Christoph-Maria Liegener (Hrsg.)

5. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2019

Inhalt

Vorwort

Die Siegertexte

Erster Platz: Marvin Jüchtern

Zweiter Platz: Milena Tebiri

Dritter Platz: Thomas Herholz

Weitere ausgewählte Werke

Werner Krotz

Mona Ullrich

Michael Hetzner

Helene Etminan

Oliver Bruskolini

Roland Ruether

Christine Rieger

Helga Lüsebrink

Thyra Thorn

Christoph Grimm

Werner Siepler

Herbert Glaser

Franziska Dittert

Ulrike Grömling

Alexander Estis

Eusebius van den Boom

Wolfgang Rinn

Paul Theobald

Thimo Buchmüller

Lilo Wessel

Herbert Jost-Hof

Jutta Gornik

Rainer Daus

Kerstin Fischer

Torsten Krippner

Carina Plinke

Dörte Müller

Jenny Schon

Susan Tumbrel

Gisela Baudy

Jago Bauhaus

Christian Baudy

Ingeborg Henrichs

Joshua Clausnitzer

Mykola Istyn

Karin Jessica Krause

Herbert Kuboth

Tamara Schinner

Torsten Jäger

Sonja Dohrmann

Monika Heintze

Hella Sehnert

Saskia Bannister

Alex J. Nitrak

Claudia Kemmer

Samira Schogofa

Diana Keppler

Sascha Sprikut

Irmgard Wackerzapp

Benedict Friederich

Frank-Thomas Mitschke

Hille Maiweg

Hazuki Fukuda

Sarah Hagemeister

Michael Kothe

Andreas van Appeldorn

Carsten Stephan

Sandra Barbosa da Silva

Lieselotte Degenhardt

Wolfgang Rödig

Natascha Tesar-Pelz

Barbara Blume

Giuseppe Corbino (Luzern)

Nina Felber

Roland Rothfuß

Nora Schramm

Regina Levanic

Franziska Bauer

Ludmilla Pettke

Alina Rupp

Elisa Marski

Falk Andreas Funke

Walther Stonet (Werner Theis)

Bernhard Weigl

Kathrin Stamm

Leonard Merkes

Kurt Blessing

Doreen Jaafar

Dieter Gruner

Christina Grösser

Uwe Kullnick

Katrin Benning

Matthias Dapprich-Crawford

Isabelle Thier

Falco Rüffer

Meike Bruhns

Noreen Schuck

Jörg Reinhardt

Harald Gritzner

Heike Britt Taubert

Monika Grasl

Claudia Dvoracek-Iby

Margret Küllmar

Jessica Feicke

Tatjana Susann Mark

Renan Spode

Anke Grützmacher

Marion Redzich

Bianca Daniel

Manfred Steuer

Didi Costaire

Gabriel T. Collins

Veronika Koch

Ralf Dreßler

Heiko Ullrich

Evelyn Langhans

Andrea Lopatta

Sebastian Martinköwitz

Ingo Hilbert

Shana Diekmann

Peter Biro

Kristina Holler

Kristina Baumgarten

Jutta v. Ochsenstein

Miklos Muhi

Hans-Joachim Kuhn

Victoria Lubarski-Goldbeck

Heinz Kröpfl

Spunk Seipel

I.J. Melodia

Elfi Pauli

Kevin Coordes

Helmut Glatz

Nadine Buch

Daniel Spieker

Jürgen Rösch-Brassovan

Christopher Decker

Martin Troger

Angelika Illner

Inge Klose

Jessica Pietschmann

Magdalena Freitag

Monika Loerchner

Magdalena Brandstötter

Elisabeth Rosche

Leonie Schaaf

Erich Carl

Katharina Zanon

Paola Reinhardt

Renate Maria Riehemann

Michael Köhler

Lara Robbie Schwoch

Claudio Deriu

Dominik Staab

Michael Gotter

Verena Maier

Jens-Philipp Gründler

Anna Noah

Dagmar Ebert

Wolf Hamm

Kaia Rose

Torsten Gostschegk

Timo Mezger

Andreas Zimber

Franziska Barthel-Helbig

Susanne Fleckenstein

Christopher Selbach

Theres Pötzsch

Max Schatz

Arlene Peukert

Horst-Volkmar Trepte

Emmy Wilmink

Claudia Heyder

Natascha Maier

Julia Hoch

Peter Coon

Katrin Arnast

Sabine Reifenstahl

Vanessa Pany

Eline Menke

Susanne Ulrike Maria Albrecht

Lisa Strobl

Matthieu Jimenez

Alexandra Dorn

Raven E. Dietzel

Konrad Grein

Dietmar Peitsch

Elke Richter

Paul-Gerhard Theymann

Elisa Stemler

Carmen Keßler

Franzisca Weitzhofer

Narah Rain

Manfred Pricha

Lisa Deutschmann

Nina Rinner

Manuela Nimmervoll

Lean Malin Wejwer

Matthias Delbrück

Gabriele Nakhosteen

Leon Novak

Susanne Mathies

Elisabeth Schiefer

Angelika Zöllner

Melanie Seedorf

Alissa Franz

Wolfgang R. Strauß

Nini Schlicht

Lena Marlier

Gernot Weise

Diana Busch

Anne Sylvia Zänkert

Christine Steindorfer

Guntram Wette

Regina Lehrkind

blume (michael johann bauer)

Meike Wanner

Heike Hoffmann

Wolfgang Mach

Andreas Glanz

Vera Lörks

J. A. Heger

Bernd Daschek

Franziska Parschau

Beate Rola

Kathrin Stricker

Leona Falkenstein

Tobias Stenzel

Karl-Martin Harms

Tuula Schneider

Annika Kaune

Sonja D. Stern

Karina Hentges

Anna Barthel

Luca Pümpel

Stephan Tikatsch

Martin Bertschinger

Helmut Beushausen

Eika Ehme

Albert Zeller

Kathrin B. Külow

Alexander Makowka

Bianca Körner

Amelie Jägersberg

Wolfgang Matschl

Peter Das

Ulli Krebs

Karolin Hingerle

Katharina Bauer

Isabel Folie

Andrea Kerstinger

Iris Schoell

Sabine Reyher

Melanie Sondershaus

Susanne Seedorf

Norbert Sternmut

Simon Bernart

Sabrina Mohr

Dyrk-Olaf Schreiber

Finn Lorenzen

Annegret Döse

Simon Brombacher

Roswitha Zatlokal

Lara Ubben

Tina Ludwig

Julia Häussler

Sibylle Meyer

Christoph Steven

Regina Appel

Laura-Luisa Neitz

André Riedl

Daniela Benseddik

Grisella Kreiterling

Nicole Pfeiffer

Nina Fuhrmann

Kerstin Meixner

Vorwort

Dieser Literaturwettbewerb wird online veranstaltet. Das bringt auf klimaneutrale Art viele Interessierte zusammen, heutzutage ein wichtiger Gesichtspunkt. Die zugehörige Anthologie ist da schon problematischer. Sie ist zwar als umweltfreundliches E-Book zu haben, aber eben auch in Papierform. Darauf wollte ich dann doch nicht verzichten. Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, dass es mir großen Spaß macht, so ein Buch mit meinem Text auch anfassen zu können. Für mich fühlt es sich erst dann wirklich so an, als wäre mein Text in der Realität angekommen.

