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Über dieses Buch

Wien 1986, ein Zahnarzt wird ermordet. Der Kriminalbeamte Zedlnitzky übernimmt den Fall, doch niemand aus dem privaten Umfeld des Ermordeten scheint ein Motiv zu haben. Daher Zedlnitzky konzentriert sich auf die Patientenkartei und endlich hat Zedlnitzky eine erste Spur: Sie führt in die Vergangenheit, zurück in die Zeit der NS-Verbrechen. Wobei seine Aufmerksamkeit immer wieder nachhaltig gestört wird. Da ist einerseits sein Vater, ein strammer Sozialist, der sich über den Präsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim mokiert, und da ist andererseits diese Sache in Tschernobyl, von der man nicht so recht weiß, ob sie nun Gefahr bedeutet oder nicht.

Inhalt

Prolog

29. April 1986

Linz, 17. Oktober 1946

30. April 1986

Linz, 25. September 1950

1. Mai 1986

Wien, 28. Mai 1955

Wien, 2. Mai 1986

Wien, 20.6.1970

Wien, 3. Mai 1986

Wien, 24. Juni 1983

Wien, 4. Mai 1986

Wien, 29. Januar 1985

Wien, 5. Mai 1986

Wien, 22. April 1986

Wien, 6. Mai 1986

Wien, 25. April 1986

Wien, 7. Mai 1986

Wien, 29. April 1986

Wien, 8. Mai 1986

Kleine Lesehilfe: österreichisch – deutsch

Andreas Pittler über „Schatten aus Stein“

Prolog

Camp Marcus W. Orr, 29. September 1946

„Du wirst leben, auch wenn Deutschland sterben musste.“

Dieser Satz ging ihm nicht aus dem Sinn, als er in geduckter Haltung hinter dem Mauervorsprung darauf wartete, dass der Lichtkegel des Suchscheinwerfers weiterwanderte. Dabei hatte er schon jede Hoffnung aufgegeben, als er plötzlich diesen Zettel in dem matschigen Brei, den man ihnen hier vorsetzte, aufgetaucht war. Bis zuletzt war es ihm denkunmöglich erschienen, dass ihn irgendein Gericht, und stehe es auch unter der Fuchtel der Siegermächte, verurteilen würde. Er war ein simpler Rottenführer gewesen, mit kaum einem halben Dutzend Männern unter sich, da konnte doch kein Mensch annehmen, dass er irgendwelche Entscheidungsbefugnisse gehabt hätte. Doch das Tribunal des neuen Österreich war anderer Meinung gewesen und hatte ihn zum Tode durch den Strang verurteilt, weil es zur Ansicht gekommen war, dass es ihm möglich gewesen wäre, die neun Zivilisten nicht einen Tag nach der Kapitulation der Wehrmacht zu exekutieren. Als ob Keitels Unterschrift in Karlshorst den direkten Befehl eines Hauptsturmführers aufheben könnte! Aber was wollte man auch von irgendwelchen Lakaien der Alliierten anderes erwarten.

Er hockte immer noch hinter der Ecke, um den Rhythmus des Scheinwerfers besser studieren zu können. Jedes Mal, wenn die nähere Umgebung wieder der Dunkelheit anheimfiel, fing er an, langsam zu zählen. „21, 22, 23 …“ Nach einigen Minuten war er sich sicher. Er hatte genau 40 Sekunden Zeit, den Vorplatz zu überwinden, auf die Mauer zu springen und dann auf die andere Seite zu kommen, ehe der Lichtschein wieder auf genau diesen Bereich fallen würde. Zwei Phasen würde er noch abwarten, dann galt es, so schnell wie nur irgend möglich zu sein.

Nie hätte er sich gedacht, dass die Amis sich als genauso niederträchtig erweisen würden wie der Iwan. Deutlich erinnerte er sich daran, wie froh er gewesen war, als er irgendwo hinter Vöcklabruck auf eine Kolonne amerikanischer Soldaten stieß. Beinahe freudig hatte er sein Gewehr von sich geworfen und die Arme gehoben. Ein paar Wochen Kriegsgefangenschaft, hatte er damals gemeint, dann würde er wieder zu Hause sein, während jene, die in die Hände der Sowjets fallen würden, eher früher als später in Sibirien krepierten.

Doch dann fand er sich plötzlich in Glasenbach, Compound I, wieder, und die Yankees nannten ihn einen Kriegsverbrecher. Dabei war er nicht einmal Parteimitglied gewesen. Und dann dieses Urteil. Mit einem Mal war ihm Sibirien direkt attraktiv erschienen. Er hatte einige Tage gebraucht, um wirklich verstehen zu können, was da vor seinen eigenen Augen geschehen war. Irgendwelche Bauern aus dem Kaff, in dem er die neun Geiseln justifiziert hatte, sagten gegen ihn aus. Einer tat das sogar überaus melodramatisch und berichtete von diesem Feigling, der sich vor ihm auf die Knie geworfen und mit gefalteten Händen um sein Leben gebettelt hatte. Na und? Er hatte trotzdem abgedrückt. Befehl ist schließlich Befehl. Klar aber auch, dass eine solch rührselige Darstellung das Gericht gegen ihn einnehmen musste. Und dann plötzlich diese Worte, die ihm auch jetzt, da er darauf wartete, über den Vorplatz zu hasten, in den Ohren dröhnten: Tod durch den Strang!

Er war sofort in Compound IV überstellt worden, das Straflager mit verschärfter Bewachung. Doch zum Glück bestand die Wachmannschaft, und dies mit vollem Wissen der Amerikaner und der österreichischen Regierung, fast ausnahmslos aus ehemaligen Nationalsozialisten, und so hatte man ihm, buchstäblich im letzten Augenblick, ehe er nach Wien ins Landesgericht überstellt werden sollte, damit man ihm dort den Hals langzog, diesen Zettel zukommen lassen. Und tatsächlich vergaß der Schließer am Abend, seine Zellentür zu versperren.

