David Whish-Wilson

Das große Aufräumen

Thriller

Aus dem australischen Englisch von Sven Koch

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Für Luka Fergus

1

Blake Tracker band seine Dunlop Volleys mit grünen, aus einem Kurzwarenladen gestohlenen Schnürsenkeln; die Doppelschleife hatte ihm sein Vater beigebracht.

So ziemlich das einzig Nützliche, das er von Pops gelernt hatte. Richtig gut war die Doppelschleife an Fußballschuhen, damit gingen die nie auf.

Von seiner Mum hatte er Kämpfen gelernt. Kämpfen und Weglaufen.

Sein Zellengenosse im Longmore Remand Centre war noch wach. Peter Parkhill hatte ein bleiches Gesicht, blasse dürre Arme, auf die in diesem Moment Mondlicht fiel, und einen leeren Blick. Wie jeden Abend glotzte er auf den mit Klebknete an der Wand befestigten Kalender. Weil in einer Jugendanstalt keine Tittenbilder erlaubt waren, war auf dem Kalenderbild für November 1983 ein Strand bei Perth zu sehen: kobaltblaues Meer, weißer Sand, gebräunte Körper. Parkhill strich jeden Tag ab, der zu Ende ging – das war immer das Letzte, was er vorm Schlafengehen tat. Der 23. November wartete noch auf den Ritz von Parkhills Fingernagel.

Parkhill war Skinhead, und sobald er achtzehn wurde, würde er nach England deportiert werden. Er schien sich sogar darauf zu freuen. Hier war er, weil er auf einer schicken Party in Claremont mit einer Knarre eingelaufen war und einem verhassten Mod ins Bein geschossen hatte.

In Longmore hatten die Nyungar-Jungen Parky schon so oft verdroschen, dass es sie langweilte. Es war im Grunde nicht anders als draußen, nur umgekehrt, weil da die Skinheads zu zehnt einen schwarzen Jungen zusammenschlugen, wenn sie ihn in einer dunklen Ecke der Hay Street erwischten. Zu jeder Tages- und Nachtzeit.

Aber das hatte Parky nicht unterkriegen können. Nur ein Auge hing etwas über die wächserne Narbe, die er als kleines Kind von seinem Vater verpasst bekommen hatte.

Als Zellengenosse war Parky nicht mal so übel, jedenfalls für ein Pommie-Schwein. Er hatte von den anderen sogar ein paar Worte Nyungar aufgeschnappt, dazu einige Brocken Wongi von Blake. Nyungar, fand er, klang wie Klingonensprache und Wongi wie Urwaldgeräusche.

Blake stand auf, machte Armkreise und trabte auf der Stelle, um seine Nerven zu beruhigen. Schubste seinen Sack in Position, strich sein grünes T-Shirt glatt und schob sich die Locken aus den Augen.

Tastete seine Verletzungen ab. Die Nase war gebrochen, drei Rippen angeknackst. Die Finger seiner Linken waren noch taub.

Sobald er den Entschluss gefasst hatte, hatte er auch keine Angst mehr gehabt. Jetzt ging es nur noch um die Sache, darum, sie durchzuziehen. Vorher, nachher, fertig. Nur diese Sache, das Eine, was er tun würde.

Kein Wenn und Aber. Töten oder getötet werden. Sie oder ich.

Er nahm seinen Ausweis und hielt ihn ins Licht. Drückte ihn an der Längsseite leicht zusammen und spürte, wie die Rasierklinge aus dem Schlitz rutschte, den er in den Ausweis geschnitten hatte. Mit den Zähnen zog er sie so weit heraus, bis das Ganze fast ein kleines Messer war. Genug jedenfalls, um einem Mann die Kehle durchzuschneiden – und bald würde er gegen Männer antreten müssen.

Blake hatte die Rasierklinge benutzt, um die anderen zu tätowieren, und die Aufpasser suchten wie verrückt danach. Jedes Mal, wenn er ihnen beim Passieren einer Tür den Ausweis hinhielt, musste er sich das Lachen verkneifen. »Bitte sehr, Boss.«

Aber sie fanden sie einfach nicht. Stattdessen kassierten sie alle Kugelschreiber ein.

