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Unni Lindell

Nachtschwester - Ein Norwegen-Krimi

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

Saga

Wer sieht,

weiß nicht, was er nicht sieht.

 

Und das Leben schleicht leise dem Grabe entgegen,

obwohl das Kind dem Tage sorglos entgegenlächelte.

Dazwischen wogt ein Leben in Wellen.

Herman Wildenvey

Acht Minuten nach Mitternacht,
Dienstag, der 20. Februar.

Die Frau wühlte im Handschuhfach nach Geld für die Straßenmaut. Zugleich konzentrierte sie sich darauf den Wagen auf der Straße zu halten. Im Autoradio sang Chris Rea mit heiserer Stimme seinen «Winter Song». Die Frau fand Geld, knallte die Klappe wieder zu und schob sich den Fünfziger zwischen die Oberschenkel. Dann legte sie wieder beide Hände aufs Lenkrad.

Die Busnische tauchte kurz vor dem Verteilerkreis auf. Die Autoscheinwerfer zerteilten die Dunkelheit und färbten das graue Wartehäuschen für einige Sekunden lang gelb, dann schweiften sie wieder über den Schneematsch und den dunklen Asphalt, ehe sie plötzlich ein junges Mädchen anstrahlten. Das Bild dieses Mädchens, das sich auf zwei Krücken lehnte, war überraschend. Sie mochte zwölf oder dreizehn sein. Vielleicht auch vierzehn. Die Frau schaute auf die Uhr. Es war acht Minuten nach Mitternacht. Das Mädchen hatte halblange blonde Haare. Sie trug einen beigen Dufflecoat und eine dunkle Hose. Die Autoscheinwerfer hielten ihr Bild einige Sekunden lang fest, und die Frau im Wagen konnte noch registrieren, dass das Mädchen an dem einen Fuß einen schwarzen Snowjogg-Stiefel mit dicker,schwerer Sohle und an dem anderen einen Gipsverband trug. Sie stützte sich auf die Krücken. Sie hatte das Gesicht halb abgewendet. Das Bild hatte etwas Beunruhigendes. Junge Mädchen sollten nachts nicht an einsamen Bushaltestellen vor Tunneleingängen herumstehen.

Die Frau fuhr in den Verteilerkreis und bog in Richtung der dunklen Öffnung ab. Sie wollte den langen Tunnel durchqueren, der unter dem Fjord an das andere Ufer führte, zur Halbinsel Hurum. Es war der 20. Februar. Es war ein Grad unter Null, in der Luft hing ein leichter Nieselregen.

Er War Eben Erst eingeschlafen, als er vom Telefon geweckt wurde. Hauptkommissar Cato Isaksen fuhr hoch. Als Erstes fiel ihm auf, dass er vergessen hatte, die Nachttischlampe auszuknipsen. Die Kriminalzeitschrift war neben das Bett geglitten und hatte sich bei einem Artikel aufgeschlagen, in dem es um ihn selbst ging.

Er griff zum Handy, drückte auf Antworten und räusperte sich zweimal, ehe er etwas sagte. Am anderen Ende der Leitung hörte er Roger Høibakk, mit dem er nun schon seit Jahren zusammen arbeitete.

«Ältere Frau in Ullevål Hageby erschossen», sagte Roger kurz. «Du hast doch wohl noch nicht geschlafen?»

Cato Isaksen warf einen Blick auf den Wecker. Der zeigte 23.16 Uhr. Es war noch immer Mittwoch, der 7. März.

«Nein», sagte er kurz und fuhr sich über die Augen. Dieses eine Mal war er früh zu Bett gegangen. Bente hatte Nachtdienst im Pflegeheim. Die Geräusche von unten verrieten ihm, dass sein Sohn Vetle noch immer vor dem Fernseher saß.

Roger Høibakk wusste nicht viel über diesen neuen Todesfall.

«Die Meldung ist eben erst eingelaufen», sagte er. «Wir sind unterwegs zum Tatort. Wann kannst du da sein?»

«In fünfundzwanzig Minuten», sagte Cato Isaksen. Er schlug die Decke zur Seite und setzte sich auf. Sein Blick fiel auf den roten Kater, der sich im Bett ausgestreckt hatte und sich jetzt am Fußende zusammenrollte.

Cato Isaksen hatte die Vorhänge nicht geschlossen. In der Fensterscheibe sah er sein weißes, scharf geschnittenes Gesicht. Er sah einen müden Siebenundvierzigjährigen mit schütteren blonden Haaren. Seine Augen im Glasbild glichen schwarzen Löchern. Nach einem Herbst mit fast nur Regen, auf den ein kalter, schneereicher Winter gefolgt war, blieb ihm nicht mehr viel Energie. Er rief seinem Sohn gereizt zu, er solle machen, dass er ins Bett komme.

«Du musst morgen in die Schule.»

Er zog sich an und begegnete seinem Sohn mitten auf der Treppe.

«Ich hab es so satt, dass du nicht selber auf die Uhr schaust», sagte er wütend. Der Sohn zuckte gleichgültig mit den Schultern.

Cato Isaksen schnappte sich seine Wagenschlüssel. Dann lief er rasch in die Küche und trank einige große Schlucke Leitungswasser, ehe er in die kühle Nachtluft hinaustrat.

Auf dem Weg zum Auto, das am Ende der Garagenanlage stand, drehte er sich kurz um und warf einen Blick auf die dicht an dicht liegenden Reihenhäuser. Eigentlich wäre er gern umgezogen, hätte sich ein Einfamilienhaus zugelegt. Aber dazu war es jetzt vielleicht schon zu spät, die Söhne waren schließlich schon siebzehn und zwanzig Jahre alt. Der Jüngste, Georg, war die meiste Zeit bei seiner Mutter. Cato Isaksen zog seine Jacke fester zu. Die Märzluft brachte einen eisigen Hauch mit. Er fror durch den Jackenstoff. Der Frühling hatte es in diesem Jahr wirklich nicht eilig.

 

Ullevål Hageby war bekannt wegen seiner englischen Steinhäuser mit alten Dachziegeln und kleinen Gartenparzellen. Es war ein ganz besonderer Baustil, und in den letzten Jahren war die Gegend sehr beliebt und sehr teuer geworden.

Als Cato Isaksen in die John-Colletts-Allee abbog, sah er schon aus der Ferne das Blinklicht der Streifenwagen und die Menge der Neugierigen.