Der Rest war ein Kinderspiel gewesen. Durch den langen Barrackengang kam er zum Haupttor des Blocks. Dort öffnete er das Oberlichtfenster und zwängte sich hindurch. Dann hechtete er an die Ecke, wo er nun wartete.

„Jetzt aber los“, sagte er sich und sprintete los. Die Mauer, die das Lager von der Salzach trennte, war etwa zweieinhalb bis drei Meter hoch. Er kannte sie von den Hofgängen inund auswendig. Auf halber Höhe befand sich ein loser Ziegel. Den riss er heraus, um anschließend das so entstandene Loch als Steigbügel zu benützen. Seine Hände bekamen den Mauerkranz zu fassen. Er nahm Schwung und schaffte es auf Anhieb, seinen Körper auf den Abschluss der Wand zu ziehen. Einen Moment blieb er flach liegen, dann ließ er sich auf der anderen Seite sachte hinuntergleiten. Als er das Gefühl hatte, sein eigenes Körpergewicht nicht länger halten zu können, ließ er los und sprang auf den Boden.

Er ging in die Hocke und hielt den Atem an. Nichts tat sich. Noch schien niemand seine Flucht bemerkt zu haben. So leise wie möglich legte er die paar Meter zum Flussufer zurück, dann nahm er all seinen Mut zusammen und tauchte in die Fluten. Das Wasser war angesichts der Jahreszeit unangenehm kalt, und seine Kleider schienen ihn sofort auf den Grund ziehen zu wollen, doch er wusste, dass die Salzach an dieser Stelle nicht besonders breit war. Er biss die Zähne zusammen und kraulte mit aller Kraft gegen die Strömung an. Dennoch wurde er fast bis zum Rechenwirt abgetrieben, ehe er endlich, völlig erschöpft, das andere Ufer erreichte. Schnaufend ließ er sich ins Gras fallen und wartete darauf, bis sein Atem sich beruhigt haben würde.

Er keuchte immer noch, als er sich mühsam erhob. Sein ganzer Körper zitterte vor Kälte, und es war nichts gewonnen, wenn ihm zwar die Flucht aus dem Lager gelungen war, er aber am Weg in die Freiheit erfror. Knappe zwei Kilometer westlich lag der Schlosspark von Hellbrunn. Dort mochte er sich über Nacht verstecken können, sagte er sich. Aus Erzählungen wusste er, dass der Park gerne von den Salzburgern für kleinere Ausflüge genutzt wurde. Er würde sich einfach am nächsten Morgen unter die Spaziergänger mischen, um anschließend unauffällig in der Stadt unterzutauchen.

Die Kälte hielt ihn unerbittlich in ihren Klauen. Er klapperte mit den Zähnen und versuchte sich damit zu wärmen, dass er beständig die Arme an die jeweils gegenüber befindliche Schulter warf, als wollte er sich selbst umarmen. Wie gern hätte er ein Feuer gemacht, doch dann hätte er gleich selbst Alarm schlagen können. Mit letzter Kraft überwand er die Parkmauer und fand in einem abgelegenen Stück des Areals einen fein säuberlich zusammengerechten Laubhaufen. Kurz hielt er inne und lächelte. Dann ging er auf die Knie und kroch wie ein Tier mitten in den Haufen hinein. Er legte sich seitwärts, zog die Beine an und schob mit der freien Hand alle Blätter, derer er habhaft werden konnte, auf seinen Körper. Tatsächlich begann er sich nach einer Weile wärmer zu fühlen. Dennoch war er sich nicht sicher, ob es ihm gelingen würde, die Nacht zu überleben. Wenigstens, so dachte er sich, würde er als freier Mann sterben. Und erfrieren war allemal angenehmer als langsam und qualvoll zu ersticken.

Am nächsten Morgen gab es keinen einzigen Körperteil, der ihn nicht schmerzte. Wie ein uralter Greis schälte er sich aus seiner Liegestatt und richtete sich umständlich auf. Hinter einem dicken Baum hielt er Ausschau nach Wanderlustigen. Eine gute Weile gelang es ihm, Hunger und Durst auszublenden, doch mit Fortdauer des Tages begann er sich zu fragen, ob er es nicht doch riskieren sollte, einfach so und ganz allein aus dem Park zu schlendern. Eben, als er bereit war, dieses Risiko einzugehen, hielt eine Gruppe auf ihn zu. Er zählte acht Personen unterschiedlichen Alters, die allesamt recht vertraulich miteinander umgingen, was ihn zu dem Schluss führte, es mit einer Familie zu tun zu haben. Er wartete, bis sie seinen Baum passiert hatten, dann hängte er sich einfach mit einem gewissen Respektabstand an.

Gute 40 Minuten später strebten die Leute wieder dem Ausgang zu. Schon aus weiter Ferne erkannte er, dass niemand die Passanten kontrollierte. Dennoch klopfte ihm das Herz bis zum Hals, als er durch das Tor schritt. Er sah sich um, doch kein Mensch beachtete ihn. Er strebte der Hellbrunner Allee zu, auf der er sich nach Norden wandte. Drei Kilometer später erreichte er den Rudolfskai, umrundete gleichsam den Kapuzinerberg und tauchte schließlich in die Salzburger Altstadt ein.

Zehn Minuten später hatte er das Schloss Mirabell hinter sich gelassen und stand an den Gleisen der Westbahn. Keine 500 Meter rechts von ihm machte er die Umrisse des Salzburger Bahnhofs aus. Kurz überlegte er, ob er sich in der Lage fühlte, jemandem unbemerkt die Brieftasche zu entwenden, damit er an genügend Geld kam, um ganz offiziell die Bahn benützen zu können. Doch rasch verwarf er diesen Plan wieder. Es würde ihm nicht erspart bleiben, bis zum Einbruch der Dunkelheit zu warten. Dann standen die Chancen, wie er meinte, nicht schlecht, sich in einen Güterwaggon zu schleichen und als blinder Passagier eines Zuges diesen unseligen Ort zu verlassen. Ob nach Bayern oder nach Linz, es war ihm einerlei. Hauptsache, er befand sich nicht länger in Salzburg.

