Er wächst in der Sonne, er schläft in der Nacht. Er träumt.

Schläft dein Haus etwa nicht und verlässt also auch nicht die Stadt,

Um sich im Hain oder auf dem Gipfel eines Berges wiederzufinden?

Dschibran Chalil

In der ersten Nacht hatte ich einen reglosen Traum. In meinem Traum bin ich nichts als ein Blick, ein reines Schauen, ohne Körper, ohne Namen. Ich schwebe … hoch über dem Tal an einem nicht näher bestimmten Punkt, von dem aus ich alles oder fast alles sehe. Ich bewege mich in diesem Zustand des Schauens, bleibe aber an derselben Stelle. Oder besser gesagt: Die Welt ergibt sich mir, während ich sie betrachte, sie nähert und entfernt sich, sodass ich entweder alles auf einmal oder nur die kleinsten Einzelheiten sehen kann.

Ich sehe also das Tal, in dem das Haus steht. Es steht mitten in dem Tal aber es ist weder mein Haus noch mein Tal, mir gehört gar nichts, denn ich selbst gehöre mir nicht, so etwas wie ein Ich existiert überhaupt nicht. Ich sehe die Linie des Horizonts, der das Tal von allen Seiten wie ein Ring umschließt. Ich sehe den aufgewühlten, trüben Bach, der zwischen den Hügeln fließt. Ich sehe die Bäume, die mit ihren mächtigen Beinen in der Erde verwurzelt sind, wie einbeinige, unbewegliche Tiere. Die Reglosigkeit der Dinge, die ich sehe, ist scheinbar. Wenn ich will, kann ich den Schein durchschauen. Dann sehe ich unter der Baumrinde die beweglichen Rinnsale des Wassers und der Säfte, die unentwegt kreisen und auf- und absteigen. Unter den Dächern sehe ich schlafende Menschen, und ihre Reglosigkeit ist auch nur Schein;

So träume ich eine unendlich lange Zeit, wie mir scheint. Es gibt kein Vorher und kein Nachher, ich erwarte auch nichts Neues, denn ich kann weder etwas gewinnen noch etwas verlieren. Die Nacht nimmt kein Ende. Nichts geschieht. Selbst die Zeit ändert das, was ich sehe, nicht. Ich schaue, und weder erkenne ich etwas Neues noch vergesse ich etwas von dem, was ich gesehen habe.

Marta

Den ganzen ersten Tag verbrachten wir damit, unseren Grund und Boden abzuschreiten. Die Gummistiefel versanken im lehmigen Boden. Die Erde war rot, der Schmutz, der an den Händen klebte, war rot, und wenn man die Hände wusch, färbte sich das Wasser rot. R. betrachtete zum wiederholten Mal die Bäume im Obstgarten. Alte, buschige Bäume, die in alle Richtungen wucherten. Solche Bäume würden bestimmt

Draußen vor dem Fenster war noch ein Bach, er führte trübes, rotes Wasser, das ziellos die unbeweglichen Wurzeln der Bäume unterspülte und dann im Wald verschwand.

Aus dem Fenster des langen Zimmers sah man Martas Haus. Seit drei Jahren dachte ich darüber nach, wer Marta war. Sie erzählte immer etwas anderes über sich. Jedes Mal nannte sie ein anderes Geburtsjahr. Wie alles hier existierte auch Marta für R. und mich nur im Sommer, im Winter verschwand sie. Sie war klein, ganz weißhaarig und zahnlos. Ihre Haut war runzlig, trocken und warm. Ich weiß es, weil wir uns zur Begrüßung auf die Wangen küssten, manchmal umarmten wir einander auch unbeholfen, und dann nahm ich ihren Geruch wahr. Sie roch nach Feuchtigkeit, die sich nicht trocknen lässt. Dieser Geruch bleibt haften, man wird ihn nicht los. Kleidung,

Marta kam gleich am zweiten Abend. Zuerst tranken wir Tee, dann Hagebuttenwein vom letzten Jahr, der dunkel und schwer war und so süß, dass der Kopf schon nach dem ersten Schluck wie benebelt war. Ich räumte Bücher aus einer Kiste. Marta hielt ihr Glas in beiden Händen und schaute teilnahmslos zu. Ich dachte, Marta könne nicht lesen. So kam es mir vor. Das war möglich, denn sie war so alt, dass ihr die Schulpflicht vielleicht erspart geblieben war. Ihr Blick blieb nie an einem Buchstaben hängen, aber ich fragte sie nie danach.

