Amelie Bitar

Der Schatten des Charon

Buch 1: Vater

Gewidmet

Ville Valo

AMELIE BITAR

DER SCHATTEN
DES

CHARON

BUCH 1: VATER

Inhalt

Prolog

Der rote Mond

Dyonisos

Der Gang am Wasser

Die Hohepriesterin

Die Mutter

Hallaughglen

Die Prüfungen

Thanatos

Die Quelle

Akshir

Isfahan

Die Keller

Die Feier

Die Hochzeit

I am me and I am I

I am yours and I am thine

I’m every woman, it’s all in me

For He gave me heart and destiny.

The Lord is my shepherd, so I was told

For ages past I’m searching in the cold

Material world of which I’m part

I never gathered the strength of heart

To conqer myself and egotistic desire

I’m seeking advice and inquire, inquire

I’m restless and battered and longing so deep

For the aged old wine my soul was to heed.

BUCH EINS:

VATER

Prolog

„Die Magierin “
Arcus Arcanum

Die alte Frau stand allein auf der weiten Terrasse und blickte auf das Meer. Es war ruhig und friedlich, wie immer zu dieser Jahreszeit. Weit entfernt, draußen in der Brandung, machte sie zwei Schiffe aus, winzig klein nur zu sehen, die beladen mit fremden Gütern wohl in den Hafen zu ihren Füßen einlaufen würden, wie an jedem anderen Tag auch. Doch es war ein besonderer Tag, und vom Hoffenster hatte sie die geschmückten Häuser und bunten Fahnen der Stadt schon sehen können. In der Luft schwirrte es, und obwohl sie so weit entfernt war, konnte sie schon in diesen frühen Morgenstunden das erwachende Pulsieren spüren, die erwartungsvolle Vorbereitung eines großen Festtages für Thale. Wochen und Monate im Voraus hatten die Händler und Kaufleute ihre Waren aufgestockt, Gaukler und fahrende Künstler waren von nah und fern eingeladen worden, und Boten hatte man in alle Himmelsrichtungen ausgesandt, um das frohe Ereignis, auf das die gesamte Küste hin fieberte, zu verkünden. Könige, Königinnen, Fürsten und Würdenträger waren auf den Beinen, diesem Ereignis beizuwohnen. Wahrlich, es war ein besonderer Tag für Thale.

Die alte Frau ging langsam die steinigen Treppen zum Rosengarten hinab. Sie wirkte wie in einem Traum, die Füße langsam setzend, der Blick geradeaus, als ob sie ihren Weg alleine fänden. Den Weg, den sie seit ihrer Kindheit so viele Male gegangen war. Den Weg mit der wunderbaren Aussicht auf das Meer, die sie immer wieder ins Träumen brachte. Die Schiffe waren inzwischen nicht mehr zu sehen, verdeckt von den Kliffen zwischen ihr und dem Hafen. Das Meer war so wie sie, dachte sie, wie ihr Leben, groß, mächtig, tiefgründig, gefährlich, beruhigend. Wie machtvoll die Wellen gegen die rohen Felsen schlugen, nur dreißig Meter tiefer von ihr, wie ungezügelt, obwohl die Wasseroberfläche in der Ferne spiegelglatt schien. Die Sonnenstrahlen tanzten auf der weißen Gischt, die aussah, als kochte das Wasser in einem Kessel. Der Horizont erstreckte sich weit, blau und unergründlich, keine Wolke war zu sehen, und die Luft war klar und rein und duftete nach den blühenden Rosen und dem unnachahmlichen Geruch von salzigem Meer.

Sie schaute auf das gleichmäßige Wogen der Wellen und spürte die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne auf ihrem Gesicht. Die Wärme tat ihren alten Knochen gut, und sie seufzte, als sie sich auf die niedrige Mauer am Wegesrand setzte und die Augen schloss. Wie oft hatte sie hier gesessen, wie gut kannte sie jeden Stein im angeschlossenen Park, wie viele Erinnerungen verband sie mit dem geliebten Schloss ihrer Väter.

Tage wie diese waren ein Anlass dafür, zurückzublicken, zu überdenken, und in Stille Frieden zu finden mit sich und dem Lauf der Dinge, mit den Geschicken des Königreiches von Thale, deren Teil sie war. Aber den Frieden hatte sie mit sich gefunden. Das runzlige Gesicht mit den vielen Lachfalten entspannte sich. Auch wenn nicht alles immer so gekommen war, wie sie es sich vorgestellt hatte.

