Walter Amon

STYRASSIC ROCK

Erzählung

Für meine Mutter

Once I rose above the noise and confusion

Just to get a glimpse beyond this illusion

I was soaring ever higher

But I flew too high

Kansas

Prolog

Graz – 2017. Der Schuss wärmt. Langsam verwandelt sich der brüllende Tinnitus in einen beruhigenden Singsang. Und die hohlbauchige Matratze, das verdammte Ding, aus dem Federn und Kakerlaken gleichzeitig springen, bereitet mir keine Rückenschmerzen mehr.

'Carmelita, hold me tighter, I believe I’m sinking down, and I’m all strung out on heroin, on the outskirts of town.'

Willy DeVille, du Hero!

Ich denke an das Gefängnis. Fressen, Scheißen und Schlafen auf fünfzehn Quadratmetern. Da ist nur ein Unterschied: Hier draußen zwingt mich keiner, den Boden mit der Zunge aufzuschlecken.

Im alten Schwedenofen knacken die glimmenden Holzscheiter wie brechende Knochen und verenden mit einem letzten Funkensprühen. Die Rosette ist undicht. Ein dicker schwarzer Ring aus Ruß hat sich drum herum gelegt. Deshalb tragen die löchrigen Vorhänge auch das hässliche Grau deutscher Wehrmachtsuniformen und hindern so noch den letzten Sonnenstrahl daran, dem Kabuff ein wenig Licht zu schenken.

Nebenan hat eine Siedlungsnutte Spaß an ihrem Job. Unerbittlich knallt das Bett gegen die nasskalte Wand. Die üblichen zehn Minuten sind längst vorüber. Aber das quiekende Schweinegrunzen des reitenden Typen nimmt kein Ende und dringt immer lauter durch den dünnen Rigips.

Aber das ist okay; ich habe mich in viereinhalb Jahren Knast auch an das Stöhnen meines dauermasturbierenden Zellennachbarn gewöhnt.

Wenn ich so daliege, vermisse ich sogar manchmal die klappernden Schritte der Wärter, wie sie nachts mit ihren beschlagenen Schuhen durch die Gänge flanieren, und die Zeit totschlagen.

Keine Ahnung ob ich nur weggetreten oder schon vollkommen verrückt bin?

Ich muss Pissen. Aus meinem verschrumpelten Schwanz zwängt sich ein dünner, nach Jauche stinkender gelber Strahl, der so kraftlos versiegt, dass mir die letzten Tropfen über die Finger laufen.

Ich hasse, was ich rieche!

Der blinde Spiegel über dem dreckverkrusteten Waschbecken ist nicht blind genug.

Ich hasse, was ich sehe!

Kopf. Schultern. Arme. Kleider. Falten. Haare. Alles hängt schlaff an mir herab. Sogar die Mundwinkel. Sie sehen aus, als würden hundert Kilogramm schwere Sandsäcke sie nach unten ziehen. Und mein krummer Rücken macht mich zu einem hässlichen Skoliose-Monster.

Auf der Resopalplatte des kleinen, wackeligen Tisches der mitten im Raum steht, liegt der kümmerliche Rest dessen, was von meinem Leben noch übrig ist: Spritzen, Nadeln, die Dose für das Heroin, Aluminiumfolien, ein Päckchen Dope, Tabak, Zigarettenpapier, Feuerzeug, Quaaludes, Valium, ein paar Gramm Koks, das zerknitterte, handschriftliche Manuskript, die alte Olympia Traveller de luxe. Und das Taschenbuch mit den vom ewigen Umblättern schwarzen Seitenrändern:

'MUSIC FROM THE BIG PINK'

Im Bett lege ich das Buch wie eine Bibel auf meine Brust. Bilder der Vergangenheit kriechen in mein Hirn und krallen sich fest. Auf Schuss ertrage ich den Schmerz, den sie auslösen. Er ist dann nur ein unangenehmes Pochen – wie Zahnschmerzen.

