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Jahrmarkt der Mysterien


Horrorgeschichten aus dem Mittelalter

 

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

 

ISBN 978-3-946531-86-2 (Print Ausgabe)

ISBN 978-3-946531-87-9 (Epub)

 

© Burgenwelt Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Heerstraße 103 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Herausgeber | Redaktion: Detlef Klewer

Lektorat: Iwo – www.kritzelkunst.de

Umschlaggestaltung | Illustration: Detlef Klewer

Ebook-Realisierung: Eridanus IT-Dienstleistungen

 

Vorwort

 

Liebe Leserinnen und Leser,

jede Geschichtensammlung, die im Burgenwelt Verlag erscheint, nimmt ihren Anfang mit einem einfachen Funken, aus dem über viele Wege (und manchmal auch Umwege) schließlich irgendwann ein Buch entsteht. Im Falle der hier vorliegenden Anthologie stand der Titel »Jahrmarkt der Mysterien« im Grunde als erstes fest und speiste sehr schnell das dahinterstehende inhaltliche Konzept. Kein Wunder, ist der Titel doch griffig, einladend und klar – und er bietet darüber hinaus die Möglichkeit, vielschichtige und abwechslungsreiche Geschichten zu erdenken, ohne den Einfallsreichtum allzu sehr einzugrenzen.

Die Autorinnen und Autoren, die an unserer Ausschreibung teilnahmen, enttäuschten uns daher auch nicht und lieferten jede Menge Erzählstoff, der für viele spannende Lesestunden sorgte. Wie immer erwies es sich als Herausforderung, aus diesen Erzählungen diejenigen herauszufiltern, die Euch – den Leserinnen und Lesern – ein rundes Lesevergnügen garantieren würden.

Denn es gab auch dieses Mal viele talentierte und kreative Geschichtenmagier, die Welten und Lebewesen erschufen, die uns begeisterten. Daher trennten wir weniger die Spreu vom Weizen, sondern versuchten vielmehr eine ebenso hochwertige, wie möglichst abwechslungsreiche Auswahl zu treffen. Als das fertige Buch dann als Probefassung vor uns lag und noch einmal auf Herz und Nieren geprüft wurde, wussten wir, dass wir richtig entschieden haben.

Jede der nun folgenden Geschichten ist in unseren Augen etwas ganz Besonderes, egal ob nun ein finsteres Geheimnis, ein seltsamer Gegenstand mit düsteren Auswirkungen, ein tragischer Schicksalsschlag oder etwas anderes als Aufhänger diente. Alle gemeinsam verbindet der Blick hinter die Kulissen mittelalterlicher Jahrmärkte und Festivitäten – und von uns dazu noch eine kleine Vorwarnung: Dort geht es oft sehr finster und noch häufiger nicht mit rechten Dingen zu …

Makaberes Vergnügen!

Jana Hoffhenke (Verlegerin)

& Detlef Klewer (Herausgeber)

Odens Jakt – Anna Eichenbach

 

Schnee knirschte unter Hildurs Schritten und Mondschein überzog den in dampfenden Wolken vor ihrem Mund stehenden Atem mit Silberglanz. Fröstelnd schlang sie den Umhang enger um den Leib. Sacht zupfte der auffrischende Wind an einer Strähne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte. Er trug eine feine Note gebratenen Fleisches heran, gemischt mit dem Rauchgeruch der Langfeuer. Obwohl die Nacht sich sternenklar zeigte, schmeckte Hildur nahenden Schneefall auf der Zungenspitze.

Stimmengewirr und Lachen wehten zu ihr. Forderten auf, sich dem geselligen Treiben anzuschließen. Versprachen einen Platz zum Aufwärmen am Feuer. Warmgoldenes Licht drang aus einladend geöffneten Toren der Methalle, ergoss sich in die samtene Dunkelheit und umfloss Hildurs schneeverkrustete Stiefelspitzen.

Vor der Schwelle verharrte sie. Ihr Herz flatterte vor Aufregung und Vorfreude. Sicher, das Langhaus des Jarls war stets gut besucht – doch so voll erlebte Hildur es selbst zu Jul nicht. Kinder jagten lachend um die Beine der Männer und Frauen, die in Gruppen beisammen standen – oder saßen, tranken und aßen. Nicht wenige nahmen den beschwerlichen Weg durch Schnee und Frost aus den umliegenden Dörfern auf sich, um sich heute Abend im Herzen von Lade einzufinden.