29. April 1986

Gruppeninspektor Paul Zedlnitzky erwachte mit einem unguten Gefühl. Er war um Mitternacht zu Bett gegangen, doch er hatte lange keinen Schlaf gefunden. „Hätt’ ich bloß nicht mehr die Nachrichten ang’hört“, sagte er sich, denn eine Meldung hatte ihn eine schiere Ewigkeit wach gehalten. Irgendwo in der UdSSR gab es offenbar ein ernst zu nehmendes Problem mit einem Kernkraftwerk. An den Namen konnte er sich nicht mehr erinnern, irgendetwas mit „Tscherno“ am Anfang. Automatisch blickte er auf seinen Wecker. Punkt 7 Uhr. Ohne zu zögern machte er das Radio an.

Fünf Minuten später saß er immer noch im Bett. Doch sein Befinden hatte sich keineswegs gebessert. Ob Aufstehen überhaupt noch lohnte? Wenn es wahr war, was er da eben gehört hatte, dann ging man besser nicht mehr vor die Tür. Zumindest nicht ohne Geigerzähler.

Zedlnitzky drehte sich zu seiner Frau um, die noch tief und fest zu schlafen schien. Das war ungewöhnlich. Normalerweise stand sie noch vor ihm auf, allein schon, um den beiden Rangen Frühstück zu machen. Peter, der Stammhalter, ging in die zweite Klasse des Gymnasiums in der Ettenreichgasse, während die kleine Jacqueline noch die Volksschule unsicher machte. Zedlnitzky seufzte. Dann war eben er mit Frühstück machen dran. Er schwang die Beine aus dem Bett und suchte tapsend nach seinen Hausschuhen. Als er diese endlich gefunden und über die Füße gestreift hatte, erhob er sich und schlurfte in auffallender Langsamkeit Richtung Küche.

Dort angekommen stellte er erst einmal Kaffee zu. Dann holte er den gestaubten Wecken aus der Brotdose und begann lustlos, einige Scheiben davon mit dem Brotmesser herunterzusäbeln. War dies erfolgreich bewerkstelligt, hatte zwangsläufig das Öffnen des Kühlschranks zu erfolgen, den er aus unerfindlichen Gründen immer noch Eiskasten zu nennen pflegte. Er entnahm selbigem die Margarine und schmierte diese fingerdick auf jede Brotscheibe. Dezentes Gurgeln der Kaffeemaschine signalisierte, dass es bald etwas zu trinken geben würde. Doch damit war nur ihm und seiner Frau gedient. Für die Kinder hatte es Kakao zu sein. Tonlos fluchte Zedlnitzky. Er hatte vergessen, die Milch heiß zu machen. Das war ja direkt ein logistisches Großunterfangen, so ein Frühstück, stöhnte er.

Während er darauf wartete, dass die Milch warm genug war, trug er noch eine Schicht Nutella auf die Brote von Jackie und Peter auf. Die „Mama“ bekam wie gewohnt ihren geliebten Edamer, dafür durfte er sich zwei, drei Räder Braunschweiger genehmigen. Endlich dampfte auch die Milch. Er schnappte das Gefäß mit der „Ovomaltine“ und fügte, nachdem er die Milch in zwei Gläser geschüttet hatte, jeweils drei Esslöffel von den brauen Körnern hinzu. Dann rührte er kräftig um, bis die Flüssigkeit durchgehend schokoladenfarben geworden war. Nun fehlte noch ein Tablett, und schon konnte er seine Leistung unter den Seinen verteilen.

„Aber das wär’ doch nicht notwendig gewesen, Pauli. Ich hätt’s doch selber eh g’macht.“ Leicht verschlafen stand seine Frau hinter ihm und gähnte ihm ein „Guten Morgen“ entgegen.

Er lächelte und zuckte dabei entschuldigend mit den Schultern. „Nutzt’s nix, schad’t’s nix“, schmunzelte er. Seine Frau nahm ihm das Tablett ab. „Ich geh’ mal die Kinder wecken“, sagte sie. Er nickte nur und setzte sich, Luft ausblasend, an den Küchentisch.

Drei Minuten später saß ihm seine Frau gegenüber. Wie er nippte sie zaghaft am Kaffee, ehe sie herzhaft in das Käsebrot biss. Zedlnitzky kaute versonnen an seiner Wurst. „Hast das mitg’kriegt? Das mit dem Atomkraftwerk in Russland?“

Seine Frau sah ihn mit großen Augen an. „Nein! Was denn?“

„Schaut so aus, als wär’ dem Iwan irgendwo eines hochgegangen. Genaueres weiß man aber anscheinend noch nicht.“

„Jesusmarandana“, entfuhr es Frau Zedlnitzky, „und was heißt das?“

Zedlnitzky zuckte abermals mit den Schultern. Diesmal aber ohne jegliches Lächeln. „Was weiß ich“, murrte er. Und nach einer kleinen Pause. „Zum Dienst muss ich wohl trotzdem.“

Als wäre das ein Stichwort gewesen, blickte er auf die Wand oberhalb der Küchentür. Die große Uhr zeigte 7 Uhr 25. Eine schnelle Zigarette, so folgerte er aus dieser Uhrzeit, ging sich noch aus. Er griff nach der Packung „Smart Export“ und holte einen Glimmstängel hervor, was seine Frau zum Anlass nahm, ihrerseits nach ihren „Dames“ zu fingern. „Es ist so ruhig“, konstatierte Zedlnitzky, „ob die zwei Rabenbraten wieder eingeschlafen sind?“

Es war seiner Frau deutlich anzusehen, dass zwei Seelen in ihrer Brust kämpften. Die Lust auf Nikotin und das Pflichtbewusstsein, nach dem Nachwuchs zu sehen.

„Geben wir ihnen noch fünf Minuten. Aber dann kommt die Kavallerie“, erlöste Zedlnitzky seine Frau aus ihrem Konflikt.