Die Hunde liefen aufgeregt zwischen drinnen und draußen hin und her. Auf ihrem Fell brachten sie den Geruch von Kälte und Wind mit herein. Sie wärmten sich in der geheizten Küche auf, danach zog es sie wieder in den Garten. Marta kraulte ihnen mit ihren langen, knochigen Fingern den Rücken und sagte ihnen immer wieder, wie schön sie seien. So redete sie den ganzen Abend mit den Hunden. Ich sah ihr aus dem Augenwinkel zu, während ich die Bücher auf den Holzregalen aufstellte. Die Wandlampe beleuchtete ihren Scheitel mit seinem Federbüschel dünner, weißer Haare. Im Nacken wurden sie zu einem Zopf.

 

Es muss Anfang des Frühjahrs gewesen sein, denn das ist hier die Zeit, in der alles beginnt. Es muss auf dem unebenen Gelände des Tales gewesen sein, denn Marta begibt sich nie allein an einen anderen Ort. Bestimmt roch es nach Wasser, nach geschmolzenem Schnee. Sie trug sicher diesen grauen Pullover mit den großen ausgeleierten Knopflöchern.

 

Ich wusste nicht viel von Marta. Ich wusste nur das, was sie mir erzählt hatte. Alles musste ich mir selbst zusammenreimen, und mir wurde klar, dass ich Geschichten über sie erfand. Ich schuf eine Marta mit einer Vergangenheit und einer Gegenwart. Denn sobald ich sie bat, mir etwas über ihre Jugend zu erzählen, darüber, wie damals all das aussah, was jetzt so selbstverständlich erscheint, wechselte sie das Thema, schaute zum Fenster hinaus oder schwieg einfach, widmete ihre ganze Aufmerksamkeit dem Kohl, den sie gerade raspelte, oder flocht ihre fremd-eigenen Haare. Ich verstand das nicht als

»Ja, das weiß ich noch.«

»Also, das ging so weiter …«, und dann spann sie einen eingetrockneten Faden weiter, während ich versuchte, mich daran zu erinnern, von wem sie gesprochen hatte und wo sie stehen geblieben war. Und merkwürdigerweise war mir meistens nicht die Geschichte selbst in Erinnerung geblieben, sondern Marta, während sie erzählte, ihre kleine Gestalt mit den runden Schultern in dem Pullover mit den ausgeleierten Knopflöchern, ihre knochigen Finger. Ich wusste noch, ob sie dabei gegen die Windschutzscheibe des Autos geredet hatte, als wir auf dem Weg nach Wambierzyce waren, um dort Bretter zu bestellen, oder ob es beim Kamillepflücken auf Bobols Feld gewesen war. Auf die Geschichten selbst konnte ich mich nie besinnen, sondern nur auf die Szene, die Umstände, die Welt, die sie in mir Wurzeln schlagen ließ, als seien es gleichsam unwirkliche, erfundene, erträumte,

Ich vergaß viele Dinge, die mir Marta erzählte. Die eine oder andere zusammenhanglose Pointe blieb mir in Erinnerung, so wie Senf, der noch auf dem Tellerrand liegt, wenn die Mahlzeit verzehrt worden ist. Einzelne Szenen, manche schrecklich, manche komisch. Einzelne aus dem Zusammenhang gerissene Bilder, zum Beispiel von Kindern, die mit bloßen Händen im Bach Forellen fingen. Ich wusste nicht, warum ich solche Einzelheiten anhäufte, die ganze Geschichte aber vergaß, obwohl sie ja doch einen Sinn gehabt haben musste, denn sie war eine Erzählung mit Anfang und Ende. Ich behielt nur die Kerne, die meine Erinnerung hinterher, und zwar ganz zu Recht, ausspucken musste.

Es war nicht so, dass ich nur zuhörte. Ich sprach auch mit ihr. Irgendwann am Anfang erzählte ich ihr, dass ich Angst vor dem Sterben hatte, nicht vor dem Tod, sondern vor dem Moment, wenn ich nichts mehr auf später würde verschieben können. Und dass diese Angst immer kommt, wenn es dunkel ist, und niemals tagsüber, und dass sie ein paar schreckliche Momente lang dauert, wie ein epileptischer Anfall. Gleich darauf schämte ich mich,

Marta hatte kein Therapeutenherz. Sie fragte nicht nach, sie ließ nicht das Geschirr in der Spüle stehen, um sich zu mir zu setzen und mir auf die Schultern zu klopfen. Sie versuchte nicht wie andere Leute, alles Wesentliche zeitlich einzuordnen, und fragte nicht: »Wann hat das angefangen?« Es ist ja ohnehin so, dass das am wichtigsten ist, was sich gerade abspielt, was man gerade vor Augen hat. Die Fragen nach Anfang und Ende vermitteln kein Wissen, das von irgendeinem Wert ist.