Doch heute war ein Tag des Neuanfanges, der Beginn des neuen Zeitalters für Thale und für sein ganzes Volk, und sie wusste, es war nicht mehr ihr Zeitalter. Die Geschicke dieses Landes lagen nun nicht mehr in ihren Händen, und ab heute würden sie einen neuen, jungen König bekommen, ihren Enkel Nimrod. Sie wusste auch, dass er Fehler machen würde, aber wer machte als junger Herrscher von gerade zweiundzwanzig Jahren keine? Er würde ein guter König werden, und seine Mutter und seine Familie standen ihm zur Seite, wie man es sich nur wünschen konnte. Ja, die Zeiten waren gut in Thale, der Frieden war sicher, und das Volk zufrieden. Doch wie schnell sich so etwas ändern konnte.

Frieden breitete sich auf ihrem Gesicht aus, und sie spürte die Ruhe und Kraft in sich, die sie schon als junges Mädchen entdeckt hatte. Sie hatte gelernt, diese aus der großen Mutter zu ziehen, die alle Geschicke leitete. Sie hatte diese Gabe behütet und versucht, sie weiterzugeben, so gut sie konnte. Nur in letzter Zeit hatte sie sich aus ihrem Priesterinnenamt mehr und mehr verabschiedet, nachdem sie die jungen Mädchen nach ihren Kräften ausgebildet hatte. Andere hatten ihren Platz eingenommen, und sie wusste, dass auch das gut war. Sie verehrten sie nun für das, was sie war, nicht mehr so sehr für das, was sie gab. Das Sein ersetzte das Tun, was für ein schöner Gedanke.

Eine Stille breitete sich in ihr aus, und sie horchte in sich hinein und genoss sie für eine lange Zeit, war sie doch deswegen so früh hier herausgekommen.

Die alte Frau sog die Luft tief in ihre Lungen und wischte verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Der raue Fels unter ihren nackten Füßen war warm trotz der frühen Morgenstunde, und strahlte Natürlichkeit, Erdverbundenheit aus. Sie liebte es, barfuß zu laufen, und das Gestein unter ihren Fußsohlen zu spüren. Oh, die Sonne von Thale jetzt im Hochsommer war mächtig, war sie einmal aufgegangen und erwärmte mit ihren Strahlen die Erde. Die Luft, die Sonne und die Helligkeit machten sie fast schwindelig, oder sie war nur zu schnell aufgestanden. Sie schloss die Augen und hielt sich gut am Geländer fest, wobei ihre Knöchel weiß hervorstachen, bis das schummrige Gefühl in ihrem Kopf nachließ. Sie wusste um die Zerbrechlichkeit ihrer Glieder, um die Trockenheit ihrer Haut und die Falten auf ihren Zügen. Dennoch, sie fühlte sich so gut wie lange nicht, leicht und unbeschwert. Es ging nicht anders, sie liebte Tage wie diese in Thale: voller Bedeutung und Freude und Optimismus über einen Neubeginn. Außerdem war heute der Tag, auf den sie gewartet hatte. Der Tag, an dem ihr geliebter Enkel heiraten und König werden würde.

Sie waren ein gutes Paar, Nimrod und das Mädchen aus Isfahan. Ganz Thale hatte sich stolz für diesen Tag herausgeputzt, seit Wochen liefen die Vorbereitungen. Ihr Sohn Nicholas hatte seinen feinsten samtenen Anzug anprobiert und erinnerte sie sehr an Dionysos, seinen Vater. Das gleiche Lächeln, die gleichen hohen Wangenknochen und der gleiche eher hochgeschossene und feine, dabei doch muskulöse Körperbau. Er konnte wahrhaft Ehrfurcht einflößen, allein mit seiner bloßen Größe, die nicht nur physischer Natur entsprang. Wenn es ihm genehm war und er seinen Charme spielen ließ, musste es um jede Frau geschehen sein. Jede Frau, sogar um ihre eigene Tochter. Ein leichtes Grinsen umspielte ihre Lippen. Der Gedanke, dass sie beieinander gewesen waren in der letzten Nacht … Was für ein Gedanke.