Aber mit Zigarettenasche ging’s auch.

Einfach das Design in die Haut ritzen, Tinte – oder Asche – reinreiben, heilen lassen.

Zehn Ziggies pro Tattoo. Sie standen Schlange bei ihm. Die Designs waren meist auch von ihm.

Parky hatte eins auf dem linken Unterarm. Spurs stand da, was immer das heißen sollte.

Es war fast so weit. Eine Stunde nach Schließzeit. Jetzt sahen die Wachen fern, aßen zu Abend und tranken was zusammen. Hatten geprüft, dass der Direktor keine Überstunden machte.

Eine Woche lang hatte Blake jeden Abend Prügel über sich ergehen lassen, aber jetzt hatte er die Nase voll. Er tauchte weg, ging in Deckung, tänzelte, stand sicher auf den Beinen, die Füße leicht gespreizt. Boxte Schatten mit dem Mond. Die angeknacksten Rippen machten ihn langsam. Die Linke konnte er nicht richtig zur Faust ballen. Die Rechte war okay.

Aber er hatte seine Klinge. Seine Füße. Und seine Zähne.

Er würde alles geben.

Er blickte zu Parky auf der Pritsche, und zum ersten Mal sah er Angst in seinen Augen. Ein Flackern im Blick. Parky seufzte und wollte aufstehen.

Blake beugte sich zu ihm. »Du bleibst schön unten. Was sollen denn deine Weißbrot-Kumpels sagen, wenn du dich für ’nen Blackfella prügelst?«

Die Worte saßen. Parkhill drehte sich zur Wand.

Das Türschloss klickte.

Ein Wächter, aber allein. Irish Pete. Den Schlagstock noch am Gürtel. Rotgesichtig, mit brennender Zigarette in der Hand. »Die meinen’s ernst, Blake. Und sie kommen bald. Sei kein Dickschädel.« Er warf Parkhill einen misstrauischen Blick zu. »Es gibt keine neue Chance mehr, nicht nach heut Abend.«

Blake straffte die Schultern, richtete sich auf. »Du bist wirklich nicht übel, Irish Pete. Aber ich geh nicht drauf ein. Der letzte Junge wurde dabei geschnappt und bekam zwei Jahre extra. In ’ner Woche komm ich nach Freo. Vielleicht grün und blau geschlagen, aber ich komm in den Erwachsenenvollzug. Dem hier wein ich keine Träne nach.«

Irish Pete schüttelte den Kopf und sah erneut Parkhill an, um festzustellen, ob er schlief. »Du kapierst es nicht, Junge. Du kriegst keine neue Chance mehr. Nie mehr. Die wollen ein Zeichen setzen.«

Der Ire legte sich eine imaginäre Schlinge um den Hals und zog daran, ließ die Zunge raushängen und verdrehte die Augen.

Blakes Körper begriff es vor seinem Kopf. Seine Knie wurden weich. Sein Magen krampfte zusammen. Schlaff baumelten seine Arme herab.

Blickte entschlossen drein, schnaufend, als wäre er gerade tausend Meter gerannt.

Konnte nirgendwohin laufen. Er schüttelte den Kopf, wollte den Druck auf den Ohren loswerden.

»Ich geh nicht drauf ein.«

Er wusste nicht, woher die Worte kamen, aber er meinte es genau so.

Irish Pete schüttelte den Kopf. Blickte den Zellengang hinunter, bis ans Ende zum Mannschaftsraum. Sah auf seine Armbanduhr. Spuckte auf den Boden.