Mir war es von Natur aus kein Anliegen, jemanden meine Zunge bis zum Anschlag in den Anus zu stecken. Und schon gar nicht einem glatzköpfigen, schwitzenden, am ganzen Körper behaarten Monster. Aber ich verspürte auch keine Lust, ständig die hässliche Pfütze aus meinem eigenem Rotz und Blut vom Boden aufzuschlecken. Also verschenkte ich anfangs eine Menge von dem Dreckszeug, das man im Knast kaufen kann wie Lollipops an einem Schulkiosk. Aber bei Drogen und Alkohol unterscheidet sich die Karlau nicht wesentlich vom Meinl am Graben: Dort kostet auch alles dreimal soviel wie sonst wo. Damit hatte das bald sein monetär bedingtes Ende, und es kam, wie es kommen musste: Ich ging in die Knie, bot meinen Arsch feil und begann erst zu schreien, wenn das Blut die Innenseiten meiner Schenkel kitzelte. Aber das hatte auch sein Gutes und half mir über die Runden:

BÜCHER!

Bücher sind im Knast teurer als alles andere. Sogar teurer als Besteck zum Spritzen. Erst recht, wenn sie literarisch ein oder zwei Regale über Henri Charrières 'Papillon' stehen. Sie schmuggelten sie für mich rein, und wieder raus. Keine Ahnung, hab' nie gefragt, aber ich nehme an, die Kapos haben dreimal abgegriffen: meinen Arsch, mein Geld, und den Buchhändler ihres Vertrauens. Für mich hieß das jedenfalls: Einmal blasen 'Musik des Zufalls' von Paul Auster. Einmal ficken 'Das Hotel New Hampshire' und 'Gottes Werk und Teufels Beitrag' von John Irving. Ein Gangbang die sechs Bände von Karl Ove Knausgård 'Mein Kampf'.

Meinem Arsch alleine gebührt allergrößter Dank!

T.C. Boyle, James Lee Burk. Jason Starr. Brett Eastern Ellis. Donald Ray Pollock. Irvine Welsh. Adam Sternbergh. Richard Laymon. Jack Ketchum und viele andere.

Und JOHN NIVEN!

Ich hatte noch nie etwas von diesem Schotten aus Irvine gehört. Student der Englischen Literatur. Später A&R Manager. Bei London Records hat er angeblich Coldplay mit der Begründung abgelehnt, sie wären Radiohead für Trottel. Sie verkauften Millionen Tonträger, und Niven wandte sich dem Schreiben zu.

'MUSIC FROM THE BIG PINK'

Die Geschichte über Bob Dylan und The Band fühlte sich beim ersten Mal lesen an wie Sex mit einer billigen Nutte – ein kurzer Flash, mehr nicht. Beim zweiten Mal verspürte ich bereits dasselbe erlösende Gefühl wie damals mit dem Mädchen aus der Klasse über mir, die nach einer Flasche Wein und zwei dicken Joints ihr Herz über meinen steifen Schwanz ausschüttete. Aber ab dem dritten Mal, da war es wie Sex mit der Frau, mit der man Kinder bekommen und den Rest seiner Tage verbringen möchte. Ich hätte alles für dieses Buch getan. War aber nicht notwendig. Sogar mein dumpfer Zuchtmeister erlag dem glitzernden Funkeln meiner damals noch strahlend blauen Augen, als ich ihn anbettelte, das Buch behalten zu dürfen.

Dabei mag ich Dylans Musik gar nicht. Damals nicht, und auch jetzt, einen Literaturnobelpreis später, nicht. Da geht es mir wie vielen in den Neunzehnsiebzigern domestizierten Gitarristen. Wir mögen die Interpretationen seiner Songs. Von den Stones, Hendriks, den Animals, Clapton, Mountain, Bad Religion oder Guns 'n' Roses. Aber nicht dieses langweilige Gitarren Strumming, mit dem er das nasale Gesäusel seiner blattdünnen, brüchigen Stimme begleitet. Deshalb zählt für mich auf immer und ewig auch nur die Zeit, in der The Band mit ihm spielte und auf Tour war.

Und dann halte ich plötzlich diese kleine, dreckige Novelle in meinen Fingern. Diese Geschichte über den verkappten Möchtegern-Dealer Greg Keltner im Dunstkreis von The Hawks, später The Band, von Richard Manuel, Robbie Robertson, Rick Danko, Levon Helm und Garth Hudson zu ihrer Zeit mit Dylan in Woodstock. Beim Lesen musste ich dreimal lachen. Das war dreimal öfter als in den ganzen viereinhalb Jahren, die ich hinter Schloss und Riegel saß. Schon dafür hätte der Mann den Booker Price verdient. Und an einer Stelle habe ich sogar geweint. Das war pulitzerpreisverdächtig. Im Knast weint man nicht!

NIE! NIEMALS! UNTER! ABSOLUT! KEINEN! UMSTÄNDEN!