Der Kommissar hielt halbwegs auf dem Bürgersteig. Er schaute sich um und ging dann auf seine fröstelnden Kollegen zu. In den kleinen Steinhäusern brannte hinter vielen Fenstern Licht.

Eine Schar von zehn bis fünfzehn Neugierigen stand hinter der Polizeiabsperrung und unterhielt sich leise miteinander. Ihre weißen Gesichter leuchteten im Schein der Lampen, die die Polizei aufgestellt hatte. Die roten und weißen Bänder schwangen im Wind langsam hin und her. Die Zuschauer musterten die Polizei und den Arzt, der zum Tatort gerufen worden war. Die gesamte Maschinerie war bereits in Gang gesetzt. Uniformierte Kollegen vom Ordnungsamt sprachen mit den Anwesenden und notierten alles, was vielleicht wichtig sein könnte. Danach baten sie die Leute, sich zurückzuziehen.

Cato Isaksen begrüßte kurz die Kollegen von der Technik. Er hielt Ausschau nach Ellen Grue, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Die Polizei notierte die Nummern der in der Straße abgestellten Wagen und fotografierte die Umgebung.

Das Opfer, eine alte Dame, lag auf der Seite. Ein Arm war auf seltsame Weise nach hinten gebogen, so, als sei er aus Gummi. Ihre Augen waren geschlossen. Die grauen Haare waren nach vorn gerutscht und bedeckten große Teile ihres Gesichts. Cato Isaksen betrachtete den Mund mit den verkniffenen, bleichen Lippen. Der helle Frühlingsmantel wies auf dem Rücken einen großen dunklen Blutfleck auf. Das Blut war weitergeströmt und bildete jetzt auf dem Asphalt eine kleine Lache. Die Frau hatte beim Fallen einen soliden Laufschuh verloren. Dem Fahnder fiel auf, dass ihre dicken braunen Strümpfe an der Ferse gestopft waren. Noch immer durchfuhr es ihn eiskalt beim Anblick des Todes. Er konnte sich auch noch Jahre später an einzelne ausdruckslose Totenmasken aus zurückliegenden Fällen erinnern. Er blieb stehen und musterte den Leichnam. Eine armselige alte Frau. Ihre Tasche lag einen Meter von ihr entfernt. Sie war nicht geöffnet.

Roger Høibakk kam zu ihm herüber. Er nickte kurz.

«Jetzt geht das wieder los», sagte er.

Cato Isaksen nickte ebenfalls.

«Wer ist sie?»

«Brenda Elise Moen, fünfundsiebzig. Sie hat gleich hier in der Straße gewohnt, in Nummer 51.»

Roger Høibakk zog seine Handschuhe besser zurecht. Er reichte Cato Isaksen einen Bibliotheksausweis.

«Ihre Tasche kommt mir ganz unberührt vor. Das hier hab ich aus ihrer Brieftasche gefischt.»

Cato Isaksen nahm den Ausweis entgegen, sah ihn aber nicht an.

«Das war jedenfalls kein Handtaschenräuber.» Roger Høibakk nickte zu der schwarzen Tasche hinüber.

Cato Isaksen dachte, das wäre ja wohl übertrieben gewesen, eine alte Dame zu erschießen, nur um ihre Brieftasche zu stehlen. Aber geschossen wurde in dieser Stadt nun wirklich oft genug. In der Regel waren es Banden aus den verschiedenen Zuwandererszenen, die aneinander gerieten. Auch Drogensüchtige, Türsteher und Frauen mit eifersüchtigem Ehemann oder Liebhaber standen ganz oben auf der Liste der Opfer solcher Schießereien. Aber nicht alte Damen mit soliden Schuhen und gestopften Strümpfen.

Etwas an der Ermordeten kam ihm komisch vor. Wie sie so da lag, hilflos, auf dem Boden, mit den verschlissenen Strümpfen und den abgenutzten Schuhen, mit ihrem Frühjahrsmantel, der auch schon bessere Tage gesehen hatte. Etwas an ihr kam ihm erbärmlich vor. Und etwas stimmte nicht an der ganzen Situation.

Die nächststehende Laterne schien durch einen Baum mit kahlen Zweigen. Eine Reihe von Mülltonnen wurde gewissenhaft von zwei Polizisten untersucht. Die Hundestreife war ebenfalls am Werk. Ein Schäferhund und ein Labrador bellten kurz und ungeduldig und zerrten an ihren Leinen. Drei Streifenwagen waren im Einsatz und deren Besatzungen sahen sich die nächste Umgebung an. Vor allem hielten sie Ausschau nach einigen jungen Skatern, die ungefähr zur Mordzeit in der Gegend gesehen worden waren.

Ein Streifenwagen polterte in hohem Tempo über ein Geschwindigkeitshindernis und hielt hinter den Zuschauern. Ellen Grue von der Technik, gekleidet in Jeans und schwarze Lederjacke, und eine Kollegin stiegen aus. Der beißende Wind packte Ellens kurzen dunklen Schopf. Sie sah sich um, ehe sie auf die Straße trat und unter der Absperrung hindurch schlüpfte. Cato Isaksen ließ die kleine schlanke Frau nicht aus den Augen.

Angeblich hatte Ellen Grue sich mit einen Anwalt zusammengetan. Einem bekannten. Er war fast sechzig. Ein eleganter Mann, mit großer Wohnung, gleich mehreren Ferienhäusern und viel Geld. Aber alt, dachte Cato Isaksen. Ihm war die Sache überaus unangenehm. Ellen war eine pflegeleichte Geliebte gewesen, pflegeleicht und doch schwierig. Sie verstanden einander. Hinterher gab es niemals irgendwelche Scherereien. Einmal hatte Ellen gesagt, sie habe das Gefühl ihn auszunutzen, nicht umgekehrt. Er hatte es fantastisch gefunden, das von einer Frau zu hören. Aber eben weil die Beziehung so leicht gewesen war, war er sich auch einige Male wie ein Betrüger vorgekommen. Ellen nervte nicht, hatte ihn vielleicht durchschaut. Oder sie brauchte ihn nicht zu durchschauen, weil sie ihn verstand. Aber jetzt verletzte es ihn doch, dass die Sache für sie nicht wichtiger gewesen war.

Sie nickte ihm kurz zu, streifte ihren Papieranzug über und zog ein Paar Plastiksocken aus einer Tasche.