»Los, Junge, mach …«

Blake verstand. Er schlüpfte an dem Iren vorbei und rannte durch den Gang. An den dunklen Zellen seiner Kumpels vorbei. Vorbei an dem Brett mit der Namensliste – auf der die Schweine bei seinem Namen das »e« weggestrichen hatten. »Blak Tracker.« Dann sah er, dass die Tür zu den Höfen offenstand. Verdammt, dieser Irish Pete war wirklich nicht übel. Mondlicht fiel auf sein geschwollenes Gesicht, als er mit schwingenden Armen, mit federnden Füßen auf der festgetretenen Erde Meter um Meter Anlauf nahm, um auf die Mauer zu springen und abzuheben und zu fliegen, fliegen …

2

Frank Swann zog die Schlafzimmervorhänge auf. Es war ein Frühlingstag, der ganze Garten war von blühenden Mittagsblumen orange gepunktet. Der Himmel strahlte in kühlem, von dünnen weißen Wolkenfäden durchzogenem Blau, leichter Südwind ließ die Wipfel der Straßenbäume schaukeln. Swann blickte auf seine Armbanduhr und ging in das zur Straße liegende Zimmer mit dem Telefon. Wie erwartet, klingelte es um Punkt sieben. Dennis Gould war so pünktlich wie zuverlässig. Swann nahm den Hörer und drückte eine Taste, um den Mitschnitt des Anrufs zu starten. Gould war sein bester Rechercheur, beinahe sein Partner, doch jetzt war er auf der Flucht. Dafür hatten Schläger von Trevor Dragic gesorgt.

»Dennis.«

»Swann.«

Ihre Kurzformel dafür, dass alles in Ordnung war. Aus dem Hintergrundrauschen hörte Swann, dass ein Road Train an Dennis vorbeirasen musste. Er stellte sich den Staub und die Hitze in der Nullarbor-Wüste vor – rote Erde, heißer Wind, krächzende Krähen auf der Telefonleitung, Gould an einer gottverlassenen Raststätte zur Telefonzelle hinkend.

»Ich bin an einem Surf-Spot kurz nach der Grenze zu South Australia. Heißt Cactus. Gibt ’nen Campingplatz da. Hab sogar einen Wohnwagen mit Meerblick.«

»Reicht das Geld?«

»Reicht. Was von Dragic gehört?«

Swann knurrte. »Ist angeblich im Ausland. Ich denke, wir sollten noch ’ne Woche warten.«

»Okay. Ist nicht mal so übel hier in South. War auch schon angeln. Die Lachsbarsche beißen grad gut. Der Typ nebenan hat sich aus’m alten Kühlschrank ’nen Räucherkasten gebastelt. «

»Wie weit hast du’s zur Raststätte?«

»Knapp fünfzig Kilometer, hin und zurück. Ich meld mich alle zwei Tage, immer um die Zeit.«

»Bisschen eher wär besser, wegen dem neuen Job. Ich muss um sieben in der Stadt sein und am Schreibtisch hocken.«

Swann legte auf und sah wieder auf die Uhr. Vor drei Tagen hatten sich vier Biker Gould auf der Straße geschnappt, ihn in die Berge gefahren und sein Grab schaufeln lassen. Er hatte sich auf den Bauch legen müssen und den Staub küssen. Gould hatte ernsthaft geglaubt, sein letztes Stündlein hätte geschlagen. Der Mann mit dem Gewehr klang erbarmungslos. Gould wusste noch immer nicht, warum sie ihn nicht erledigt hatten; irgendwann hatten sie gefragt, wie viel Geld er daheim hatte – ein paar tausend in cash. Mit verbundenen Augen fuhren sie ihn zurück in die Stadt. Warteten vor der Tür, während er eine Tasche packte, und ließen ihn seine Ersparnisse abdrücken. Anschließend folgten sie seinem Triumph hinaus bis zum Great Western Highway – der Straße nach Adelaide.

Als Swann vor dem Haus einen pluggernden Achtzylinder hörte, strich er am obersten Knopf über sein Anzugjackett.

Sein neuer Firmenwagen sollte um sieben Uhr kommen.

Er betrachtete sich erneut im Spiegel. Seine alten Polizeistiefel waren frisch poliert, der blaue Schurwollanzug saß perfekt. Die Haare waren frisch geschnitten, seine Augen von der neuen Sonnenbrille beschirmt.