Tief schöpfte Hildur Atem, ehe sie eintrat, die Wärme der Langfeuer über ihr zusammenschlug, und ihren Körper wie warmes Wasser eines Badezubers schmeichelnd umfing. Auf dem kurzen Weg von ihrem Hof bis zur Halle war ihr die Kälte bis in die Knochen gedrungen. Mit steifen Fingern löste sie die Fibel, legte ihren Umhang ab, trat wohlig seufzend näher ans Feuer und hielt ihre Hände über die Flammen. Wie von selbst wippte ihr Fuß zum Takt, den eine Gruppe von Musikanten vorgab – eine Weise, die sich unaufdringlich unter das vielstimmige Gemurmel mischte und schon oft in diesen Hallen erklang: Kraftvoll und zerbrechlich zugleich, erhob sie das Gemüt zu kühnen Träumen.

 

Unterschiedlichste Gerüche stiegen Hildur in die Nase. Unverkennbare Aromen von Met und Schweiß, aber auch von kräftig gewürzten Speisen und süßlichem Räucherwerk.

Unter den Fremden im Langhaus entdeckte ihr suchender Blick auch viele vertraute Gesichter. Gesichter, die ihr Herz mit leiser Wehmut erfüllten, erinnerte doch jedes bekannte Antlitz an all diejenigen, die nun nicht mehr unter ihnen weilten, die ihre Gemeinschaft im Laufe des vergangenen Jahres bis in alle Ewigkeit verließen.

Das Langhaus summt vor Leben, dachte sie, als sie sich die Hände über dem Feuer rieb, dabei ist es der Tod, der jeden von uns heute Nacht hierher führte.

Sieben Tage zogen inzwischen ins Land, seit Harald der Gute – Jarl von Lade – kurz nach dem Julfest friedlich entschlief. Der Tradition entsprechend lud sein Sohn Thorolf zum Gedenken seines Vaters zu einem prächtigen Gelage. Gestern schon versammelten sich die angesehensten Krieger und wichtigsten Getreuen des Jarls zu einer rituellen Trinkzeremonie und erhoben gemeinsam ihre Becher zur Ehrung der Götter und des Verstorbenen. Schließlich beeidete Thorolf bei bragarfull, dem Schwurbecher der Ladejarle, dass er sich würdig erweisen werde, Erbe und Stellung seines Vaters anzutreten. Nun durfte er sich mit vollem Recht Jarl Thorolf Haraldsson nennen.

In ihre Betrachtung vertieft, bemerkte Hildur den mit einem Mal vor ihrem Gesicht schwebenden Becher zunächst nicht, ergriff ihn dann jedoch und tat einen Schluck. Augenblicklich entfaltete sich in ihrem Magen angenehme Wärme, die sich in ihrem ganzen Leib ausbreitete. Fast schien es ihr, als schmecke der Met heute anders als gewöhnlich, leicht erdig und … besser. Es kam ihr vor, als habe dieser eine Schluck genügt, dass sie sich seltsam leicht fühlte – beinahe als schwebe sie. Aber das mochte auch an ihrer ausgelassenen Stimmung liegen. Lächelnd wandte sie sich zu demjenigen herum, der ihr den Trunk reichte – und hätte ihn um ein Haar fallen lassen.

»Warum so schreckhaft, Hildur Knutsdóttir?«

Snotra schenkte ihr ein schmallippiges Lächeln. Die Zähne der Seherin schimmerten bräunlich verfärbt von den Kräutermischungen, die sie zu kauen pflegte.

»Völva.« Hildur senkte den Blick, neigte das Haupt voller Demut und Respekt. »Ich war in Gedanken versunken.«

Das Lächeln der Ältesten von Lade vertiefte sich und mit ihm die Furchen, die der Pflug der Zeit um ihre wachen Augen gegraben hatte. Leise klackernd schlugen die bleichen Knochen aneinander, die an einem Lederband um ihren Hals hingen. Von Hühnern und Raben sollten sie stammen und – aber das wurde nur hinter vorgehaltener Hand gemunkelt – von einem Neugeborenen, das Snotra zur Erlangung ihrer Fähigkeiten geopfert habe.