Alleine in dem Buch zu blättern, machte mich frei wie einen Hindu, der nach einem Fußmarsch über tausend Kilometer in Varanasi endlich seine Füße in die Fluten des verseuchten Ganges steckt. Und wenn ich darin las, schwebte ich auf sanften Flügeln aus dieser trostlosen Wüste fort in ein strahlendes Paradies, und Jungfrauen küssten mir mit ihren vollen, weichen Lippen zärtlich den abartigen Schimmel von meiner verkrusteten Seele.

Ganz nebenbei, und ohne mir viel dabei zu denken, fragte ich ein paar Wochen später den schwulen Wärter, an den sie mich regelmäßig verschenkten, nach Bleistift und Papier.

Danach saß ich tagelang wie paralysiert davor und schaffte es nicht, Styrassic Rock von Walter A. Kaspar, hinzukritzeln. Diese verfluchten paar Buchstaben kosteten mich mehr Mut, als free solo den El Capitan zu erklimmen. Immer, wenn ich dazu ansetzte, schoss das Blut als kalter Strom durch meine Venen und dröhnte in meinen Ohren wie die Niagara Fälle. Wenn ich dann den Löffel zur Hand nahm, das braune Pulver auf der Folie erhitzte, meinen Ärmel hochkrempelte und mir einen Schuss setzte, zitterte ich wie ein zum Tode Verurteilter auf dem elektrischen Stuhl. Seither hat sich nichts zum Besseren verändert.

Auch jetzt starre ich wieder ohnmächtig auf das leere Blatt Papier. Es steckt schon tagelang in der Olympia.

'Paul Auster tippt seine Manuskripte auch in eine Schreibmaschine.'

Bei dem Gedanken muss ich lächeln und quäle mich aus dem Bett.

Zaghaft klopfe ich auf das 'W'. Der metallene Bügel der klapprigen Maschine klatscht mit einem dumpfen Womb auf das blütenweiße Blatt Papier. Ich fixiere den schwarzen Buchstaben und überlege, wie oft ich auf diese Tasten hämmern muss, bis das verstaubte Manuskript abgetippt ist? Die Vorstellung raubt mir den letzten Funken Hoffnung, es jemals zu Ende zu bringen.

Ich lege mir eine dicke Line. Das hilft. Sie reißt ein Loch in mein verbarrikadiertes Hirn. Ich springe auf und ziehe die schmutzigen Vorhänge zur Seite. Der Himmel ist düster und grau. Egal. Es ist trotzdem ein wenig heller im Zimmer.

Womb.

'A'

Womb.

'L'

Womb. Womb. Womb. Womb. Womb. Womb. Womb. Womb. Womb.

Jeder weitere Anschlag bringt mich der lebendigen Erinnerung näher, in der sich mein Leben nicht in einer abgefuckten Plattenbausiedlung abspielte, und eine Stimme brüllt:

»Tipp dieses verdammte Skript; Kaspar! Tipp es, du Loser!«

Erstes Kapitel

I'm a rolling thunder, a pouring rain

I'm coming on like a hurricane

My lightning's flashing across the sky

You're only young but you're gonna die

AC/DC

Graz – 2006. Es war ein unerträglicher Spätsommertag. Bereits am Vormittag glühte die Stadt wie ein Hochofen in Donawitz.

Ich war gegen elf von zu Hause los. Die Spakos in der Agentur hatten tatsächlich mittags ein Meeting angesetzt. High noon – das hatte schon Gary Cooper in ärgste Kalamitäten gebracht!

Gedankenverloren blickte ich am stahlblauen Himmel einem Flugzeug hinterher. »Einfach abhauen«, schoss es mir durch den Kopf.

Aber dann dachte ich daran, wie unterirdisch in letzter Zeit meine Performance als Head of Event war und verwarf diesen Fluchtgedanken rasch wieder.

Wann, wo, wie und warum die Sauferei tags davor eskaliert war wie eine Schlägerei zwischen Hells Angels und Bandidos, bekam ich beim besten Willen nicht mehr auf die Reihe. Klar war nur eines: Der Restalkohol hatte die Schnauze von mir voll und trat in Form Tausender Schweißperlen die Flucht aus meinem geschundenen Körper an. Wie eine zweite Haut klebte das klatschnasse T-Shirt an mir. Darunter standen die Brustwarzen ab wie zwei Miniatur-Tipis. Und der penetrante Geruch der mich umgab ließ den Schluss zu, ich hätte in Ermangelung anderer Optionen versucht, in einer Dose Sardinen mit den eingelegten Fischen zu kopulieren. Das muss auch der Grund dafür gewesen sein, warum mich die Leute umschifften, als hätte ich die Krätze im Gesicht.