Bei der Gedichtauswahl gilt: Das Stückchen muss klingen! Rezepte, wie das zu erreichen ist, gibt es zuhauf, jedoch dürfen sie nicht zu starren Regeln werden. Man muss nicht päpstlicher sein als der Papst. Es sollte keine Sperrwörter geben. Wer Herz und Schmerz in sein Gedicht aufnehmen will, darf das tun. Warum nicht? Nicht automatisch wird Kitsch daraus, und selbst wenn: Dies ist eine freie Welt. Wer mit Kitsch experimentieren will, soll das tun dürfen. Ebenso soll weitgehende Freiheit bei der Prosa gegeben sein. Allerdings ist dies hier nicht die Bühne für politische Auseinandersetzungen. Eine Meinung zu äußern, ist andererseits nicht verboten. Es kommt auf die Gewichtung an. Der Übergang ist fließend. Im Mittelpunkt sollte immer die Literatur stehen.

Die Zeiten haben sich geändert. Der Zwang zur Originalität gehört der Vergangenheit an. Das schließt nicht aus, dass brilliante Selbstdarsteller weiterhin Genialität versprühen dürfen – sollen sie! Jedoch sind sie nicht mehr die Helden, die sie einmal waren. Es ist eine neue Zeit angebrochen, aber sie ist tolerant. Das Alte muss nicht auf den Müll kommen. Andere Schwerpunkte werden nun gesetzt. Gefälligkeit, einst verpönt, ist wieder gefragt. Harte Arbeit am Text zahlt sich aus. Man sieht sie dem Werk später oft gar nicht mehr an, wenn es scheinbar schwerelos im Raum schwebt, und doch ist sie fast immer notwendig. Das ermöglicht auch denen, die sich nicht für Genies halten, wesentliche Beiträge zur Literatur zu leisten. Damit ergibt sich ein weiteres Kennzeichen unserer Zeit: Die Literatur wird breiter, mehr und mehr Menschen beteiligen sich.

Der Wettbewerbsgedanke sollte nicht in die Irre führen. Die hier getroffene Auswahl ist nach wie vor subjektiv. Immerhin wird die Entscheidung zwischen je zwei Werken von einem unabhängigen Dritten getroffen. Trotzdem kann diese Entscheidung nur ein Impuls sein. Ein Feedback.

Der wichtigste Leser eines Textes bleibt nach wie vor der Verfasser selbst. Er verwirklicht sich in seinem Werk. Es aus seinen Gedanken entstehen zu lassen und es zu formen, bis er es für vollkommen hält, das ist sein ureigenstes Erlebnis. Keiner kann es ihm nehmen. Auch kein Kritiker. Man kann es nicht oft genug betonen: Ihm selbst muss es gefallen. Das hat mit Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber zu tun. Man muss zur Selbstkritik fähig sein. Das bedeutet letztlich auch, dass man der Welt nicht ein halbgares Erzeugnis vor die Füße werfen sollte.

Wie auch in den vergangenen Jahren bleibt die Verantwortung für die Texte allein bei den Autoren. Es herrscht Meinungsfreiheit. Der Abdruck eines Textes bedeutet nicht automatisch seine Billigung.

Dieses Jahr wurde die Zahl der Zeichen pro Einsendung auf 3000 inklusive Leerzeichen begrenzt. Das hat nicht allen gefallen, aber es war notwendig, da die letzten Anthologien aus allen Nähten zu platzen drohten, obwohl bei weitem nicht alle Einsendungen aufgenommen worden waren. Dieses Jahr soll nun der Umfang reduziert werden.

Wie im letzten so bleibt auch in diesem Jahr die Verantwortung für die Texte allein bei den Autoren. Mit Korrekturen wurde sparsam umgegangen. Der ursprüngliche Eindruck sollte erhalten bleiben.

Wieder wurde mit den Siegertexten begonnen. Die weiteren ausgewählten Texte erscheinen in der Reihenfolge ihres Einganges. Auch diesmal konnten nicht alle eingereichten Texte aufgenommen werden. Mit einer Ablehnung ist jedoch keine Wertung verbunden. Verschiedenste Kriterien spielten eine Rolle.

Leider ist es bei der Vielzahl der Einsendungen wie immer nicht möglich, jedem, der es nicht in die Anthologie geschafft hat, eine entsprechende Begründung zu geben. Es kann jedoch gesagt werden, dass alle, auch die nichtveröffentlichten, Beiträge etwas Eigenes hatten, keiner achtlos verworfen wurde.

Meiner Familie möchte ich für die fortwährende Unterstützung danken. Auch den vielen Einsendern sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Ihre Teilnahme machte diese Anthologie erst möglich.

Dr. Dr. Christoph-Maria Liegener

Die Siegertexte

Erster Platz: Marvin Jüchtern

Der Geruch von Regen

Es sickert in die Sinne wie ein Duft

von fremder Würze, der sich niederlegt

und zarte Sprenkelmuster in die Luft

und durch die Luft in deine Tiefe trägt.

Ein Raues, Fernes, das ganz nah dich trifft

und plötzlich, weckend, auf dich fällt,

so wie ein Kuss von trautem Lippenstift,

den deine Wange noch im Schlaf erhält.

Und es treibt in eine Schwere

auch ein Feines, das wie eingerührt,

als eine feine Note in die Leere

dieser Stille, zu Empfindung führt.

Kommentar: Naturbeobachtung von innen – durch die Wirkung auf die Seele. Dadurch wird die Sprache poetisch. Der Stil erinnert in seiner Zartheit an Rilke. Fließender Rhythmus, kunstvolle Reime.

Das Preisgeld wurde an die Stiftung Childaid Network gespendet.