Sie streckte die Hand aus und spürte die zarten Rosenblätter einer vollen, reifen, tiefroten Rose, die sich bereits voll geöffnet hatte und ihr tiefstes Innerstes offenbarte. Die Augen geschlossen erinnerte die samtene Struktur unter ihren Fingern sie an die Haut von Dionysos, seinen Geruch, seine tiefe Stimme, seine Präsenz. Nach all dieser Zeit! Bei der großen Göttin war sie wehmütig. Es war doch ein Tag der Freude. Woher kamen nun diese uralten Erinnerungen? Der Thron von Thale würde weitergegeben an Nimrod und seine Söhne, der Samen gab Nachwuchs, und eine neue Zeit würde anbrechen. Ihre Zeit und die Gesichter aus ihrer Vergangenheit existierten fast alle nur noch in ihren Gedanken. Es war viel zu lange her. Um sie herum war eine neue Welt entstanden. Als wollte sie die Gedanken verscheuchen, strich sie sich über die Schläfe.

Es musste einige Zeit vergangen sein, als etwas sie aufschreckte. Ein leises Trippeln von Kinderfüßen drang in ihr Bewusstsein. Sie öffnete die Augen, und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Ihr Enkelsohn Bhishma sprang ihr freudig erregt die Stufen herab entgegen, die goldenen Haare leuchteten wie ein Lichterkranz.

„Großmama, hier bist du. Willst du denn nicht am großen Empfang teilnehmen? Sie sind schon alle versammelt, und es sind wirklich alle gekommen, Tante Cecilé und die Elben. Und Marla sieht wunderschön aus.“ Er betrachtete sie übermütig. „Sie sagen, du würdest die Zeremonie übernehmen, Großmama.“ Das kleine pausbäckige Gesicht strahlte sie erwartungsvoll an. „Mutter ist auch schon da, sie ist gerade erst gekommen.“

Lal erhob sich langsam, streckte sich und spürte dabei allzu deutlich, dass es schon seinen Grund hatte, dass sie nicht mehr so umhersprang wie ihr Enkel, obwohl ihr manchmal innerlich danach zumute war. Sie schaute in sein erwartungsfrohes Gesicht, nahm seine kleine Hand fest in ihre und folgte ihm durch den Rosengarten, hinauf und zurück zum Schloss. Sie konnte mit dem schnellen, aufgeregten Schritt ihres Enkels nicht mithalten und hielt sich einige Male schnaufend an der niedrigen Mauer fest, bevor sie den steinigen Weg in das Schloss weiter erklomm. Ungeduldig drehte sich Bhishma zu ihr um und trat auf der Stelle, bis sie ihn wieder lächelnd erreicht hatte und seine kleine Hand ergriff. Schon bald traten sie durch den niedrigen Torbogen und waren im Innenhof sofort von lauter Menschen umgeben, die nervös lamentierten oder wild hin und her liefen, irgendwelche letzten Vorbereitungen trafen oder auch einfach nur in Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, in bestem Sonntagsstaat ausharrten.

Der Hof war wie ein Bienenschwarm, selten hatte sie so viele Bedienstete und Pferdeknappen umeinander herlaufen sehen. Der Lärm war fast betäubend, und die Luft schwirrte vor Betriebsamkeit. Irgendjemand riss Bhishma von ihrer Hand, und er verschwand in der Menge. Wieder lächelte sie zu sich selbst und ging langsam und bedächtig durch das Gewirr auf die rohbehauende Mauer zu, die die zwei Seiten des Innenhofes begrenzte und an das Meer darunter reichte. Niemand schenkte ihr mehr Beachtung als ein ehrfurchtvolles Nicken in ihre Richtung im Vorbeilaufen. Dieser Ort auf der Mauer vor dem inneren Tor von Thale zog sie magisch an. Wie oft hatte sie hier gesessen? Müde setzte sie sich in ihrem weißen Kleid auf die von der Sonne erwärmten Steine und drehte sich, sodass die Morgensonne ihr Antlitz wärmte und beleuchtete. Unter ihren Lidern war das Rot warm und beruhigend, und ein Seufzer stahl sich von ihren Lippen. Sie könnte Stunden so verbringen.