Hildur wusste nicht, ob man den Geschichten, die sich um die Völva rankten, Glauben schenken durfte. Sie wusste nur, dass ihr die Alte unheimlich war. Zu einem Gutteil lag das sicherlich daran, dass die Älteste von Lade im Bund mit den Nornen stand. Die Schicksalsweberinnen hatten ihr die Gabe verliehen, die Schleier über dem Gewebe des Künftigen für Augenblicke zu lüften und den Menschen von ihren Geschicken zu künden. Eine Zaubermacht, die weit jenseits von allem lag, was Hildur sich überhaupt vorzustellen vermochte. Doch Snotra hatte zudem etwas an sich, etwas Unbestimmtes, das sie nur schwer in Worte kleiden konnte.

»Es ist dies eine besondere Nacht, mein Mädchen«, erklärte die Völva vielsagend. Ihre knochigen Finger umschlossen Hildurs Hand mit dem Becher. »Die Nornen werden uns Wege offenbaren, die noch im Dunkeln liegen, das spüre ich.« Sanft, aber bestimmt, hob sie ihr den Becher an die Lippen. »Trink, mein Mädchen.«

Hildur sträubte sich innerlich, wollte sich der Alten entziehen, vermochte dem Bann der hellgrauen Augen Snotras jedoch nichts entgegenzusetzen. Durch ihre geöffneten Lippen flutete der Met ihren Mund und rann erdig ihre Kehle herab. Und noch immer hielt die Seherin sie auf seltsame Art gefangen. »So ist’s gut«, murmelte sie und tätschelte ihre Wange. »Wahrlich, dies ist eine besondere Nacht, mein Mädchen.« Damit wandte die Völva sich um und überließ Hildur sich selbst.

Zittern überfiel ihre Glieder. Hildur schlang die Arme um den Leib, als könne sie es so bändigen. Heftig trommelte ihr Herz gegen die Rippen, und mit geschlossenen Augen schöpfte sie gierig Atem. Snotras Nähe allein hatte genügt, ihr die Kehle zuzuschnüren.

Hildur glaubte, einen Blick auf sich zu spüren. Flatternd schlugen ihre Lider auf, und ihr Herz machte einen Satz, als sie eines Unbekannten gewahr wurde, der neben einer der Sitznischen in der gegenüberliegenden Wand lehnte. Dunkles Haar rahmte sein bärtiges Gesicht, aus dem ihr zwei ebenso dunkle Augen über die Flammen hinweg entgegenblickten. Trotz der Wärme in der Halle trug er noch immer ein silbergraues Fell um die Schultern. Seine aufrechte Haltung verriet einen gewissen Stolz. In Lade habe ich ihn nie zuvor gesehen. Er muss aus einem der Dörfer der Umgebung stammen.

Als habe er erraten, dass ihre Gedanken ihm galten, hob der Fremde den Becher zum Gruß und trank mit vielsagendem Lächeln einen Schluck.

Hitze schoss in Hildurs Wangen – und die rührte nicht vom Feuer her. Eilig wandte sie sich ab, tauchte in der Menge unter und entzog sich dem Blick des Mannes. Angesteckt von der allgemeinen Heiterkeit, bahnte sie sich summend einen Weg durch die Menschenmenge. Grüßte hier und da, und verweilte für einen Plausch oder derben Scherz bei Freunden, Bekannten, Nachbarn sowie entfernten Verwandten.

Ihr Magen grummelte, als die Menge sie endlich vor der Tafel ausspie. Lange Tische bogen sich unter dem Gewicht der aufgetragenen Speisen. Da gab es goldbraune Braten, Schüsseln voller dampfender Eintöpfe, Kessel mit Suppe – und allerlei Köstlichkeiten, die man normalerweise im Winter entbehren musste. Thorolf hatte sich – dem Anlass entsprechend – wahrlich nicht lumpen und großzügig aus seiner Vorratskammer auftragen lassen. Und zahlreich waren nicht nur Bewohner von Lade, sondern auch aus dem Umland seinem Ruf gefolgt. Deutlich zeugte dies von dem Ansehen, das Harald selbst im Tode noch genoss. Ein Ansehen, das sich sein Sohn verdienen würde, erwiese er sich als ebenso gerechter und guter Jarl.