***

Meinen Lebensmittelpunkt von London nach Graz zu verlegen glich einer Ernährungsumstellung von dry aged Beef auf Tofu – da fehlt einfach was!

Aber immerhin. Die Zeit bei McErwin & Bell hatte meinen Lebenslauf dermaßen aufpoliert, dass mich eine ganze Meute geschniegelter und gestriegelter Headhunter jagte wie den Anführer eines gefährlichen Wolfsrudels.

Natürlich. Es war eine Option meinen Schnabel in den abgestandenen Wiener Wassertrog zu stecken und nach dem Motto 'Augen zu und durch' die abgestandene Brühe zu schlürfen, die wie Kylie Minogue nach einem Duschbad riecht, aber wie ein konservierter AC/DC-Fan nach einem Donington-Konzert schmeckt. Werbeluschen wie ich tun so etwas für ein paar zugekokste One-Night-Stands und einen Dachboden im siebten Wiener Gemeinde Bezirk mit Blick auf den Siebensternpark – und zwar ohne mit der Wimper zu zucken!

Aber in meinem Fall sprachen schwerwiegende Gründe gegen eine solche Entscheidung. Einer hieß Emma. Emmi (ihr ganzes Leben lang hatte sie nie auch nur eine Menschenseele Emma gerufen) hatte mich vor sechsundvierzig Jahren zur Welt gebracht und war zeitlebens so stolz auf ihren Sohn, dass es mir manchmal selbst zu viel war. Niemals würde ich behaupten, meine Mutter hätte erwartet, von dem übervollen Füllhorn an Liebe, mit dem sie mich beschenkt hat, etwas zurück zu bekommen.

Ich möchte aus einer holistischen Sicht der Dinge aber auch nicht ausschließen, dass sie intuitiv ahnte, was sich in den Genen eines Menschen abspielt, der bedingungslos geliebt wird. Riss mich also wieder einmal das Telefon aus dem Tiefschlaf, hätte ich am liebsten gleich wieder aufgelegt, oder besser gesagt, erst gar nicht abgehoben.

Aber die genetischen Marker in meinem Rückenmark brüllten wie dieser Drill-Sergeant in Full Metal Jacket: »Ich bin Gunnery Sargent Hartmann und zuständig für deine Mutter! Von nun an wirst du nur reden wenn du angesprochen bist, und das erste und letzte Wort aus deinem dreckigen Maul wird Sir sein, hast du Made das verstanden!«

»Sir, jawoll, Sir!«

»Dann raus aus den Federn und rein in die Klamotten! Oder willst du deine Mutter auf dem Schlachtfeld des Lebens liegen lassen wie das letzte Stück Scheiße?«

»Sir, jawoll, Sir!«

»Was?«

»Sir, nein, Sir!«

Da ich nicht enden wollte wie dieser arme Kerl in Kubriks Film, der am Ende aus purer Verzweiflung sein Hirn mit einer Knarre an der Wand verteilt, machte ich mich regelmäßig daran, Emmi auf der Polizeistation in der Nähe ihrer Wohnung aufzugabeln.

Dort nervte sie die Beamten mit der immer gleichen Geschichte: »Officer … (Ehrenwort! Sie sagte Officer! Zu den Bullen! Zu ihrer Entschuldigung kann ich anführen, dass sie amerikanische Krimiserien über alles liebte: Miami Vice. Die Straßen von San Francisco. Kojak. Sie hatte alle Folgen davon auf DVD, oh Mann!) … ich bin auf der Suche nach der Parkbank, auf der mir Richard seinen ersten Heiratsantrag gemacht hat. Den ich selbstverständlich abgelehnt habe. Schließlich bin ich gut erzogen! Aber wollen sie die Wahrheit wissen, Officer? Damals, auf dieser Bank, da war ich der glücklichste Mensch der ganzen Welt. Aber jetzt, jetzt ist alles so anders. Richard ist tot, die Stadt nicht wiederzuerkennen. Ich kann sie einfach nicht mehr finden, diese Bank. Wären sie wohl so freundlich und möchten mir bei der Suche helfen?«

Ich habe nachgerechnet.