Manchmal dachte ich, Marta höre gar nicht zu oder sei völlig ungerührt wie ein abgeschnittenes, totes Stück Holz, denn in einem solchen Augenblick hörte sie nicht nur wie erwartet nicht auf, mit dem Geschirr zu klappern, auch ihre Bewegungen verloren nichts von ihrer automatischen Geschmeidigkeit. Sie erschien mir sogar in gewisser Weise grausam, und zwar mehrere Male. Zum Beispiel damals, als sie ihre Hähne mästete und dann totschlug und auffraß, alle auf einmal, im Laufe zweier Tage im Herbst.

Ich verstand Marta damals nicht, und ich verstehe sie auch jetzt nicht, wenn ich über sie nachdenke. Aber was sollte es mir auch nützen, sie zu verstehen? Welchen Nutzen hätte ich davon, wenn ich die Motive ihres Verhaltens, die Quellen all ihrer Erzählungen klar durchschaute? Was hätte ich von ihrer Biografie, wenn Marta überhaupt eine Biografie hat? Vielleicht gibt es Menschen ohne Biografie, ohne Vergangenheit und Zukunft, die anderen als ein ewiges Jetzt erscheinen.

In den letzten Tagen kam jeden Abend unser Nachbar Soundso zu uns, immer gleich nach den Fernsehnachrichten. R. erhitzte Rotwein, streute Zimt und Gewürznelken hinein. Jeden Abend erzählte Soundso den Winter, denn der Winter muss erzählt werden, damit der Sommer kommen kann. Es war immer dieselbe Geschichte, die davon handelte, wie Marek Marek sich aufgehängt hatte.

Wir hatten die Geschichte schon von anderen gehört, aber gestern und vorgestern hörten wir sie von Soundso. Er vergaß, dass er sie schon erzählt hatte, und fing wieder ganz von vorne an. Zuerst kam immer die Frage, warum wir nicht zu Marek Mareks Beerdigung gekommen waren. Wir hatten nicht kommen können, weil es im Januar war. Wir waren einfach nicht imstande gewesen, zur Beerdigung zu kommen. Es schneite, die Autos sprangen nicht an, die Akkus röchelten nur. Die Straße hinter Jedlina war zugeschneit, und die Busse standen in endlosen Staus.

Marek Marek wohnte in einem Haus mit Blechdach. Im letzten Herbst war seine Stute in unseren Garten gekommen und hatte das Fallobst unter den Apfelbäumen gefressen. Sie hatte die Äpfel unter dem angefaulten Laub hervorgescharrt. Uns sah sie gleichgültig an, R. meinte sogar, ihr Blick sei ironisch.

Am Nachmittag, als es schon anfing, dunkel zu werden, war Soundso nach Ruda zurückgekommen. Er sah, dass die Tür von Marek Mareks Haus genauso angelehnt war wie am Morgen, deshalb stellte er sein Fahrrad an der Wand ab und schaute durch das Fenster hinein. Er sah ihn sofort. Halb hing, halb lag er an der Tür, verdreht

Er nahm sein Fahrrad und ging davon.

In der Nacht fühlte er sich etwas unbehaglich. Er überlegte, ob Marek Mareks Seele in den Himmel oder in die Hölle gekommen war oder wo auch immer man hinkommt, wenn überhaupt irgendwohin.

Plötzlich wachte er auf, es dämmerte schon, und er sah ihn neben dem Ofen stehen. Marek Marek stand da und sah ihn an. Soundso wurde wütend. »Ich bitte dich, geh hinaus. Das ist mein Haus. Du hast dein eigenes Haus.« Die Erscheinung regte sich nicht, sie schaute ihn direkt an, aber ihr Blick war ganz sonderbar, als sehe er durch ihn hindurch.

»Marek, ich bitte dich, geh weg«, sagte Soundso wieder, aber Marek – oder was auch immer er inzwischen war – reagierte nicht. Da überwand Soundso die Angst vor jeglicher Bewegung, die ihn plötzlich überkommen hatte, stand auf und nahm seinen Gummistiefel in die Hand. So bewaffnet ging er auf den Ofen zu. Vor seinen Augen verschwand die Erscheinung. Er blinzelte und kehrte in sein gemütliches, warmgelegenes Bett zurück.

Als er am Morgen Holz holte, blickte er wieder durchs Fenster bei Marek hinein. Nichts hatte sich verändert, der Körper lag immer noch in derselben Stellung, aber heute kam ihm das Gesicht dunkler vor. Den ganzen Tag brachte Soundso auf dem Weidenschlitten, den er im letzten Jahr selbst angefertigt hatte, Holz aus den Bergen herunter. Er brachte kleine Birken nach Hause, die er selbst

»Aber wenn es ein hartnäckiger Geist wäre, der nicht weggehen will, was würden Sie dann tun?«

»Man muss in allem konsequent sein«, antwortete der Pfarrer weise und machte geschickt einen Bogen um Soundso.