Am Weg zurück ins Schlafzimmer, trommelte er mit aller Wucht gegen die Kinderzimmertüren. „Ich geh’ in drei Minuten aus dem Haus. Bis dahin steht ihr zwei fix und fertig in der Tür. Haben wir uns verstanden?“ So militärisch-zackig sein Befehl auch erfolgt war, er erntete kaum mehr als ein leises Gemaule. Eigentlich war er ja schon ein paar Schritte weiter, doch dieser Mangel an Respekt war nicht tolerabel. Er legte den Retourgang ein und riss Peters Tür auf. „Ich red’ da nicht zum Spaß, junger Mann. Zack, zack, gemma, gemma!“ Der Jüngling wusste, dass der Papa es ernst meinte und verfügte sich mit angewiderter Miene ins Badezimmer. Zedlnitzky strebte nun seiner Garderobe zu, wo er eilig die erforderlichen Kleidungsstücke aus dem Kasten fischte. Kaum waren diese angelegt, schnappte er, neben dem Sohnemann im Badezimmer zu stehen kommend, seine Zahnbürste und schrubbte noch eine kleine Weile lustlos herum, ehe er den Mund ausspülte. Er gab seiner Frau noch einen schnellen Kuss, verbunden mit einem Hinweis, er sei spät dran, und verließ sodann eilends die Wohnung.

Direkt vor der Haustür parkte sein Dienstfahrzeug. Er sperrte die Fahrertür des VW Käfer auf und ließ sich in den Sitz plumpsen. Einmal atmete er noch tief durch, dann startete er den Motor. Die Uhr zeigte dreiviertel acht. „Na, da müss’ ma heute wieder auf Niki Lauda machen“, sagte er zu sich selbst, ehe er aus der Parklücke ausscherte und sich auf der Triesterstraße in den Verkehr, der Richtung Matzleinsdorfer Platz unterwegs war, einreihte. Und obwohl er jede Lücke ausnützte, kam er nur recht langsam voran. In der Wiedner Hauptstraße bremste ihn auch noch eine Garnitur der Linie 65 ein, sodass sich Zedlnitzky mit der Tatsache anzufreunden hatte, dass er zu spät ins Büro kommen würde.

Allerdings war es auffallend, dass niemand von der Nuklearkatastrophe Notiz zu nehmen schien. Alles war wie gewohnt, selbst das Gefluche der Autofahrer, die sich in einer konkreten Situation benachteiligt fühlen, unterschied sich in nichts von jenem an jedem anderen Tag. Na ja, Russland war ja auch weit weg. Vielleicht ging sie das ja wirklich nichts an. Und hatte nicht der Benya Toni gemeint, die Atomkraft sei ebenso sicher, wie sie sauber sei? Und der musste es ja schließlich wissen. Immerhin war der Elektriker.

Endlich hatte Zedlnitzky den Karlsplatz erreicht. Von dort bog er in den Ring ein, und nach einem guten Kilometer kam allmählich das Sicherheitsbüro in Sicht. An einer roten Ampel sah er auf seine Armbanduhr. Fünf nach acht. Gut, das mochte angehen. Vor allem, weil sein Vorgesetzter ohnehin selten vor halb neun im Büro erschien. Und die Sekretärin würde ihn schon nicht verpetzen.

Wie jeden Morgen absolvierte er eine Tour vorbei an Wiens Sehenswürdigkeiten. Sein Käfer passierte die Museen, die Hofburg, das Parlament, das Burgtheater und die Universität. Dann erst bog er ein und steuerte den Parkplatz der Polizeidirektion an. Als der Motor nach einem letzten Gurgeln endgültig ruhig geworden war, seufzte Zedlnitzky noch einmal, dann gab er sich einen Ruck und stieg aus dem Wagen aus. Drei Minuten später hatte er den Paternoster erreicht, der ihn in sein Stockwerk brachte.

„Morgen“, sagte er nur, als er an der Sekretärin vorbei seinen Schreibtisch anvisierte.

„Herr Kollege. Die warten schon auf sie.“

Zedlnitzky erstarrte. „Wer?“

„Die anderen Kollegen.“ Sie beugte sich verschwörerisch nach vorn. „Ich glaub’“, fuhr sie mit gesenkter Stimme fort, „es geht um einen Mord.“

Zedlnitzky pfiff durch die Zähne und deutete wortlos auf die Tür seines Chefs. Die Sekretärin nickte nur. Er hängte seinen Staubmantel auf den Garderobenständer, klopfte an die besagte Tür und trat nach einem deutlich vernehmlichen „Herein“ ein. Tatsächlich waren dort schon alle versammelt. Pospischil, ihm altersmäßig am nächsten, nickte ihm aufmunternd zu, während Oberstleutnant Schuchter, sein direkter Vorgesetzter, der sich in seinem Vortrag unterbrochen sah, Zedlnitzky einen strengen Blick zuwarf.

„Da wir jetzt endlich alle vollzählig sind“, fuhr Schuchter schließlich fort, während sich Zedlnitzky eine „Smart“ anzündete, „können wir uns ja wieder dem Fall widmen. Und weil der Kollege Sedelnitzky heute schon so ein Engagement an den Tag gelegt hat, schlage ich vor, er schnappt sich den Kollegen Pospischil und macht sich hurtig auf den Weg.“

Zedlnitzky verkutzte sich beinahe am inhalierten Rauch und unterdrückte den reflexartig auftretenden Hustenreiz. Man brauchte kein Psychologiestudium, um zu erkennen, dass ihm die Situation alles andere als behagte.

Schuchter lächelte spöttisch, lenkte dann aber ein. „Pospischil, sei so gut und weise den verspäteten Kollegen unterwegs ein. Und jetzt: husch, husch.“ Die letzten Worte unterstrich der Oberstleutnant mit einer wegscheuchenden Geste seiner rechten Hand.

„Wo müssen wir hin?“, fragte Zedlnitzky daher, als sie in seinem Wagen Platz genommen hatten.