Die alte Frau lächelte wieder sinnend vor sich hin, als sie die Augen öffnete und auf die Szenerie zu ihren Füßen schaute. Sie konnte fast die ganze Stadt am Meer von hier überblicken, und die Straßen und Wege zum Schloss waren nun schwarz von Menschen. Sie säumten die Tempelanlagen und standen auf den Stufen bis zum Heiligtum, aufgeregt, in bester Kleidung, mit Fahnen und Rasseln in der Hand. Es lag ein unglaublicher Lärm in der Luft, der zeitweise von den Trompeten der königlichen Garde übertönt wurde, die auf den oberen Stufen des Tempels in schmucker Uniform standen und den Eingang bewachten. Das Schloss ragte hoch daneben auf, auch geschmückt mit bunten Fahnen und allerlei Stoffen in gelb und blau mit dem Wappen von Thale.

Bhishma quälte sich zielstrebig durch die Menge auf sie zu, nahm wieder galant ihre Hand und zog sie ungeduldig mit sich. Dann führte er sie um die einzelne Platane herum, die in der Ecke zwischen Mauer und Schloss Schatten spendete, und erklomm mit ihr die niedrigen Stufen bis zur Eingangshalle des Tempels. Dort verkündete er stolz, sobald er seine Mutter im Gewirr der Menschen entdeckt hatte: „Ich habe sie gefunden, ich habe sie gefunden!“

Lal raffte ihren langen Rock auf und trat mit einem Nicken an der Wache vorbei in das Heiligtum hinein, das nun schon so lange ihre Zuflucht und spirituelle Heimat in Thale war. Selbst dieser riesige ehrwürdige Raum im Halbschatten hallte wider von verhaltenem Gelächter und aufgeregtem Raunen, und sie schritt rasch durch die Reihen zum Altar, während sich ihr viele Köpfe zuwandten. Die Anwesenden waren ausgewählte Prinzen und Prinzessinnen, Würdenträger, Elben, hohe Gäste von auf und ab der Küste bis so weit entfernt wie Arcadia. Jeder Einzelne trug seinen besten Anzug und war mit kostbaren Gewändern und mit Schmuck behangen. Die Priesterinnen standen in ehrfürchtiger Haltung vor ihr am Altar, alle gekleidet mit weißen, frisch gestärkten Gewändern, und begrüßten sie, wie es sich gehörte, indem sie ihre Füße berührten und die Hände zur Stirn führten. Eine sprang vor und half ihr, die Stufe zum Altar zu erklimmen, indem sie sie unter dem Arm stützte. Dankbar ergriff Lal die ausgestreckte Hand.

Es war alles vorbereitet, die Feuerschalen standen an den beiden Seiten mit den Zeremonienfeuern, und eine große, flache Wasserschale stand in der Mitte des Altars. Weiße Lilien und kleine Bäume in tönernen Schalen säumten dies zu beiden Seiten. Uma, eine der Priesterinnen, stand versunken vor der Wasserschale und verbeugte sich dann demutsvoll vor der Älteren, als Lal sich neben sie stellte. Ihre Hohepriesterin erschien einen Schritt hinter ihr mit wahrhaft stolzem Schritt und stellte sich in eine Reihe mit den anderen Frauen am Altar.

Lal strich sich die Strähnen des grauen Haares, die sich durch den schnellen Gang aus ihrer Haarspange gelöst hatten, aus dem Gesicht und wusste, ihre Wangen glühten ob dem, was vor ihr lag, oder verkam es von ihrem nun schnell pumpenden Herz? Beide Hohepriesterinnen, die Alte und die Junge, schlossen die Augen, standen mit hoch erhobenen Armen mit dem Rücken zum Publikum und begannen mit ihrer Zeremonie der Reinigung, die den Raum mit Ruhe und Frieden füllen sollte. Und tatsächlich wurde der Lärm gedämpfter, und die anwesenden Herrscher, Freunde und Verwandten versanken in erwartungsvoller Stille, als plötzlich die hellen Trompeten draußen die Ankunft des Brautpaares und zukünftigen Königspaares aller Bürger von Thale und der umliegenden kleinen Ortschaften des Königreiches ankündigten.

Aller Augen richteten sich auf die große, geschwungene Portaltür, und dort erschien Prinz Nimrod in dunkelblauer Uniform und goldblauer Bauchbinde, umgeben von vier Rittern der Garde. Der großgewachsene, etwas schüchtern dreinschauende Prinz nahm Haltung an und schritt in gemessenem Tempo zum Klang der Trompeten an den Würdenträgern und Gästen vorbei und blieb direkt vor der alten Frau stehen. Er suchte den Blick seiner Großmutter, die ihm aufmunternd zulächelte und fast ihre Hand ausstreckte, um ihm sein kurzes, braunes Haar zu richten.