«Zieh du auch welche an», rief sie und warf ihm zwei blaue Socken zu. Dann zog sie sich eine hellgrüne Haube über die Haare.

Cato Isaksen streifte die Plastiksocken über seine dicken Schuhe und rieb sich kurz das Gesicht. Plötzlich fühlte er sich ausgesprochen munter.

Ein Journalist war dazu gekommen und rief Cato Isaksen etwas zu. Das Blitzlicht zerfetzte den dunklen Frühlingsabend mit seinem harten weißen Flackern. Der Kommissar fuhr gereizt herum und wollte ihn vertreiben.

«Sie wissen doch, dass wir nichts sagen dürfen, so lange die Angehörigen nicht informiert sind», sagte er.

Das junge Paar, das im nächststehenden Haus wohnte, saß in einem Streifenwagen und machte seine Aussage. Offenbar hatten die beiden etwas gesehen. Sie hatten den Mord bei der Polizei gemeldet und von den jungen Skatern erzählt, die kurz vorher vorbeigefahren waren.

Roger Høibakk trat wieder neben ihn. Das Licht einer auf einem Stativ angebrachten Lampe beleuchtete die eine Hälfte seines Gesichtes. Cato Isaksen fiel auf, dass die dunklen Haare seines Kollegen hinter dem Ohr ein wenig grau wurden.

Wir werden langsam alle alt, dachte er traurig.

Das Haus war keine hundert Meter vom Tatort entfernt. Brenda Elise Moen war Witwe, wie Roger jetzt berichtete. Ihr Mann war schon viele Jahre tot. Das Opfer hatte zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn war unter derselben Adresse gemeldet wie die Mutter.

Cato Isaksen schaute seinen Kollegen mit ernster Miene an und nickte.

«Schnapp dir einen jungen Kollegen und sieh dir die Nr. 51 an», sagte er.

 

Roger Høibakk und der junge Polizeianwärter gingen die Straße entlang. Zwei Neugierige folgten ihnen langsam. In der Auffahrt zur John-Colletts-Allee 51 stand ein weißer Volkswagen Passat CL. Im Erdgeschoss war alles dunkel. Im ersten Stock brannte Licht. Das Tor stand offen. Die Polizisten gingen über den schmalen Kiesweg zwischen den Gartenparzellen. Eine steile Steintreppe führte zur Haustür. Dort waren untereinander zwei Namensschilder angebracht. Das trübe Licht, das durch die Buckelglasfenster der Haustür fiel, machte es möglich, die Namen zu entziffern. Brenda E. Moen stand neben der Klingel für das Erdgeschoss, der Name des Sohnes, Alf B. Moen, neben der für den ersten Stock.

Roger Høibakk drückte auf den oberen Klingelknopf. Er merkte, dass der junge Kollege aufgeregt und nervös wirkte.

«Erstes Mal?», fragte er. Der Junge schüttelte den Kopf. «Zweites», sagte er.

Høibakk klingelte noch einmal. Nach einer Minute hörten sie, dass drinnen eine Tür geöffnet wurde. Die Lampe über der Haustür wurde eingeschaltet, und Schritte auf der Treppe verrieten, dass jemand zu ihnen unterwegs war.

Ein Mann mittleren Alters, dessen runder Bauch unter seinem gestreiften Bademantel verborgen war, öffnete die Tür. Er war nicht besonders groß, fast kahl, hatte aber noch rötlichen Haarflaum an den Ohren. Seine Füße leuchteten in der Dunkelheit kreideweiß. Er musterte die Besucher neugierig.

Roger Høibakk stellte sich vor und fragte, ob er mit Brenda Elise Moen verwandt sei.

Der Mann sah ihn an. Sein Gesicht nahm einen wachsamen Ausdruck an, dann drehte er sich um und schaute zur Tür hinüber, die zur Erdgeschosswohnung führte. Die war verschlossen.

«Brenda Moen ist meine Mutter», sagte er und nickte zur Tür hinüber. «Sie wohnt dort.»

Als Roger Høibakk versuchte, ihm möglichst schonend beizubringen, was geschehen war, musterte der Sohn ihn zuerst verständnislos, dann wurde er wütend. Er schaute kurz auf die Uhr, die inzwischen fast Mitternacht zeigte, lief zur Tür seiner Mutter und klingelte dort. Als nichts passierte, wollte er aus seiner eigenen Wohnung den Schlüssel holen.

«Bestimmt schläft sie», sagte er, als habe er nicht gehört, was der Polizist ihm mitgeteilt hatte.

«Das ist nicht nötig», sagte Roger Høibakk. «Ich habe Ihnen wirklich die Wahrheit erzählt, sie ist tot.»

Aber Boris Moen war jetzt sichtlich verwirrt und wollte sofort zum Tatort laufen, aber die Polizisten konnten ihm das wieder ausreden.

«Warten Sie auf jeden Fall, bis Sie sich ein wenig beruhigt haben», sagte der junge Polizist und beugte sich freundlich etwas in seine Richtung.

«Er hat getrunken», flüsterte er dann seinem Kollegen zu.

Roger Høibakk nahm den scharfen Geruch wahr, meinte aber, der könne auch eine andere Ursache haben. Terpentin vielleicht.

«Haben Sie getrunken?», fragte er. Alf Boris Moen schüttelte energisch den Kopf Er wich zurück, tastete nach dem Geländer und ließ sich auf eine der untersten Stufen fallen. Offenbar litt er unter Atembeschwerden, und Roger Høibakk bat den Kollegen, einen Arzt zu holen.

«Sollen wir auch einen Geistlichen verständigen?», fragte Roger Høibakk freundlich.

Alf Boris Moen schüttelte den Kopf.

«Mutter geht um diese Zeit nie aus dem Haus», sagte er nur immer wieder. «Sie geht um diese Zeit nie aus dem Haus. Jedenfalls nicht so.»

«Wie meinen Sie das?»

Alf Boris Moen schlug die Hände vors Gesicht. Seine Finger waren dick, an einem steckte ein Ring.

«So spät», sagte er. «So spät geht sie nie aus dem Haus.»

Roger Høibakk und sein junger Kollege gaben sich alle Mühe, ihn zu beruhigen. Über Situationen wie diese wurde im Dienst oft gesprochen. Über den Umgang mit Angehörigen. Wie konnten sie freundlich und verständnisvoll auftreten, wo sie in Wirklichkeit doch überarbeitet waren und Informationen brauchten, sonst nichts. Sie brauchten Informationen über die Mutter, und zwar ganz schnell. Glaubte er zum Beispiel, die Mutter habe irgendwelche Feinde gehabt? Solche Dinge. Aber das konnten sie gleich vergessen. Im Moment war es unmöglich, aus dem Mann auf der Treppe eine vernünftige Antwort herauszuholen. Schließlich war soeben dessen Leben zerbrochen.

