Andreas Altmann

Einmal rundherum

Geschichten einer Weltreise

 

Für Silvana, das Mädchen aus dem Märchen

Für Stefan, den unverwandt Treuen

 

Birger Sellin

«Den Festlandmenschen Botschaften senden.»

 

Bruce Chatwin

«Meine Nationalität ist die eine Sache, aber mein Arsch ist international.»

 

Roland Topor

«Mir ist die Welt lieber als eine Beschreibung von ihr.»

 

Eins

Drei Ecken von meiner Pariser Wohnung entfernt haust ein Clochard. Wir kennen uns seit Jahren und er begriff rasch, dass ich ein schlechter Mensch bin. Denn jedes Mal, wenn er die Hand ausstreckt, muss er mir eine Geschichte erzählen. Erst dann bin ich bereit, mich von ein paar Francs zu trennen. Das folgende Märchen ist das Beste, was Thierry bisher produziert hat. Ausnahmsweise gab es dafür einen Schein:

Zwei Brüder begeben sich auf eine Weltreise. Eines Tages reist einer von ihnen ein Stück voraus und erreicht eine Stadt. Er fragt den Mann am Tor: «Wie sind die Leute hier?» Und der Alte fragt zurück: «Wie waren sie denn in der Stadt, aus der du kommst?» – «Nun, sie waren freundlich, redlich und hilfsbereit.» Da sagt der Alte: «Gut, so wirst du auch hier Freundliche, Redliche und Hilfsbereite finden.» Tage später kommt der andere Bruder, auch er fragt den Wächter: «Wie sind sie hier, die Menschen?» Der Alte stellt die gleiche Frage: «Wie waren sie in der Stadt, aus der du kommst?» Und der Bruder: «Sie waren bösartig, hinterlistig und faul.» – «Nun, so wirst du Frauen und Männer antreffen, die bösartig, hinterlistig und faul sind.»

Wir sitzen im Schnellzug, Richtung Süden. Neben mir Uli Reinhardt, der Fotograf, er übernimmt die Rolle des ersten Bruders, er trifft seit langem die Freundlichen und Geduldigen. Er kann das, er ist selber freundlich und geduldig. Ich bin der andere Bruder. Ich schaue zum Fenster hinaus und bilde mir ein, meine rechte Schuhsohle zu riechen. Dreißig Meter vor Erreichen des Bahnhofs trat ich in eine «déjection canine», so der offizielle Name für die Haufen «hündischer Absonderung», von denen täglich sechzehn Tonnen auf die französische Hauptstadt niedergehen. Als ich anschließend – mit Rucksack bepackt und auf einem Bein balancierend – die Sohle reinigte, wurde mir wieder klar, dass die Erde umrunden ein Traum ist und hundsgemeinen Stress verspricht. Von Anfang an.

So mancher Reisende kennt das Gefühl: wie begehrenswert seine Stadt plötzlich aussieht, wenn er sie verlässt. Dankbarkeit und Anhänglichkeit brechen aus. Ich sehe einen jungen Kerl – keine zehn Meter vom Zugfenster entfernt – seiner Freundin durchs Haar streichen. Und will mir einbilden, die zwei und die lausige Caféterrasse, auf der sie so nahe nebeneinander sitzen, gehören zum Bestaussehenden, was die Welt augenblicklich zu bieten hat. «Es gibt nur ein auserwähltes Volk», hat der englische Schriftsteller Graham Greene einmal behauptet, «ebenjenes, das in Paris lebt.»

Nach viereinhalb Stunden Ankunft in Marseille, zweitgrößte Stadt des Landes, größter Hafen. Seit Jahrhunderten schwemmen hier alle diejenigen an, die auch zu den Auserwählten gehören wollen. Und seit Jahrhunderten fegt der trockene, kalte Mistral durch die Straßen.

Auf dem Bahnhofsvorplatz rammeln zwei Hunde unter einem mittelmeerblauen Himmel, ein Hautkranker zerrt an meinem Ärmel und will Geld für seine kranke Haut, ein Mann fotografiert eine Frau, sie sagt: «Qu’estce qu’elle est belle, la France», mein Gott, wie schön ist Frankreich. Zwei Häuserwände weiter hängt ein feuerrotes Plakat: «Sicher waren Sie mal Anarchist in Ihrer Jugend? Nehmen Sie eine Spritze, um sich daran zu erinnern!»

Wer in Marseille bestehen, wer hier ein anderes Leben anfangen will, der muss jung sein, um auszuhalten, was ihm zugemutet wird. Seit langem hat man sich vor Ort darauf geeinigt, dass immer die Neuen als Sündenböcke herhalten müssen. Taugten dazu einst die Italiener, so haben seit zwei Generationen die Nordafrikaner aus den ehemaligen Kolonien die Rolle übernommen. «Interdit aux Arabes», verboten für Araber, hat jemand in eine Bank geritzt.