Hinter ihm, in der ersten Reihe erblickte die alte Frau ihre Familie, ihre Tochter Bethel, Nimrods Mutter, die den weiten Weg aus Arcadia auf sich genommen hatte, und die ihr zunickte. Strahlend saßen Bethels Sohn Bhishma und dessen Großvater, der König von Arcadia bei ihr. Einen Sitz weiter saß Cecilé, ihre Schwester, die Königin von Siebenbergen mit ihrer Familie, ihrem Mann und den beiden Prinzessinnen mit jeweils ihren Ehemännern und kleinen Kindern. Die dritte Prinzessin hatte sich in die Reihe der Priesterinnen von Thale eingefunden und stand in der Reihe neben Lal, die sich dem Publikum zugewendet hatte, als Hohepriesterin von Thale. Marrella, Königin und Hohepriesterin von Isfahan saß mit ihrer Garde irgendwo in den Reihen der Würdenträger.

Die alte Königin wusste, wie nervös der Junge gewesen war, hatte er ihr doch gestern Abend erst sein Herz ausgeschüttet, als sie ihm die Königssalbung gegeben hatte. Doch hatte er es geschafft, diesen Tag so weit hinter sich zu bringen, trotz der Angst, wegen irgendeinem unbewussten Fehler unangenehm aufzufallen. Er hatte die Ehrengarde am Morgen abgenommen und war seiner Braut bisher erfolgreich ausgewichen, wie es das strenge Protokoll verlangte. Sie wusste, wie schwer es für ihn war, die ganzen Vorschriften einzuhalten, nichts zu vergessen, alle zufrieden zu stellen, und sie wusste auch, wie sehr er sich darum bemühte. Schließlich waren es die Protokolle und Regeln einer ihm fremden Kultur. Aufgewachsen war er in Arcadia. Thale war nur die Heimat seiner Großmutter und seiner Mutter Herkunft, mehr nicht. Wochenlang hatte er sie ausgefragt nach dem Sinn und Zweck sämtlicher zeremoniellen Dinge dieser Tage, und nur zu oft hatte sie ihm keine guten, logischen Gründe für eine spezifische Tradition nennen können außer, dass es schon immer so gewesen sei. Jetzt stand er vor ihr, und aus seinen dunklen Augen blitzte wieder seine gewohnt schelmische Fröhlichkeit, in freudiger Erwartung dieses so lange ersehnten Tages, der ihn zum König von Thale salben und zum Ehemann seiner geliebten Marla machen würde.

Die alte Frau hob die Hände, und die Melodie einer Harfe ertönte in der erwartungsvollen Stille und ließ auch den Letzten der Anwesenden sich mit gesenkten Kopf der notwendigen Besinnlichkeit des kommenden Ereignisses bewusst werden und andachtsvoll verstummen. Lal drehte sich um und dankte der großen Herrin mit fester Stimme, die den ganzen Raum erfüllte, für den Frieden des Landes und allen Anwesenden für ihr Kommen an diesem denkwürdigen Tag.

Wieder erklangen die Trompeten vom Tempelportal, und die restlichen Ritter der Garde betraten einer nach dem anderen die Halle, hinter ihnen das bezauberndste Geschöpf, das man sich denken konnte: Prinzessin Marla in einem smaragdgrünen, bodenlangen Kleid, die braunen Haare kunstvoll hochgesteckt, die langsam mit freudigen Augen zum Crescendo der nun lauteren Musik der Harfe auf ihren Liebsten zuschritt, der sie mit ausgestreckten Armen und Tränen in den Augen empfing. Die Garde in ihren schönsten Uniformen, alle in Blau mit gelben Schärpen, verteilte sich hinter und neben ihrem zukünftigen Königspaar. Sie blickten gespannt und freudig, und die Schwerter blitzten an ihren Hüften. Wie auf Kommando sanken sie in einem weiten Halbkreis vor dem Altar auf die Knie und senkten die Häupter.