Zweiter Platz: Milena Tebiri

Abschiedsgeschenk

„Ich ruf dich an“, waren seine letzten Worte. Ich starre auf das Display. Hatte ich ihm die falsche Nummer geben? Die Vorwahl der Schweiz vergessen? Es war zu schön gewesen. Zu schön, um wahr zu sein. Der Sand, das Meer, der Mond. Das alles – mit ihm. Ich kontrollierte, ob mir vielleicht ein Anruf in Abwesenheit entgangen war in den letzten 10 Sekunden. Nein. Sicher? Nochmals check. Nein, wirklich nicht. Ich stand auf. Aus den kleinen Boxen des Cafés seufzte, sang und schluchzte Liz Fraser von Massive Attack. Die Trauer und Melancholie von Teardrop traf mich mit voller Wucht. Ich schluckte und stiess heftig die Tür auf. Draussen atmete ich tief die kühle Abendluft ein und joggte los – das Leben ging weiter, nicht?

Fast schon flott sprang ich die Stufen zu meiner Wohnung hinauf. So einfach ging das. Mit jeder Stufe fühlte ich mich etwas besser. In jedem Stockwerk liess ich einen Teil meines Liebeskummers zurück. Oben angekommen, übersah ich vor lauter Euphorie zuerst das hellbraune Päckchen, das vor meiner Tür lag. Was in aller Welt?!? Fett, mit schwarzem Edding, stand meine Adresse auf dem Päckchen. In SEINER Handschrift! Mein Bauch zog sich zusammen. Ok, keine Panik jetzt. Vorsichtig nahm ich es in die Hände. Keine Briefmarke. ER war also HIER gewesen als ich WEG war! Warum hatte er nicht angerufen! Warum bin ich raus, warum gerade jetzt, warum wartete ich so blöd auf ihn und warum hatte ich damals nicht auch nach SEINER Nummer gefragt! Ich setzte mich auf den borstigen Fussabtreter. Egal. Keine Zeit jetzt, aufmachen. Mit zittrigen Händen riss ich das Papier weg und brach mir dabei einen Fingernagel ab, erst gestern schön grün lackiert. Mist. Nur jetzt nicht heulen! Konzentrier dich! Du bist ihm wichtig, er denkt an dich! Dann hielt ich sie in den Händen. Meine Gummilatschen, die ich bei ihm vergessen hatte. Keine Notiz, keine Nummer. Nur meine alten, vergessenen Gummilatschen.

Kommentar: Komödie aus der Alltagswelt. In der Kürze liegt die Würze. Gelungene Pointe.

Dritter Platz: Thomas Herholz

Selbsterkenntnis

Ach, wie klug sind meine Freunde,

jeder ist ein Original

und kann stundenlang erzählen-

Fortsetzung: das nächste Mal.

Ich sitz schweigend in der Ecke,

fühle schon Verlegenheit,

höre zu, träum und entdecke

meine Mittelmäßigkeit.

Kommentar: Ein satirisches Gedicht. Die Spitze geht gegen die furchtbar wichtigen Menschen, neben denen mancher sich ganz klein vorkommt, obwohl er selbst sehr wertvoll ist. Dabei Humor pur. Es macht Freude, dieses Gedicht zu lesen, und es klingt auch noch!

Das Preisgeld wurde an Unicef gespendet.

Weitere ausgewählte Werke

Werner Krotz

ein feuer in mir

lange verborgen unter der glut

ein feuer in mir

von anfang an vorhanden

immer gegeben

es versengt nicht

es wärmt und belebt

ein feuer in mir

zu hellem schein erwacht

und voll kraft

sich auszubreiten

ein strahlendes feuer

es kann nicht gelöscht werden

meine augen geben kunde

von dem feuer

und halten ausschau

nach den funken

in den augen

anderer menschen

Kommentar: Die mehrfache Wiederholung der Schlüssezeile (ein feuer in mir) verleiht ihr ein gewisses Gewicht. Die Kehrseite der Medaille ist, dass damit auch ein Druck auf diese Zeile aufgebaut wird. Kann sie dem standhalten?

Mona Ullrich

Lucky Lutz

Das Gericht urteilte: „Nicht schuldfähig. Ihm fehlt die Einsicht in seine Verbrechen.“

Mit diesem Spruch in den Ohren ging Lutz zurück auf die Straße. Er gähnte, denn er war müde. Er war für den ersten Prozess seines Lebens früh aufgestanden und ans Ausschlafen gewöhnt. Außerdem war er hungrig. Zum Frühstücken hatte die Zeit gefehlt.

Er ging gleich ins Salto Vitale, ein schummeriges kleines Café am Rande des Stadtparks. Dort traf er immer seine Freunde, die Verbündeten im Kampf gegen Langeweile und Resignation.

Vormittags war da noch niemand, den er kannte. Er setzte sich an einen kleinen Tisch vor der Tür und bestellte bei der jungen Studentin, die hier dazuverdiente, einen großen Kaffee mit Milch, viel Milch, und zwei Hörnchen mit Butter.

Die Hörnchen in diesem Lokal waren das Lieblingsgebäck seiner Freundin Melanie, die auch studierte und deswegen die Stadt verlassen hatte. Lutz dachte oft an sie. Er hatte ein gutes Gedächtnis und wusste noch alles, was sie zu ihm gesagt hatte. Sie war jünger als er, aber klüger, seiner Meinung nach. Sie hatte ihm immer wieder geraten, Musiker zu werden. „Du bist hübsch und singst gut,“ hatte sie gesagt, „du brauchst nur ein bisschen Gitarrenunterricht.“

Gitarrenunterricht hatte ihm bis vor kurzem sein Freund Frank gegeben, aber der war jetzt tot. Die Freunde von Lutz starben leicht. Sie hatten kein Geld, lebten gefährlich und machten von billigen, oft unbekömmlichen Drogen Gebrauch. Frank hatte selber mit Drogen gehandelt und war von einem Rivalen getötet worden.

„Sie müssen weg von der Straße,“ hatte der Richter gesagt, „sonst werden Sie ganz schnell wieder straffällig.“

Aber er lebte doch gar nicht auf der Straße! Er hatte eine eigene Wohnung in dem Gartenhaus eines Altbaus nahe der Innenstadt. Melanie hatte ihm dazu verholfen, als das mit ihr befreundete Studentenpaar, das dort mit seiner Katze gehaust hatte, zerstritten war und nicht mehr weitermachen wollte. Sie hatten die Wohnung schnell loswerden wollen, auch den Großteil des Inventars, deshalb hatte sich Lutz kein Bett und keinen Küchenschrank kaufen müssen. Er schlief unter einer Häkeldecke, die die Vorbewohnerin selbst angefertigt hatte, und er war stolz darauf. Die stammte doch von einer Studentin!