Rückblende, zehn Jahre: Ich war schon einmal in Marseille, recherchierte für eine Reportage über Jean-Marie Le Pen, den Parteivorsitzenden des ultrarechten Front National. An einem Montagmorgen war ich mit Abdelkadar verabredet. Er arbeitete als Arzt in einem Krankenhaus der Stadt. Wir hatten uns in Algerien, seiner Heimat, kennen gelernt. Ohne zu zögern, war er auf meinen Vorschlag eingegangen, uns beim Rekrutierungsbüro der Fremdenlegion vorzustellen. Hier in Marseille. Nicht als Arzt und als Reporter, nein, als arbeitslose Haudegen, die einen Job suchten. Ich verstand das Unternehmen als Test, ob ich doch noch einen Ort fände, an dem alle gleich behandelt würden. Diese Söldnerbande, hieß es, nähme jeden. Ohne Rücksicht auf die Visage.

Wir gingen hinunter zum Fort St.-Nicolas am Alten Hafen. «La Légion Etrangère» stand da und «Recrutement – jour et nuit». Wir stellten uns als zwei Versager im bürgerlichen Leben vor. Nun hätten wir Lust auf Abenteuer, auf ein Männerdasein, auf Kameradschaft. Dem Dienst habenden Offizier gefiel das, fest blickte er mich an: «Sie gehören der weißen Rasse an, dafür haben wir grundsätzlich Verwendung.» Mit Abdelkadar gab es Schwierigkeiten. Siebzig Prozent der freien Stellen waren für Weiße reserviert.

Während der Offizier mit der «Kommandantur» telefonierte, um nachzufragen, ob noch an einem Araber Bedarf bestünde, lächelten Abdelkadar und ich uns an. Er hatte die Wette verloren, er schuldete mir ein Mittagessen. Dieser unbelehrbare Optimist war tatsächlich überzeugt gewesen, hier ohne Gesichtskontrolle durchzukommen.

Rückblende, siebzig Jahre: Dass es kein Fremder hier leicht hatte, zeigt die Geschichte des kleinen Ivo Livi, der sein erstes Geld als Elfjähriger in einer Seifenfabrik verdiente. Und irgendwann zu singen begann und irgendwann seine Mutter vom Balkon runter «Ivo monta», Ivo, komm rauf, schreien hörte. Der Halbwüchsige hatte seinen Namen gefunden und wurde nicht viel später als Yves Montand berühmt.

Wir haben Glück, keiner stellt sich uns in den Weg, keiner zieht uns zur Rechenschaft. Als wüssten die Marseiller, dass Reisende eine Schonfrist verdienen, sprich, es immerhin einen Tag dauern darf, bis sie den Gang des Fremden verlernt haben und begreifen, wie umgehen mit der Fremde. Sogar der Mistral legt sich, die Aprilsonne blüht, in der Rue Thubaneau lächeln die Huren. Manche mit wurzelschwarzen Zähnen. Ich lächle zurück. Ich würde gern wissen, wie die Sehnsucht nach Sex und ein faules Gebiss zueinander kommen.

In der Bar du Soleil treffe ich Sohar. Er will nichts hören von leichtsinnigen Damen, er fastet gerade, trinkt in der verrauchten Kneipe einen Minztee. Der Marokkaner stammt aus Fes und erzählt mir von seiner Frau, die er von Herzen mag. Allerdings gäbe es vier Arten von Liebe. Die himmlischste wäre jene zu Allah, dann käme die zu Mohammed, dem Propheten. Auf dem dritten Platz folgten die Eltern und als Schlusslicht die Gattin. Allah hätte es so bestimmt, und das Weib wäre damit ganz einverstanden. Sohars Frau kann von Glück reden, bald werde ich einen verheirateten Herrn kennen lernen, der scheint inniger verliebt in kalt glänzende Eisenteile als in alles andere.

Unten am Fischmarkt lungert eine Gruppe Deutscher, zehn Männer, eine junge Frau, ein Hund. Alle augenblicklich friedlich, sie betteln. Die nasenberingte Ellen meint, das Tier wäre am wichtigsten, der Rottweiler errege Mitleid, wegen ihm fielen immer ein paar Francs ab. Der zwölfte Mann ist ein Franzose, Gilbert, er ist einunddreißig und sieht aus wie einundsechzig. Bei einem Banküberfall geriet er ins Kreuzfeuer, ein Querschläger landete in seinem Hintern, seitdem klappern die Beine beim Gehen. Er sagt den unglaublichen Satz: «Ich hab das Leben noch vor mir.»