In der nächsten Nacht war alles wie in der vorhergehenden. Soundso erwachte plötzlich, als hätte ihn jemand gerufen, er setzte sich im Bett auf und sah Marek Marek am Ofen stehen. »Verschwinde!«, schrie er. Die Erscheinung regte sich nicht, und Soundso hatte sogar den Eindruck, als sehe er ein ironisches Lächeln auf seinem aufgeschwollenen, dunklen Gesicht.

In der dritten Nacht kam die Erscheinung nicht mehr, und am vierten Tag fand Marek Mareks Schwester die Leiche und erhob ein großes Geschrei. Sofort kam die Polizei, wickelte Marek Marek in schwarze Folie und nahm ihn mit. Sie fragten Soundso aus, wo er gewesen sei und was er gemacht habe. Er sagte, er habe nichts Besonderes bemerkt. Er sagte auch, wenn jemand so trinke wie Marek Marek, würde er früher oder später so enden. Sie stimmten ihm zu und gingen.

Soundso nahm sein Fahrrad und strampelte bis nach Ruda. Im Restaurant Lido stellte er einen Krug Bier vor sich auf den Tisch und schlürfte ihn ganz langsam, Schluck für Schluck. Was er vor allem empfand, war Erleichterung.

Radio Nowa Ruda

Der Lokalsender Radio Nowa Ruda brachte täglich zwölf Stunden Programm. Hauptsächlich Musik. Zur vollen Stunde gab es Nachrichten aus dem ganzen Land und jeweils um halb Lokalnachrichten. Außerdem wurde jeden Tag ein Wettbewerb veranstaltet. Es gewann fast immer derselbe Mensch namens Wadera. Er musste über ein sagenhaftes Wissen verfügen, er wusste Dinge, auf die man unmöglich kommen konnte. Ich schwor mir, irgendwann einmal herauszubekommen, wer dieser Herr Wadera war, wo er wohnte und woher er das alles wusste.

Einmal hörte ich, wie der Sprecher, bevor er die Preisfrage stellte, mit zitternder Stimme sagte. »Herr Wadera, bitte rufen Sie heute nicht an.«

Zwischen zwölf und eins las eine angenehme Frauenstimme einen Roman in Fortsetzungen vor. Diese Sendung bekam man zwangsläufig mit, alle mussten jeden Roman anhören, denn das war die Zeit, um die man das Mittagessen vorbereitete und Kartoffeln schälte oder den Teig für Piroggen knetete. Auf diese Weise hörte ich den ganzen April über Anna Karenina.

»›… Er liebt eine andere, daran besteht kein Zweifel‹, dachte sie entschlossen, als sie in ihr Zimmer ging. ›Ich sehne mich nach Liebe, aber diese Liebe gibt es nicht. Und deshalb ist alles zu Ende. Man muss all dem ein Ende setzen.‹

›Aber wie?‹, fragte sie sich und ließ sich auf den Sessel vor dem Spiegel sinken.«

Manchmal kam Marta um diese Zeit und machte sich sogleich daran zu helfen. Zum Beispiel schnitt sie Möhren in kleine Würfel.

Marta hörte ruhig und ernst zu, aber sie sagte nie ein

Leute im Alter Martas erkranken an Sklerose und Alzheimer. Einmal jätete ich im Garten Unkraut und von der anderen Seite des Hauses rief R. nach mir. Bevor ich antworten konnte, fragte er Marta: »Ist sie dort drüben?« Marta stand so, dass sie uns beide sehen konnte. Sie warf einen Blick auf mich und rief ihm zu:

»Nein, hier ist sie nicht.«

Dann wandte sie sich ruhig um und ging nach Hause.

Weshalb sieht Soundso Geister …

Und ich nicht?«, fragte ich Marta einmal.

»Weil er innen leer ist«, sagte Marta. Ich verstand das damals so, als meinte sie damit Gedankenlosigkeit und Einfalt. Ein Mensch, der innen voll ist, erschien mir wertvoller als ein leerer Mensch.