Eine so billige Wohnung war ein Glückstreffer, das hatte der Herr vom Sozialamt gesagt. Lutz hatte sich nicht darüber gewundert, denn er hatte oft Glück, wie ihm schien. Er war nie krank, hatte höchstens einmal einen Schnupfen, er fand leicht Anschluss, und er hatte keine Geldsorgen. Die Sozialhilfe hätte ihm genügt, aber er konnte auch immer zu seiner Freundin Ulli kommen, die als Bardame gut verdiente. Sie war schon zufrieden, wenn sie ihm durch die welligen blonden Haare streichen konnte.

Angefasst werden war nicht immer erträglich. Männer versuchten es oft und boten ihm dabei Geld an. Er wusste, was sie von ihm wollten, und er schreckte davor zurück, denn seine Freunde hätten ihn dann verachtet.

Nach dem Frühstück ging er in das Hinterzimmer des Cafés und machte sich am Billardtisch zu schaffen, aber es machte ihm nicht viel Spaß, denn um diese Zeit war noch niemand da, der ihn hätte bewundern können.

Bewundern ließ sich Lutz gern. Bewunderung wärmte ihn. Dann fühlte er sich zugehörig, und das war keine Selbstverständlichkeit für einen jungen Mann, der im Heim aufgewachsen und von Pflegefamilie zu Pflegefamilie geschoben worden war. Fast alle hatten in der Schule mehr gelernt als er. Er war ein Außenseiter in einer Welt, die ihm ungeheuer groß und kompliziert erschien. Er wusste nicht einmal, was er durfte und was nicht, da hatte der Richter nicht Unrecht. Aber dass er in Läden nichts ohne Bezahlung mitnehmen durfte, das hatte er gewusst. Er sah es nur nicht ein. Er wollte seiner lieben Ulli doch auch einmal einen schönen Ring schenken!

Er ging zurück in seine Wohnung, räumte ein bisschen auf und legte sich dann hin auf ein Schläfchen. Was sonst konnte er so früh am Tag tun?

Er schlief zwei Stunden und träumte dabei viel. Als er erwachte, nahm er das Notizbuch zur Hand, das ihm Melanie geschenkt hatte, damit er seine Träume aufschreiben konnte. Es stand nicht viel drin. Nicht einmal Melanie wusste, dass er kaum schreiben konnte. Das war ein Grund, warum er so schwer Arbeit fand. Der andere war seine Unzuverlässigkeit. Lutz hatte und wollte keine Uhr. „Ich lass mich nicht gerne hetzen,“ sagte er, wenn sich jemand darüber wunderte.

Wozu Träume aufschreiben? Seine Träume waren oft scheußlich. Er wurde verfolgt, er litt Durst, er stürzte aus großer Höhe. Melanie redete viel mit ihm darüber. Melanie fand Lutz interessant, und das war ein Ansporn.

Er nahm seinen teuren schwarzen Füllfederhalter, das Geschenk einer anderen, älteren Bardame, der er von seinem Traumtagebuch erzählt hatte, und kritzelte mit der Zunge zwischen den Lippen: „Ich habe geträumt. Dass ich in die Hose mache und das Bett versaue. Und dann hat es meine Mutter bemerkt. Meine Mutter war wieder da und schrie mich an. Ich will sie nie wiedersehen.“

Seine Mutter hatte ihn und seine Schwestern und seinen alkoholkranken Vater verlassen, als er zehn Jahre alt war. „Wir brauchen sie nicht!“ hatte sein Vater gesagt. „Die soll nur wegbleiben!“

Es tat nicht gut, von ihr zu träumen. Das war immer so. Allein schon ihr Name brachte Unglück. Dann fiel zum Beispiel leicht etwas auf den Boden und ging zu Bruch. Lutz sprach diesen Namen nie aus. Vielleicht würde er einmal Melanie seine Träume vorlesen und sich von ihr trösten lassen.

Er ging wieder zum Salto Vitale und schaute sich um. Zwei Leute saßen am Tresen und winkten ihm. Freunde. „Na, haben sie dich laufenlassen?“ „Ja, aber ich soll von der Straße weg. Das hab ich nicht ganz verstanden.“ „Das haben die schon zu hundert Leuten gesagt.“

Er bestellte eine Flasche Sekt und stieß mit den beiden an, weil er der Bestrafung entkommen war.

Von da an war es ein Tag wie immer.

Michael Hetzner

Totes Holz

Am liebten ein Besen sein! Ein alter Besen aus solidem Holz, das Jahrzehnte lang gewachsen in der Natur. Bekannt mit Wind, Regen, Schnee. Am besten auf einem Berg, wo es rau ist und kalt. Dann gefällt, gesägt, gehobelt. Einfach zusammengefügt ohne Nägel oder Schrauben. Mit ein paar groben Borsten am Ende.

Ein Stück Holz ohne Seele. Kein Wünschen, kein Wollen und Planen. Nichts. Sich benutzen lassen, wenn man gebraucht wird. Mit Riefen, Kerben, Schlieren. Alles ganz einfach.

Aus dem Schrank holen, benutzt werden, putzen und fegen. Überall wo Schmutz ist und Staub. Der Sauberkeit dienen. Nichts fühlen müssen, nicht denken.

Die Haare, dünn, abgenutzt, borstig. Der Stil braun von den vielen Händen die ihn angefasst haben.

Unendliches Glück.

Helene Etminan

Ach, könnt´ ich doch bleiben

Wohl bist Du da

und hast uns gern,

bist uns ganz nah,

doch ich bin fern.

Bin so allein,

kenn´ kein Gebet.

Darf nicht hinein,

umsonst gefleht.

Doch wenn ich mich wende,

und zu Dir lausche,

dann bist Du innen

und nicht im Außen.

Im Jetzt und im Hier,

verborgen in Allem.

In mir eine Tür

zu göttlichen Hallen.

Dahinter ist Friede,

sind Stille und Ruh´,

sind Gnade und Liebe:

Dahinter bist Du!

Ach, könnt´ ich doch bleiben.

Ach, müsst´ ich doch nimmer …

Irgendwann bleib´ ich ganz,

in Dir, für immer.

Kommentar: Ein Blick nach innen, der weiterhilft.

