, geht es nicht um das Überleben oder Wiederbeleben der Kirche, sondern um eine neue Vision von Christsein, um eine Utopie von Kirche, die wirklich etwas von der neuen Welt Gottes für Menschen heute sichtbar macht. Mein Nach-denken verstehe ich deshalb auch nicht als Strategie für das Weiterbestehen der Kirche. Es ist vielmehr meine persönliche Vision davon, wie ich gemeinsam mit anderen das Evangelium in der Gegenwart neu leben kann. Es geht mir nicht darum, etwas Altes wiederzubeleben, sondern etwas völlig Neues, was noch nicht ist, anzudenken. Wer wirklich umkehrt, stellt fest, dass der Weg der Umkehr niemals einfach ein Zurückgehen desselben Weges ist. Es entsteht ein ganz neuer.

Bei seiner Weihe sprach der neue Bischof von Würzburg, Franz Jung, davon, dass er sich in seinem neuen Amt für eine Kirche einsetzen werde, die tatsächlich von der Auferstehung geprägt sei und nicht vom Gedanken der Wiederbelebung des Vergangenen. Mich hat dieses Wort berührt. Ich will es für mich weiter- und durch-denken.

Dabei gibt es für mich eine entscheidende Grundvoraussetzung, die dieses Nachdenken wie ein Vorzeichen bestimmen wird: Wir sollten aufhören, die Kirche zu retten!