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ROBERT RESCUE: „Das Leben hält mich wach“
1. Auflage, November 2019, Periplaneta Berlin, Edition MundWerk

© 2019 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Lektorat: Marion A. Müller
Cover: Marion A. Müller
Animal-Coaching: Konstantin L. Müller, Heiko Heller
Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-160-8
epub ISBN: 978-3-95996-161-5

Robert Rescue

Das Leben
hält mich
WACH

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Der Punk und der Schlafanzug

Mag sein, dass ich ein Vertreter des „Minimalismus“ bin, ein Freund des „Simple living“ oder einfach nur ein Mensch, der nicht allzu viel Kram besitzen möchte und vor allem keinen sinnlosen. Daher bin ich resolut, wenn ich mich ans Aufräumen mache. Gedanken wie „Das könnte ich noch gebrauchen“ oder „Das höre/lese ich irgendwann noch mal“, mache ich mir nur kurz, überlege objektiv und entscheide dann zum großen Teil dagegen.

Vor Kurzem habe ich mir meine CD-Sammlung vorgenommen. Es waren etwa 150 Stück, übrig geblieben sind fünf und die auch nur, um sie auf den Computer zu importieren und vielleicht danach wieder zu löschen. Wenn ich was hören will, nutze ich YouTube. CDs nehmen da nur Platz weg. Es fällt schwer, die Scheiben, die man als Teenager gekauft und gehört hat, zu entsorgen, aber wenn man da nicht rigoros vorgeht, behält man die Sachen so lange, bis man mit den Füßen voraus aus der Wohnung getragen wird und jemand hinter einem hergeht, der dann die ganzen Hinterlassenschaften in den Müll schmeißt.

Dass man sich von Erinnerungsstücken lösen muss, hatte ich einige Zeit zuvor schon, leider schmerzhaft, feststellen müssen. Als ich Anfang der 90er Jahre nach Berlin kam, wurde ich ein großer Fan der Ost-Berliner Band Inchtabokatables. Die ersten Jahre habe ich alles von ihnen gehört, sie dann liegengelassen und mich ihnen neulich wieder angenähert. Ich fand nur noch zwei Lieder gut. Die Begeisterung der jungen Jahre war verschwunden, lautete mein Fazit, und ich schmiss die CDs weg. Mit Billy Idol ist es das Gleiche. Wenn ich mal was von ihm hören will, kann ich alles Relevante im Netz finden, also weg mit den CDs. Hintendrauf kleben noch die Preisetiketten. Die großen Hits der 80er Jahre haben 30 bis 40 Mark gekostet, doch was solls, das Geld ist weg.

Mit dem „Gemälde“ bin ich auch konsequent umgegangen. Also, es ist kein Gemälde im eigentlichen Sinne, sondern eine bemalte DIN A3 Pappe ohne Rahmen. Etwa 20 Jahre hat es jede Aufräumaktion überstanden, weil ich es nie für möglich gehalten hätte, die Pappe runterzunehmen, in vier Teile zu reißen und in die Altpapiertonne zu schmeißen. Jetzt habe ich aber genau das getan.

Das Bild zeigte eine Art Sonne, von der drei Strahlen ausgehen. So zumindest interpretiere ich es, vielleicht sollte es auch etwas anderes darstellen. Ein Geschenk dreier Frauen. Mit der einen habe ich mich sehr gut verstanden, die anderen beiden kannte ich nur flüchtig. Das Werk, so glaube ich, ist eine Würdigung meiner Person gewesen. Ich habe es lange in Ehren gehalten, aber die Zeiten haben sich geändert. Ich habe mit allen dreien schon lange keinen Kontakt mehr und ich vermute, dass sie sich nicht mehr an das Bild oder den Grund seiner Anfertigung erinnern können.