Seine Töchter hatten sie ihm ausgesucht: eine Ray-Ban mit spitzen Ecken, wie aus den Fünfzigern. Teuer, aber er konnte sie sich leisten, weil er gerade sein Honorar bekommen hatte. Und das reichte, um jeder seiner drei Töchter einen großen Schein zuzustecken und den Rest draußen unterm Zitronenbaum zu vergraben. Trevor Dragic hatte offenbar das Land verlassen und war in seine mazedonische Heimat geflohen. Seine Konten und Immobilien waren an den Insolvenzverwalter gefallen, und der hatte Swann voll ausbezahlt.

Zum ersten Mal seit Monaten hatte er keinerlei Sorgen, und heute begann etwas ganz Neues.

Der Holden Statesman fuhr rückwärts in die Einfahrt und blieb wie eine große, tief und zufrieden schnurrende Katze stehen.

Ein Stato wäre schon eine feine Sache. Etwas größer als Swanns sonstige Autos, aber dank des ausgehandelten Vertrags konnte er sich das mächtige Fünf-Liter-Aggregat leisten – der Firmenwagen samt Benzinkostenübernahme stand auch drin.

In den letzten Jahren hatte er vor allem den Datsun 120Y seiner Frau mitbenutzt. Daneben gab es zwar noch eine Reihe von Holdens aus den 1960er Jahren, die er billig gekauft und an den Wochenenden hergerichtet, dann aber an seine Töchter weitergegeben hatte, sobald sie volljährig wurden: einen gelbgrünen HK für Louise, einen roten EK mit weißem Dach für Sarah und erst kürzlich einen smaragdgrünen Brougham, den sich seine Jüngste, Blonny, gewünscht hatte. Drei Jahre hatte er gebraucht, um die schon ausgeschlachtete Kiste in ihre alte Pracht zurückzuversetzen. Dabei hatte er auch die Vorzüge von Klimaanlage, elektrischen Fensterhebern und Ledersitzen zu schätzen gelernt.

In der Einfahrt stieg Heenan, die rechte Hand des neuen Premierministers, aus; der Fahrer des Statesman blieb sitzen.

Swann blickte Heenan fragend an, doch der zog sich nur die Hose über den dicken Bauch, ließ die Finger knacken und kurz den Kopf kreisen. »Schicker Anzug«, sagte er mit ruhiger Stimme. So ruhig und voller Schmelz, dass sie im Ohr schmeichelte. »Dein Auto steht ein Stück die Straße runter, Frank. Vor der Bäckerei. Hier sind die Schlüssel.«

Swann nahm sie aus Heenans warmer Hand, blickte auf das Holden-Logo, nickte.

»Den Pager hast du?«, fragte Heenan. Swann zeigte ihn ihm, obwohl er gar nicht wusste, wie das Ding funktionierte. »Wenn wir dich brauchen, schicken wir dir eine Nummer. Die rufst du an, dann kriegst du weitere Anweisungen. Wir könnten heute Vormittag überall sein. Wart in deinem Büro. Das Telefon dort hat übrigens noch keine Sicherheitsfreigabe. Damit könntest du also mal anfangen.«

Mit diesen Worten stieg Heenan in den Statesman, schlug die dunkle Tür zu, und der Wagen rollte zurück auf die Straße. Als er den Hügel hinauffuhr, war hinter seinen getönten Scheiben nichts zu erkennen.

Swann schloss ab und nahm die Werkzeugtasche, die auf der Veranda vor dem Haus stand. In der Tasche befand sich vor allem Elektronik, die mit Swanns Hauptbeschäftigung in den vergangenen Jahren zu tun hatten: Abhörgeräte, Wanzen und Funksignalmesser zum Aufspüren von Lauschern. Seine Kameras und Rekorder.

Ein Stück die Straße hinunter war eine Bäckerei, von der jede Nacht Brotgeruch in Swanns Schlafzimmer wehte. Davor parkte sein Auto.

Nicht gerade, was er erhofft hatte. Der pfirsichfarbene Commodore war das 1981er Modell, erst zwei Jahre alt, aber er sah schon mitgenommen aus.

