Die Untoten

 

 

 

Für Sir Terry Pratchett,
der dem Tod ein Gesicht gab.

Und Nils »Nisse« Gulliksson,
weil er so krasse Skelette zeichnet.

»The moon may be full,

the moon may be white,

All I know is you will feel his bite.«

Roky Erickson, Night of the Vampire

»Das Blut ist die Seele allen Fleisches.«

3. Buch Mose, 17,14

»Und ich sah ein fahles Pferd. Und der darauf saß,

des Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach.«

Offenbarung 6,8

Die Untoten

Seit Anbeginn der Zeit fürchten wir Menschen den Tod. Dabei geht es nicht nur um die Angst vor dem Ende des Lebens und unserem eigenen, unausweichlichen Tod, sondern ebenso um die Furcht vor den bereits Verstorbenen. In so gut wie allen Kulturen der Welt gibt es Erzählungen über Seelen, die aus den unterschiedlichsten Gründen in der irdischen Welt bei den Lebenden hängen bleiben, die sie eigentlich verlassen sollten. Diese Wiedergänger lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen: Geister und Gespenster sind körperlose Schattengestalten, die als eine Art Echo einer Seele zurückbleiben, zum Beispiel wenn ein Mensch unter tragischen Umständen gestorben ist. Viele Geister können ihr Erdendasein noch nicht aufgeben, weil sie noch etwas zu erledigen haben. Die einen wollen sich an ihrem Mörder oder für eine Ungerechtigkeit rächen, andere ihre Hinterbliebenen vor einer bevorstehenden Katastrophe warnen. Manchmal handelt es sich aber auch nur um verwirrte Seelen, die schlicht und ergreifend nicht gemerkt haben, dass sie gestorben sind, und aus lauter Gewohnheit weitermachen, als wären sie noch am Leben. Unabhängig von den Motiven für ihr Herumspuken stellen diese unerlösten Seelen selten eine wirkliche Bedrohung für die Lebenden dar. Im Grunde genommen sind es einfach nur tragische Figuren, auch wenn es ganz schön gruselig sein kann, auf eine von ihnen zu treffen.

 

Die zweite Gruppe Wiedergänger ist erheblich gefährlicher. Es geht um furchterregende lebende Tote, die sich aus ihren Gräbern erheben und ihre früheren Mitmenschen terrorisieren – nicht selten die eigene Familie. Ganze Geschlechter, ja, Dörfer können von solch einem Wesens verwüstet und ausgelöscht werden. Legenden und Geschichten über diese Untoten oder Lebenden Toten gibt es auf der ganzen Welt: von den skandinavischen Draug über die rumänischen Strigoi, die griechischen Vrykolakas und Chinas hüpfenden Jiangshi bis hin zu Australiens skelettähnlichen Namorodo. Diese Totenwesen stellen fast allesamt eine massive Bedrohung dar. Sie haben jede Menschlichkeit verloren und sich in dämonische Wesen voller Hass auf alles Lebendige verwandelt. Nur wenige von ihnen sind einfach nur Angst und Schrecken verbreitende Unruhestifter, die meisten pressen alles Leben aus ihren Opfern heraus, verbreiten Krankheiten, Seuchen oder Wahnsinn. Die gefährlichsten von ihnen jagen und töten Menschen und ernähren sich von deren Fleisch und Blut. Viele Untote besitzen eine Reihe magischer Fähigkeiten, können ihre Größe ändern, sich unsichtbar machen, die Gestalt eines nahen Verwandten oder Geliebten annehmen oder als Rauch oder Nebel erscheinen. Viele verwandeln sich in Tiere, häufig in Katzen, Hunde, Ratten und natürlich Fledermäuse. Aber je nach Herkunft des Untoten können es auch Hyänen oder Ziegen oder scheinbar harmlose Insekten sein. Griechische Vampire erscheinen häufig als Nachtfalter, während der Krankheiten verbreitende Adze aus Tongo als Glühwürmchen erscheint. Wieder andere treten nicht in Tiergestalt auf, sondern als Pflanze oder Gebrauchsgegenstand. Nach einem Blutsauger-Mythos der Roma auf dem Balkan können selbst aus Kürbissen oder Melonen Vampire entstehen.