2006 hätte die Schlacht meiner Eltern um Ehedünkirchen bereits sechsundfünfzig Jahre getobt. Ich war noch nicht am Leben. Aber aus verlässlicher Quelle – meiner Schwester Doro – wusste ich, unsere Eltern haben geheiratet, weil Emmi zu ihr schwanger war. Und ob die beiden jemals glücklich miteinander waren? Nun ja, vielleicht bin ich ob des Erlebten in dieser Sache ein wenig voreingenommen. Aber Vater war zu diesem Zeitpunkt tatsächlich bereits fünf Jahre tot. Also Schwamm drüber!

Ein anderer war das hochheilige Versprechen, das ich mir in London gegeben hatte: »Begib dich unter keinen auch noch so dramatischen Umständen in den filialen Wurmfortsatz einer internationalen Agentur!«

War eine Option. Büro Wien. Mariahilfer Straße. Geschäftsführung. Bah! Nicht ums Verrecken! Von da hat jeder kreative Furz seinen Weg in das Headquarter anzutreten, von wo dich fünf Minuten später der Assi des Account Managers anruft und ausrichtet, dass dem deine Duftnote nicht konveniert.

Auf Selbstdarsteller dieser Art reagierte ich in letzter Zeit immer unkontrollierbarer. Um das halbwegs in den Griff zu bekommen, führte mich die Suche nach Beruhigungsmittel immer öfter zu Personen, die keinen Kassenvertrag hatten. Aber das verdrängte ich ebenso geflissentlich, wie die ersten Anzeichen von Emmis Demenz.

Dass die Kugel letztlich auf die trostlose Agenturwüste in Graz fiel, lag aber ganz entschieden an einem anderen Grund.

Ein internationaler Handelskonzern hatte die gesamte Wiener Agenturmischpoke auf ein Hadmar Bio Bier in das Sofa Jazzcafé geschickt und den Etat für eine österreichweite Street-Promotion der Grazer Agentur 'Radio Active' anvertraut. Damit hatten die Provinzler erstmals richtig fettes Budget an der Angel und mussten sich gegenüber der beleidigten Meute aus Wien ordentlich beweisen.

Exakt an diesem Punkt im Spiel wechselte ich mich ein und zirkelte den Ball wie Lionel Messi über die Mauer: Vier Jahre in einer internationalen Agentur. Davor fünf Jahre Privatradio in Österreich. Der Ball rasierte dem Verteidiger einen makellosen Mittelscheitel und senkte sich exakt ins Kreuzeck.

Aber schon bald merkte ich, wie heillos überfordert wir mit dem kapriziösen Kunden und seinen gierigen Großsponsoren waren.

Ich putzte mich als David Copperfield heraus, aber das half nur sehr bedingt. Denn schon bald durchschauten alle Beteiligten die Maskerade und entlarvten uns als marktschreierische Taschenspieler, denen bei den billigsten Tricks die Karten aus der Hand fielen. Und spätestens ab dem Zeitpunkt, als mich die Agenturchefin aufforderte, die Blow-Ups des Kunden in Ermangelung an genügend Personal bitteschön selbst aufzustellen, wurde ich zu einem Abziehbild jener milchgesichtigen Agenturlollis, vor denen ich in Wahrheit auf der Flucht war, wie Harrison Ford vor Tommy Lee Jones im gleichnamigen Film.

***

'Lizzy's Irish Pub – Toast Hawaii & kleines Bier Euro 6,20'. Das stand da! Ehrlich! Ich meine, so einen Bullshit schmierst du dir doch nur auf die Fensterscheibe deines Lokals, wenn ein russischer Mafiosi mit einer Flasche Wodka in der Hand eine Knarre an deine Schläfe drückt und 'nastrovje' nuschelt! Nicht genug, dass der Laden so wenig mit Irland zu tun hatte, wie Rosamunde Pilcher mit James Joyce, dudelte auch noch 'Can’t fight this feeling' von REO Speedwagon aus den Lautsprechern.

'HEY LIZZY, DU HAST EIN IRISH-PUB, VERDAMMT NOCH MAL!

Van Morrison. Rory Gallagher. Gary Moore. U2. Stiff Little Fingers. My Bloody Valentine. The Answer. Alles, aber bitte nicht diese abgekochte amerikanische Poplatsche! Von Toast Hawaii mal ganz zu schweigen!'