Oliver Bruskolini

Vielleicht

Endlich ist der Tag geschafft. Das letzte Geschirr ist in der Spülmaschine verstaut und die Couch ruft. Ich ziehe meinen Pyjama an und freue mich auf eine waagerechte Liegeposition.

Es klingelt. „Gehst du?“, höre ich aus dem Wohnzimmer. Solche Fragen stelle ich auch. Eigentlich sind es keine Fragen, sondern Anweisungen, deren Nichtbefolgung eine breit gefächerte Diskussion mit sich zieht. Aber weil auch ich zu solchen Fragestellungen tendiere, sei ihr verziehen.

Hoffentlich ist es kein Besuch, denke ich. Ich will heute niemanden mehr sehen oder hören, außer meinen Fernseher. Auf einem Stuhl möchte ich auch nicht sitzen. Lediglich die Couch kommt für mich noch in Frage.

Unten in der Tür steht ein Mann. Ich schätze ihn spontan auf Mitte dreißig. Blut läuft über sein Gesicht. Meine erste Reaktion ist keine Reaktion. Ich stehe in meiner Tür und starre ihn an. Er starrt zurück. „Entschuldigung“, lallt er. „Ich hatte gerade eine kleine Auseinandersetzung. Ich bin eigentlich auf dem Weg zu einer Verabredung, darf ich mich kurz bei Ihnen waschen?“.

Zum Glück haben wir uns für die Erdgeschosswohnung eines Eckhauses entschieden, denke ich. Was man sonst verpassen könnte, wäre kaum auszumalen. Ich rieche seine Alkoholfahne quer durch den Hausflur. Whisky, glaube ich.

Der Betrunkene wankt einen Schritt in den Hausflur. „Hören Sie, ich möchte mich wirklich nur waschen“, lässt er mich wissen. Das hoffe ich doch. Meine Tochter liegt in ihrem Bett. Wäre ich alleinstehend, hätte ich ihn sicher sofort hereingelassen. Aber ich trage eine weitreichendere Verantwortung als nur die für mich selbst.

Doch ich trage auch eine andere Verantwortung, eine menschliche, ermahnt mich mein Gewissen. Ich bin überzeugt, dass allen Menschen geholfen werden muss. Täglich vertrete ich diesen Standpunkt.

Warum zögere ich jetzt? Das darf nicht sein, dessen bin ich mir bewusst. Ich trete einen Schritt zurück und weise mit meiner Hand in die Wohnung. „Kommen Sie herein, das Bad ist geradeaus durch.“

„Ich danke ihnen“, stammelt er und quält sich die sechs Treppenstufen nach oben. An der letzten bleibt er hängen und stolpert in meinen Flur. Reflexartig stütze ich seinen Arm, damit er nicht fällt. „Entschuldigung“, lallt er. Die Alkoholfahne ist unerträglich.

Während er sich in Richtung meines Badezimmers begibt, betrachte ich mich angeekelt im Spiegel. Einerseits angeekelt von dem Blut, dass sich auf meinem Pyjama befindet, andererseits angeekelt von meinem Zögern. Es war menschlich, möchte man meinen. Ein menschliches Zögern, das von einer gewissen Unmenschlichkeit zeugt.

Meine Freundin hatte das Szenario vom Wohnzimmer aus verfolgt. Als sich unsere Blicke treffen, fragen mich zwei braune Augen ob ich den Verstand verloren habe. „Wer weiß, was der hier will? Vielleicht ist der völlig verrückt oder will uns ausrauben“, flüstert sie mir vorwurfsvoll zu. „Vielleicht“, entgegne ich. „Vielleicht will er sich aber auch einfach nur waschen.“

Kommentar: Ein interessantes Gedankenexperiment, über dessen Ausgang man diskutieren kann.

Roland Ruether

DELIRIUM

Delirium I

Die Wunden schmerzten noch immer. Er hatte viel Blut verloren. Gott weiß, wie lange er da schon so liegen mochte. Nur selten war Frankie kurz bei Bewusstsein, fiel immer wieder in bizarre Fieberträume. Es waren bildhafte Fetzen, inhaltlich zusammenhanglos und wie ein Film, der an ihm vorüberzog. Er sah, wie er selber mit einem großen Lastwagen quer durch die Vereinigten Staaten fuhr. Hatte er überhaupt einen Führerschein für solch ein Gefährt? Scheinbar sollte er irgendetwas Verbotenes transportieren, und allerlei Gestalten versuchten ihn daran zu hindern. Die Gestalten kamen ihm bekannt vor. Tatsächlich, es waren die Helden seiner Kindheit. Starsky und Hutch, den glatzköpfigen Kojak und Batman, den Superhelden aus Gotham City, konnte er wiedererkennen. Wie kamen die bloß in seinen Fiebertraum? Eine Antwort fand er nicht mehr, fiel stattdessen wieder zurück in die schmerzfreie Bewusstlosigkeit…

Delirium II

Mit den Schmerzen kamen auch die Bilder zurück. Diesmal saß er in einem Boot auf dem Ozean. Es war ein kleines Boot ohne Segel. Er dachte schon, er sei allein, da rührte sich etwas unter der Persenning. Es war ein ausgewachsener Tiger. Auch diese Geschichte kam ihm seltsam bekannt vor. Doch er hatte keine Angst. Als das Raubtier zum Sprung auf ihn ansetzte, wurde er durch einen lauten Werbejingle aus seinem Traum gerissen. Frankie riss die Augen auf und sah die Alexander von Humboldt mit ihren grünen Segeln über den Bildschirm schwimmen. »Sail away…« Der Fernseher war die ganze Zeit gelaufen und hatte seine Protagonisten in Frankies Unterbewusstsein entsandt. Jetzt hatte er Lust auf ein Bier, es ging bergauf…

Christine Rieger

Blitzeis

Sie hatte urplötzlich das Gefühl, in Grönland zu stehen. Die senkrechte Felswand zur Linken, der fast ebenso steil abfallende Hügel auf der anderen Seite, der schmale Wanderweg vor ihr, den sie gerade noch bei schönstem Wetter entlang gelaufen war – alles war mit einem halbmeterhohen Eispanzer überzogen. Als hätte ein hinterhältiger Teufel einen Deckel aus Eis über die ganze Landschaft gestülpt …

Dicke Nebelschwaden waberten um sie, verschwammen mit der Eisschicht zu einer grauen, undurchsichtigen Masse.

Wie sollte sie jetzt zu ihrer Mutter gelangen, die in der Almhütte, nur eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt, dringend auf die Lebensmittel wartete, die sie, Fanny, im Rucksack hatte?