Als Letzter trat Nicholas ein, ihr Sohn, und der König von Thanatos. Seine Kleidung war schlicht wie immer, nachtschwarz sein Gewand, schwarz sein wehendes Haar, das bereits an den Schläfen grau wurde. Hinter ihm gingen die Zwillingsprinzen und danach seine Garde. Die Zwillinge ähnelten einander wie ein Ei dem anderen, mit dem Unterschied, dass sie bei genauem Hinsehen eigentlich Spiegelbilder voneinander waren. Hatte der eine ein Muttermal auf der einen, befand es sich beim Gegenüber auf der anderen Seite. Auch Nicholas bewegte sich gewandt wie ein Raubtier nach vorne auf den Altar zu, während die Anwesenden die Blicke nicht von ihm nehmen konnten. Er drehte sich mit einem Nicken kurz vor Nimrod zur Seite und blieb hoch aufgerichtet an der Seite des Altars stehen. Seine Augen fanden die seiner Mutter. Die wandte sich um und fuhr gemeinsam mit ihrer Hohepriesterin fort, zunächst mit der feierlichen Krönung und dann der Eheschließung vor den Augen der gesamten Welt.

Die Zeremonie war einfach und erhebend. Zunächst salbte Lal ihren Enkel zum König von Thale und all seiner Ländereien und setzte ihm die traditionelle Krone auf das Haupt. Die Garde von Thale sprach die uralten Worte der Loyalität und Ehre gegenüber ihrem neuen König, und sie hoben ihr Schwert ihm zu Ehren. Sie gelobten, ihn und sein Königreich mit ihrem eigenen Blut zu verteidigen. Die Priesterinnen sangen mit hellen Stimmen ein Lied des Lobpreisens, dann ging es weiter.

Als Lal Nimrod die Korngarbe reichte, um sie seiner Braut auf das Haar zu setzen und sie damit zu seiner Frau zu machen, strahlten beide wie frisch Verliebte. Marla kniete vor ihrem Mann am Altar. Der neue König von Thale beugte sich über sie und küsste ihr auf die Stirn, als ein Sturm der Begeisterung losbrach. Die Braut strahlte unter ihrer Kornkrone, und das scheue Lächeln mit glühenden Wangen, das sie ihrem Bräutigam zuwarf als er ihr hoch half, war wie der Morgentau eines neuen Tages: voller Hoffnung, Sehnsucht und Fruchtbarkeit. Das frischgebackene Königspaar schritt Hand in Hand durch die wogende Begeisterung hinaus auf den Schlosshof in die strahlende Sonne.

Es war ein Tag der Freude, und die Luft sang von Frohsinn, Ausgelassenheit, Hoffnung und Liebe. Das gesamte Volk von Thale war auf den Beinen, und sobald das Paar den Tempel als König und Königin verlassen hatte, tanzte es und sang und aß und lachte und trank mit ihnen. Die Farben vor ihren Augen tanzten ebenso in einer Myriade des Regenbogens, und das Rot der Liebe erfüllte die Menge und das Land, wenn sie ihre Augen schloss, sodass die alte Frau nur weinen konnte.

Als die Schatten länger wurden, stand der rote Mond am Himmel, dessen Ankunft diesen Tag zu einem glückbringenden machte. Dann flammten die Feuer überall auf, und die Luft war erfüllt vom Zirpen der Zikaden und dem starken Geruch der Datteln und Firne. Und noch immer erfüllten Gelächter und Gesang die Ohren.

Die alte Frau setzte sich im Kreis ihrer Lieben auf die Hofterrasse und ließ ihre alten Glieder die Wärme des Feuers aufnehmen. Ihr Sohn war still von der Seite in den Schatten hinter ihr getreten, und wie immer spürte sie seine stille Präsenz, wie sie früher die von Dionysos sogar auf große Distanz gespürt hatte. Er war groß und mit relativ schmalen Gliedern und Schultern und strahlte dennoch eine Stärke aus, die unergründlich war, auch jetzt noch. Sein Blick war für die meisten Menschen schwer zu ertragen, und um ihn herum hatte sich eine kleine Leere gebildet, da seine Präsenz nicht viele auszuhalten wussten. Lal wusste, es war die Stärke seines Amtes und die seiner Macht, die ihrer gleich war. Er war der machtvollste Mann des Erdkreises, und diese Bürde würde er an seine Zwillinge und deren Nachkommen weitergeben, wann immer er das für richtig empfand. Noch jedoch stand er in der vollen Blüte seines Lebens und seiner Kraft, auch wenn die Weisheit des Alters seine Haare schon langsam ergrauen ließ.