Swann ging einmal um den Wagen herum in der Hoffnung, dass er von irgendeiner Seite einen besseren Eindruck machte. Es war natürlich ein Flottenfahrzeug, aber die Lackkratzer an den Kotflügeln verrieten, dass er viel auf den Schotterstraßen des Outbacks unterwegs gewesen war. Auch der Kühlergrill mit der Eierkartonoptik war angeschlagen und verbeult, die Antenne auf dem Kotflügel verbogen und rostig. Auf dem Kofferraumdeckel fehlte das Typenschild, der Tankdeckel war zerkratzt und stand etwas ab, als hätte jemand versucht, ihn mit Gewalt zu öffnen. Die Reifen waren schon stark abgefahren.

Auf all das wäre es aber nicht angekommen, hätte der 1,9-Liter-Motor nicht den Ruf gehabt, eine lahme Krücke zu sein, weil man dafür von einem originalen Sechszylinder bloß zwei Zylinder abgezwickt hatte. Das Auto war somit nicht viel mehr als ein vollbepacktes Pferd mit drei Beinen.

Swann öffnete die Tür und legte die Werkzeugtasche auf den Beifahrersitz, dann nahm er hinterm Lenkrad Platz. Er klappte die Sonnenblende herunter, drehte den Zündschlüssel und lehnte sich in den cremefarbenen Nylonsitzen zurück, während er auf das Anspringen des Motors wartete. Das Radio war auf einen Talksender eingestellt, in dem John K. Watts gerade energisch die Ansicht vertrat, dass Australien einen gesamtstaatlichen Australian-Football-Wettbewerb brauchte und Western Australia ein eigenes, schlagkräftiges Team. Swann war gleichzeitig mit Watts bei der Western Australia Police gewesen; daneben hatte Watts noch professionell Football gespielt und danach seine Zweitkarriere als Komiker gestartet.

Swanns Berufsweg war weniger unkonventionell verlaufen – vom Polizisten zum Sicherheitsspezialisten beziehungsweise dem, was gemeinhin Privatdetektiv genannt wurde.

Swann stellte das Radio ab, um den Motor besser zu hören. Immerhin ordentlich eingestellt, so schien es. Allerdings stand die Tankanzeige fast auf leer, und das Warnlämpchen für die Batterie leuchtete.

Mit einem Fingerdruck auf die Tasten schaltete er das Radio wieder an. Ein Mann sang von einem Auto. Er kannte diesen Song von einer Kassette von Blonny …

Here in my car, I feel safest of all …

Swann lachte auf. Sein letzter eigener Wagen, der geliebte 1962er EK Holden, war 1979 von Gus Rileys Bikern in die Luft gejagt worden, keine zwanzig Meter von der Stelle, an der er nun stand.

Swann stellte den Rückspiegel ein und prüfte, ob die Straße hinter ihm frei war.

Auf dem Weg nach Perth flirrte die Morgenhitze schon über dem Freeway, die Wasserfläche des Swan River glänzte wie poliert. Auf den Pylonen des alten Como Jetty saßen Pelikane, Kormorane dösten auf den Riffkalkfelsen. Manche von ihnen sahen aus wie mürrische alte Männer, andere wie abgemagerte schwarze Engel.

Swann zündete sich eine Zigarette an, während der Commodore sich in der ufernächsten Fahrspur abmühte. Plötzlich fing die Plastikbox in seiner Hosentasche zu piepsen an. Gleich darauf klingelte ein Telefon. Mit der linken Hand hob Swann den Deckel der Mittelkonsole. Darin lag ein Telefon wie aus Mini-Max. Er nahm den Hörer ab.

»Swann? Funktioniert der Pager?«

Swann zog die schwarze Box heraus und blickte auf die Digitalanzeige – eine siebenstellige Nummer.

»Yep.«

»Das heißt, du bist in oder kurz vor der City. Das Ding hat eine Reichweite von fünf Kilometern«, sagte Heenan. »Streich das mit deinem Büro. Du musst unbedingt ins Parliament House und die Büros und Konferenzzimmer überprüfen. Am Eingang liegt ein Ausweis für dich. Das alles muss noch vor der Morgenpressi …«

»Pressi?«

»Pressekonferenz.«

»Wieder was gelernt.«

Der Commodore näherte sich der Ausfahrt West Perth. Nur ein paar Meter nach dem Straßenrand erhob sich die Kalksteinflanke des Mount Eliza.