«Vielleicht sollten wir in Ihre Wohnung gehen und uns dort weiter unterhalten.» Roger Høibakk versuchte ihm beim Aufstehen zu helfen. «Waren Sie den ganzen Abend zu Hause?»

Der Mann nickte. «Ich habe nichts gehört. Ich dachte, Mutter sei schon ins Bett gegangen. Sie geht immer gegen halb elf, elf schlafen.»

«Der Wagen draußen in der Auffahrt ...»

«Der gehört mir. Mutter hat kein Auto. Sie hat auch keinen Führerschein. Haben Sie meine Schwester Helena schon unterrichtet?», fragte er traurig und kam mühsam auf die Beine.

«Dazu sind wir noch nicht gekommen», sagte Roger Høibakk. «Wo wohnt sie?»

«In Drøbak. Bitte, rufen Sie sie an.»

«Ja, gleich», sagte Roger Høibakk und zog sein Telefon aus der Tasche. In diesem Moment kam der Arzt, ein junger Mann in Lederjacke, die Steintreppe hoch.

 

Der Leichnam wurde kurz nach Mitternacht weggebracht. Die beiden Polizisten von der Hundestreife suchten noch immer die Umgebung ab. Die Besatzungen der Streifenwagen erstatteten Bericht. Einer hatte die jungen Skater gefunden, das war alles. Sie wurden zur Wache gefahren und dort vernommen.

Cato Isaksen ging zu Ellen Grue hinüber. «Es ist schweinekalt», sagte er. Sie nickte kurz und widmete sich weiter der Spurensicherung. Die meisten Neugierigen waren verschwunden, einer nach dem anderen. Aber noch immer standen die Menschen an ihren Fenstern und betrachteten die Streifenwagen, die Absperrung und das kleine Zelt, das am Fundort aufgestellt worden war. Der Wind fegte kalt zwischen den Steinhäusern dahin und durch die Straße, riss in den teilweise mit Eis bedeckten kleinen Gärten an Zweigen und Büschen.

Die Polizisten sehnten sich nach der Wache, wo sie sich aufwärmen könnten. Der Tatort wurde mit einem provisorischen Zaun gesichert. Ein Wagen wurde für die Nacht dort postiert.

 

Cato Isaksen sprach in einem Verhörraum mit den Skatern. Das kalte Licht der Neonröhren ließ ihre Gesichter noch weißer aussehen, als sie es in Wirklichkeit schon waren. Vor den Fenstern lag die schwarze Nacht. Die Jungen mit den hängenden Hosenböden, den Anoraks und den typischen, tief ins Gesicht gezogenen Mützen, hatten den Ernst der Lage offensichtlich erkannt.

«Wir kamen von der Rampe oben am Damplass. Und dann hörten wir einen Schuss», sagte der eine. «Und dann noch einen. Ich drehte mich um und er drehte sich um, aber der da», sagte der Junge und zeigte auf einen Kumpel, «der ist nur weitergefahren, als ob nichts passiert wäre.»

«Das war doch bloß, weil ich das doch nicht wusste. Ich dachte einfach, das ist irgendein Jux.» Er zuckte kurz mit den Schultern. «Feuerwerk oder Chinaböller oder so.»

«Ich drehte mich um und sah eine alte Dame, die die Straße entlang ging, von uns weg», sagte der Erste. «Das war alles. Ich weiß nicht, ob auf diese alte Dame geschossen worden ist, ob der erste Schuss nicht getroffen hat oder ob es um eine ganz andere alte Dame ging.»

«Dass jemand auf dem Boden lag, ist euch also nicht aufgefallen?»

Die Jungen schüttelten den Kopf.

«Dann kamen ein paar Autos», sagte einer. «Zwei, vielleicht. Ein BMW, glaube ich.»

Cato Isaksen redete zwanzig Minuten mit ihnen. Die Jungs konnten nur diese Beobachtungen liefern. Sie waren zum ersten Mal in diesem Jahr mit den Skates unterwegs gewesen, erzählten sie. Der Ermittler sah einen nach dem anderen an, dankte ihnen und ließ sie mit einem Zivilwagen nach Hause bringen.

Er hatte seine festen Mitarbeiter und die einzige Mitarbeiterin im Team einberufen. Randi Johansen war schon zur Stelle. Sie schaltete in einem Verhörraum das Licht ein. Die Neonröhren unter der Decke zuckten zweimal, dann kamen sie zur Ruhe und ließen ihr kühles Licht durch den Raum schweifen. Eine Viertelstunde später waren alle zur Stelle, nur Preben Ulriksen nicht.

Asle Tengs, der älteste Ermittler, holte zwei Stühle und stellte sie vor den ovalen Besprechungstisch. Die Abteilungschefin Ingeborg Myklebust war informiert worden, hatte aber mitteilen lassen, dass sie erst am nächsten Morgen wieder im Haus sein werde. Cato Isaksen war das nur recht. Er und die Chefin hatten ihr gespaltenes Verhältnis wieder aufgenommen, nach einer kurzen Zeit der Besserung, als Myklebust schwer krank geworden war. Seitdem sie wieder im Dienst war, war alles wieder beim Alten.

Sie nahmen am Tisch Platz. Roger Høibakk brachte einen Computerausdruck.

«Brenda Moen hat dreißig Jahre lang in der Kantine des Krankenhauses Ullevål gearbeitet», sagte er. «Sie hat vor etwas über zehn Jahren aufgehört, damals war sie vierundsechzig. Gegen sie liegt nichts vor. Nicht einmal eine Buße wegen Falschparkens.»

«Vielleicht hatte sie keinen Führerschein», sagte Randi Johansen spöttisch.

«Stimmt», sagte Roger.

«Warum hat der Täter die Tasche nicht an sich gerissen? Das Opfer war ja wohl kaum sehr stark», murmelte der junge Kollege. Es war deutlich, dass er sich in dieser Besprechung der erfahrenen Kollegen pudelwohl fühlte. Eigentlich war er ein lernwilliger Grünschnabel. Es herrschten geteilte Meinungen darüber, ob Leute wie er, die noch kaum Erfahrungen gemacht hatten, an Mordermittlungen beteiligt werden sollten. Und es gab gute Gründe dafür und gute Gründe dagegen. Aber das System sah nun mal ihre Teilnahme vor.

