Selina Vogt

Depression
verstehen

Hilfe für Angehörige
und Freunde

nymphenburger

Inhalt

Vorwort

KAPITEL 1
DAS BILD DER DEPRESSION: EIN ÜBERBLICK

Was ist Depression?

Wie fühlt sich ein depressiver Mensch?

Wie verläuft die Erkrankung?

Die Abgrenzung zum Burnout

Was sind die Ursachen der Depression?

Wie ist der Weg in die Behandlung?

Berufsbezeichnungen

Unterstützung durch Angehörige und Freunde

Therapeutische Möglichkeiten

Psychotherapie

Psychopharmakologie – die medikamentöse Behandlung

Heilkunde und alternative Methoden

Die Angst vor Suizidalität

Leid und Entwicklungspotenzial der Betroffenen

KAPITEL 2
HILFE FÜR ANGEHÖRIGE UND FREUNDE VON BETROFFENEN

Wie sich das Leben verändern kann

10 goldene Regeln für Begleiter eines depressiv erkrankten Menschen

Was Sie besser vermeiden sollten

Vermeiden Sie Ungeduld

Geben Sie ungefragt keine Ratschläge

Verzichten Sie auf Floskeln

Ignorieren Sie die Erkrankung nicht

Vermeiden Sie, einen Schuldigen zu suchen

Bauen Sie keinen Druck auf

Die unterschiedlichen Perspektiven von Begleitern

Ehepartner, Lebensgefährte oder Freunde

Kinder

Eltern

Erwachsene Geschwister

Freunde

Häufig gestellte Fragen aus meinem Praxisalltag

Entwicklungspotenzial für Sie als Angehöriger und Freund

KAPITEL 3
GANZHEITLICHE MASSNAHMEN FÜR ANGEHÖRIGE UND FREUNDE

Selbstfürsorge

Hilfreiche Gewohnheiten in schweren Zeiten

Der Glaube an eine höhere Kraft

Yoga möchte unsere Leben schöner machen

Unterstützung durch weitere Heilweisen

Zu guter Letzt

Hilfreiche Adressen

Zum Weiterlesen

Register

Vorwort

Eine Depression ist mehr als nur traurig zu sein oder eine Trauer zu durchleben. Erkrankt ein Mensch an einer Depression, hat dies weitreichende Auswirkungen. Und dies nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für die Familie, Partner und Freunde. Bei den Angehörigen tauchen viele Unsicherheiten auf. Das gesamte Umfeld des Erkrankten ist persönlich und emotional sehr herausgefordert.

Folgende Fragen zur Erkrankung treten häufig auf: »Was genau ist eine Depression und wie kann diese behandelt werden?«, »Was passiert mit meinem Angehörigen?«, »Wie empfindet er?«. Außerdem kommen Fragen im Kontakt mit der erkrankten Person auf: »Wie soll ich mich verhalten?«, »Wie kann ich helfen?«, »Was soll ich sagen?«, »Kann ich etwas falsch machen?«. Aber auch existenzielle Fragen drängen sich auf: »Wie wird es weitergehen?«, »Was macht die Erkrankung und die damit einhergehenden Veränderungen mit mir und meinem Leben?«, »Wie kann ich damit umgehen?«.

Ich möchte Ihnen mit diesem Buch helfen, mehr Klarheit über die Erkrankung Depression zu gewinnen, und bewährte Strategien an die Hand geben. Dabei beschreibe ich nicht nur die wissenschaftlich evaluierten Therapiemethoden und Erkenntnisse, sondern führe auch alternative Hilfsmittel und ganzheitliche Maßnahmen auf. Diese alternativen Angebote können unterstützend angewendet werden. Ich möchte hier eine Brücke schlagen und einen offenen, weiten Blick in beide Richtungen erlauben, zu einer ganzheitlicheren Sicht. Der ganzheitliche Ansatz berücksichtigt die Körper-, Geist-, Seelen- und Gefühlsebene einer Erkrankung und liefert damit weitere Hilfsmittel.

Im ersten Teil des Buches möchte ich Ihnen die Erkenntnisse über die Depression aus der Sicht der Wissenschaft näherbringen. Ich berichte hier durch die verhaltenstherapeutische »Brille«, dem Therapieverfahren, in welchem ich ausgebildet bin. Im zweiten Teil des Buches gehe ich auf die Perspektive und Möglichkeiten von Ihnen als Familienmitglieder, Partner und Freunde ein. Zugunsten der besseren Lesbarkeit habe ich die grammatikalisch männliche Form gewählt. Selbstverständlich können Sie überall, wo »er« steht, auch »sie« lesen.

Ein Dankeschön gilt Ihnen als interessierter Angehöriger eines Erkrankten – Sie sind kein unsichtbarer oder gar unwichtiger Begleiter. Als Therapeuten und Behandler wissen wir Ihr Engagement, Ihre Ausdauer und Ihre Unterstützung sehr zu schätzen. Denn Sie haben im ganzen Geschehen eine enorm wichtige Rolle inne.

KAPITEL 1
Linie Das Bild der Depression:
ein Überblick

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Was ist Depression?