Aber es gibt in meinem Haushalt eine Sache, die ich nicht wegschmeißen kann. Im untersten Fach meines Kleiderschranks liegt ein originalverpackter Schlafanzug in Marine-Blau mit Seepferdchen-Applikationen. Meine Mutter hat ihn mir 1999 bei ihrem Berlin-Besuch überreicht. Ich frage mich bis heute, warum sie das getan hat. Wohl ein Ausdruck ihrer mütterlichen Fürsorge, aber warum einem Dreißigjährigen einen Schlafanzug schenken? Einem Dreißigjährigen, der in zerrissenen Jeans vor ihr stand, nicht zugeschnürte, dreckige Bundeswehrstiefel trug und eine versiffte Lederjacke, die jeder halbwegs normale Mensch sofort in den Müll geworfen hätte. Ich war damals ein Punk, der ein Jahr zuvor seine Bundeswehrstiefel noch wienern musste, aus einer Kleinstadt auf dem Land stammte und in Berlin die Unabhängigkeit seines erwachsenen Lebens suchte und fand. Ich muss der Albtraum ihrer Vorstellung von einem Sohn gewesen sein. Und dann ein Schlafanzug.

Ich weiß nicht mehr, ob ich erschüttert war. Wahrscheinlich. Und vielleicht auch verärgert. Vielleicht habe ich auch gedacht, dass ich den später im nächsten Mülleimer versenke, aber ich habe ihn mit nach Hause genommen und sofort ins unterste Fach des Kleiderschranks gelegt. Ich hätte ihn wohl nach einem Jahr oder so entsorgt und auf Nachfrage meiner Mutter, ob ich ihn denn tragen würde, gelogen, aber dazu kam es nie. Meine Mutter starb ein halbes Jahr nach ihrem Berlinbesuch an Lungenkrebs.

Ich glaube, ich habe seit der Pubertät keinen Schlafanzug mehr getragen und habe das für den Rest meines Lebens auch nicht vor. Ein Schlafanzug ist für mich Ausdruck einer altmodischen Schlafkultur. Oder anders gesagt, Schlafanzüge werden von Kindern und Senioren getragen. Alle dazwischen schlafen in Unterwäsche oder nackt, abgesehen von vielleicht einer Millionen Leute, die halt auf Schlafanzüge stehen, um das mal diplomatisch auszudrücken.

Meine Heimat kennt keine kulinarischen Besonderheiten, sodass sie mir damals keine Wurst oder Käse oder einen gottverdammten Kuchen hätte mitbringen können. Geld hat sie mir zukommen lassen, schließlich war ich ihr Jüngster, der noch keinen gesicherten Lebensweg gefunden hatte. Das hätte gereicht.

Vielleicht hat sie den Schlafanzug nicht mitgebracht, sondern in Berlin gekauft. Sie hat mich als Punk gesehen und war so schockiert, dass sie glaubte, mit dem Kauf eines Schlafanzuges eine Kehrtwende einzuleiten, die aus mir wieder ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft machen sollte.

Ich weiß es nicht und werde es nie erfahren. Manchmal überlege ich, den Schlafanzug zum Altkleidercontainer zu bringen, in der Vorstellung, irgendein Mensch irgendwo auf der Welt könnte damit was anfangen und er würde seine Aufgabe noch erfüllen. Aber es würde trotzdem ein schlechtes Gewissen bleiben.

Also bleibt er im Kleiderschrank, in dem fast leeren Kleiderschrank, denn auch da habe ich gründlich aufgeräumt. Wer weiß, vielleicht packe ich ihn irgendwann aus und ziehe ihn an oder aber diejenigen, die hinter mir aufräumen, werden sich ziemlich wundern.

Sozialer Abstieg

Auf dem Weg ist mir mulmig zumute. Ich stehe im Begriff, etwas zu tun, was ich seit ungefähr 35 Jahren nicht mehr gemacht habe. Aber ich habe niemanden gefunden, der mit mir ins Kino gehen will, und zuhause bleiben wollte ich auch nicht. Was für eine soziale Demütigung.