Vampir

Das bekannteste untote Wesen ist zweifelsohne der Vampir. In den letzten zwei Jahrhunderten haben sich diese Blutsauger zu den beliebtesten und immer wieder neu interpretierten Monstern der modernen Popkultur entwickelt. Graf Dracula, ursprünglich vom irischen Autor Bram Stoker erfunden, ist nicht nur der bekannteste Vampircharakter der Literatur, sondern auch eine der am häufigsten wiederkehrenden Figuren der Filmgeschichte.

Nur Tarzan, Sherlock Holmes, Luzifer und Gott selbst konkurrieren mit ihm um diese Position. Darüber hinaus geht die Zahl der Bücher, Theaterstücke, Filme und Computerspiele, in denen Vampire auftreten, die von Bram Stokers umhangbekleidetem Graf Dracula inspiriert wurden, ins Unendliche.

Aber dieses Buch handelt nicht von den fiktiven, verführerischen Vampiren, die im Silberschein des Mondes ihre Zähne in die weißen Hälse schöner unschuldiger Frau bohren. Wir wollen hier einen genaueren Blick auf die Geisterwesen aus Volksglauben und Mythen werfen, die Inspirationsquelle für den transsilvanischen Grafen und seine mit Reißzähnen ausgerüsteten Nachfolger waren. Und diese Wesen sehen schon ein wenig anders aus …

Die Vorbilder für die fiktiven Vampire kommen aus Mitteleuropa, vorrangig aus Rumänien, Ungarn, Griechenland und Deutschland sowie den slawischen Ländern Polen, Ukraine und Serbien. Aber der Unterschied zwischen einem rumänischen Strigoi oder Moroi und einem skandinavischen Geist ist gar nicht so groß, wie man meinen könnte. Auch von ihnen gibt es viele Geschichten, in denen sie kein Blut trinken, sondern anderweitig ihr Unwesen treiben.

Lebende Tote und Wiedergänger spielen in Skandinavien eine ähnliche Rolle wie die Vampire in Mitteleuropa, auch wenn sie ihre Opfer eher erdrücken als aussaugen. Ein skandinavisches, als Blutsauger geltendes Geistwesen ist die tragische Gestalt des Myling, ein im Verborgenen geborenes Kind, das nach der Geburt von seiner Mutter ermordet und an einem geheimen Platz begraben wurde. Viele Legenden erzählen von Mylingen, die ihre Mütter nachts aufsuchen und sie aussaugen, bis sie tot sind. Am nächsten Morgen findet man die leblose Mutter mit Blutstropfen an den Brustwarzen. Der Myling hat seine Rache bekommen.

Es sollte noch erwähnt werden, dass nicht alle Vampire im eigentlichen Sinn Untote sind. Laut einer Definition ist ein Vampir kurz gesagt ein Wesen, das nach dem Blut und der Lebenskraft des Menschen dürstet. Das kann deshalb auf ein relativ unspektakuläres Tier zutreffen – eine Mücke, einen Igel, eine Zecke oder etwas exotischer eine Vampirfledermaus – genau wie auf einen lebenden Toten. Es gibt auch eine Reihe untoter, übersinnlicher Wesen mit einer Vorliebe für Blut, wie Hexen, Zauberkundige, Dämonen, Naturwesen oder selbst Götter. Gestaltwandler wie die skandinavische Mahr können den Vampiren zugerechnet werden, da sie ihren Opfern im Schlaf die Lebenskraft aussaugen. Ein anderer Gestaltwandler, der oft mit Vampiren in einem Atemzug genannt wird, ist der Werwolf. Es besteht eine enge Verbindung zwischen ihnen, obwohl unter einem Werwolf normalerweise kein Untoter verstanden wird, sondern ein lebender Mensch oder eine Hexe, der oder die sich in einen Wolf verwandelt. Das griechische Wort für Vampir – Vrykolakas – stammt vom slawischen Vǎrkolak und bedeutet Werwolf. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass viele Vampire in der Lage sind, sich in Wölfe zu verwandeln, versteht man, dass die Vorstellungen, die man sich von diesen beiden Wesen macht, eng miteinander verknüpft sind und gelegentlich verschmelzen.