An Großzügigkeit steht er ihm jedenfalls in nichts nach. Dankbar füllte Hildur ihre Schale. Nahm sich reichlich, doch nicht so viel, dass es an Unverschämtheit grenzte. Wenn ich schon Gelegenheit habe, meinen Magen zu füllen, ohne meine eigenen Vorräte zu schmälern … Ein Gedanke, den wohl viele der Anwesenden teilten.

Hildur suchte sich einen Platz abseits des Gedränges. Sich sacht zum Klang der Musik bewegend, ließ sie sich das zarte, saftige Fleisch auf der Zunge zergehen, und versuchte Anspannung wie Schrecken durch die Begegnung mit Snotra zu verdrängen.

»Wie ich sehe, verstehst du es, eine Feier zu genießen.«

Der Fremde trat neben sie. Hildur verschluckte sich an ihrem Bissen.

»Verzeih, dass ich mich so herangepirscht habe«, bemerkte er mit halb entschuldigendem, halb besorgtem Lächeln.

Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Ich … ja … nein«, stammelte sie und senkte beschämt den Blick. Ihre Wangen glühten. »Ich meine: Du musst dich für nichts entschuldigen.«

»Du scheinst mir ein bisschen … durcheinander zu sein.«

»Ach ja?«

»Ja.« Mit gerunzelter Stirn und schräg gelegtem Kopf musterte er die junge Frau. »Wäre ich an deiner Stelle auch. Eure Völva«, meinte er, als er den Fingern der überraschten Hildur den leeren Becher entwand, »ist eine … einschüchternde Erscheinung.«

Hildur schluckte, fühlte sich bei der bloßen Erwähnung der Seherin unbehaglich. »Das kann man wohl sagen.«

Der Unbekannte zwinkerte verschwörerisch. »Aber das haben Frauen ihrer Art wohl an sich. Bin gleich zurück.« Noch ehe Hildur Gelegenheit zu einer Erwiderung fand, stand er bereits wieder an ihrer Seite und reichte ihr einen gefüllten Becher. Der Met spülte den letzten Rest ihrer Beklommenheit fort.

»Ich glaube, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.« Der Fremde lehnte sich neben sie an die Wand und ließ den Met in seinem Becher kreisen. Den Daumen der anderen Hand hakte er hinter den prächtig bestickten Gürtel, mit dem sein Hemd gerafft wurde. »Mein Name ist Gunnar. Gunnar Graufell.«

»Hildur«, stellte sie sich vor.

»Es ist mir ein Vergnügen, Hildur.« Mit einem verschmitzten Zug um die Mundwinkel neigte der Mann den Kopf. In seinen Augen blitzte es lebhaft. »Stammst du aus Lade?«

Sie nickte und trank rasch noch einen Schluck. Ihr Herz flatterte. Diesmal lag es nicht an der Seherin.

»Meine Heimat liegt einen halben Tagesmarsch südlich von hier.« Seufzend lehnte er den Kopf an die Wand und musterte sein Gegenüber.

»Dann hast du einiges auf dich genommen, um heute hier zu sein«, bemerkte Hildur und ließ dabei den Blick schweifen, auf der Suche nach einem vertrauten Gesicht, das ihr ein Gefühl von Sicherheit vermitteln könnte. Das Gespräch mit Gunnar Graufell fühlte sich … seltsam an. Die einzige, die sie erblickte, war Ingrid, die sich einen Weg zur üppig gedeckten Tafel bahnte, dabei immer wieder zu ihnen herüberschaute. Neugierig wie immer. Bald wird ganz Lade wissen, dass ich heute Abend mit einem Fremden gesprochen habe, dachte Hildur belustigt.