Später wischte ich den Fußboden in der Küche und begriff plötzlich, was Marta mir hatte sagen wollen. Denn Soundso ist einer von den Menschen, die sich Gott so vorstellen, als stünde er dort und sie hier. Soundso sieht alles außerhalb von sich selbst, sogar sich selbst sieht er außerhalb von sich selbst, er betrachtet sich selbst wie eine Fotografie. Er nimmt sich nur im Spiegel wahr. Wenn er beschäftigt ist, zum Beispiel, wenn er seine filigranen Schlitten baut, hört er überhaupt auf, für sich selbst zu

Marek Marek

Er war irgendwie ein schönes Kind – das sagten alle. Marek Marek hatte fast weiße Haare und ein engelsgleiches Gesicht. Die älteren Schwestern hatten ihn sehr lieb. Sie fuhren ihn in einem von den Deutschen zurückgelassenen Kinderwagen über die steilen Wege in den Bergen und spielten mit ihm wie mit einer Puppe. Die Mutter wollte nicht aufhören, ihn zu stillen; wenn er an ihrer Brust saugte, hatte sie die vage, traumartige Vorstellung, dass sie sich für ihn ganz und gar in Milch verwandeln und aus der eigenen Brustwarze fließen könnte, das wäre eine bessere Zukunftsaussicht, als sie sie als Frau Marek jemals haben könnte. Aber Marek Marek wuchs heran und hörte auf, nach ihrer Brust zu suchen. Dafür

Der kleine Marek Marek war zwar niedlich, doch aß er schlecht und weinte nachts. Vielleicht war das der Grund, warum der eigene Vater ihn nicht mochte. Wenn er betrunken nach Hause kam, fing er mit dem Prügeln immer bei Marek Marek an. Wenn die Mutter ihn beschützen wollte, drosch er auf sie ein, wohin die Fäuste gerade trafen, bis schließlich alle nach oben flüchteten und dem Vater die ganze Wohnung überließen, die er mit seinem Schnarchen dann auch ausfüllte. Den älteren Schwestern tat der Bruder leid, deshalb brachten sie ihm rasch bei, sich auf ein verabredetes Signal hin zu verstecken, und von seinem fünften Lebensjahr an saß Marek Marek die meisten Abende im Keller. Da weinte er tonlos und tränenlos.

Dort verstand er auch, dass das, was ihm Schmerzen bereitete, nicht von außen, sondern von innen kam und nichts mit dem betrunkenen Vater oder der Brust der Mutter zu tun hatte. Der Schmerz entstand aus sich heraus, und zwar aus den gleichen Gründen, aus denen morgens die Sonne aufging und nachts die Sterne am Himmel erschienen. Es schmerzte. Er wusste noch nicht, was es war, aber manchmal kam es ihm vor, als erinnere er sich undeutlich an ein warmes, heißes Licht, das die ganze Welt zum Schmelzen bringt. Woher das kam, wusste er selbst nicht. Von der Kindheit blieb ihm Dunkles in Erinnerung, eine ewige Dämmerung. Ein dunkler Himmel, eine in trüber Finsternis versunkene Welt, Traurigkeit und Kälte von Abenden ohne Anfang und Ende. Der Tag, an dem im Dorf die Elektrizität eingeführt wurde, war ihm auch in Erinnerung geblieben. Die Strommasten, die vom nächsten Dorf her über den

Marek Marek war die erste und einzige Person aus dem kleinen Dorf, die bei der Gemeindebibliothek in Nowa Ruda Mitglied wurde. Nun nahm er immer ein Buch mit, wenn er sich vor dem Vater versteckte, und so hatte er viel Zeit zum Lesen.

Die Bücherei in Nowa Ruda befand sich in dem Gebäude einer ehemaligen Brauerei, und es roch dort immer noch nach Hopfen und Bier, die Wände, Fußböden und Decken waren durchtränkt von dem säuerlichen Geruch. Sogar die Buchseiten stanken, als sei Bier darübergegossen worden. Marek Marek wurde der Geruch lieb und teuer. Mit fünfzehn Jahren betrank er sich zum ersten Mal. Es ging ihm gut, zum ersten Mal vergaß er das Dunkel völlig, ja er sah gar keinen Unterschied mehr zwischen Hell und Dunkel. Sein Körper wurde ganz langsam und gehorchte ihm nicht mehr, das gefiel ihm auch. Als könnte er seinen Körper verlassen und neben ihm leben, ohne zu denken, ohne zu empfinden.

Die älteren Schwestern heirateten eine nach der anderen und verschwanden aus dem Haus. Ein jüngerer Bruder jagte sich mit einem Blindgänger in die Luft. Der zweite war auf der Sonderschule in Klodzko, deshalb stand nur Marek Marek dem alten Marek zum Verprügeln zur Verfügung. Prügel dafür, dass er die Hühner nicht eingesperrt oder das Gras zu hoch gemäht hatte, dass ihm die Achse der Dreschmaschine zerbrochen war. Aber als Marek Marek etwa zwanzig Jahre alt war, schlug er den Vater zum ersten Mal zurück, und von diesem Zeitpunkt an prügelten sie sich regelmäßig. Wenn Marek damals ein wenig Zeit und kein Geld zum Trinken hatte, las er Edward Stachura. Die Fräulein von der Bücherei hatten