Ich verschwinde in ein Café, habe ich mir doch geschworen, mich pro Tag mindestens eine Stunde zu verstecken und zu lesen. Treffen keine Buchstaben in meinem Kopf ein, fehlt ein Hauptnahrungsmittel. Dazu kommt die Gewissheit, dass gebundenes Papier in der Hand halten ein zutiefst ästhetischer Akt ist. Don DeLillo schenkte den Lesewütigen den maßgeschneiderten Satz: «Das Buch ist ein Wunder körperlicher und geistiger Annehmlichkeit.»

Als ich aufstehe, fällt mein Blick auf das Gesicht des Tischnachbarn, schönes Gesicht, elegante Züge. Ich erfahre, dass sein Vater Franzose, die Mutter Vietnamesin war. Wir kommen ins Gespräch, reden von den Träumen, die wir als Kinder spinnen, und dem tatsächlichen Leben, das wir als Erwachsene führen. Dass dafür oft Feigheit verantwortlich ist und die einen diese Feigheit sich leichter, die anderen sich nie vergeben. Was von Vorteil ist, denn die, die sich nichts verzeihen, sind zäher hinter ihren Träumen her. Beim Abschied frage ich ihn, was er verlangen würde, hätte er einen einzigen Wunsch. Und Daniel: «De l’amour.»

Einchecken am Hafen. Ein «écrivain public», ein öffentlicher Schreiber, bietet seine Dienste beim Ausfüllen der Papiere an. Piktogramme mahnen zur Bescheidenheit: Eine Tragetasche, einen Koffer, mehr darf keiner mitnehmen. Und alle rollen mit Tonnen von Gepäck an. Aber in diesem Moment beginnt Afrika, das nonchalante, das großzügige. Jeder kommt durch.

Wieder meldet sich die kleine Angst, wie immer, wenn man einen Ort verlässt. Erstaunlich, wir waren keine vierundzwanzig Stunden in Marseille, aber schon hat sich ein Gefühl von Vertrautheit eingestellt. Durch das Wandern entlang der Straßen, durch den Blick auf die Fassaden, durch die Nähe eines Mannes, der einem anderen Mann erzählt, dass ihm nichts fehle, nur Liebe. Aber diese Angst tut gut, sie macht wach.

Auf dem Dampfer teilen wir eine große Kajüte mit ein paar Tunesiern. «Classe Fauteuil», wir dürfen sitzen oder auf dem Boden schlafen. Wir kommen gut miteinander aus. Nur der Fernseher nervt. Von dem wollen sie nicht lassen. Stundenlang läuft eine amerikanische Serie mit einem halben Dutzend steil toupierter Idiotinnen. Meist in Begleitung von prachtvoll kalifornisch geklonten Boys. Bis ich selige Schnarchtöne vernehme. Sie kommen von Rachid. Neben ihm liegt eine winzige Batterie. Sie treibt sein Hörgerät an. Beneidenswert, drei Gramm – mehr wiegt der Zinkknopf nicht – entscheiden über Stumpfsinn oder Wohlleben. Auf Kommando nichts hören müssen, das ist Glück.

Das Schiff segelt unter tunesischer Flagge, doch nichts erinnert an den Kontinent, auf den wir zusteuern. Alles sieht aus und riecht und schmeckt wie im Land der Weißen. Die Farben der Möbel, die Nachrichten, die Musik, das Geschirr, die Getränke, die Restaurants. Löblicherweise gibt es eine «salle de lecture». Ich schaue dreimal vorbei, um jemanden beim Lesen zu ertappen. Vergeblich. Zuletzt bleibe ich und lege die Weltkarte auf den Boden. Durch die Luke fällt ein Sonnenstrahl, genau auf Afrika. Und ich sitze still und warte, bis sie nach Asien wandert. Schöne Augenblicke, wie sie ermutigen.

Zurück zur Kajüte, Rachid ist aufgewacht, er erzählt, dass er für zwei Monate nach Hause reist. Zu Frau und sieben Kindern. Die alle nicht arbeiten. Da es für keinen Arbeit gibt, sprich keinen Regen. Rachid zeigt mir seinen Lohnzettel, er arbeitet für einen gewissen Earl (Graf!) Pippin auf dessen Latifundien, nicht weit von Marseille entfernt. Für 750 Euro pro Monat. Davon trägt er die Hälfte zur Post und schickt sie an seine Familie. Ich will ein Foto seiner Frau sehen und er sagt: «Ich habe keines, ich müsste nur heulen, wenn ich es ansähe.» Rachid, das Schlitzohr, er grinst, als ich ihn frage, warum er denn heulen müsse. Weil die Frau so weit weg sei? Oder weil ihn jeder Blick daran erinnere, dass er sich für die falsche entschieden hat?