Mein Freundeskreis ist klein und steht auf Arthaus. Ich will mir aber Deadpool 2 ansehen, eine Superhelden-Popcorn-Schmonzette mit Action und lockeren Sprüchen. Ich brauche gelegentlich solche Filme, um vom intellektuellen Alltag wegzukommen, um mich für zwei Stunden vom Leid der Welt abzuwenden und Zuflucht vor meinem elendigen Ich zu finden. Ich hätte noch auf Facebook rumfragen können, ob ein paar Bekannte aus dem Wedding Lust hätten mitzukommen, aber womöglich hätte sich dann jemand gemeldet, mit dem ich partout nicht ins Kino gehen will.

In meiner Kindheit bin ich öfter alleine ins Kino gegangen, aber ich weiß nicht mehr, ob es an Vereinsamung oder meiner Vorliebe für Kung-Fu-Filme aus Hongkong lag. Auf jeden Fall hatte ich nach den Filmen häufig mit Wolfgang zu tun. Der lebte in einer, wie es offiziell hieß, Heilerziehungs- und Pflegeanstalt, umgangssprachlich auch Klapse genannt, und war pädophil. Er lauerte Kindern nach dem Kino auf und verfolgte uns. Manchmal war es einfach, ihn abzuhängen, hin und wieder aber hing er wie eine Klette an einem.

Ob er wirklich Wolfgang hieß?, frage ich mich, als ich das Kino betrete. Vielleicht habe ich mal den Mut gehabt, mich ihm zu stellen und zu fragen, oder ich habe ihn einfach so genannt.

Ich stehe vor der Kasse. Gleich kommt der Moment, wo ich mich vor der jungen Frau outen muss. Ob sie häufig solche Gestalten wie mich vor sich stehen hat?

„Einmal Deadpool, bitte“, sage ich leise. Normal wäre „Zweimal Deadpool, bitte“. Cool wäre „Dreimal Deadpool, bitte“ und bewundernswert „Zehnmal Deadpool, bitte. Für mich und meine coolen Freunde.“

„Das tut mir leid für Sie“, antwortet sie.

„Ist der Film so schlecht?“, frage ich zurück und versuche ein Lächeln. „Ich wollte mich von der Kritik nicht beeinflussen lassen in meinem Vorhaben, wissen Sie? Ich will mir selbst ein Bild machen.“

„Nein“, sagt sie und zögert. „Ich meine, dass Sie alleine ins Kino gehen.“

Ich schweige und nehme das Ticket entgegen. Erst einige Minuten später fällt mir eine tolle Antwort ein: „Sie können den ja zusammen mit mir schauen? Wo ich sitze, wissen Sie ja“, aber ich traue mich nicht, noch mal zur Kasse zu gehen.

Ich bin der Erste im Kinosaal und einen Moment lang beschleicht mich die Furcht, auch der Einzige zu bleiben. Wer alleine ins Kino geht, so überlege ich, hat einen abartigen Film-Geschmack, ist einsam oder beides.

Aber dann kommen noch Leute und ich schaue sie mir genau an. Pärchen, Kumpels, Freundinnen und Cliquen. Dazu ein Rollstuhlfahrer mit seinem Assistenten. Ich habe mich extra oben an den Rand gesetzt. Weiter unten mittig im Pulk der sozial Abgesicherten würde mich deprimieren. Vor dem Film bin ich auch nicht aufs Klo gegangen. Sonst drückt man seiner Begleitung das Getränk und das Popcorn in die Hand, um seine frei zu haben, aber das geht ja jetzt nicht. Ich hätte die Sachen auf einem Tisch im Flur oder auf dem Waschbecken abstellen können, aber dann wären sie mir bestimmt geklaut worden und ich hätte geweint.

Google Maps fragt mich, ob ich ein Foto beisteuern will. Ich fotografiere die dunkle Leinwand und dazu die matten Lichter der Bühnenbeleuchtung. Es ist quasi nichts zu sehen auf dem Bild. Vermutlich ist es das scheußlichste Foto, das jemals ins Internet geladen wurde. Wahrscheinlich wird es gleich von einem Algorithmus gelöscht.