Ja, es war kalt geworden in der letzten Viertelstunde – ein Wettersturz, wie sie im Gebirge häufig vorkommen. Doch diese dicke Eisschicht wie aus dem Nichts … unbegreiflich!

Vorsichtig versuchte Fanny, weiterzugehen. Doch die Sohlen ihrer Turnschuhe waren glatt und für so einen Untergrund ungeeignet. Der schwere Rucksack behinderte sie zusätzlich.

Sie krallte ihre Fingernägel in das Eis auf der linken Seite, schob sich Millimeter für Millimeter voran.

Plötzlich stieß sie gegen ein Hindernis in Gestalt einer Wegmarkierung. Jedenfalls vermutete sie, dass es eine sein müsse – sehen konnte sie so gut wie nichts. Vorsichtig versuchte sie, sich daran vorbeizschieben. Doch sie blieb mit dem rechten Fuß hängen, verlor das Gleichgewicht und stürzte.

Fanny ruderte mit den Armen, versuchte, sich irgendwo festzuhalten – vergeblich. Tiefer und tiefer rutschte, kollerte, schlitterte sie mit rasender Geschwindigkeit den Abhang hinunter, streifte einen Felsen, drehte sich um ihre eigene Achse, glitt unaufhaltsam auf den Abgrund zu. Schon konnte sie das Tosen des Gebirgsbaches hören, der am Grund der Schlucht das Wasser von der Schneeschmelze ins Tal transportierte. Wenn sie da hineinfiel, hatte sie keine Chance.

Wieder stieß sie gegen irgend etwas. Diesmal war es ein Baum, der sich mit seinen Wurzeln am Bachufer festklammerte. Ihr Rucksack, den sie seltsamerweise nicht verloren hatte, verfing sich darin. Ihre Höllenfahrt wurde gebremst.

Sie hing mit dem Kopf genau über dem Abgrund. Das eisige Wasser des Baches spritzte in ihr Gesicht. Sie schrie, versuchte, irgendwo Halt zu finden, aber da war nichts.

Wieder schrie sie: „Hiiiilfe! Hiiiilfe!“ Und noch einmal: „Hiiiilfe! Warum hört mich denn niemand?“

Sie strampelte und zappelte, um von den tosenden Wassermassen wegzukommen. Doch mit jedem Versuch glitt sie ein paar Zentimeter weiter hinunter. Schon hing ihr ganzer Oberkörper über den Rand. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis …

Hiiiilfe! Ihre Schreie wurden allmählich leiser, gingen in ein Stöhnen über.

Plötzlich schüttelte sie jemand.

„Fanny, Liebling … wach auf, Fanny, du hast einen Albtraum!“, sagte die Stimme ihres Mannes.

Helga Lüsebrink

Die Münze

Ich bin eine Münze und komme aus Dänemark, dort wurde ich in die Welt gepresst. Fast überall bin ich zuhause. Von Hand zu Hand wandere ich, ja sogar von Land zu Land, manchmal gar zwischen verschiedenen Kontinenten hin und her, und das schon viele, viele Jahre lang.

Meine Zukunft, sie liegt offen vor mir! Wer weiß schon, wie eine Zukunft auszusehen hat? Stabil und widerstandsfähig gehe ich meiner Wege, auch dann, wenn ich hier und da alt und verbraucht erscheine. Das ist nur meine Äußerlichkeit, den eigentlichen Wert trage ich in mir selbst.

Die Menschen behandeln mich ganz nach ihrem jeweiligen Ermessen: manchmal gut, manchmal ohne nachzudenken oder ohne zu wissen, was wirklich gut für mich wäre, nur selten auch mal verächtlich.

Natürlich bleiben Ausnahmefälle am besten in Erinnerung. So kann ich mich noch gut daran erinnern, wie es war, als ich vor geraumer Zeit einmal in einem Schaukasten gelandet bin, als bewundertes Einzelstück, eingefasst von Wänden aus Glas, sicher gehalten von einer PlexiglasVorrichtung auf einem Podest. Ich war geputzt und poliert, glänzte auf beiden Seiten und überall. Selbst meine kleinen Verzierungen und Zahlen, die doch so schnell stumpf und dreckig werden, erstrahlten wieder wie an meinem ersten Tag.

Ich hatte das große Glück gehabt, in die Hände eines Sammlers zu gelangen.

Leider verstarb er eines Tages. Und seine Erben wussten mich nicht wertzuschätzen. In ihren Augen war ich nichts Besonderes. Nicht mehr wert als mein aufgeprägter Betrag angibt. Sie … brachten mich wieder in Umlauf.

Nun wurde ich von einigen kurz interessiert betrachtet, wenn sie mich zufällig in die Hand nahmen. Und gelegentlich strich jemand zart mit dem Daumen über mich, bevor er mich ausgab. Andere wiederum behandelten mich unachtsam, schleppten mich in dunklen Hosentaschen mit sich herum, in denen ich eng aneinandergepresst mit anderen Münzen, mit Schlüsseln, Feuerzeugen und Taschentüchern (ja, auch benutzten!) ausharren musste. Oder ich langweilte mich in der behüteten, dunklen Enge teils wahnsinnig überfüllter Geldbeutel. Oder aber ich lagerte, nachdem ich hastig in einen dieser Automatenschlitze gesteckt worden war, im Münzbehälter, mal nahezu allein in dieser kalten Düsternis, oder mal von unten und oben bedrückt von unzähligen anderen Münzen.

Am allerschlimmsten aber war es, wenn ich, was mir zwei Mal passiert ist, verloren wurde. Einmal konnte mich eine Hosentasche nicht mehr halten. Und ein anderes Mal wurde ich von einem hektischen Besitzer unbemerkt aus seinem Portemonnaie geschleudert.

In beiden Fällen lag ich für Tage im Rinnstein, nass und verdreckt, und bald schon am Ende aller Hoffnung. Doch dann, immerhin, wurde ich jeweils geborgen.

Zurzeit werde ich mal wieder kräftig hin- und hergeschaukelt: Ich befinde mich in einer großen Geldbörse, in einer Damenhandtasche.

Das ist in Ordnung. So komme ich zwar nie zur Ruhe, und es ist meist dunkel, doch ich bin wenigstens sicher hier und habe ausreichend Platz. Ab und zu, ja da sehe ich auch mal Licht und kleine Ausschnitte von der Welt.