»Oh ja.« Gunnar nickte gedankenversunken. Hildur schien es, als sei sein Blick mit einem Mal auf einen Ort und einen Zeitpunkt jenseits dieser Hallen gerichtet. »Das bin ich Harald schuldig. Ich schwor ihm Gefolgschaft – über den Tod hinaus.« Ein Schatten huschte über seine Züge, den keinen Herzschlag später sein Lächeln bereits wieder vertrieb. »Ganz gleich, wie weit ich dafür reisen muss.«

»Jarl Harald muss dich mächtig beeindruckt haben«, meinte Hildur eben in dem Augenblick, als Ingrid mit voll beladener Schale an ihnen vorbeilief, misstrauisch den Becher in Hildurs Hand beäugte und mit missbilligend zusammengekniffenen Lippen kaum merklich den Kopf schüttelte. Was in ihrer Erzählung wohl aus dieser Unterhaltung werden wird? Hildur zuckte mit den Schultern und hob lächelnd den Becher zum Gruß. Rasch wandte Ingrid den Blick ab. Mir soll es gleich sein. Zufrieden seufzend wandte sie sich wieder Gunnar zu. Kaum zu erklären, aber mit einem Mal erschien ihr der Krieger ganz anders.

»Das hat er. Er war ein guter Mann, ein guter Jarl. Ich bin stolz, nicht nur einmal unter ihm gesegelt zu sein.« Gunnar richtete sich zu voller Größe auf und überragte Hildur um Haupteslänge. »Den hier«, seine Finger zupften an dem Pelz, der breite Schultern verbarg, »habe ich auf meiner ersten Víking unter Harald gewonnen. Den Wolf habe ich eigenhändig erlegt – doch jeder Sieg hat einen Preis.« Seine Hand fuhr durch den Bart, der die Narben auf seiner linken Wange nicht zur Gänze zu verbergen vermochte. Ein Mann, der sich zu behaupten weiß, dachte sie nicht ohne Bewunderung und biss sich rasch auf die Unterlippe, um ein Schmunzeln zu unterdrücken. Nicht schnell genug.

»Was gibt es da zu lachen?«, schnaubte Gunnar. »Belustige ich dich so sehr?«

»Keineswegs, ich … frage mich nur, warum du mir diese Geschichte erzählst«, entgegnete sie keck. Warm strömte der Met durch ihre Adern. Raubte ihr die Scheu und lockerte ihre Zunge.

Gunnar lachte so rau wie der Nordwind. Der Klang ließ Hildur wohlig erschaudern.

»Vielleicht, weil ich hoffe, ein Mädchen wie dich damit beeindrucken zu können.« Der Krieger bemühte sich, einen möglichst beiläufigen Ton anzuschlagen, achtete jedoch genauestens auf jede ihrer Regungen.

»Glaub mir, ein Mädchen wie ich hat in seinem Leben schon viele solcher Geschichten gehört.«

»Dann kann ich nur hoffen«, erklärte er gedehnt und brachte seinen Mund näher an ihr Ohr, »dass du solcher Geschichten noch nicht überdrüssig bist.« Sein Atem strich verheißungsvoll über ihre Wange. Hildur hielt still, während Graufell raunend nachsetzte: »Und dass meine Geschichten besser sind als all die anderen.«

Gunnars Bart kitzelte ihren Hals. Sie schloss die Augen, als seine weichen Lippen ihre Haut streiften. Ihr schwindelte. Liegt es an ihm oder habe ich schon zu viel getrunken? Leicht wankend musste sie sich kurz an seinem Arm festhalten, als der Krieger sich wieder zurückzog.

»Wir werden sehen«, bemerkte sie, als sie sich wieder gefasst hatte.

»Darauf lasse ich es gern ankommen«, sein Becher stieß gegen ihren. »Das scheint es mir wert zu sein.«

Hildur setzte zu einer Erwiderung an, doch dumpfes Pochen, das von den Wänden widerhallte, rollte über alle hinweg wie Donnergrollen. Musik und Gespräche verstummten. Jegliche Aufmerksamkeit richtete sich auf das Tor.

Erneut pochte Holz auf Holz.

Aus der Dunkelheit löste sich langsam Snotra und trat in den Feuerschein. Schneekristalle schmolzen auf ihrem mit Rabenfedern besetzten Umhang zu funkelnden Diamanten. Schwer auf ihren gewundenen Stab aus poliertem Eibenholz gestützt, schritt die Seherin mit einem grimmigen Lächeln um ihre schmalen Lippen durch die Halle. Mochte Alter ihre Gestalt auch beugen: In ihrer Würde und einer nahezu greifbaren Aura von Macht überragte die Älteste selbst einen von Skalden besungenen Helden.