Er war immer noch hübsch. Er hatte schulterlange blonde Haare und ein glattes, kindliches Gesicht. Und seine Augen waren sehr hell, fast wie gebleicht, als hätten sie Farbe verloren, während sie auf dunklen Dachböden nach Licht ausschauten, als hätten sie sich beim Lesen der Bände in den hellblauen Einbänden zu sehr angestrengt. Aber die Frauen hatten Angst vor ihm. Mit einer war er bei der Diskothek vor den Schuppen gegangen, hatte sie plötzlich in den Holunder gezerrt und ihr die Bluse vom Leib gerissen. Zum Glück schrie sie, da kamen andere herbeigelaufen und polierten ihm die Fresse. Dabei gefiel er ihr, nur wusste er wohl nicht, wie man mit einer Frau spricht. Und einmal betrank er sich und richtete einen Bekannten seiner Bekannten übel mit dem Messer zu, als hätte er ein absolutes Recht auf sie, als hätte er das Recht, sein Recht mit dem Messer zu verteidigen. Zu Hause weinte er dann.

Er trank, und ihm gefiel dieser Zustand, wenn ihn die Beine von selbst über die Berge trugen und sein ganzes Inneres und damit auch der Schmerz in seinem Inneren ausgeschaltet waren, als hätte man an einem Schalter gedreht, und plötzlich wäre es dunkel geworden. Es gefiel ihm, in der Kneipe namens Lido inmitten von Lärm und Rauch zu sitzen und sich dann plötzlich, ohne im Geringsten zu wissen, warum, in einem blühenden Flachsfeld wiederzufinden und dort bis zum Morgen liegen zu bleiben. Als stürbe er. Oder im Jubilatka zu trinken und plötzlich festzustellen, dass er auf dem Weg nach Hause war, auf der Serpentinenstraße, die in sein Dorf führte, mit blutigem Gesicht und eingeschlagenen Zähnen. Nur halb dazusein, nicht bei Bewusstsein. Auf sanfte Weise

Schließlich vergriff sich Marek Marek an seinem eigenen Vater. Er schmetterte ihn so lange gegen eine Steinbank, bis dem Alten die Rippen brachen und er das Bewusstsein verlor. Die Polizei kam, steckte Marek Marek in die Ausnüchterungszelle und behielt ihn dann in Haft, und da gab es nichts zu trinken.

Da erinnerte sich Marek Marek in seinem verkaterten Halbschlaf und zwischen den Kopfschmerzwellen daran, dass er irgendwann einmal, vor langer Zeit, gesunken war. Dass er einmal hoch oben gewesen war, jetzt aber tief unten war. Ein Abrutschen mit Schrecken, ja sogar mehr als Schrecken. Etwas, für das es kein Wort gab. Marek Mareks dummer Körper hatte dieses Angstgefühl gedankenlos übernommen und bebte jetzt, sein Herz hämmerte, als wollte es zerspringen. Aber Marek Mareks Körper wusste nicht, was er da auf sich nahm, eine solche Angst konnte nur eine unsterbliche Seele ertragen. Der Körper erstickte darin, er krampfte sich zusammen und warf sich an die Wände der kleinen Zelle, trieb Schaum hervor. »Hol dich der Teufel, Marek«, brüllten die Wärter. Sie drückten ihn auf den Boden, fesselten ihn und gaben ihm eine Spritze.

Er kam in die Entwöhnung. Zusammen mit anderen verblichenen Schlafanzügen schlich er durch die breiten Korridore und über die gewundenen Treppen der Klinik. Gehorsam stellte er sich um Medikamente an. Er schluckte Antabus wie die Hostie. Er schaute aus dem Fenster, und da dachte er zum ersten Mal, dass es sein Ziel war, so bald wie möglich zu sterben, sich aus diesem verdreckten Land zu befreien, von dieser rötlich grauen

Eines Nachts schnitt er sich unter der Dusche die Pulsadern auf. Die weiße Haut des Unterarms tat sich auf, und das Innere von Marek Marek kam zum Vorschein. Es war rot und fleischig, wie frisches Rindfleisch. Bevor er das Bewusstsein verlor, empfand er etwas wie Erstaunen, denn aus irgendeinem Grund dachte er, er sehe dort ein Licht.

Natürlich wurde er in eine Isolierzelle gesteckt, man machte viel Wind um die Sache, und sein Klinikaufenthalt verlängerte sich. Er verbrachte den ganzen Winter dort, und als er nach Hause kam, stellte er fest, dass seine Eltern zu der Tochter in die Stadt gezogen waren, und er jetzt alleine im Haus war. Sie hatten ihm das Pferd zurückgelassen, und mit diesem Pferd holte er Holz aus dem Wald, hackte es und verkaufte es weiter. Er hatte Geld, deshalb konnte er auch wieder trinken.