«Vielleicht ging es ihm ja gar nicht um die Tasche», meinte Randi Johansen.

Roger Høibakk streckte unter dem Tisch die langen Beine aus. Auf einem Zettel, der vor ihm lag, standen Namen aus der Nachbarschaft, unter anderem der einer alten Dame, die ein Stück weiter die Straße hoch wohnte, schräg gegenüber von Nr. 51. Sie wollte die Polizei gern in ihre Wohnung bitten, hatte sie gesagt. Roger Høibakk hatte ihr auch einen Besuch für den nächsten Tag versprochen, so dass sie dann mehr erzählen könnte. Sie wollten die ganze Gegend abfragen, um festzustellen, ob irgendjemand etwas gesehen habe, was den Ermittlungen weiterhelfen könnte.

Randi Johansen spielte immer wieder mit ihrem Trauring am Finger. Sie runzelte die Stirn. «Gehen alte Damen oft abends um elf noch weg?», fragte sie.

Die anderen schüttelten den Kopf. «Der Sohn hat bestätigt, dass das sonst nicht vorgekommen ist. Sie wurde um kurz vor elf erschossen auf der Straße aufgefunden», sagte Roger Høibakk und blätterte in den Unterlagen, die vor ihm lagen. Der Zettel mit dem Namen der alten Dame aus dem Haus gegenüber fiel dabei zu Boden.

«Die Nachricht ist genau um 22.58 Uhr eingetroffen», sagte er. «Ein junges Ehepaar aus dem Nachbarhaus hatte sie nach wenigen Minuten gefunden. Sie hatten den Schuss gehört, es war wohl nur einer oder vielleicht auch zwei. Sie liefen ans Fenster. Es war dunkel, aber die Straßenlaterne zeigte den Bürgersteig vor dem Haus. Sie sahen dort nur zwei Wagen und drei Skater, die weiter hinten in der Dunkelheit verschwanden, ansonsten war alles still. Erst, als sie sahen, dass andere zum Tatort liefen, gingen sie auch nach draußen. Sie glaubten zuerst, nur ein paar Böller gehört zu haben, weil die drei Skater doch eben erst auf ihren Brettern vorbei gekommen waren.»

«Die Knaben haben wohl nichts damit zu tun», sagte Cato Isaksen. «Sie sagen, dass der Tatort schon weit hinter ihnen lag, als geschossen wurde. Und das stimmt auch mit den Beobachtungen der anderen Nachbarn überein.»

«Dann kann es doch ein Taschenräuber gewesen sein», warf der junge Polizist schüchtern ein.

Randi Johansen nickte zustimmend. «Vielleicht hat ihn etwas daran gehindert, die Tasche an sich zu reißen.»

Cato Isaksen ging die Papiere mit seinen Notizen durch und fasste das wenige zusammen, was sie inzwischen wussten.

«Das junge Ehepaar aus dem Erdgeschoss des Nachbarhauses hat die Schüsse gehört, ist aber erst eine halbe Minute später losgelaufen, als sie sahen, dass der alte Mann von gegenüber zum Tatort unterwegs war. Brenda Elise Moen hat offenbar hinter dem Zaun gelegen, so dass sie sie vom Haus aus nicht sehen konnten. Diese Beobachtungen passen zu dem, was die Skater gesagt haben», erklärte Cato Isaksen und gab seine Notizen in ein kleines Diktiergerät ein.

«Mittwoch, 7. März, 22.58 Uhr, wurden Schüsse in der John-Colletts-Allee gemeldet. Das Opfer war fünfundsiebzig Jahre alt. Sie hat einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn, Alf Boris Moen, arbeitet im Verteidigungsministerium, die Tochter Helena Bjerke, derzeit krank geschrieben, ist sonst in einer Reinigung tätig.»

«Er arbeitet im Verteidigungsministerium? Man kann doch nicht Alf Boris heißen und im Verteidigungsministerium arbeiten», sagte Preben Ulriksen, der soeben den Raum betreten hatte. Er ließ sich gelassen auf einen freien Stuhl fallen. Auf seiner Stirn zeigte sich noch das Muster von seinem Kopfkissen.

Cato Isaksen schaltete gereizt das Diktiergerät aus, dann schaltete er es wieder ein und redete weiter:

«Der Sohn heißt Alf Boris Moen», wiederholte er. «Die Tochter, Helena Bjerke, wohnt mit ihrer Familie in Drøbak. Sie sind siebenundvierzig und zweiundvierzig Jahre alt. Sie sind beide informiert. Der Sohn wohnt im selben Haus wie die Mutter in der John-Colletts-Allee 51. Er hatte offenbar keine Ahnung davon, dass seine Mutter noch wegging. Sie haben getrennte Wohnungen, das kann also durchaus stimmen. Roger Høibakk glaubt, dass er Alkohol getrunken hatte, aber betrunken war er nicht.»

Cato Isaksen schaltete das Diktiergerät aus. Randi Johansen beugte sich über den Tisch vor, um etwas zu sagen, wurde aber von Preben Ulriksen daran gehindert. «Hast du eigentlich Kaffee aufgesetzt?», fragte er müde.

Randi Johansen bedachte ihn mit einem eiskalten Blick. «Nein», sagte sie. «Du bist zuletzt gekommen, also mach du das.»

Cato Isaksen musterte beide und nickte dann Preben kurz zu, als Zeichen dafür, dass der den Kaffee übernehmen sollte. Zugleich klingelte das Handy in seiner Tasche. Preben Ulriksen stand auf und verließ das Zimmer, während Cato Isaksen das Telefon hervorzog. Er erkannte Ellen Grues Nummer. Sie teilte kurz mit, dass sie jetzt die Leichenhalle verließe.

«Es waren zwei Schüsse», sagte sie, als sie zehn Minuten später den Raum betrat. «Vermutlich zwei», sagte sie und machte eine kurze Handbewegung, dann zogen sie und eine weitere Kollegin sich Stühle an den ovalen Tisch und setzten sich.

Cato Isaksen starrte für einen Moment die Tischplatte an. Ellens Anwesenheit ließ ihn niemals unberührt. «Wie schnell können wir den vorläufigen Obduktionsbericht haben?», fragte er.