»Das Telefon hier – kann ich mit dem überallhin telefonieren?«

»Überall in der Stadt. Keine Ferngespräche.«

Diese Aufgeblasenheit in Heenans Stimme: Er hatte hörbar Spaß daran, die rechte Hand des Premiers zu sein – und die linke auf dem Geld zu haben. Swann schnitt ihm das Wort ab. »Ich leg jetzt auf …«

»Ach ja? Wieso denn?«

»Bin da.«

3

Des Foley beugte sich zwischen die Vordersitze und legte seine Hände auf die Schultern der beiden Männer vor ihm. Nach knapp fünfhundert Kilometern Autofahrt waren sie schon super Kumpel. Das Gras, mit dem Cameron auf dem Beifahrersitz immer wieder eine Tonpfeife bestückte, tauchte den Busch bereits in ein goldenes Licht, verlieh ihm eine fließende Weite und ließ den Wagen über dem Asphalt schweben. Worüber Des jedoch wirklich staunte, war das Speed, das in einer Tüte auf dem Schoß des Fahrers lag. Das Zeug war richtig gut, der Vorrat schien endlos, obwohl Reggie alle fünf Minuten einen Finger in die Tüte steckte und sich dann das Zahnfleisch massierte. Als er Nasenbluten bekommen hatte, hatte er begonnen, das Pep oral zu nehmen. Die beiden waren die ganze Strecke von Sydney ohne Schlafen gefahren und waren fast am Ziel: Das hieß, drei Tage und vier Nächte rauchen, schnupfen, Vollgas geben. Der neue Mazda, den sie, wie Cameron zugab, in Dubbo gestohlen hatten, hatte bislang alles mitgemacht, doch dieser plötzliche Geruch von verschmortem Plastik war kein gutes Zeichen. Cameron und Reggie schienen ihn aber nicht zu bemerken.

Reggie war von der Army desertiert und hatte Cameron in einer Bar in Wagga kennengelernt. Cameron war auf dem Weg nach Perth gewesen, um seinen drei Jahre alten Sohn zu besuchen, und Reggie hatte Gefallen an einem spontanen Trip gefunden. Des hatten sie in Kalgoorlie aufgegabelt, wo er schon drei Stunden lang glücklos den Daumen in den Wind gehalten hatte. Beim Anhalten schlidderten die beiden halb vom Randstreifen und wären beinahe ins Akaziengestrüpp gerauscht.

Dass die beiden zugedröhnt waren, war Des auf den ersten Blick klar, aber dafür waren sie nicht von hier, was ihm sehr gelegen kam. Denn ihn würde man in und um Perth schnell erkennen, auch wenn er jetzt einen Bart und lange Haare hatte.

Außerdem hatten die beiden es erkennbar eilig.

Auf den ersten ein-, zweihundert Kilometern war alles auch ganz lustig gewesen, doch als sie in der Gegend um York die ersten Weizenfelder des Wheatbelt erreichten, hatte Cameron zu jammern und schimpfen begonnen.

Seine Scheiß-Ex hatte ihm seinen eigenen, dreijährigen Sohn gestohlen. Der geklaute Fernseher auf dem Rücksitz war für ihn. Cameron wollte sich duschen, rasieren und ausschlafen, dann ihn besuchen. Dem Jungen den Fernseher geben und sich entschuldigen, dass er ihm beim letzten Mal Angst gemacht hatte.

Doch je näher sie Perth kamen, desto mehr regte sich Cameron auf. Von Ausschlafen war keine Rede mehr. Er wollte sofort hin. Und wenn sie ihn nicht reinließ, würde er den Fernseher durch ihr Scheißfenster schmeißen und hinterherspringen. Wo zum Henker in Perth war dieses Thornlie?

Des sagte nichts.