Es könnte wirklich schlechter sein – aber seit der Zeit bei dem Sammler, die viele Jahre zurückliegt und nur wenige Wochen umfasst hat, habe ich einen Traum: Dass eines Tages sämtliche Münzen nur noch als Erinnerungsstücke zur Schau gestellt werden. Dass sie Licht haben und Ruhe, dass sie bewundert werden und gepflegt. Und dass ich eine von ihnen bin – und keinesfalls eine der endgültig verlorenen.

Thyra Thorn

Violet

Spiegelreflexe auf der Schaufensterscheibe behindern die Sicht. Violet tritt näher heran und formt die Hände zu einem Tunnel, um sich das Bild näher anzusehen. Eine Komposition in weiß hängt in der Galerie. Nicht rein weiß, Grauschattierungen, fließende Übergänge, dann wieder scharfe, wie mit dem Lineal gezogene Kanten. Chiaroscuro, ein Spiel mit Licht und Schatten. Das Unabänderliche einer spontanen Faltung wurde für die Ewigkeit festgehalten, jetzt nur noch Linie und Fläche, nur das Weiß, nur das Grau, aber das für immer.

Das Bild misst bestimmt zwei auf einen Meter. In dieser Größe wird es zur Landschaft. Keine reale, aber doch eine, die man aus unzähligen Ausflügen ins Innere kennt. Die Seele wandert in Arkadien, würde die Kante entlang schlendern und ins Gleißende, Strahlende, Ruhende eintauchen. Das Bild sollte in einem hohen hellen Zimmer mit zahlreichen immer geöffneten Fenstern hängen. Der Wind würde die Vorhänge blähen und das Bild nähme diese Bewegung auf.

Es ist sicher teuer. Die Galerie hat einen guten Ruf. Ein Schild im Schaufenster weist auf den Künstler hin, nur der Nachname, eine Koryphäe des Fotorealismus. Aber so genau kann man das aus der Entfernung nicht sehen. Violet müsste sich Kunstverständigkeit ins Gesicht schreiben und mit Kennermiene auf das Bild zusteuern. Erst von Nahem könnte sie sich davon überzeugen, dass das, was photographiert erscheint, gemalt ist. Die Galeristin würde hinzukommen und an Zeichen, die nur sie zu interpretieren verstünde, Violets fehlende Kaufkraft erkennen und eine Atmosphäre arroganter Missbilligung schaffen, die nur an verzogenen Mundwinkeln oder einer leichten Veränderung der Körperhaltung erkennbar wäre.

Violet stellt sich den Künstler als älteren, abgeklärten Mann vor, dessen Jahre des Tüftelns und Probierens schließlich in diesem e i n e n Werk kulminieren, das Resultat eines tiefen Lebens voller Schicksalsschläge, voller Träume und Erkenntnis. Vielleicht lebte der Maler in seiner Jugend in Griechenland und in seinen Erinnerungen glänzt noch das Licht der Kykladen oder es schien ihm die Mitternachtssonne des Nordens, allenfalls begleitet vom einsamen Schrei einer Möwe. Aus der Summe all´ dessen schuf er diese Landschaft aus Licht.

Ein Frauenleben taugt jedenfalls für so ein Werk nicht.

„Mama?“, Violets Jüngster zerrt an ihrem Rock, „Eis“. Sehr viel mehr kann Alex noch nicht sagen. Er ist erst zwei und ist mit seiner Schwester zur Eisdiele um die Ecke gegangen. Die beiden haben sich jeweils zwei Kugeln in der Waffel gekauft. Es waren nur fünf Meter Weg, aber in dieser Zeit muss Alex´ Eis Furchtbares zugestoßen sein. Rund um seinen Mund ist es nur noch dichte klebrige Masse, auf der Stirn schon etwas angetrocknet. Das gelbe T-Shirt ist mit großen runden Punkten und kleineren Wischspuren übersät, in seiner kleinen Hand ein matschiger Klumpen – die Reste der Waffel.

„Offenbar Heidelbeereis“, sagt Violet zu dem Bild.

Es zeigt ein achtlos hingeworfenes Papiertuch in Großaufnahme.

Christoph Grimm

Der Geruch von frisch gemähtem Gras

„Lasst mich raus!“, schrie Sara in die Dunkelheit.

Wild schlug sie um sich und fühlte Begrenzungen zu jeder Seite. Sie musste sich in einer Kiste oder – in einem Sarg! – in einer Röhre befinden. Sara wusste nicht, wieso, aber das war ihr auch egal. Verzweifelt hämmerte sie weiter, die Schmerzen ignorierend.

„Lasst mich-“

Ein Zischen erklang und ließ Sara innehalten. Sie kniff die Augen zusammen, als sich eine Öffnung bildete und ihr grelles Licht entgegenschlug. Als sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnten, erblickte sie einen alten Mann und schrie.

„Alles in Ordnung“, rief der Greis und hob beschwichtigend die Hände. „Hören Sie, alles ist in Ordnung. Beruhigen Sie sich.“

„Was … Wo … Wer?“

„Ich bin der Wächter“, antwortete er.

„Wächter …?“

Sie sah ihn verwirrt an, ehe die Erinnerungen zurückkehrten.

Der Kollaps. Das Sterben. Das Programm.

Schmerzverzerrt fasste sich Sara an die Stirn.

„Ist normal“, erklärte der Alte. „Eine plötzliche Unterbrechung des Kälteschlafs ist ein Schock für den Körper.“

„Ich sollte gar nicht aufwachen?“

„Fehlfunktion“, murmelte der Alte kopfschüttelnd und machte sich an der Kontrolleinheit der Kammer zu schaffen. „Schon die dritte dieses Jahr, haben wir gleich.“

„Der Planet ist immer noch toxisch?“, fragte Sara enttäuscht.

„Mhmm.“

Sara senkte resigniert den Kopf, ehe ein seltsamer Geruch in ihre Nase drang. Irritiert sog sie die Luft in Stößen ein.

„Was stinkt hier so?“

„Die Narkosechemikalien riechen-“

„Ist das … Gras?“

Der Alte zuckte zusammen. Dann nickte er.

„Spielerei der Lüftungsanlage. Es … erinnert mich an damals.“ Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu und lächelte verschämt. „Man wird wohl komisch, wenn man so lange allein ist.“

Sara lief ein Schauer über den Rücken. Wie einsam der Hüter der Anlage wohl sein mochte?

„Wann werden Sie abgelöst, Wächter?“, fragte sie leise.

„Dauert noch. Hoffentlich mein letzter Zyklus.“

„Ich hoffe es für Sie“, sagte Sara lächelnd, ehe sie sich in Liegeposition begab. „Das nächste Mal machen wir es besser. Danke, Wächter.“

Dann glitten die Flügel der Kühleinheit über ihr zusammen. Der Alte warf einen prüfenden Blick auf die Anzeigen, ehe er sich abwandte.