„Krongasse 4. Fünfter Bezirk. Das Opfer heißt Dinotti.“

„Ein Eisverkäufer oder ein Pizzabäcker?“ Zedlnitzky grinste breit.

„Hörst, deine Schmäh waren auch schon einmal besser. Ned jeder, der so heißt, ist gleich ein Katzelmacher.“

„Ich weiß …“

„… Und nicht jeder Katzelmacher produziert Eis oder serviert Pizzas.“

„Pizze.“

„Danke!“

Zedlnitzky sah seinen Kollegen an. „Wie beim ‚Kottan‘.“

„Ja, nur dass wir noch alle Türen haben.“

„Das kann sich aber ändern …“ Wieder ließ Zedlnitzky seine Zähne blicken.

„Das wär’ keine so gute Idee. Immerhin ist es dein Auto – und kein Streifenwagen.“

„Ah ja. Na gut, dann besser nicht.“ Und nach einer kleinen Pause. „Also, gemma’s an.“

Der Wagen beschrieb eine Kurve und reihte sich schließlich auf der Abbiegespur Richtung Zweierlinie ein, ehe sie selbige bis zur Sezession entlangfuhren, deren charakteristisches goldenes Weinblattdach in der Sonne funkelte. Sie ließen den Naschmarkt rechts liegen und bogen erst nach links Richtung Karlsplatz, gleich danach aber nach rechts in die Operngasse ein.

Sie tuckerten eine gute Weile hinter einem Bus der Linie 59A her, was in Zedlnitzky die Frage aufkommen ließ, seit wann diese nicht mehr „61A“ hieß. Pospischil zuckte nur mit den Schultern und meinte, das sei doch letztlich „wurscht“. Eine Argumentation, gegen die sich schwerlich etwas einwenden ließ. Bei der Station „Große Neugasse“ konnten sie das schwere Gefährt endlich überholen, und zwei Gassen weiter bogen sie beim Antiquitätenhändler Engels ein weiteres Mal nach links ab. Dem folgte eine Tierhandlung und das Gasthaus Grammanitsch, neben dem sich seit einigen Jahren ein neuer Gemeindebau befand, der auf eine merkwürdige Art mit den Biedermeierhäusern kontrastierte, welche die andere Straßenseite zierten. 50 Meter weiter befand sich eine stillgelegte Fabrik, gleich daneben residierte eine Jugendpostille, soweit sich Zedlnitzky erinnerte.

„Nummer 4. Da samma“, statuierte Pospischil und riss seinen Kollegen damit aus dessen Gedanken. Zedlnitzky parkte den Wagen vor dem gegenüberliegenden Haus, ein wenig irritiert über die Abbildung der Stephanskrone, die sich formatfüllend über die Hauswand erstreckte.

Sie stiegen aus und hielten auf die beiden Streifenwagen zu, welche gleichsam den Tatort abschirmten. Zwei Uniformierte salutierten vor ihnen und meinten nur, der Tote liege im ersten Stock. Pospischil und Zedlnitzky nickten synchron und betraten dann das Gebäude. Sie brauchten nicht lange nach dem Fundort der Leiche zu suchen, denn das ganze Haus schien zusammengelaufen zu sein.

„Na, servas. Das ist ja ärger als am Kirtag“, ließ sich Pospischil vernehmen. Sie verschafften sich Zutritt zur entsprechenden Wohnung, die sich als Ordination entpuppte.

„Der Itaker war ein Doktor?“, fragte Zedlnitzky ohne eine Antwort zu erwarten.

Im Behandlungsraum wurden sie fündig. Ein Mann von knapp 70 Jahren, klein, weißhaarig und drahtig, lag mit dem Gesicht nach unten auf einem Perserteppich. Auf den ersten Blick schien er zu schlafen, und erst bei genauerem Hinsehen erkannte man, dass sein Hinterkopf eine blutende Wunde aufwies.

„Den hat jemand erschlagen“, entfuhr es Pospischil.

„Ja, und zwar mit einem stumpfen Gegenstand, wie es so schön heißt“, erläuterte ein Mann in weißem Ärztekittel, in dem Zedlnitzky den Pathologen Weber erkannte. Der fuhr in der Zwischenzeit ungerührt fort. „Es könnte eine Büste gewesen sein, eine Steinvase oder sonst irgendein Staubfänger. Jedenfalls aber keines der hier noch vorhandenen Objekte.“

„Das heißt, der Mörder hat die Tatwaffe verschwinden lassen?“

„Blitzgneißer!“ Weber lächelte schmal.

„Wer war der Tote?“, erlöste Zedlnitzky seinen Kollegen von dessen Existenz auf der Schaufel.

„Ein hierorts praktizierender Dentist. Walter Dinotti“, meldete sich eines der Streifenhörnchen, „wir haben schon im Zentralen Melderegister angerufen. Er hat hier seit 1956 seine Praxis. Geboren 1914 in Wien. Wohnhaft in der Anton-Krieger-Gasse im …“

„23. Hieb“, ergänzte Zedlnitzky. „Ein Zahnarzt also.“

„Na servas“, bemühte Pospischil wieder seine Lieblingsphrase, „das weitet den Kreis der Verdächtigen ins Unendliche aus.“

Zedlnitzky legte die Stirn kraus. „Wie kommst jetzt auf diese Idee?“

„Na geh bitte, ich mein, ein Mundklempner! Kennst du irgendjemanden, der die nicht hasst?“

„Na ja, aber deswegen bringt man sie ja nicht gleich um. Außerdem – der war ja mindestens 71! Wieso ordiniert der dann noch?“ Er erntete nur ratlose Mienen auf seine Frage. „Gut. Das stellen wir später fest. Wer hat den Mord überhaupt gemeldet?“

Das Streifenhörnchen konsultierte seinen Notizblock. „Die Frau Gudrun Walter. Sie hätte um 7 Uhr 30 einen Termin für eine Wurzelbehandlung g’habt …“

„Ist die noch da?“

„Ja. Sie sitzt nebenan im Wartezimmer.“

Zedlnitzky trat durch die Tür in den Nebenraum. Dort saß eine überaus attraktive Brünette Mitte 30, die ein wenig aufgewühlt wirkte, was ihn aber nicht im Mindesten verwunderte. Schließlich fand man nicht jeden Tag einen Toten.