Die verdammte Fotze. Diese sommersprossige Schlampe. Wenn die nur einen Mucks macht. Sie glaubt wohl, sie ist schlauer als ich. Aber ich hab sie gefunden. Hab ich noch jedes Mal.

Cameron fing an, auf das Armaturenbrett einzudreschen. Und dasselbe würde er mit ihrem Schädel machen. Ihr die Fresse polieren. Sozusagen als kleine manuelle Aufhübschung. Reggie brüllte dazu wie ein angestochener Stier. Camerons Wildheit war ansteckend.

Das alles ging ihn nichts an, sagte sich Des. Einmal. Aber kein zweites Mal. Er hatte es satt, sich was vorzumachen.

Er blickte auf seine Hände: zu Fäusten geballt.

Das Auto schlingerte, als Reggie lachend auf das Lenkrad einprügelte. Cameron war außer sich wegen dem, was er mit seiner Ex anstellen würde, er brüllte es aus Leibeskräften, bis das Geschrei einen irren Rhythmus bekam, zu dem er mit den Fäusten aufs Armaturenbrett trommelte.

Nicht gut.

Des zählte zu den meistgesuchten Männern Australiens. Der »Good Morning Bandit«, wie er wegen seiner Masche, durch Seitenwände oder Decken in Banken einzubrechen und auf den Geschäftsführer zu warten, genannt wurde. »Good Morning« war das Erste, was der zu hören bekam. Bevor die ersten Kunden kamen, war Des wieder weg. Nie wurde jemand verletzt.

Die beiden Vollidioten auf den Vordersitzen waren zu dicht, um ihn zu erkennen, aber jeder Bulle sah sofort, wer er war.

Nicht gut.

Er würde nicht ins Gefängnis zurückgehen. Auf Zivilisten nahm er Rücksicht, aber einen Bullen würde er sofort erschießen, wenn er ihn auch nur misstrauisch ansah. Und er würde niemals ins Gefängnis zurückgehen.

Sein einziges Mantra.

In vier Bundesstaaten zur Fahndung ausgeschrieben, und in jedem davon wartete eine Gefängniszelle auf ihn. Er würde in der ersten Zelle seine Strafe absitzen und von dort in die nächste verfrachtet werden. Er käme nie wieder raus. Und es würde kein Zuckerschlecken werden. Nach seiner letzten Flucht aus Pentridge drohte Einzelhaft in einem Hochsicherheitstrakt.

Perth kam immer näher. Fünf Kilometer vor ihnen sah Des, wie sich die Kammlinie der Darling Scarp über dem grauen, von Marri- und Jarrah-Wäldern gesäumten Band des Great Eastern Highway erhob.

Es wäre nicht allzu überraschend, wenn vor der Hügelkette ein Streifenwagen stünde, um die heimkehrenden Fernfahrer zu kontrollieren. Über hundert Tonnen schwere Road Trains, die mit nahezu 100 km/h auf ein fast fünfundvierzigprozentiges Gefälle zurasten. Der eine oder andere Truckie am Steuer kurz vorm Einnicken oder mit kaputten Bremsen unterwegs. Leicht konnte da einer von der Straße abkommen und eine ganze Zeile von Ziegelhäuschen am Straßenrand plattwalzen.

»Halt hier an, Reggie. Ich bin da.«

Überraschenderweise hörte Reggie ihn trotz des Gebrülls. Des hatte leise, aber bestimmt gesprochen. Vielleicht hatte der Corporal den Befehlston gespürt. Oder immer die Antennen ausgefahren, weil er sich unerlaubt von der Truppe entfernt hatte.

»Dachte, du lebst an der Küste?«

Cameron hörte auf, das Armaturenbrett zu verprügeln.

»Kommst du nicht mit, meinen Sohn besuchen?«

Des würdigte ihn keiner Antwort. »Das letzte Stück geh ich immer zu Fuß. Hab ich mir so angewöhnt. Lass mich einfach an der nächsten Kurve raus.«

Die Straße wand sich in den John Forrest National Park.