Ellen Grue schaute ihm ins Gesicht. «Die Pathologen kamen gerade, als wir gingen», sagte sie. «Versprechen kann ich ja nichts. Morgen gegen Mittag, vielleicht. Oder heute, meine ich.» Sie schaute rasch auf die Uhr, die jetzt fünf vor halb zwei zeigte.

Ellen und die andere Technikerin erhoben sich und verließen das Zimmer. Zehn Minuten darauf sagte Cato Isaksen, er müsse zur Toilette. Er ging hinaus auf den Flur, rief Ellens Handynummer an und fragte, ob sie wirklich heiraten wolle. Sie zögerte. Er sagte, er habe ein Recht, das zu erfahren. Worauf sie kurz lachte und bejahte. «Klar doch», sagte sie. «Ich heirate den Anwalt.»

Cato Isaksen ging auf die Toilette und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dann riss er sich zusammen und ging zu den anderen zurück.

Inzwischen war die Nachricht eingetroffen, dass ein Hund eine Spur zum Haus der Toten zurück verfolgt hatte. Der andere Hund war auf einem kleinen Fußweg zwischen zwei Gärten und dann weiter zur Hauptstraße und zur Straßenbahnkehre im Sognsvei gelaufen.

Thorsen und Billington kamen herein. Die beiden Fahnder mittleren Alters operierten fast immer zusammen und hatten mit einem älteren Ehepaar gesprochen, das der Fundstelle gegenüber wohnte.

«Die wollten uns gar nicht wieder weg lassen», sagten sie resigniert. «Es gab Kaffee und Kuchen und Familienbilder und ich weiß nicht, was alles.» Die anderen grinsten.

«Das ältere Ehepaar hat Schüsse gehört und ist ans Fenster gelaufen. Die Tote lag schon auf dem Boden, und der Mann ist so schnell es ging zum Tatort gerannt», erzählte Billington eifrig. «Er hat ein dunkles Auto und eine Person gesehen, die um die Kurve verschwanden. Zugleich kam das junge Ehepaar aus dem Nachbarhaus. Sie hatten bereits die Polizei informiert.»

 

Erst gegen vier Uhr morgens war Cato Isaksen wieder zu Hause in Asker. Auf der Heimfahrt dachte er an die alte Dame und das Ende, das sie gefunden hatte. Die Fahnder hatten sich schon ein ungefähres Bild des Ereignisverlaufs gemacht.

Der rote Kater sprang vom Sofa, als Cato Isaksen die Tür aufschloss. Er sehnte sich nach Gesellschaft. Reckte sich müde vor seinen Beinen und rieb sich dann an seinen Waden. Aber Cato Isaksen schob ihn energisch mit dem einen Fuß beiseite. «Es ist noch nicht Morgen», murmelte er, ging in die Küche und nahm sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank. Dann ging er nach oben und deckte Vetle zu, ehe er den Pullover über den Kopf zog und im Badezimmer verschwand. Er legte sich in das leere Doppelbett und schlief drei Stunden lang tief. Dann klingelte der Wecker und er ging duschen. Auf dem Weg zur Haustür, wo er seinen Mantel anziehen wollte, begegnete ihm Bente, die vom Nachtdienst kam. Er erklärte ihr kurz, was geschehen war. «Ich war um vier wieder da», sagte er. Bente war müde und wollte wissen, ob Vetle verschlafen habe. Cato Isaksen fluchte leise. Er hatte schon wieder vergessen, den Jungen zu wecken. Und das war ihm eben nicht zum ersten Mal passiert. Er lief in den ersten Stock und donnerte gegen die Tür des Jungenzimmers. «Aufstehen», rief er und ging wieder nach unten in die Küche. «Er sitzt aber auch die halbe Nacht vorm Fernseher», sagte er genervt.

Bente musterte ihn mit resigniertem Blick. «Ich begreife nicht, wieso es so schwer sein soll ihn zu wecken. So viele Pflichten hast du hier im Haus ja wirklich nicht. Aber jetzt, wo du dir über einen neuen Fall Gedanken machen kannst, können wir dich ja wohl für die nächsten Wochen vergessen», sagte sie bissig. Cato Isaksen ging und knallte energisch mit der Tür.

 

Als Cato Isaksen den Fahrstuhl verließ, lief ihm ein aufgeregter Roger Høibakk über den Weg.

«Brenda Elise Moens Enkelin ist vor vierzehn Tagen verschwunden», sagte er. «Die Zeitungen haben in den letzten Tagen ausgiebig über sie berichtet. Sieh mal!» Er hielt seinem Chef eine Tageszeitung hin.

Cato Isaksen nahm die Zeitung und starrte das Bild des hübschen blonden Mädchens an. NICHTS NEUES ÜBER KATHRINE, lautete die Schlagzeile.

Jetzt mischte Preben Ulriksen sich ins Gespräch. Die beiden Fahnder redeten wild durcheinander. Sie hatten die ganze Nacht gearbeitet. Cato Isaksen legte zerstreut seine Jacke ab, schlug die Zeitung auf und überflog die Artikel.

«Woher wisst ihr, dass das Moens Enkelin ist?»

«Helena Bjerke hat es nicht erwähnt, als ich sie über den Mord an ihrer Mutter informiert habe», sagte Roger Høibakk. «Die Kollegen aus Follo haben sich gemeldet, als sie von dem Mord gehört haben.»

«Warum hat Alf Boris Moen nichts gesagt?»

«Das ist vielleicht kein Wunder. Sicher war es ein Schock für ihn, noch so eine Horrornachricht hören zu müssen», meinte Preben Ulriksen verständnisvoll.

 

Cato Isaksen ging über den Flur, erreichte sein Büro und schlug vor sich auf dem Tisch die Zeitung auf. Roger und Preben folgten ihm. «Die ist von gestern», sagte Roger Høibakk eifrig.

Cato Isaksen hatte das Gefühl das Mädchen auf dem Bild zu kennen. Lächelnd, hübsch, mit blauen Augen und blonden Haaren. Er hatte jeden Tag über sie gelesen. Sie war am 20. Februar aus Drøbak verschwunden. Kathrine Bjerke war erst vierzehn. Zuletzt war sie von einer Autofahrerin gesehen worden, die sie um kurz nach Mitternacht vor dem Eingang zum Oslofjordtunnel beobachtet hatte.