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Wie fühlt sich ein depressiver Mensch?
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Möglicherweise stellen Sie sich diese Frage häufig. Vermutlich ganz besonders dann, wenn Sie selbst nie eine Depression hatten. Mit dem folgenden Wissen werden Sie mehr Verständnis für Ihren Angehörigen oder Freund aufbringen und ihn besser unterstützen können.

Die komplexe Erkrankung, die Depression genannt wird, ist nicht so einfach zu verstehen. Es gibt verschiedene Begriffe, die den Zustand eines depressiven Menschen beschreiben. Dazu gehören: depressive Niedergestimmtheit, anhaltende Traurigkeit, ein Gefühl der inneren Leere, Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit, erhöhte Ermüdbarkeit, innere Gleichgültigkeit sowie der Verlust von Freude und Interessen – was sich auf alle Lebensbereiche erstrecken kann, wie beispielsweise Hobbys, Freunde, Familie, Partnerschaft, Beruf oder das Sexualleben. Typisch sind folgende Symptome:

Manchmal nehmen die Betroffenen vor allem oder ausschließlich die körperlichen Symptome wahr. Sie fokussieren sich auf sie und suchen häufig Ärzte auf. Bei anderen depressiv Erkrankten stehen wiederum die psychischen Symptome im Vordergrund, zum Beispiel das ständige Grübeln. Es ist also gar nicht so einfach, ein einheitliches Bild der Erkrankung zu geben.

All die genannten Symptome stellen zunächst eine allgemein menschliche Erfahrung oder ein Alltagserleben dar und vieles davon kennen wir. Beispielsweise eine Trauerreaktion nach einem Verlust mag der Depression auf den ersten Blick sehr ähnlich sein, ist damit allerdings nicht zu vergleichen. Wann kann man also von einer depressiven Erkrankung sprechen? Psychotherapeuten können erst dann eine Depression diagnostizieren, wenn bestimmte Symptome mehr als zwei Wochen vorliegen und eine spürbare Beeinträchtigung des Betroffenen in verschiedenen Bereichen des Lebens entsteht: im körperlichen und psychischen Wohlbefinden, bei der beruflichen Leistungsfähigkeit oder in familiären Situationen. Es entsteht Leiden – beim Erkrankten, aber auch im Umfeld, bei nahestehenden Menschen wie der Familie oder den Freunden.

DIAGNOSTIK DER DEPRESSION

Nach der internationalen Klassifikation von Erkrankungen (ICD-10, International Classification of Diseases) müssen folgende Symptome über mindestens 2 Wochen bestehen, um eine Depression diagnostizieren zu können:

  1. Kernsymptome (von diesen müssen mindestens zwei zutreffen)
    • gedrückte oder traurige Stimmung, zum Teil auch vermehrte Reizbarkeit
    • Interessenverlust oder Freudlosigkeit
    • verminderter Antrieb oder gesteigerte Ermüdbarkeit
  2. Zusatzsymptome (auch hier müssen mindestens zwei vorhanden sein)
    • verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
    • vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
    • Gefühl von Schuld und Wertlosigkeit
    • negative und pessimistische Zukunftsperspektiven
    • Suizidgedanken/erfolgte Selbstverletzung oder Suizidhandlungen
    • Schlafstörungen
    • verminderter Appetit

Je nach Anzahl und Ausprägung der Symptome wird zwischen einer leichten, mittelgradigen und schweren Depression unterschieden.

Marie und Georg

Marie Rabe ist 37 Jahre alt, hat eine Ausbildung als Sekretärin gemacht, einige Jahre in ihrem Beruf gearbeitet und nach der Heirat mit Georg entschieden, den Beruf erst einmal aufzugeben, um für die Kinder da zu sein. Das Paar hat zwei Töchter. Aktuell kommt Marie seit mehreren Wochen nicht mehr richtig auf die Beine, weil sie sich schon morgens krank und schwach fühlt. Sie hat häufig Kopfschmerzen und Magenprobleme, schleppt sich über den Tag. Am Abend schläft sie oftmals schon um 20 Uhr vor dem Fernseher ein. Am nächsten Morgen kommt sie trotz des langen Schlafens nicht raus.

Marie versteht nicht, was mit ihr los ist. Am Anfang hat sie geglaubt, dass dieser Zustand bald vorübergehen würde, aber nichts verändert sich, die Situation hält an. Sie und ihr Mann können über die Dinge nicht mehr hinwegsehen und machen sich langsam Sorgen. Sie verstehen, dass sie etwas unternehmen müssen.

Wie verläuft die Erkrankung?
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Eine Depression kann also viele Gesichter haben. Sie ist immer ein individuelles Geschehen und unterscheidet sich in der Schwere, der Form und dem Verlauf. Folglich gleicht keine Depression der anderen und die oben aufgelisteten Symptome können in verschiedenen Kombinationen auftreten. So kann eine Person beispielsweise leichte oder schwere Konzentrationsprobleme haben. Die gedrückte Stimmung kann sich so äußern, dass der Betroffene häufig weint. Bei einer anderen Person könnte sie sich bis hin zu einer inneren Erstarrung ausdrücken, sodass Weinen überhaupt nicht mehr möglich ist.