»Ein Stück noch. Hier.«

Des stieg aus, hob seine Reisetasche aus dem Wagen und lehnte sie an den Stamm eines riesigen Marri-Baums. Dessen weiße Blüten rieselten um Des herum auf den staubigen Boden.

Er hörte, wie hinter ihm Fahrer- und Beifahrertür geöffnet wurden. Er hatte es erwartet. Der Ausblick von dem kleinen Rastplatz am westlichen Rand der Hügelkette war besonders; von hier aus lag einem Perth auf der weiten sandigen Ebene zu Füßen, dahinter bis zum Horizont der unermessliche Indische Ozean, überwölbt vom gewaltigen Blau des Himmelsdoms. Doch diese zwei Reisenden stiegen nicht wegen des Panoramas aus.

Cameron und Reggie waren weit, weit weg von daheim. Das Auto zu klauen und nach Westen zu fahren war eine spontane Idee gewesen. Von den beiden letzten Tankstellen waren sie weggefahren, ohne zu zahlen. Sie lebten bereits auf Pump.

Des legte eine Hand um den kühlen, angebrochenen Griff der Browning-Pistole in seiner Reisetasche und drehte sich um, hielt die Waffe jedoch hinterm Rücken verborgen. Als ob sie Ochs am Berg spielten, blieben die beiden anderen abrupt stehen und tarnten ihr Anschleichen als etwas Harmloses, Freundliches. Falsch lächelnd stemmten sie die Hände in die Hüften, verschränkten die Arme vor der Brust.

Des atmete tief ein und drehte sich wieder um, wandte sich dem Perth-Panorama zu. Er wollte wissen, ob er’s noch drauf hatte – noch den siebten Sinn besaß, den er sich als Kind in Jugendanstalten erworben und seither in allen Gefängnissen weiter trainiert hatte.

Er spürte, dass Reggie von hinten auf ihn zustürzte, trat einen Schritt zur Seite und versetzte dem Mann einen Schlag mit dem Pistolengriff, der ihn zusammen mit seinem eigenen Schwung über den Rand der Granitklippe stürzen ließ, hinunter ins Nichts.

Es fühlte sich gut an. So gut, dass er die Waffe durchlud, zu Cameron sprang und ihm, noch ehe der seinen geschockten Gesichtsausdruck ablegen konnte, die Beine wegtrat. Des kniete sich so auf Camerons Rücken, dass er dessen Füße sah.

»Weißt du, Kumpel, du erinnerst mich an meinen Vater. Meine Mutter hat mich und meine Brüder ganz allein großgezogen. Sie hat meinen Vater außen vor gelassen, bis wir alt genug waren, dass wir ihn selber außen vor lassen konnten. Er war ein widerlicher Sack, genau wie du …«

Cameron fasste sich wieder, begann zu strampeln.

»Du wirst deinen Sohn nicht besuchen, Cameron. Und keinen Fernseher durchs Fenster deiner Ex schmeißen. Und sie auch nicht mehr verdreschen.«

Des setzte die Browning an das Hosenbein des Mannes, direkt auf die Kniekehle, und drückte ab. Der Boden nahm den größten Teil des Drucks auf, die zerschmetterte Kniescheibe und den lauten, scharfen Knall; Camerons gellender Schrei wurde vom Wald verschluckt. Des schoss auch noch durch das zweite Knie und stand auf. Packte den Mann bei den Händen und zerrte ihn, ohne auf seine Schreie und die schmerzgeweiteten Augen zu achten, an die Abbruchkante, schubste ihn mit einem Tritt in den Abgrund. Hörte, wie die Äste größerer Marris knackten und brachen, als er auf die darunterliegenden Felsen stürzte.

»Grüß deinen Kumpel von mir.«

Das war mal ein Anfang. Eine Art Training. Er sah auf die Stadt hinab, seine Heimatstadt, um die sich der Fluss wand wie eine träge Schlange. Irgendwo da unten war seine Mutter, die irgendjemand auf die Straße setzen wollte. Aber nicht mit ihm.

Und wenn er dafür die ganze Stadt niederbrennen musste.