Und dafür musste auch noch der Meki sterben! Ich versuchte gerade krampfhaft, mich an das grün-schwarze Logo dieses Plattenladens zu erinnern, dem ich meine fulminante Plattensammlung zu verdanken hatte, da stolperte ich über die ausgestreckten Beine eines Gastes, der im Schatten der schmalen Gasse seinen Kaffee schlürfte. Ich wollte schon drauflosfluchen, da realisierte ich, um wen es sich dabei handelte.

Das Erste, was mir an Robert W. Lichter auffiel, war sein top trainierter, braungebrannter Oberkörper. Der steckte in einem weißen, an den Schultern ausgefransten T-Shirt, auf dem das Motiv der Eagles-LP 'Long road out of Eden' prangte. Das war ötzimäßig! Die Eagles hätten es lassen sollen, als sie 1980 zum ersten Mal das Handtuch warfen. Danach war doch alles nur noch eine Kopie ihrer selbst und vom schnöden Mammon getrieben. Aber Robby war schon immer der kommerziellste in der Band. Und zugegeben. Es brachte seine modellierten Muckis und den flachen Waschbrettbauch voll genial zur Geltung. Mit seinen kurz geschorenen Haaren, den silbergrauen Schläfen und einer Ray Ban auf der Nase sah er aus wie ein Rockstar mit Drogenproblemen, der nach einem sechswöchigen Aufenthalt in Kalksburg von seinem Management wieder von der Leine gelassen wurde – echt cool!

»Hey Robby, Mann, bist du das? Siehst voll Scheiße aus! Muss ich mir Sorgen um dich machen?«, krächzte ich ihm mit einem Grinsen ins Gesicht.

»Kaaaspaaar«, zog er meinen Namen gekünstelt in die Länge und erhob sich dabei umständlich aus dem Sessel: »Du muffelst nach all den Jahren immer noch nach dem vollgekotzten Proberaum von damals.«

»Klar. Passt bestens zum vermoderten Bukett deines grindigen Musikgeschmacks.«

Dabei tippte ich auf die vom oftmaligen Waschen langsam verblassenden Buchstaben des T-Shirts. Die anschließende Umarmung fiel so sperrig aus wie von zwei Holzlatten die versuchen Dancing Stars zu werden.

»Sieht aus, als wäre dein Vormittag nur mit einem Reparatur-Seidel zu retten«, sagte Robby. »Ich bezweifle, dass eines reicht.« Ich kramte in der Hosentasche nach den Pfefferminz-Bonbons. Dann pflanzte ich mich in den Sessel und bestellte ein Guinness.

Nach dem was zwischen uns vorgefallen war, schauten wir anfangs so verzweifelt aus der Wäsche wie zwei Nacktschnecken in einem Garten ohne Grünzeug und wussten nicht was reden.

Robby und ich hatten in den Achtzigern die Rock Band Black Hawk Down. Er sang. Ich spielte Gitarre. Wir waren ziemlich beste Freunde. Aber alles zerbrach, als ich ihn wegen eines anderen Sängers aus der Band warf. Jim, so hieß der Typ, stellte sich aber schon bald als die Reinkarnation des Racheengels Azrael heraus, der mich dafür büßen ließ, was ich Robby angetan hatte.

Er war Schotte mit ein paar eigenen Songs im Gepäck und ein gnadenloser Egoist. Ich nudelte gerade mal eines meiner Soli zu Ende, da hießen wir schon Fallen Angels und waren zu einer Top-Forty-Coverband mutiert, die 'Wonderful Tonight' als Zugabe spielte. Ich schlug vor, Claptons Nudelwalker-Solo durch etwas Phil Campbell-Mäßigeres zu ersetzen. Das war zugegeben nicht die allerbeste musikalische Idee die mir jemals in den Sinn gekommen war. Daraufhin musste ich mir anhören, den Vorschlag nur unterbreitet zu haben, weil ich mit Claptons Gitarrentechnik nicht klar kam. Es folgte eine kurze, aber heftige Debatte, dass er mit seiner Vermutung hundertprozentig richtig lag, aber nicht einmal ein Geistesgestörter mit dem IQ eines Kantholzes bei einer Hardrock Band eine Nummer mit einer in den Schmalztiegel gefallenen Hookline als Zugabe erwartet.

Wenig überraschend fand ich mich kurze Zeit später mit meinem gesamten Krempel auf der Straße wieder. Als Nachfolger engagierte er einen klassisch ausgebildeten Gitarristen der 'Doctor Doctor' spielte, als hätte Michael Schenker einen fahren lassen. Es hörte sich an wie das verdammte Nockalm Quintett auf Speed.