Er hatte einen Vogel in sich sitzen, das fühlte er. Aber es war ein seltsames, unkörperliches, unbenennbares Vögelchen, das im Übrigen auch nicht vogelhafter war als er selbst. Es zog ihn zu Dingen hin, die er nicht verstand und vor denen er sich fürchtete: zu Fragen, auf die es keine Antwort gab, zu Menschen, in deren Gegenwart er sich immer fühlte, als stimme etwas nicht mit ihm, dazu, auf die Knie zu fallen und zu beten, nicht einmal um etwas zu beten, sondern einfach zu reden, reden, reden in der Hoffnung, dass ihm jemand zuhörte. Er hasste dieses Wesen in ihm, denn es bereitete ihm so viel Schmerz. Ohne es hätte er in aller Ruhe trinken, vor dem Haus sitzen und den Berg betrachten können, der sich

Dieses Vögelchen in Marek Marek hatte Flügel, gefesselte Beine und verschreckte Augen. Marek Marek nahm an, dass es in ihm eingesperrt war, irgendjemand hatte es in ihm eingesperrt, obwohl er überhaupt nicht begriff, wie das möglich war. Manchmal, wenn er nachdachte, begegnete er diesem schrecklichen Blick in ihm und hörte die verzweifelte tierische Klage. Dann sprang er auf und rannte blindlings drauflos, den Berg hinauf, durch Birkenhaine, über Waldwege. Und im Laufen sah er sich die Äste an: Welcher würde das Gewicht seines Körpers aushalten? Das Vögelchen in ihm schrie: Lass mich raus, befreie mich aus dir, ich gehöre nicht zu dir, ich bin von einem anderen Ort.

Dieses Vögelchen in ihm war ein schwarzer Storch, aber seine roten Beine waren gefesselt und seine Flügel zerzaust. Er schrie und flatterte aufgeregt. Marek Marek wachte in der Nacht auf, hörte diesen Schrei in sich drin, einen schrecklichen, höllischen Schrei. Er setzte sich im Bett auf und hatte Angst. Dann wusste er, dass er bis zum Morgen nicht mehr einschlafen würde. Das Kopfkissen stank nach Feuchtigkeit und Erbrochenem. Er stand auf und suchte etwas zu trinken. Manchmal war am Boden der Flasche vom Vortag noch etwas übrig, manchmal nicht. Es war zu früh, um ins Geschäft zu gehen. Es war zu früh, um zu leben, deshalb ging er nur im Zimmer auf und ab und starb vor sich hin.

Wenn er nüchtern war, spürte er den Vogel in seinem ganzen Körper. Bis unter die Haut. Manchmal kam es ihm sogar vor, dass er selbst dieser Vogel war, und dann

Aber wenn er trank, ging es besser. Nicht, dass das Vöglein mit ihm getrunken hätte. Nein, das Vöglein betrank sich nie, und es schlief nie. Marek Mareks betrunkener Körper und seine betrunkenen Gedanken schenkten dem Flügelschlagen des Vogels keine Beachtung. Deshalb musste er trinken.

Einmal versuchte er, selbst Wein zu machen. Verbissen pflückte er die Johannisbeeren, von denen sein Garten voll war, und stopfte sie mit zitternden Händen in eine bauchige Flasche. Er knapste sich ein wenig Geld ab und kaufte Zucker, dann stellte er den Glasbehälter auf den warmen Dachboden. Er freute sich, dass er eigenen Wein haben würde, dass er in Zukunft, wenn er sich ausgetrocknet fühlte, einfach auf den Dachboden zu

Am schönsten waren die Tage, an denen es ihm wie durch ein Wunder gelang, bis zum Morgen ein wenig Alkohol aufzubewahren, sodass er sich gleich einen antrinken konnte, ohne auch nur aufstehen zu müssen. Ihm wurde ganz wohl zumute, aber er versuchte, nicht einzuschlafen, um diesen herrlichen Zustand auszukosten. Er stand schwankend auf und setzte sich auf die Bank vor dem Haus. Früher oder später kam immer Soundso an ihm vorbei, der nach Ruda ging und sein Fahrrad neben sich herschob. »Du blöder alter Herumtreiber«, sagte Marek Marek zu ihm und hob die unsichere Hand zum Gruße. Soundso schenkte ihm ein zahnloses Lächeln. Die Strümpfe hatten sich