Neben ihm, zu Lals Füßen sitzend, streckte ihre Tochter Bethel ihr liebevoll einen Becher mit gesüßtem Wein aus Isfahan entgegen. Die dunkelbraunen Locken trug sie aufgesteckt, zeigte sie ihr ganzes herzförmiges, ebenes Gesicht mit sanften großen Augen. Bethel hatte einige Tage mit ihrer Tante Cecilé in Siebenbergen verbracht, bis sie gemeinsam am Vortag zu den Feierlichkeiten zurückkamen, hierhin nach Thale, wo alles begonnen hatte, wo ihrer aller Wurzeln waren. Bethels beide Söhne waren schon einige Tage zuvor gereist, um alle Vorbereitungen in Thale treffen zu können. Lals Schwester Cecilé saß hinter Bethel, neben ihrem Mann und zwei ihrer Töchter. Zu ihrer rechten Seite spürte die alte Frau den Buben Bhishma. Daneben Nimrod. Ihre beiden Enkel. Nimrod war ein Baum von einem Mann, der noch nicht einmal sein bestes Alter erreicht hatte, noch nicht. Der jungenhafte Charme strahlte aus seinen Gesichtszügen, unterstrichen von den Grübchen in seinen fleischigen Wangen. Stolz hielt er die Hand seiner jungen Frau, die in ihrer neuen Rolle sanft errötete, sobald sie den Blick zu ihrem Ehemann erhob.

Die alte Frau war nicht erstaunt, als sie die Augen öffnete und den fragend tiefgründigen Blick ihrer Tochter auffing.

„Mutter“, erhob sie ihre Stimme über das leichte Geschnatter der wenigen um das Feuer versammelten Bediensteten und Gesandten aus den umliegenden Grafschaften. „Mutter, erzähle uns doch von deinem Leben. Erzähle uns von Dionysos und eurer Geschichte.“

Die bittenden Augen waren starr auf sie gerichtet, als die übrigen Anwesenden sich gegenseitig anstupsten und einer nach dem anderen zu ihr blickte. Nicholas Blick ruhte ebenfalls auf ihr, und ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er Bethels Hand ergriff und sich neben sie setzte.

Nimrod wandte sich ebenfalls an sie: „Oh ja, Großmutter, es sind so viele Fragen über die Geschichte von Thale nie beantwortet worden.“ Er zögerte mit einem scheuen Blick in die Runde. „Über unsere Magie und unsere Flüche. Ich bin ja nicht einmal hier aufgewachsen. Als neuer Herrscher in diesen Landen möchte ich die wahre Geschichte unseres Geschlechtes, unserer Herkunft, erfahren.“

Sein kleiner Bruder Bhishma streckte ihr mit leuchtenden Augen sein kindliches Gesicht erwartungsvoll entgegen, und alle um das Feuer Versammelten verstummten und wandten sich ihr aufmerksam und erwartungsvoll zu. Die alte Frau lächelte mit fast geschlossenen Lidern. Sie war nicht abgeneigt, in die Vergangenheit einzutauchen. Sie hatte sie schließlich den ganzen Tag verfolgt. Das Feuer brannte hoch lodernd vor ihnen und warf seine Schatten in alle Richtungen, aber die Augen der meisten Menschen waren gebannt auf sie gerichtet, wobei sich das Licht der Flammen in ihnen spiegelte. Die Sonne verschwand ganz allmählich hinter dem Horizont und färbte den Himmel dramatisch blutrot.

„Es ist eine lange Geschichte. Die Geschichte des Hauses Thale, seines Verrates und seiner Wiedergeburt“, begann Lal langsam, bedächtig. Ihre Stimme war leise und sanft, ein kleines bisschen brüchig. Doch plötzlich war eine solche Ruhe eingekehrt, dass jeder in ihrem Umkreis jedes ihrer Worte verstand. Sie blickte in die Runde. „Eine Geschichte über die Hässlichkeit der menschlichen Fähigkeiten, Wünsche und Triebe“, fuhr sie fort, lauter und eindringlicher als zuvor. „Ebenso eine über die Liebe, die Magie und wahrhaften Edelmut.“

Nun hatte sich auch das letzte der gespannten Gesichter ihr zugewandt, und sie hörte ein sanftes Scharren, als jeder sich einen bequemen Sitz suchte, um aufmerksam ihren Worten zu lauschen. Das Feuer knisterte still, und weit entfernt hörte sie das sanfte Rauschen der Wellen des nun schwarzen Meeres tief unten in der Dunkelheit, wobei sie sich leicht aufrichtete, eine bequeme Stellung fand und leise zu erzählen begann.