Depressionen sind außerdem oft Tagesschwankungen unterworfen. Einige Betroffene haben ein Morgentief. Im Laufe des Tages tritt dann eine Besserung ein und teilweise fühlen sich die Erkrankten abends sogar recht gut. Bei anderen ist das Gegenteil der Fall, ihnen geht es am Abend besonders schlecht. Es gibt auch Personen, die über eine durchgängig schlechte Stimmung berichten. Das Bild von einem depressiven Menschen, der nur im Bett liegt, ist demnach nur teilweise zutreffend.

Eine Depression verläuft phasenartig. Eine unbehandelte depressive Episode dauert typischerweise sechs bis zwölf Monate. Bei professioneller Behandlung durch einen Therapeuten verkürzt sie sich und der Ausprägungsgrad wird geringer. Wenn nur einmal im Leben eine depressive Episode besteht, wird das in Fachkreisen eine unipolare Depression genannt: Wir wissen allerdings, dass etwa 60 % der Menschen, die einmal depressiv erkrankt sind, mindestens eine weitere depressive Episode bekommen. Diese kann sich, was den Verlauf, die Ausprägung und auslösende Faktoren betrifft, durchaus von der ersten Episode unterscheiden. Die Betroffenen erleben die neue Depressionsphase folglich oft neu.

Etwa 10 % der betroffenen Menschen haben eine chronische Depression. Das bedeutet, die Depression dauert länger als 24 Monate. Es kann sogar sein, dass die Erkrankung – mit Schwankungen der Intensität und Ausprägung – über Jahre hinweg anhält. Sind dabei die depressiven Symptome weniger stark ausgeprägt, aber über einen langen Zeitraum von mindestens zwei Jahren vorhanden, reden wir von einer Dysthymie. Ein Sonderfall ist die sogenannte »doppelte Depression« – die Kombination einer Dysthymie mit einer »normalen« Depression.

Ein anderer Spezialfall ist die bipolare Störung, die man im Volksmund auch als manisch-depressive Erkrankung kennt. Eine Depression wechselt sich hier mit manischen Phasen ab, also Phasen mit übermäßig guter Stimmung, die oft mit starkem Tatendrang, Ruhelosigkeit, fehlendem Schlafbedürfnis und auch Größenideen oder übertriebenem Optimismus verbunden sind. Derartige Situationen machen das gesamte Erkrankungsbild natürlich entsprechend komplexer.

Martin

Martin ist 32 Jahre alt und Angestellter bei einer Versicherung. Er ist bei seiner Arbeit sehr engagiert, macht viele Überstunden im Büro, arbeitet auch zuhause weiter. Er feilt ständig an seiner Arbeitsstruktur, ändert Vorgehensweisen und findet Wege, schneller zu einem Ergebnis zu kommen. Dabei verhaspelt er sich auch und beginnt immer wieder von Neuem, seine Projekte zu verbessern.

Im Alltag ist er aufgedreht, bester Laune, spricht viel und schnell, bewegt sich hastig und reagiert zeitweise auch sehr gereizt; er kommt kaum zur Ruhe. Nachts schläft er nur noch wenige Stunden. Nach circa zwei Wochen kippt seine Stimmung. Er ist körperlich verlangsamt, sein Rededrang kehrt sich ins Gegenteil – er spricht kaum noch. Er fühlt sich deprimiert, das Leben erscheint ihm sinnlos, seine Zukunft sieht er nur noch pessimistisch.

Auch Angsterkrankungen, Essstörungen, Süchte, Zwangsstörungen, Persönlichkeitsstörungen oder verschiedene körperliche Erkrankungen gehen häufig mit einer depressiven Erkrankung einher. Manchmal war die Depression zuerst da, nicht selten ist eine Depression aber die Folge von anderen Erkrankungen.

Die Abgrenzung zum Burnout
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Oft verwechselt werden die Begriffe Burnout und Depression. Burnout ist immer noch keine offiziell anerkannte Krankheitsdiagnose, somit wird darunter oft Unterschiedliches verstanden. Ab 1. Januar 2022 wird Burnout allerdings als eigene Erkrankung anerkannt sein (ICD-11).

Symptome des Burnouts sind vor allem ein tiefer Erschöpfungszustand, verringertes Leistungsvermögen, gepaart mit innerer Unruhe, verschiedenen körperlichen Beschwerden als Folge von Stressreaktionen, Schlafstörungen, dem Gefühl von Überforderung und Überlastung – und zwar oft als Folge von Stress durch Überarbeitung. Auch eine zunehmende innere Distanzierung oder die Entwicklung einer negativen Haltung zu den eigenen Aufgaben ist typisch. Ihnen fällt eventuell auf, dass die Symptome eines Burnouts durchaus auch im Rahmen einer Depression vorkommen können. Eine Depression geht aber noch tiefer und umfasst mehrere Lebensbereiche. Bei einem Burnout hilft meist eine Auszeit wie Urlaub, ein sinnvolles und nachhaltiges Stressmanagement und ein deutliches Kürzertreten, in vielen Fällen auch eine Kur oder eine Reha.