Der Kartenabreißer hat uns 2D-Brillen aus Pappe mitgegeben. Deadpool 2 wirbt damit, nur in 2D zu sein. Ein billiger Witz. Einige Zuschauer setzen sie auf. Der Kartenabreißer hätte ihnen auch Handgranaten geben und sie auffordern können, nach Beginn des Films den Ring zu ziehen und bis fünf zu zählen.

Während des Films muss ich immer wieder den Impuls unterdrücken, den Plot auf Logik abzuklopfen. Es fällt schwer, die Last des Intellekts abzulegen. Erst nach einer halben Stunde erfreue ich mich an abgetrennten Gliedmaßen, Explosionen, Stunts und frivolen Witzen auf Fips-Asmussen-Niveau.

Gegen Ende des Films, wenn der Superheld Deadpool vermeintlich im Sterben liegt und in einer Art Unterwasser-Jenseits auf seine ermordete Frau trifft, fängt irgendwo eine Frau an zu heulen. Meine Güte, die hat aber auch keine Ahnung. Der Schauspieler hat einen Vertrag für fünf Filme unterschrieben. Vielleicht liegt es an der Musik? Eine romantische Version des 80er-Jahre-Hits „Take on me“ von a-ha. Als dann klar wird, dass Deadpool noch nicht zu seiner Geliebten kann, ist von der Frau nichts mehr zu hören. Interessant finde ich, dass Deadpool, der im Gesicht Verbrennungsnarben trägt, in der Jenseits-Sequenz plötzlich eine reine, gesunde Haut hat. Das Jenseits, so suggeriert der Film, muss ein Paradies für Leute mit Hautproblemen sein.

Bevor der Abspann läuft, verlasse ich den Kinosaal. Keiner der anderen Besucher hat mich bislang bemerkt und ich möchte, dass das so bleibt.

Der Film ist schlecht, aber ich habe auch nichts anderes erwartet. Es gibt an ihm nichts, was man jemand anderem empfehlen könnte. Am Ausgang angekommen, habe ich sogar schon Schwierigkeiten, mich an die Handlung überhaupt zu erinnern. Auf dem Weg nach Hause bemerke ich, dass hinter mir ein Mann läuft. Ich ändere die Richtung. Er folgt mir. Ob das Wolfgang ist?

An der Ecke Lüderitz/Kameruner Straße biege ich nach links ab. Er bleibt mir auf den Fersen. Okay, Wolfgang, denke ich mir, wollen wir doch mal schauen, wer von uns beiden sich besser im Kiez auskennt.

Die Currywurst im Wok

Es war nur eine Frage der Zeit, bis Kalle etwas aus der „Restbude“ machen würde. „Restbude“, so wurde der dritte Teil der Budenkonstruktion an der Tramhaltestelle Seestraße genannt. Links befand sich der asiatische Blumenhändler, in der Mitte Kalle mit dem Imbiss „Zur Mittelpromenade“ und rechts der Kiosk, den seine Eltern geführt hatten, bis sie letztes Jahr in Rente gegangen waren. Die Idee, dass der Blumenhändler nach rechts ziehen könnte, um somit näher an der Kreuzung zu sein und mehr Blumen zu verkaufen, war einigen Schultheiss-Bieren zu viel entsprungen. Kalle hatte den Vorschlag gleich mit der logischen Begründung verworfen, dann würde die „Restbude“ von rechts nach links wandern und das Problem wäre weiter ungelöst. Olli, der Rolli-Fahrer, schlug vor, Kalle solle „expandieren“, aber das lehnte der Wirt mit der Begründung ab, mit der jetzigen „Mittelpromenade“ könnte er die Nachfrage im Kiez nach Buletten und Currywurst problemlos abdecken.

Danach hatte keiner mehr eine Idee, was man aus der „Restbude“ machen könnte.