Im November brachte Soundso einen schwarzen Welpen. »Da«, sagte er. »Damit du wegen Diana nicht so traurig bist. Sie war so eine schöne Stute.« Marek Marek nahm den Hund erst ins Haus, aber dann wurde er wütend, weil ihm der Hund auf den Boden pinkelte. Deshalb brachte er einen alten Waschzuber hinaus, stülpte ihn um und stützte den Rand auf der einen Seite mit zwei Steinen ab. Er schlug einen Pflock in die Erde und band den Welpen mit einer Kette daran fest. So hatte der Hund eine praktische Hütte. Zuerst jaulte und heulte er, aber schließlich gewöhnte er sich daran. Er wedelte mit dem Schwanz, sobald er Marek Marek sah, der ihm das Fressen brachte. Mit dem Hund ging es Marek Marek besser, und der Vogel in ihm beruhigte sich ein wenig. Aber im Dezember schneite es, und eines Nachts war es so kalt, dass der Hund erfror. Am Morgen fand ihn Marek Marek zugeschneit. Er sah aus wie ein Haufen Lumpen, die jemand fortgeworfen hatte. Marek Marek stieß ihn mit der Fußspitze an, er war ganz steif.

Zu Heiligabend lud die Schwester Marek Marek ein, aber er geriet gleich mit ihr in Streit, weil sie zum Abendessen keinen Wodka ausschenken wollte. »Mensch, verdammt noch mal, was ist das denn für ein Heiligabend, ohne Wodka!«, sagte er zu seinem Schwager. Er zog sich an und ging. Die Leute waren schon zur Mitternachtsmesse unterwegs, um sich in der Kirche gute Plätze zu sichern. Er lungerte an der Kirche herum und hielt Ausschau nach bekannten Gesichtern. Er machte sich an Soundso heran, denn sogar der war durch den Schnee bis ins Dorf gestapft. »Was für eine Kälte«, sagte Soundso, lächelte breit und schlug Marek Marek auf die

Das waren die schönsten Weihnachten in seinem Leben. Sobald er nur ein wenig nüchtern wurde, kniete er sich vor den Wasserbehälter und drehte den Hahn auf. Er öffnete den Mund, und der Wodka floss ihm direkt aus dem Himmel hinein.

Gleich nach Weihnachten setzte Tauwetter ein. Der Schnee verwandelte sich in einen unangenehmen Regen,

Die Tür war verschlossen. Er trat sie mit dem Fuß auf. Die Angeln quietschten nass und feindselig. Marek Marek wurde es mulmig zumute. Die Küche sah aus, als wäre Marta erst gestern weggefahren. Auf dem Tisch lag ein kariertes Wachstuch, das bis auf den Boden reichte. Darauf lag ein langes Brotmesser. Marek Marek schaute schnell unter den Tisch und sah zu seinem Erstaunen, dass dort nichts war. Er schnüffelte nun in den Schränken herum, sah im Ofen nach, im Holzkorb, in der Kommode, wo sauber gefaltet das Bettzeug in Stapeln lag. Alles strömte den Mief winterlicher Feuchtigkeit aus, es roch nach Schnee, feuchtem Holz, Metall. Er schaute jetzt überall nach, betastete Matratze und Federbett, fuhr sogar mit der Hand in die alten Gummistiefel. Er hatte eine Vision: Er sah Marta wie sie im Herbst, vor

Als er hinausging, sicherte er die Tür mit einem Holzkeil, denn er mochte Marta. Er wollte nicht, dass der Schnee bis in ihre Küche drang. Am selben Tag kam die Polizei zu ihm. »Wir wissen sowieso, dass du es warst«, sagten sie. Und sie setzten hinzu, dass sie wiederkommen würden.

Marek Marek legte sich wieder hin. Ihm war kalt, aber er wusste, dass seine Hände zu schwach waren, um die Axt zu halten. Der Vogel in ihm schlug mit den Flügeln, und von diesem Flügelschlagen bebte Marek Marek am ganzen Körper.

Die Dämmerung sank plötzlich herab, als hätte draußen jemand das Licht abgedreht. Der Regen, der noch in der Luft gefror, schlug immer wieder in Wellen an die Fensterscheiben. Wenn ich doch wenigstens einen Fernseher hätte, dachte Marek Marek, als er da auf dem Rücken lag. Er konnte nicht schlafen, in der Nacht stand er mehrere Male auf und trank Wasser aus dem Eimer, es war kalt und faulig. Sein Körper verwandelte das Wasser in Tränen, die am Abend von selbst zu fließen begannen und bis zum Morgen nicht versiegten. Sie flossen ihm in die Ohren und kitzelten ihn am Hals. Gegen Morgen schlief er ein, und als er nach einer Weile aufwachte, war sein erster Gedanke, dass in dem Wasserbehälter kein Wodka mehr war.

Er stand auf und pinkelte in einen Kochtopf. Er begann, in den Schubladen nach Kordel zu suchen, doch