Neues gab es noch nicht. Die Umgebung, Wald und Fjord gleichermaßen, war nach ihr abgesucht worden. Cato Isaksen vertiefte sich in den Artikel. Eine Zeugin kam gleich nach Mitternacht an einer Bushaltestelle vorbei. Zwei Tage, nachdem die Zeitungen erstmals von Kathrine Bjerkes Verschwinden berichtet hatten, teilte sie der Polizei mit, dass sie an der Bushaltestelle kurz vor dem Oslofjordtunnel ein junges Mädchen mit Krücken gesehen habe. Die Polizei hält diese Beobachtung für zuverlässig. Die Frau beschrieb ein Mädchen, das große Ähnlichkeit mit Kathrine hatte, und das mit den Krücken war ebenfalls korrekt.

Die Zeitung brachte ein großes Bild dieser Zeugin. Auf ihrem Schoß saß ein Baby.

Cato Isaksen ließ sich im Sessel zurücksinken. Preben hatte Kaffee für ihn geholt. Er nahm die Tasse entgegen, ohne sich zu bedanken. Die Fahnder tauschten einen Blick. Sie kannten einander. Hatten schon zahllose Besprechungen dieser Art hinter sich gebracht.

 

Plötzlich stand die Abteilungsleiterin, Ingeborg Myklebust, in der Türöffnung. Sie trug ein rosa Twinset und einen braunen Rock. Sie schien guter Dinge zu sein. In der Hand hielt sie das Dagbladet.

«Die haben schon von Brenda Moen erfahren», sagte sie. «Aber sie haben den Mord noch nicht mit Kathrine Bjerkes Verschwinden in Verbindung gebracht.»

«Natürlich nicht», meinte Preben Ulriksen. «Wir wissen das ja selbst erst seit ein paar Minuten. Tolle Frisur übrigens», fügte er hinzu und zwinkerte ihr zu.

Ingeborg Myklebust ignorierte diese Schmeichelei. Alle wussten, dass sie Komplimente hasste. Sie ließ sich auf einem freien Stuhl nieder.

«Alte Damen werden hier in der Stadt ja vielleicht nicht jeden Tag erschossen», sagte sie.

«Dass Jugendliche verschwinden», sagte Roger Høibakk und gähnte, «kommt dagegen häufiger vor.»

«Sie ist erst vierzehn», sagte Ingeborg Myklebust. «Das ist also sehr ernst.»

Das fanden die anderen auch. Natürlich hatten sie den Fall schon verfolgt. Die Polizei des Bezirks Follo war zusammen mit der Kripo für die Ermittlungen im Fall Kathrine zuständig. Dass ihr Verschwinden etwas mit dem Mord an einer alten Frau in Ullevål Hageby zu tun haben sollte, wirkte unbegreiflich, aber zweifellos interessant.

«Das Spiel der Zufälle ist oft der pure Wahnsinn», sagte Preben Ulriksen und gähnte ebenfalls.

Die Abteilungschefin nickte mit ernster Miene.

«Ich finde, du solltest sofort mal mit ihrer Mutter sprechen», sagte sie zu Cato Isaksen.

«Sie wohnt in Drøbak», sagte Roger Høibakk. «Ich komme mit. Wir fahren, sowie die Kollegen aus Follo hier gewesen sind. Die können jeden Moment eintreffen.»

«Jetzt?» Cato Isaksen schaute auf die Uhr.

«Wir müssen so schnell wie möglich ans Werk gehen», sagte Roger Høibakk mit müdem Lächeln. «Anders Ovesen von der Kripo hat sich ebenfalls angesagt. Die sind seit einer Woche an der Sache dran.»

Cato Isaksen spürte, wie der Missmut in ihm aufstieg. So war es immer zu Beginn eines neuen Falles. Er wusste, dass er von nun an viele Stunden im Dienst sein würde. Aber heute durfte er nicht vergessen, Georg, seinen jüngsten Sohn, aus dem Kindergarten zu holen. Der Junge war das Resultat einer kurzen Liason mit Sigrid Velde, mit der er fünf Jahre zuvor zusammen gewesen war. In dieser Beziehung hatte es sehr viel Hin und Her und viele Verletzungen gegeben. Nachdem er fast zwei Jahre mit der Mutter des Kleinen zusammengelebt hatte, war er zu seiner Exfrau Bente zurückgekehrt und sie hatten ein zweites Mal geheiratet. Er fuhr sich rasch über das Gesicht. Er musste sich von seinen Kollegen allerlei Witze über sein Privatleben anhören. Das war an sich nicht weiter schlimm. Eigentlich waren die Sprüche ja meistens ziemlich harmlos. Er war jedoch froh darüber, dass die anderen keine Ahnung von ihm und Ellen hatten. Dass Ellen jetzt heiraten wollte, war vielleicht gar nicht so schlimm, denn für ihn bedeutete es schließlich ein Problem weniger.

Thorsen und Billington hatten ebenfalls die ganze Nacht gearbeitet. Asle Tengs dagegen war munter und ausgeruht. Preben, Roger und der junge Kollege gähnten um die Wette.

Randi Johansen wurde beauftragt, festzustellen, welche gewalttätigen Vorbestraften sich derzeit auf freiem Fuß befanden. Psychopathen, Gewalttäter, alle Typen.

«Ich nehme mir die Drogensüchtigen vor», kündigte Asle Tengs mit ruhiger Stimme an. «Auch wenn ihre Tasche noch da lag, so hatte er es ja vielleicht doch darauf abgesehen.»

