Peter Sloterdijk

Den Himmel zum Sprechen bringen

Über Theopoesie

Suhrkamp

In Erinnerung an Raimund Fellinger

Vorbemerkung

Da der Titel dieses Buchs mehrdeutig klingt, soll darauf hingewiesen werden, daß im folgenden weder vom Himmel der Astrologen noch von dem der Astronomen die Rede sein wird, auch nicht von dem der Raumfahrer. Der zum Sprechen gebrachte Himmel ist kein möglicher Gegenstand visueller Wahrnehmung. Doch drängten sich beim Blick nach oben von alters her bildliche Vorstellungen auf, von vokalen Phänomenen begleitet: das Zelt, die Höhle, das Gewölbe; im Zelt tönen die Stimmen des Alltags, die Höhlenwände werfen alte Zaubergesänge zurück, im Gewölbe hallen die Kantilenen zu Ehren des Herrn in der Höhe wider.

Aus dem Gesamt von Tag- und Nachthimmel ergab sich seit je ein archaisches Konzept des Umfassenden. In ihm ließ sich das Ungeheure, Offene, Weite mit dem Beschützenden, Häuslichen in einem Symbol kosmischer und moralischer Integrität zusammendenken. Das Bild der ägyptischen Himmelsgöttin Nut, die, sternenbesetzt, über der Erde eine vorwärtsgewandte Brücke macht, bietet das schönste aus dem Altertum überlieferte Emblem eines Schutzes durch das Umgreifende. Dank ihres Abbilds ist der Himmel auch an den Innenseiten von Särgen gegenwärtig. Ein Toter, der im Sarg die Augen öffnete, würde durch den Anblick der Göttin in eine wohltuende Offenheit begleitet.

Als der Himmel im Gang der Säkularisation seine Bedeutung als kosmisches Immunitätssymbol verloren hatte, wandelte er sich zum Inbegriff der Beliebigkeit, in der menschliche Absichten verhallen. Nun ruft das Schweigen der unendlichen Räume bei Denkern, die in die Leere horchen, metaphysischen Schrecken hervor. Heinrich Heine hatte die Tendenz noch mit milder Ironie übermalt, als er in seiner Verserzählung Deutschland. Ein Wintermärchen (1844) beschloß, den Himmel, von dem ein Mädchen zur Harfe das »alte Entsagungslied« sang, den Engeln und den Spatzen zu überlassen. Charles Baudelaire hingegen hat in den Blumen des Bösen (1857) eine neognostische Gefangenenpanik ins Bild gebracht, als er den Himmel als einen schwarzen Deckel auf dem großen Topf beschrieb, in dem die weite unsichtbare Menschheit kocht.

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Detail des Greenfield-Papyrus (10. Jahrhundert v. ‌u. ‌Z.). Die Himmelsgöttin Nut beugt sich über den Erdgott Geb (liegend) und den Luftgott Schu (kniend). Ägyptische Darstellung von Himmel und Erde, Illustration nach einem alten ägyptischen Papyrus, in: The Popular Science Monthly, Band 10., 1877, S. 546, Foto: Wikimedia Commons

Nach den konträren Diagnosen der Dichter ist es ratsam, dritte und weitere Meinungen zu hören. Im folgenden soll vorwiegend von mitteilsamen, hellen und zu Aufschwüngen einladenden Himmeln die Rede sein, weil sie, dem Auftrag poetologischer Aufklärung entsprechend, gemeinsame Herkunftszonen von Göttern, Versen und Aufheiterungen bilden.

I
Deus ex machina, Deus ex cathedra

… und er sprach zu ihnen nicht, es sei denn in Gleichnissen
Matthäus 13,34