„Geht’s, gnä’ Frau?“, fragte er höflich. Die Frau nickte. Zedlnitzky machte eine schnelle Geste in Richtung des Uniformierten. Indem er zweimal ganz flott eine Trinkbewegung imitierte, gab er dem Mann zu verstehen, er solle der Walter ein Glas Wasser bringen. Dann setzte er sich langsam auf einen freien Stuhl.

„Können Sie mir sagen, was Sie wahrgenommen haben, Frau Walter?“

Diese räusperte sich. Genau in diesem Augenblick brachte der Polizist das Wasser, welches sie dankbar entgegennahm. Nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, fing sie langsam zu sprechen an.

„Ich hätt’ eine Wurzelbehandlung gebraucht. Und weil ich seit 20 Jahren beim Doktor Dinotti bin, wollt’ ich halt, dass er das macht. Eigentlich hat er ja um diese Uhrzeit keine Ordination, aber weil ich es war, hat er g’meint, ich soll um halb acht da sein, dann richtet er mir das.“

Zedlnitzky gab zu verstehen, dass er verstanden hatte. „Also hab’ ich zur vereinbarten Zeit an die Tür geklopft, und die ist auf einmal aufgegangen. Ich hab’ einen Moment gezögert, doch dann bin ich reingegangen. Ich hab den Herrn Doktor gerufen, aber keine Antwort bekommen. Also bin ich weiter. Ich weiß ja, wo das Wartezimmer ist. Ich wollt’ mich eben hinsetzen, als ich ihn durch die offene Tür im Behandlungszimmer liegen gesehen hab’.“

„Und was haben Sie dann gemacht?“

„Ich bin natürlich sofort hin. In seinem Alter denkt man natürlich zuerst an einen Schwächeanfall. Oder an einen Infarkt oder so etwas. Aber dann hab’ ich das Blut gesehen.“

Zedlnitzky nickte mitfühlend, als sich die Frau die Hand vor den Mund hielt.

„Mir ist richtig schlecht geworden. Ich bin zum Fenster gegangen. Das war offen. Dort hab’ ich Frischluft geschnappt und versucht, mich zu beruhigen. Und dann, ja, dann bin ich zurück ins Vorzimmer und hab’ vom dortigen Telefon aus die 133 gewählt.“

„Haben Sie sonst irgendetwas angefasst?“

Die Walter sah ihn direkt an. „Ich weiß nicht. Kann sein. Ich war so außer mir, dass ich darauf nicht geachtet hab’.“

„Ja, das ist verständlich, Frau Walter. Es ist nur möglich …“, er zögerte ein wenig, da er nicht taktlos erscheinen wollte, „dass wir dann vielleicht Ihre Fingerabdrücke bräuchten. Wissen S’, damit wir die gegebenenfalls zuordnen können.“ Nun war es wieder an der Walter, zu nicken.

„Und, Sie waren schon lange Patientin bei Doktor Dinotti?“

„Nun ja, das hat sich so ergeben. Ich habe Anfang der Siebzigerjahre hier in der Krongasse gewohnt, und da war er im wahrsten Sinn des Wortes naheliegend.“

Zedlnitzky nickte.

„War die Praxis auch damals schon so …“, er suchte nach dem passenden Wort, „verwaist?“

Die Walter sah ihn verständnislos an. Offenkundig hatte sie den Sinn seiner Frage nicht erfasst.

„Na, hier sieht es nicht danach aus, als gäbe es besonders viel Betrieb. … Keine anderen Patienten“, meinte er und umschrieb das Gesagte mit einer raumgreifenden Geste. „Immerhin haben wir es nach neun Uhr, und niemand ist gekommen, um sich behandeln zu lassen.“

„Nun ja, der Herr Doktor war ja schon siebzig. Ich weiß nicht, ob er noch viele Patienten behandelt hat. Ich selbst komme ja auch nur noch aus alter Anhänglichkeit zu ihm.“

Das schien einleuchtend zu sein. Zedlnitzky machte sich geistig eine Notiz. Gleich nach dem Gespräch würde er die Ordination nach den Unterlagen mit den Behandlungen durchsehen.

„Aber er wird doch eine Ordinationshilfe beschäftigt haben. Und eine Sekretärin, eine … Empfangsdame.“

„Tut mir leid. Darüber weiß ich nichts“, sagte die Walter. „Ich meine, ja, früher schon. Jetzt, glaube ich, macht seine Frau für gewöhnlich den Empfang. Und wenn es nötig ist, dann hilft sie auch im Behandlungszimmer aus.“

„Gut, Frau Walter. Ich denke, das war vorläufig alles. Wenn Sie noch die Güte hätten, uns Ihre Fingerabdrücke zu überlassen, dann war’s das auch schon.“ Er rang sich ein Lächeln ab. Dann wendete er den Kopf und rief in den Nebenraum: „Hackl, kannst du einmal übernehmen?“ Zedlnitzky stand auf und gab der Frau die Hand. Er nickte noch einmal und ging wieder in jenen Raum, in dem immer noch der Ermordete lag.