Der Zustand seiner Zähne und Sandalen beweist, dass ihm nicht viel bleibt von der anderen Hälfte seines Lohns. Rachid grinst wieder. Ein bisschen bleibt immer, «pour les copines», für die Mädchen. Die ihn bisweilen trösten. Eine halbe Nacht, bis er wieder antreten muss beim Grafen.

Nachts, als alle schlafen und zwölf von sechzehn Füßen in die Höhe ragen, ausgestreckt auf der Rückenlehne des Vordersitzes, läuft der Fernseher noch immer. Ich schalte nicht aus, Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt werden vorgestellt. Unter anderem die Briefe, die Consuelo Suncin de Sandoval an ihren Mann, den Schriftsteller und Piloten Antoine de Saint-Exupéry schrieb: «Les lettres du dimanche», die Sonntagsbriefe. Da jeden Sonntag aufgesetzt. Oft verfassten beide Briefe, ohne sie abzuschicken. Um sie sich gegenseitig beim nächsten Wiedersehen vorzulesen. Noch viele Sonntage nach seinem Tod schrieb sie ihm. Ich schlafe schlecht, wer wünscht sich nicht eine Frau, die sich so innig an einen erinnert.

 

Am nächsten Morgen begegne ich Harun, dem Mann mit den leuchtenden Augen. Beim Frühstück erzählt er sein Leben. Tunesier, in Marseille geboren, Kleinkrimineller bis zu dem Tag, an dem ihn eine ambulante Missionarstruppe zum Islam bekehrte. Die Diebstähle hören auf, er lernt Arabisch, redet heute von Frieden und Toleranz und den rasenden Fundamentalisten, die morden und den Namen des Islam in den Dreck ziehen.

Ich weiß nicht, ob er meint, was er redet. Manchmal leuchten seine Augen, manchmal stechen sie. Alle, die neugieriger auf Gott sind als auf ihre Zeitgenossen, machen mir Angst. Jetzt kehrt er in seine Heimat zurück, um zu heiraten. «Fromm» sei die Frau, die er sich ausgesucht habe. Zudem trage sie keine Hosen, auch das beruhige ihn.

Mittags legen wir an in Tunis. Wir stürzen hinaus, um nichts zu versäumen. Denn gestern Nachmittag traf ich in der Cocktailbar Claude. Rentner, reich, sprühend, sympathisch. Einer von vierundsechzig Motorradfahrern an Bord, die vom französischen Harley-Davidson-Importeur eingeladen wurden, an einer Spritztour durch Tunesien teilzunehmen. Die meisten Teilnehmer sind ältere Herren, die inzwischen ein paar Jahre Zeit hatten, dickere Geldbündel auf die Seite zu schaffen. Der Film Easy Rider hat Claude seinerzeit umgehauen. Wenn auch heute nichts mehr easy ist: 350 Kilo wiegt das Motorrad, 100 Kilo der Fahrer, 50 das Gepäck, zusammen immerhin eine halbe Tonne.

Der ehemalige Unternehmensberater erlag dem amerikanischen Mythos von Weite und Abhauen: «Cruising», sagt er, cool über die Welt kreuzen. Cool mit Vollkasko: mit einem Mechaniker für den Platten, dem Onkel Doktor für die Bauchschmerzen, der Filmcrew für die Nachwelt. Tagsüber werden alle unter Polizeischutz ein paar Runden kurven, abends im sorgsam reservierten Five-Star-Bettchen einnicken. Eine Woche lang.

Während dieses Gesprächs beichtet Claude seine wachsend erotische Hingabe an Edelstahl: «Also, wenn ich’s recht bedenke, dann streichle ich häufiger meinen Motor als meine Frau.»

Seit dem Geständnis sind sechzehn Stunden vergangen, jetzt ist es kurz vor dreizehn Uhr und es kommt zu einem staunenswerten Bild: Nahe dem Zollgebäude hat sich Khaled aufgebaut, lebenslänglich gelähmt, im hölzernen Rollstuhl. Und die halbe Hundertschaft Maschinen, keine billiger als 10 000 und keine teurer als 35 000 Euro kommt vor ihm zum Stehen. Die Erste Welt braust an. Und der Mann aus der Dritten Welt schaut zu. Links neben seiner Lenkstange hängt ein Plastikbecher für die Almosen. Der Kontrast ist so peinigend, dass ihn jemand aus dem Bild schiebt. Damit keiner den anderen stört. Ein Radio plärrt, Johnny Halliday singt «La musique que j’aime», die lieben Dicken machen sich auf ihre «route des mirages», die Route der Fata Morganas. Khaled lächelt. Wie macht er das?