Letzte Woche trat Kalle an den Stammtisch und verkündete freudestrahlend: „Ich habe einen Investor für die ‚Restbude‘ gefunden!“ Die vom Schultheiss verursachte Lethargie, die uns schon eine ganze Stunde schweigend hatte stehen lassen, verflog in Sekundenschnelle und wir wollten mehr wissen. „Ich habe schon seit Wochen überlegt“, so begann Kalle, „ob neben der Mittelpromenade nicht ein anderer Imbiss aufmachen sollte, an dem ich beteiligt bin. Ich weiß, ich habe früher anders darüber gedacht, aber jetzt glaube ich, dass die Leute im Kiez allmählich genug von Buletten und Currywurst haben. Kiosk kam für mich nicht infrage. Die ganzen Discounter haben Zeitungen, genauso wie der Kiosk an der Ecke gegenüber. Ich habe mich im Internet schlaugemacht über Standortwahl. Das heißt, man soll nicht zu viele Geschäfte mit dem gleichen Angebot in einer Gegend aufmachen, weil die sich gegenseitig die Kundschaft wegnehmen. Man soll was anbieten, was es im Kiez noch nicht gibt.“

Wir waren beeindruckt. Würde Kalle sich einen Schlips umbinden, konnte er glatt als Direktor bei der Bank anfangen.

„Letzte Woche hat sich ein chinesisches Unternehmen bei mir gemeldet, die Li Peng Corporation. Die machen was mit Rüstung, Computer und Bio-Technologie, wollen aber nach Europa expandieren, um eine Gastro-Kette mit original chinesischer Küche hochzuziehen. Da habe ich denen die ‚Restbude‘ angeboten und die haben Interesse daran. Morgen kommen die zum Meeting vorbei.“

„Watt?“, rief Olli.

„Na, zum Treffen, zur Besichtigung“, erklärte Kalle. „Ich muss meine Ausdrucksweise der internationalen Investorenszene angleichen. Deshalb Meeting.“

„Is mir egal, was die hier machen wollen“, meldete sich Willi zu Wort. Willi war der Älteste von uns. Angeblich war er der erste Gast, den die Eltern von Kalle am Imbiss bedient hatten, als sie in den siebziger Jahren die beiden Buden aufmachten. „Hauptsache, das Schultheiss wird nicht teurer.“

Dafür gab es Zustimmung von uns anderen. Ansonsten war das Interesse eher Misstrauen gewichen.

„Warum wollen Chinesen denn im Wedding investieren?“, rief Olli. „Was wollen die hier? Können die nicht nach Berlin gehen?“

Da war was dran. Man hörte ja so komische Sachen. Dass die in Deutschland ganze Unternehmen kauften, also Roboter-Technik und Panzer. Vorher hatten die ja mit westlichen Firmen zusammengearbeitet und dann alles nachgebaut, ohne sich ein Einverständnis zu holen. Gut, in Sachen Gastronomie galt das nicht, aber zumindest bei uns am Stammtisch hatten die Chinesen kein gutes Image.

„Ich gebe zu bedenken“, meldete sich Dietmar zu Wort, „dass von einer guten Standortwahl nicht die Rede sein kann.“ Dietmar hatte in einer Bank gearbeitet, aber wegen Veruntreuung seinen Job verloren. Daraufhin kam der Absturz. Alkohol, die Ehe gescheitert und Hartz IV. Er galt am Stammtisch als Experte in allen Wirtschaftsfragen. „Auf der anderen Seite der Müllerstraße ist ein China-Imbiss. Etwa 180 Meter von hier. Und auf der anderen Seite der Seestraße, also schräg gegenüber, gibt es zwei China-Restaurants nebeneinander, die beide den Anspruch haben, gute chinesische Küche anzubieten. Weiß das der Investor?“

Kalle ließ sich nicht irritieren. „Aber das sind doch Wanderarbeiter, die da irgendeinen Fraß zusammenkochen. Die Li Peng Corporation ist ein Konzern mit erfahrenen Geschäftsleuten, die in ganz Asien investieren. Die stecken eine Menge Geld in die ‚Restbude‘, machen die anderen platt und hier an der Haltestelle entsteht ein Gourmettempel für richtige Genießer. Außerdem, und jetzt kommt mein Masterplan! Stichwort: Fusionsküche. Ich plane, Currywurst und Bulette mit der chinesischen Küche zu vereinen. Das gibt es bestimmt nirgendwo auf der Welt. Ihr müsst wissen, die Currywurst ist bereits Teil der Fusionsküche. Nämlich deutsche Wurst mit amerikanischem Ketchup und indischem Curry. Da ist es naheliegend, einen Schritt weiterzugehen, also die Currywurst im Wok. Und bei den jungen Leuten gibt es so ein Festival, das heißt Fusion. Wenn die auf dem Schild hier über der Theke lesen: Fusionsküche, dann denken die gleich an das Festival und kommen in Scharen.“