Nichts deutete auf eine Auseinandersetzung hin. Alles war in penibelster Ordnung. Daraus folgerte Zedlnitzky, dass Dinotti aus irgendeinem Grund seinem Mörder den Rücken zugekehrt und dieser erbarmungslos zugeschlagen hatte. Und weiters war daraus zu schließen, dass es nicht um materielle Motive gegangen war. Der Mörder hatte nichts gesucht und wohl auch nichts an sich genommen, denn allein die goldene Uhr des Toten war sicherlich ein Vermögen wert. Zedlnitzky ließ seinen Blick durch das Zimmer wandern. Direkt neben dem schwarzen Schreibtisch befand sich ein metallischer Aktenschrank. Er trat näher, griff an die erste Lade, zog sie heraus. Der Schrank war nicht verschlossen. „Na bitte“, sagte er sich mit einem Lächeln, „die Patientenakten.“

Dinotti war offenbar schon auf dem Weg in den Ruhestand gewesen, denn die Kartei erwies sich als erstaunlich schütter. Pro Buchstaben gab es kaum mehr als zehn Namenskärtchen, von denen viele jedoch seit langer Zeit nicht mehr benutzt worden waren. Überschlagsmäßig hatte der Zahnarzt zuletzt nur noch rund 40 bis 50 Personen regelmäßiger betreut. Nun, das machte die Sache überschaubarer.

Mittlerweile war Hackl wieder zu ihm zurückgekehrt. „Die Frau Walter hab’ ich mit der Funkstreife nach Hause fahren lassen. Was jetzt?“

Zedlnitzky deutete auf den Aktenschrank. „Schau dir diese Karteikarten durch, ob dir darunter irgendein Name auffällt. Du weißt schon, etwas, das wir wissen sollten. Ich geh’ einmal nach unten und frag die Hausmeisterin, was sie uns zu dem Dinotti sagen kann.“

Im Erdgeschoss wurde er fündig. Über der Tür befand sich ein Metallschild mit der Aufschrift „Hausbesorger“. Auf der Tür ein wesentlich kleineres, auf dem der Namenszug „Matic“ eingraviert war. Er läutete an. Nichts tat sich. Zur Sicherheit klopfte er, doch abermals war keine Reaktion zu erkennen. Unwillkürlich musste er an die alte Polizeiweisheit denken, dass niemand mehr über ein Haus wusste als die jeweilige Hausmeisterin. Doch dieser ehrenwerte Berufsstand war auch nicht mehr, was er einmal gewesen ist. Früher war ein Hauswart rund um die Uhr auf den Posten!

Zedlnitzky kramte gerade in seinen Taschen, um eine Visitenkarte zu hinterlassen, als das Haustor aufging. „Was du wollen?“, hörte er eine rauchige Stimme in seinem Rücken. Er drehte sich um. Eine etwa 50-jährige, leicht füllige Frau mit bemerkenswert auftoupierten pechschwarzen Haaren und je einem Plastiksackerl in jeder Hand kam auf ihn zu. „Bin ich Matic Suza. Bin ich Hauswart“, stellte sie sich vor. Zedlnitzky wollte zu einer Erklärung ansetzen, als sie eine Tasche abstellte und eine begütigende Geste machte. „Weiß ich schon. Polizei. Weil Doktor ist tot oben.“ Dabei deutete sie mit dem Zeigefinger vage in Richtung erster Stock.

„Genau. Und darum bräuchte ich jetzt von Ihnen einige Auskünfte, Frau Matic.“

Die Hausmeisterin gab ihm zu verstehen, er möge ihr folgen. Einen Moment später stand er in einem engen, lichtlosen Vorzimmer mit drei Türen an der linken Seite, wohingegen sich auf der rechten Seite eine längere Garderobe und ein Ganzkörperspiegel befanden, während es am Ende des Raumes eine weitere Tür gab. Aus Erfahrung schloss Zedlnitzky, dass die ersten drei Türen zum WC, zum Bad und zur Küche führten, sodass der Eingangstür gegenüber wohl das Wohnzimmer angesiedelt war. Und genau dorthin führte ihn die Matic nun.

„Willst du trinken etwas? Wasser, Bier, Slibowitz?“

Zedlnitzky hätte gerne Ja zum mittleren Angebot gesagt, doch er fand, es mache sich nicht gut, wenn man als Polizist ein alkoholisches Getränkt annahm. „Ein Glas Wasser, wenn Sie hätten“, statuierte er daher.

Er setzte sich in einen der beiden Lederfauteuils und wartete auf die Frau, die in die Küche gegangen war, um sein Wasser zu bringen. Das Wohnzimmer, so befand er, unterschied sich in nichts von so vielen anderen in dieser Stadt. In der Mitte der Rückwand thronte eine große Couch, die links und rechts von zwei Sesseln flankiert war, während in der Mitte des Ensembles ein dunkelbrauner Tisch stand, der mit einer weißen Häkeldecke drapiert war. Am linken Tischbein erkannte er die charakteristische Kurbel, die es ermöglichte, die Höhe des Tisches zu verstellen. Und ein schneller Blick und das weiße Stoffteil überzeugten ihn davon, dass sich darunter zwei Tischplatten befanden, sodass er sich auf seine doppelte Größe erweitern ließ. Mit ein paar leichten Verrichtungen konnte man so aus einem Beistelltisch ganz leicht einen Esstisch machen, weshalb dieses Möbel vor einigen Jahren überaus populär gewesen war, vor allem bei jenen Familien, deren Platz eher beengt genannt werden musste.

Der Sitzgruppe gegenüber befand sich der Wandverbau, auch dies ein Klassiker. Wie gewohnt sehr massiv und in dunklem Holz gehalten. Rechts und links wies eine solche Konstruktion in der Regel Bücherregale auf, während zentral eine große, freie Fläche Platz für den Fernseher bot, über den sich dann, wie auch in diesem Fall, eine kleine, verglaste Fläche dazu eignete, eine Art Zimmerbar darin zu beherbergen. Ergänzt wurde dieser wuchtige Schrank durch eine im Vergleich grazile Anrichte, auf der eine Emailschale stand, die man für Obst ebenso wie für diverse Knabbereien verwenden konnte. Gleich daneben, auch dies nachgerade charakteristisch für das Wiener Wohnen, das Telefon. Und, wie sollte es anders sein, darunter ein weiteres Häkeldeckchen.

Zedlnitzkys Blick wanderte zurück auf seine Seite des Raumes und schweifte dabei über die Fensterfront. Na bitte, dachte er, Jalousien und weiße Vorhänge. Wie in wohl einer Million anderer Wohnungen in dieser Stadt auch. Die Matics hielten sich an das hierorts Gängige.