 

Eine halbe Stunde später trafen die beiden Kollegen aus Follo ein. Cato Isaksen begrüßte sie und sammelte das ganze Team im größten Besprechungszimmer. Fünf Minuten darauf klopfte Anders Ovesen von der Kripo an die Tür. Nach zwei Minuten unverbindlichen Geplauders machten sie sich an die Arbeit. Die beiden Kollegen aus Follo legten ihr Material über den Fall Kathrine vor, Fotos und Berichte über alles, was sie bisher unternommen hatten. Es gab eine gründliche Übersicht über alle Instanzen, die sich an der Suche beteiligt hatten. Heimwehr, Rotes Kreuz und andere Freiwillige. Wann und wo sie gesucht hatten, alles war genau notiert. Im Hafenbecken hatten sie ein Mini-U-Boot und Taucher von der Marine eingesetzt, um festzustellen, ob Kathrine vielleicht ins Wasser gefallen war. Vierzehn Jahre alte Mädchen, die verschwanden, standen automatisch hoch auf der Liste der Prioritäten. Sie hatten alles unternommen, um sie zu finden. Kathrine Bjerke war ein Scheidungskind. Sie hatte einen Stiefvater, aber mit dem schien sie sich nicht sonderlich gut zu verstehen. Aber nichts in ihrer engsten Familie oder ihrem Bekanntenkreis wirkte unnormal. Sie traf ihren biologischen Vater regelmäßig und hatte ein gutes Verhältnis zu ihrer Mutter. Die Polizei hatte mit Kathrines Schule gesprochen, aber das hatte keine neuen Antworten gebracht. Die Klassenlehrerin bezeichnete Kathrine Bjerke zwar nicht als Musterschülerin, aber doch als guten Durchschnitt. Ein wenig vorlaut vielleicht, aber von der Sorte hatten sie mindestens noch vier oder fünf in der Klasse. Konnte Kathrine als Anführerin gelten? Ja und nein. War sie fürsorglich? Ja und nein. Intelligent? Ja. Es gab auch einen Bericht über ein Gespräch mit der Pastorin, bei der sie den Konfirmandenunterricht besuchte. Die Pastorin beschrieb Kathrine als ganz normal. Nicht sonderlich interessiert an Religion, aber das galt für die allermeisten, die den Unterricht besuchten. Die Polizei hatte überprüft, ob Kathrine Kontakte zur Drogenszene gehabt haben könnte. Hier waren sie gründlich vorgegangen, da Rauschgiftprobleme oft den Ausschlag gaben. Aber das Ergebnis war negativ. Politisch engagiert war Kathrine auch nicht, und das Internet interessierte sie ebenfalls nicht sonderlich.

Die Fahnder hatten Theorien aufgestellt, nach denen Kathrine möglicherweise schwanger oder unglücklich oder böse war. Ergebnisse gab es nicht, und die Auskünfte, die in ihrem Freundeskreis gesammelt worden waren, wiesen nicht darauf hin. Kathrine Bjerke konnte freiwillig verschwunden sein, wie es jedes Jahr so viele Jugendliche taten, die dann nach einiger Zeit doch wieder auftauchten. Sie konnte entführt und ermordet worden oder ins Wasser gefallen und ertrunken sein. Zuletzt gesehen hatte sie die Autofahrerin, die sie am 20. Februar einige Minuten nach Mitternacht vor dem Tunneleingang beobachtet hatte.

Natürlich war alles möglich. Allein in den vergangenen zwei Jahren waren in Norwegen siebzehn Kinder und Jugendliche umgebracht worden. An sich gab es keinen Grund zu der Annahme, dass der Mord an ihrer Großmutter in Ullevål Hageby etwas mit Kathrine Bjerkes Verschwinden zu tun haben könnte. Trotzdem war es ein seltsamer Zufall. Es kam vor, dass Fälle auf eine unglaublich unwahrscheinliche Weise miteinander zusammenhingen. Weshalb es wichtig war, sich nicht in eine bestimmte Theorie zu verbeißen.

Anders Ovesen von der Kripo ergriff das Wort. Cato Isaksen kannte ihn als etwas selbstgerechten, aufgeblasenen Mann. Die Beziehung zwischen Ingeborg Myklebusts Abteilung und der Kripo war bisweilen alles andere als herzlich. Erfahrungsgemäß war es nicht immer leicht, wenn viele Polizisten Zusammenarbeiten sollten. Prestige und Neid prägten den Alltag der Polizei. Erwachsene Männer wurden zu Kindern, wenn es darum ging, die anderen zu übertrumpfen.

Ovesen teilte mit, dass die Kollegen aus Follo sich vor einer Woche an die Kripo gewandt hatten. Als Erstes hatten sie daraufhin Kathrine im ganzen Schengengebiet gesucht, das geschah in solchen Fällen immer. Dann hatten sie alle Ergebnisse aus Follo zusammengetragen. Cato Isaksen Intuition sagte ihm, dass dieser Fall sie noch lange beschäftigen würde. «So, wie die Sache jetzt aussieht, ist alles möglich», endete Ovesen und bat alle drei Instanzen zu enger Zusammenarbeit. Cato Isaksen bedachte Roger Høibakk mit einem vielsagenden Blick, und nachdem er in Erfahrung gebracht hatte, wo er und seine Leute Zugang zu Berichten und anderem Material finden konnten, das mit diesem Fall zu tun hatte, setzte er sich mit Roger ins Auto und fuhr nach Drøbak. Sie hatten die Namen von Kathrine Bjerkes Freund, von Freundinnen und Nachbarn und anderen erhalten, die vielleicht mit Auskünften weiterhelfen konnten.

«Ihr Freund heißt Kenneth Hansen. Er ist sechzehn», las Roger Høibakk aus seinen Notizen vor. Cato Isaksen konzentrierte sich aufs Fahren.

«Vor ihrem Verschwinden war sie noch mit diesem Freund und mit ihrer besten Freundin zusammen, Maiken Stenberg», teilte Høibakk dann mit. «Was uns jetzt interessiert, ist, wie ihre Beziehung zu ihrer Großmutter war, und ob sie mit ihr an den Tagen vor ihrem Verschwinden Kontakt hatte. Danach müssen wir ihre Mutter fragen.»

Cato Isaksen nickte und schaute gereizt einem jungen Spund hinterher, der unmittelbar vor einer Kurve in einer alten Karre an ihren vorüberrauschte. Er unterdrückte den Drang, das Blaulicht aufs Dach zu knallen und die Jagd auf den Temposünder aufzunehmen.

«Ich bin ziemlich sicher, dass Brenda Moens Sohn eine Fahne hatte, als wir ihm erzählt haben, was passiert war.» Roger Høibakk kurbelte das Fenster herunter. «Aber warum hat er abgestritten, dass er einen getrunken hatte?»

«Die Leute streiten doch alles Mögliche ab», sagte Cato Isaksen. «Kaum haben sie es mit der Polizei zu tun, scheint ihnen jeder Kleinkram ein schlechtes Gewissen zu machen. Aber da sag ich dir ja nichts Neues.»

Roger Høibakk nickte zerstreut. Als sie am Vergnügungspark Tusendfryd vorbeifuhren, der bis zum Sommer geschlossen war, waren sie bereits seit dreißig Minuten unterwegs. Zehn Minuten darauf hatten sie Drøbak erreicht.