Kalle war ein fundamentalistischer Kiezist. Wir anderen hatten zumindest mal den Imbiss in der Müllerstraße ausprobiert, wenn uns die Currywurst zum Halse raushing und vielleicht auch mal ein paar Euro zusammengekratzt, um uns einen Restaurantbesuch ein paar Straßenecken weiter leisten zu können. Aber Kalle kannte einzig seine Bude, seine Currywurst und seine Bulette.

„Auf jeden Fall möchte ich, dass ihr euch für das Meeting morgen schick macht“, sagte Kalle jetzt. „Olli, zieh mal einen anderen Pullover an als den, mit dem ich dich hier seit zehn Jahren sehe. Dietmar, du kannst mich als Berater unterstützen. Robert, dich stelle ich als Kiez-Influencer oder wie das heißt vor. Du bist jemand, der ganz viele Leute herbeischaffen kann, die hier essen wollen. Und was ganz wichtig ist: Morgen will ich, dass ihr alle nüchtern seid. Ich stelle euch ein paar trendige Gurkenlimos auf meine Kosten hin, aber es gibt kein Schultheiss, ist das klar?“

Eigentlich hatte ich auf so eine Farce keine Lust. Die Investoren-Elite aus Peking trifft auf Kalle, den schmierigen Pommesbuden-Besitzer, der aus dem Wedding noch nie rausgekommen ist. Aber ich wollte auch wissen, wie das ausgehen würde. Ich hoffte, und da war ich mir mit Olli, Willi und Dietmar sicher einig, dass das Geschäft nicht zustande kam. Was war, wenn wir künftig nur noch Gurkenlimo trinken mussten? Oder wurden wir sogar verdrängt, weil wir nicht ins Bild der künftigen „Mittelpromenade“ passten? Oder würde uns diese Fusionsküche nicht bekommen?

Das Auffälligste an den Chinesen war der Junge. Der Knirps trug Jackett und Schlips und fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Keine Ahnung, was der bei diesem „Meeting“ zu suchen hatte. Die Erklärung lieferte der Übersetzer und das gab mir nicht das Gefühl, dass die Chinesen professionelle Geschäftsleute waren: „Das ist Li Peng Junior, der Sohn von Li Peng Senior hier neben mir. Herr Peng Junior geht neue Wege in der Suche nach innovativen Standorten für Geschäftsaktivitäten. Herr Peng Junior hat mit dem Finger auf eine Landkarte getippt und das Ergebnis war der Wedding. Wir Chinesen glauben, das bringt Glück.“

„Der Wedding?“, fragte Dietmar zurück, der sich richtig in Schale geworfen hatte.

„Eher die Methode der zufälligen Auswahl“, erklärte der Dolmetscher. „Das Ergebnis wird eher als schicksalhaft gesehen.“

„Das hat Herr Peng Senior aber gut eingefädelt als Chef der Firma“, schleimte Kalle.

„Sie irren sich“, klärte der Übersetzer auf. „Herr Peng Senior ist nur der Vater. Chef von Li Peng Corporation ist Li Peng Junior.“

Kalles Lächeln gefror, auch wir anderen schauten irritiert. Der Knirps war ungefähr neun Jahre alt.

„Naja, das ist für uns hier im Wedding noch ungewohnt, was das Alter des Chefs angeht“, probierte es Kalle mit Diplomatie. Er beugte sich zu dem Jungen herunter. „Tachen, ich heiße Kalle.“

Der Übersetzer verzog das Gesicht.