Das Guinness tat gut. Meine Lebensgeister erwachten aus dem Koma, und ich freute mich ehrlich, den alten Knaben nach so vielen Jahren wieder getroffen zu haben.

»Schreibst du dir immer noch den Arsch ab?«, fragte ich, um das Gespräch in Schwung zu bringen.

Robby war ein Schreibtalent. Er haute geile Songtexte genauso raus wie Schmuddeltexte für Pornofilme. Die hatte er neben seinem Job als Elektriker für einen drittklassigen Verlag unter dem Pseudonym R.W. Lighter aufs Papier gekritzelt, um Miete zu zahlen und hungrige Mäuler zu stopfen – er war verheiratet und hatte zwei Kinder. Ich musste kichern.

»Ich weiß genau, warum du so dämlich grinst«, sagte er.

»Is' das geil! Oh ja, mach' weiter! Steck ihn mir rein. Tief. Tiefer. Ganz tief«, gab ich zurück.

»Verdamp lang her, verdamp lang«, sagte er und zitierte damit den Klassiker von BAP, den wir in einer Art Punkrock-Version im Programm hatten. »Was geht ab?«

»Ach«, sagte ich, und unterstützte die beiläufig hingeworfene Antwort mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Wie immer. Dumme Sprüche klopfen. Inzwischen in der Werbung.«

»Geiz ist geil?«

»Nicht so dumm, aber so ähnlich. Bei dir?«

»Ich betreibe ein Studio«, antwortete er.

»Noch eins?« Die Kellnerin wischte mit ihrem Lappen über den Tisch. Ich nickte.

»Schreib-, Fitness-, Design-, Küche?«, fragte ich abgelenkt von Lizzy, die sich der Macht ihrer knackigen Möpse mehr als bewusst war.

»Ton.«

»Ton?«

»Ton.«

»Kein Scheiß?«

»Kein Scheiß.«

Meine Augenbrauen schossen in die Höhe wie ein Space Shuttle das von Cap Canaveral abhebt. Ich stieß ein »Oho« hervor und versuchte so zu tun, als wäre es Lizzys sensationellem Busen geschuldet. »Na ja, vielleicht ergibt sich da mal was«, sagte ich beiläufig, konnte aber die Überraschung nicht aus meiner Stimme färben. »Wir buchen immer wieder Studios für die Vertonung von Radio- und Fernsehspots. Wie viele SprecherInnen stehen auf deiner Payroll?«

»Äh, Payroll? Nein! Ich produziere Bands. Auf meinem eigenen Label. Komm doch vorbei. Eine passable Axt wird sich finden.« Damit schob er mir seine Visitenkarte über den Tisch.

»Den Teufel werde ich tun! Ewigkeiten nicht mehr gespielt.«

Mogelpackungen auflegen war schon immer eine Stärke von mir. Ich hatte seit geraumer Zeit Zeug zu Hause, woran in den finanziell ausgetrockneten Sümpfen unserer Jugend nicht zu denken war: eine Gibson Artisan, einen Mesa Boogie und ein paar Bodentreter vom Feinsten. Damit haute ich dezibelmäßig immer dann auf die Pauke, wenn Rosie es erlaubte. Also immer, wenn sie nicht zu Hause war.

»Ach komm' schon, »Mississippi Queen«, Standard, erste, vierte, fünfte Stufe. Den alten Leslie bringst du sicher immer noch.« Und dann grölte er los, als wollte er Rick Rubin einen überzeugenden Grund liefern, mit ihm einen Produktionsvertrag zu machen: »Mississippi Queen, if you know what i mean, Mississippi Queen, she taught me everything. Way down around Vicksburg, around Louisiana way, lives a Cajun lady, aboard the Mississippi Queen«.

Es war ein schattiges Plätzchen in der engen Gasse, und bei der Affenhitze waren alle Tische besetzt. Die Leute glotzten, als hätten wir uns unerlaubt aus der Sigmund Freud Klinik entfernt.

»Schon gut, Mann, schon gut. Ich hab's kapiert! Bist immer noch der geilste Shouter seit Bon Scott den Löffel abgegeben hat.«

Tausend Gedanken schossen kreuz und quer durch meinen Kopfsalat. Gymnasium geschmissen. Drückender Geldmangel. Nörgelnde Eltern. Der Mief der Kleinstadt. Schwer zu sagen, was uns mehr auf den Arsch ging. Dafür war Rock 'n' Roll King, und wir krallten uns was zu kriegen war. Leider war das nicht viel.