Ebenso war es üblich, über der Couch einen Ölschinken zu platzieren, der vielleicht als einziger in solchen Zimmern Raum für etwas Individualität bot. In eher konservativ eingestellten Häusern fand man an dieser Stelle ein Alpenmotiv, mitunter auch noch den berühmten röhrenden Hirschen, während in den Wohnungen der jugoslawischen Gastarbeiter meist südliche Landschaften vorherrschend waren. Dieses Gemälde zeigte das blaue Meer mit ein paar Schiffen und auf der rechten Bildseite eine Art Hafen sowie, daran anschließend, ein mittelalterlich anmutendes Häuserensemble. Zedlnitzky kam die Szenerie ziemlich italienisch vor.

„Zadar. In Kroatien“, klärte ihn die Matic, die mit dem Glas Wasser zurückgekehrt war, auf. „Ist Stadt der Geburt von meine Mann. Bild erinnert ihn an Heimat.“ Dabei lächelte sie.

Zedlnitzky gestand sich ein, sie hätte auch Tsingtao sagen können. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wo sich dieses Zadar befand. Aber deswegen war er auch nicht hier. Er blickte auf den schweren gläsernen Aschenbecher, der sich auf dem Tisch befand.

„Ist es gestattet?“

„Bitte“, sagte sie nur.

Er holte seine „Smart Export“ hervor und zündete sich eine an. Dabei fiel ihm auf, dass die Matic ebenfalls eine Packung hervorgeholt hatte. Mit einer leicht gehobenen Augenbraue registrierte er, dass er die Schrift nicht zu lesen vermochte.

„Drina“, erriet sie seinen Gedanken. „Sind von zu Hause. Legal! Eine Stange für Person.“ Unweigerlich musste Zedlnitzky lächeln. Selbst wenn die Matic die Zollbestimmungen umgangen hätte, es wäre auch nicht seine Sache gewesen.

„Nun, Frau Matic, wie gut kannten sie das Opfer. Den Herrn Dinotti, meine ich.“

Die Matic blies Rauch aus und sah haarscharf an Zedlnitzky vorbei. „Ich nicht kann sagen, dass bin gekennt gut. Er immer war … wie sagt … distanciran …“

„Sie meinen, er war distanziert?“

„Da … ja. Nicht viele Worte. Immer nur guten Tag, wie geht? Nie mehr.“ Zedlnitzky befand, ein Nicken konnte an dieser Stelle nicht schaden. Gleichzeitig hielt er seinen Blick auch weiterhin erwartungsvoll auf die Frau gerichtet. „Und Doktor war alt. Nicht mehr viele Menschen bei ihm. Hat auch nicht gearbeitet oft. Nur drei Tage in Woche.“ Wieder bewegte Zedlnitzky seinen Kopf auf und ab.

„Früher das war anders. Er viele hat … doraditi … handel… handelt?“

Zedlnitzky fühlte sich dazu berufen, der Frau beizuspringen. „Sie meinen, früher hat er viele behandelt.“

Nun nickte sie. „Aber mein Mann sagt, er gar kein Doktor. Nur Zubotehnicar … Dentist. Viele gehen lieber zu echte Zubar … zu Arzt für Zahn.“

Jetzt nickte Zedlnitzky wieder.

„Früher oft auf Gang haben gewartet Menschen schon ganz früh. Heute niemand kommt. Weiß nicht, warum er hat offen noch.“

Zedlnitzky hatte da so seine Ahnung. Wahrscheinlich gestand sich der alte Dinotti nicht ein, dass es Zeit war, die Segel zu streichen. Und mit der Praxis, auch wenn nur noch wenige Patienten kamen, mochte er sich das Gefühl erhalten haben, noch nicht zum alten Eisen zu gehören.

„Ist ihnen heute irgendetwas aufgefallen in der Früh?“, fragte er schließlich.

„Nein. Alles wie immer. Wie jeden Tag. Aber heute auch nicht Tag für Stiegenwaschen und Geländerputzen. So ich auch nicht war oben in erste Stock. Doktor nicht gesehen. Habe Wäsche gewaschen, dann ich bin gegangen einkaufen. Und jetzt ich bin wieder zurück.“

Zedlnitzky erinnerte sich daran, dass dieses Haus bereits eine Sprechanlage aufwies. Es gab also keinen Grund mehr für eine Hausmeisterin, morgens um 6 das Haustor aufzusperren. Das aber bedeutete, dass sich keinesfalls sagen ließ, wann Dinottis Mörder das Haus betreten hatte. Andererseits war es kaum anzunehmen, dass er sich mitten in der Nacht Zutritt verschafft hatte, um dann stundenlang darauf zu warten, dass der Dentist ebenfalls in der Krongasse ankam. Viel wahrscheinlicher war wohl, dass die beiden entweder direkt einen Termin vereinbart hatten und sich also, wenn auch nur oberflächlich, kannten, oder aber, dass der Täter seinem Opfer hierher gefolgt war.

„Sie wissen also nicht, wann der Herr Dinotti heute hier eingetroffen ist?“

„Tut mir leid, nein. Aber das wird wissen seine Frau.“

Zedlnitzky war, als wäre ihm eben ein Stromstoß verabreicht worden. Natürlich! Die Ehefrau! Die ihm auch als Ordinationshilfe zur Seite stand. An die hatte er bislang gar nicht gedacht.

„Frau Matic. Vielen Dank erst einmal. Auch für das Wasser. Ich darf mich, falls ich noch etwas brauchen sollte, nochmals an Sie wenden, ja?“

Matic blieb das abschließende Nicken.

Als Zedlnitzky wieder in der Ordination eingelangt war, suchte er Hackl.

„Und? Simma da fertig? Gut! Dann fahren wir jetzt einmal in die Kriegergasse und bringen seiner Frau das da schonend nahe.“ Er nickte Pospischil und den anderen von der KTU zu und verließ dann mit Hackl im Schlepptau das Haus.