„Bestimmt“, murmelte er. „Nichts zu danken.“

Gedankenversunken schritt der Wächter die Reihen entlang. Der Hauptkontrolltafel warf er einen flüchtigen Blick zu; wissend, dass das Ende schon programmiert war, und schritt zügig an ihr vorbei. Die junge Frau hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Dabei war er sich vor wenigen Stunden noch so sicher in seiner Entscheidung gewesen.

Morgen kann das Nervengift immer noch die Anlage fluten, entschied er.

Die trüben Gedanken verbannend trat er ins Freie und stellte lächelnd fest, dass die Mähroboter ihre Arbeit vollendet hatten. Bis zum Horizont hatten die Halme in seinem kleinen, gegönnten Stück der Erde die akkurate Höhe. Er schloss die Augen und genoss den Geruch des frisch gemähten Grases, der angenehm in der Luft hing.

Werner Siepler

Der Ehestreit

Bei einem Ehepaar es mal zum Streit kam,

den jeder der beiden jetzt zum Anlass nahm,

den anderen nun boshaft mit zahlreichen

und auch bekannten Tieren zu vergleichen.

„Du hat einen Vogel,“ sie zu ihm sagte,

worauf er nicht zu widersprechen wagte.

Antwortete jedoch schmeichelnd seinem Schatz:

„Das weiß ich doch schon lange, mein kleiner Spatz.“

Kommentar: Das ist niedlich, nur die Metrik stört ein wenig.

Herbert Glaser

Vertippt

Inge setzte ihre Brille auf und las die SMS.

Ich liebe Dich!

Offenbar ein Versehen, denn nur wenige Freundinnen kannten ihre Nummer.

Eine schöne Nachricht ist es trotzdem, dachte sie schmunzelnd. Umständlich gab sie eine Antwort ein.

So etwas Reizendes habe ich lange nicht mehr gelesen.

Entschuldigen Sie bitte, kam als Erwiderung.

Spontan rief Inge die unbekannte Nummer an. Eine tiefe Männerstimme meldete sich.

„Es gibt schlimmere Versehen“, sagte sie.

Er lachte. „In meinem Handy sind häufig benutzte Sätze gespeichert, so wie etwa Ich rufe zurück, Bitte um Terminverschiebung, und eben auch Ich liebe Dich. Eigentlich wollte ich einen neuen Kunden um Rückruf bitten. Dabei habe mich um eine Zeile vertan und dann noch bei der Nummer vertippt.“

„Auf jeden Fall war es schön zu lesen.“

„Es berührt mich, wenn Sie das sagen. Natürlich ist es ein schöner Satz.“

„War er denn immer ernst gemeint?“, hakte Inge nach.

„Am Anfang schon … aber später …“

„Das klingt nicht gut!“

„Ich bin frisch geschieden. Sie hat die Kinder mitgenommen.“

„Tut mir leid. Ich wollte nicht indiskret sein.“

„Sie sind der erste Mensch, dem ich das so offen erzähle.“

„Dabei kennen wir uns doch gar nicht.“

„Vielleicht deshalb. Sie klingen so vertrauenswürdig. Aber ich wollte Sie nicht mit meinen Problemen belasten.“

„Sie belasten mich nicht“, gab Inge schnell zurück.

„Darf ich fragen, wo Sie gerade sind?“

„München“, erwiderte sie etwas verlegen.

„So ein Zufall … ich auch.“

„Nicht zu fassen! Ein Festnetzgespräch wäre deutlich billiger.“

„Dann hätten wir uns aber nicht kennengelernt.“

„Stimmt! Ich bekomme nicht sehr viele Anrufe, wissen Sie.“

„Haben Sie gerade etwas zu tun“, fragte er.

„Nichts Besonderes.“

„Kennen Sie das Cafe am Gasteig?“

Inges Herz schlug deutlich schneller. „Ja, das ist nicht weit von hier.“

„Wollen wir uns um halb vier dort treffen?“

„Das ist eine wunderbare Idee!“

„Sie erkennen mich an meinem weißen Hut.“

Inge hatte ihr feinstes Sommerkleid angezogen, kecke rote Schuhe und eine Handtasche.

Als sie sich dem Cafe näherte, erkannte sie ihn sofort an dem Hut, der vor ihm lag.

Ohne sich etwas anmerken zu lassen, setzte sie sich an einen benachbarten Tisch und musterte ihn. Er hatte volle schwarze Haare und wirkte sportlich.

Ich hätte ihm sagen sollen, überlegte sie, dass ich in einigen Wochen meinen achtzigsten Geburtstag begehe. Er wird furchtbar enttäuscht sein, wenn er mich sieht.

Schulterzuckend tippte Inge in ihr Handy:

Hallo Fremder, vielen Dank für das bezaubernde Gespräch. Leider kann ich Sie nicht persönlich treffen, aber ich wünsche Ihnen alles Gute. Lieben Gruß

Inge

Sie winkte einer Bedienung, plauderte kurz mit ihr und bestellte sich Kaffee und ein Stück Kuchen.

Gerade als sie das Handy ausschaltete, deutete der Unbekannte vor ihr eine Verbeugung an.

„Hallo Inge, erlauben Sie?“ Er zeigte auf den Stuhl ihr gegenüber. „Woher …?“

„Ihre unverwechselbare Stimme.“

„Sehr gerne, nehmen Sie Platz.“

„Nennen Sie mich doch bitte Frank. Schön, Sie persönlich kennenzulernen.“

Kommentar: So schöne Geschichten müssen nicht glaubhaft sein. Herzerfrischend!

Franziska Dittert

Wirklichkeit

in Wirklichkeit komme ich aus dem Kino und

die Welt ist fremd

durch meine Tage laufen die grünen Gnome der Leinwand sie

sind klarer und lauter und greifbarer als die Stadt

die wie Dornröschen atmet

in Wirklichkeit komme ich aus deinen Armen in die Stadt und die Stadt ist fremd

ich kenne alle die Menschen nicht sie sind durchscheinend und möglicherweise sind sie nicht

ihren Stimmen traue ich nicht habe sie nie gerochen habe nie geglaubt sie riechen zu können

in Wirklichkeit sehe ich das Gras wachsen und

nicht das Haus auf der Baustelle

das Gras ist feucht und voll grünem Saft an der Spitze welk eine

kleine Spinne fällt herunter