Graz beherbergte damals außer abgebrannten Studenten nur noch einen Haufen gelbgesichtiger Pensionisten. Das hatte sich bis zu den Booking-Agenturen herum gesprochen, weshalb die angesagten Bands mit Lichtgeschwindigkeit an Graz vorüberflogen und erst in der Wiener Stadthalle zur Landung ansetzten.

Nur einer kam angesailingt: Rod Steward!

Die Faces waren 1975 auseinandergebrochen, und ich kann beim besten Willen nicht behaupten er wäre Solo der Act gewesen auf den wir so richtig scharf waren. Um ehrlich zu sein: Ganz im Gegenteil! Die Suppe, die er anbot, schmeckte ein wenig schal und abgestanden. Aber was blieb unter diesen Umständen?

Also standen wir an einem bitterkalten Dezemberabend mit einem Haufen roddygeiler Möchtegerngroupies bibbernd vor der Liebenauer Eishalle und warteten auf die Plörre. Aber das Konzert wurde wegen einer Erkältung des Stars abgesagt. Warum haben die nicht mich gefragt? Die Munition in meinen Hosentaschen hätte seinen pimpigen Schnupfen zur Hölle und wieder zurück gejagt!

Also wieder nix. Natürlich auch nicht bei den schrittnassen Bräuten. Wir hatten den falschen Friseur, keine Kohle und waren erfolglose Penner. Und was stand auf dieser Kiste? Richtig: VERPISST EUCH!

Aber nicht mit uns! Kaspar und Lichter an Graz und die Welt: »Wir kommen!«

Und so wurde Rod Steward mit seinem Schnupfen wahrscheinlich das einzige Mal in seinem Leben zur Hebamme – Black Hawk Down war geboren!

Das bedrohliche Knurren des Handys unterbrach meine sentimentalen Gedanken. Aber ich fürchtete mich nicht vor bissigen Hunden, also hob ich nicht ab. Ich schnappte mir die Visitenkarte und blickte auf die Uhr.

»Tut leid, Robby, ich muss. Dämliche Sprüche klopfen. Aber versprochen: Wenn ich 'Mississippi Queen' wieder drauf hab', steh' ich auf der Matte.«

***

Im Halbstock der Agentur wartete ich zappelnd auf den Lift der mich ins Dachgeschoss brachte - die beiden Biere forderten ihren Tribut.

»Helen hat mich angemotzt wo zum Teufel du steckst«, bellte mir unser Boxenluder Patrizia entgegen und erhob sich ostentativ aus ihrem Prinzessinnenstuhl hinter dem Empfangspult (seltsamerweise habe ich nie die dazugehörige Erbse entdeckt). Dazu klimperte sie genervt mit ihren starr abstehenden Wimpern, die so lange waren wie die Landebahn für Kleinflugzeuge. »Und ich frage mich, warum du als einziger in der Agentur nicht fähig bist mich zurückzurufen, wenn ich superdringend versuche dich zu erreichen?«, hängte sie beleidigt hinten dran und zupfte enerviert ihr Nichts von einem Sommerkleidchen an die richtige Stelle. Sie sah aus wie ein Victoria Secrets Modell, das sich für einen Porno bewirbt. Für so ein Teil hatte ich neulich zweihundertfünfzig Euro ausgegeben. Es war an Rosis letztem Geburtstag. Ich kauft ihr ein Negligee.

»Du hast eine ganze Menge hervorstechender Qualitäten, meine allerliebste Patrizia«, sagte ich und starrte auf ihren Busen. »Aber am meisten erregt mich deine grenzenlose Situationsflexibilität.«

Leinen los, und schon stieg der Ballon!

Dann ging alles sehr schnell. Sturm auf die Toilette. Pinkeln. Im Büro das mufflige Shirt gegen eines der für solche Notfälle vorrätigen frischen Polos getauscht. Eine kurze Line. Ein Pfefferminz-Bonbon. Vor dem Konferenzraum drei Sekunden konzentrieren. Durchatmen. Und auf die Tür.

»Hi«, zeigte ich mein strahlendstes Strahler 70-Lächeln. »Was habt ihr Leute bloß für Stress? Hier bin ich doch schon, zum Teufel noch mal!«