Außerdem können einige ganz normale Menschen unter gewissen Umständen zu Vampiren werden. In Island zum Beispiel ließ man Säuglinge und ältere Menschen ungern zusammen in einem Raum schlafen, aus Angst, dass die Alten im Schlaf unbewusst die Lebensenergie der Kinder stehlen würden.

Das Leben spendende Blut

Die uralte Vorstellung, dass alle Lebenskraft im Blut liegt, ist auf der ganzen Welt verbreitet. Blut zu trinken bedeutete darum, Leben zu trinken, was zur Folge hatte, dass Blut häufig als Heilmittel gegen Krankheiten gesehen wurde. In Schweden galt – erstaunlicherweise – das Blut von Gehenkten, Mordopfern oder Selbstmördern als besonders wirksam. Bei öffentlichen Enthauptungen bildeten daher Wachen mit spitzen Holzspeeren einen Ring um die Richtstätte, um die Volksmassen auf Abstand zu halten. Diese sogenannte Holzspeer-Barrikade sollte die Zuschauer darin hindern, mit Trinkbechern, Taschentüchern, Löffeln oder anderen Gefäßen angelaufen zu kommen und das Blut aufzufangen, um es für alle möglichen Hauskuren anzuwenden. Die Römer etwa haben warmes Blut als Heilmittel gegen Epilepsie getrunken, während die ägyptischen Pharaonen in Menschenblut badeten, weil es verschiedene Krankheiten kurieren sollte. An dieser Stelle sei auch die berüchtigte ungarische Gräfin Elisabeth Báthory (15601614) erwähnt, die über sechshundert junge Mädchen folterte und tötete, um in deren Blut zu baden und so ihre Jugend zu bewahren. Wenn Blut also Leben bedeutet, ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Untoten danach gieren. Blutopfer werden häufig in der Nekromantie angewendet – die Kunst, Kontakt zu den Geistern Verstorbener aufzunehmen. Ein klassisches Beispiel findet sich in der Odyssee, als Odysseus bei seinem Besuch in der Unterwelt ein Blutopfer darbringt, um mit den Seelen zu sprechen, die sich dort aufhalten.

»Schwarz entströmte das Blut, und aus dem Erebos kamen

viele Seelen herauf der abgeschiedenen Toten.«

Homer: Odyssee. Elfter Gesang

Wiedergänger, Geist oder Vampir?

Das Wort »Vampir« ist ebenso geheimnisvoll wie das Wesen, das es bezeichnet, und es hat relativ spät Einzug in unsere Sprache gehalten. Über den Ursprung kursieren eine Menge unterschiedliche Theorien, aber die meisten laufen darauf hinaus, dass es sich vermutlich um eine Verfremdung des slawischen Wortes für Geist handelt, Upir, das wiederum vermutlich von dem türkischen Wort Uber (Hexe) stammt. Das Wort »Vampir/Vampyr/Vampire« (leichte Abweichungen der Schreibweise in den verschiedenen Sprachen) tauchte Anfang des 18. Jahrhunderts zunächst in französischen und deutschen Texten auf und verbreitete sich dann in ganz Westeuropa.

In diesem Buch werden die Bezeichnungen »Wiedergänger« und »Totenwesen« ganz allgemein für unerlöste Seelen Verstorbener verwendet, »Gespenst« für Totenwesen ohne eine feste Form und »Geist« oder »Untote« für die Art von körperlichen, oft bösartigen Totenwesen, von denen dieses Buch in erster Linie handelt. »Vampir« bezeichnet im Besonderen die Wesen, die Blut oder Lebenskraft aussaugen. Oft überschneiden sich die Begriffe jedoch, und es ist nicht immer möglich, eine klare Grenze zwischen ihnen zu ziehen.

Ähnlich schwierig ist die Unterscheidung von Elfen und Natur- und Geisterwesen zu Wiedergängern. Die Geschichten sind oft widersprüchlich, und ein Wesen, das in der einen Sage als Naturwesen beschrieben wird, taucht in einer anderen plötzlich als unerlöste Geisterseele auf – ein schönes Beispiel dafür ist die irische BansheeGwaernardelGwrach Y RhibynGlaistig