Prickelnd richteten sich die Haare auf Hildurs Armen auf. Eine nie gekannte Kälte, gegen die sich auch der wärmende Met als machtlos erwies, schien plötzlich aus ihrem Inneren aufzusteigen.

Ehrfürchtig raunend wichen die Leute vor der Völva zurück. Manch einer schlug gar die Augen nieder, wagte nicht – oder fürchtete – ihrem Blick zu begegnen. Hildur war sich sicher, dass Snotra um alles wusste, was man sich im Ort von ihr erzählte, und ihren Ruf genoss – ganz gleich, auf wie viel Wahrem dieser beruhte.

»Snotra, Älteste von Lade!« Die Arme einladend ausgebreitet, erhob sich Thorolf von seinem fellbehangenen Stuhl. »Ehrwürdige Völva.« Tief verneigte sich der hoch aufgeschossene Krieger vor ihr und richtete sich erst auf, als die Seherin ihre hageren Finger an seine Wange legte.

»Jarl Thorolf Haraldsson.« Obwohl die Alte ihre Stimme nicht hob, vernahm man sie deutlich im ganzen Langhaus. Langsam und ehrfurchtgebietend wandte die alte Frau sich im Kreis, musterte die Versammelten, als sähe sie jeden zum ersten Mal.

»Männer und Frauen von Lade«, erklärte sie gedehnt, »lasst alle Wehmut und Trauer fahren. Heute Nacht«, ihr geheimnisvolles Lächeln streifte Hildur für einen flüchtigen Augenblick, »ist eine besondere Nacht.« Erwartungsvolle Stille folgte dieser Erklärung. Niemand wagte, sich zu räuspern oder gar zu rühren. Nur das gelegentliche Knacken der brennenden Holzscheite hallte widernatürlich laut durch die Methalle. Snotra bedurfte nicht vieler Worte, um ihren sonderbaren Zauber zu weben, der auch Hildur in seinen Bann schlug.

»Denn niemals sind uns die Toten so nah wie in den Raunächten«, raunte die Älteste.

Hildur erschauderte. Gunnar rückte näher und legte den Arm um ihre bebenden Schultern. Dankbar für Halt und Wärme, ließ sie den Krieger gewähren.

»Gedenkt ihrer und gedenkt Harald des Guten«, fuhr die Völva fort. »Freude soll eure Herzen erfüllen. Heute haben wir uns gleichermaßen hier versammelt, um die Lebenden zu feiern.«

Gebannt hielt Hildur den Atem an, als Snotra herumwirbelte. Gleich schwarzen Schwingen bauschte sich der Federumhang hinter ihr auf. »Jarl Thorolf Haraldsson«, lauernd schritt sie auf ihn zu. Der Krieger bemühte sich, das Unbehagen zu verbergen, das sich ebenso auf den Gesichtern seiner Getreuen spiegelte.

Die Seherin hämmerte ihren Stab auf den Boden, dass Hildur zusammenzuckte, und streckte Thorolf dann eine Hand entgegen.

Hildur entging nicht, dass dessen Finger kaum merklich zitterten, als sie sich um die schmale Hand der Völva legten. »Ich habe die Orakelknochen nach deinem Geschick befragt«, erklärte Snotra feierlich, »ganz wie du mich geheißen hast.« Erneut erhielten ihre Worte Raum, um Wirkung zu entfalten. »Vor den hier Versammelten, den Göttern und den Seelen der Verstorbenen, die in dieser Raunacht unter uns weilen, künde ich dir: Bedeutsames liegt in deiner Zukunft. Du wirst Lade zu ungekannter Größe führen, sowie den Reichtum deiner Sippe und der ganzen Stadt mehren.«

Die Anwesenden jubelten. Auch der Jarl schien erleichtert und nahm dankbar einen Becher, den ihm eine Dienerin reichte. Met rann in seinen dichten Bart. Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund und erklärte breit grinsend: »Ihr habt Snotra vernommen: Vergesst Trauer und Wehmut! Feiert! Feiert, als weiltet ihr selbst für eine Nacht in Odins goldener Halle. Als füllte die Milch der Ziege Heidrun eure Becher, und als kostetet ihr das zarte Fleisch des Ebers Saehrímnir.« Lachend warf Thorolf den Kopf in den Nacken und die Musik setzte wieder ein.

Schwärmerisch, mit halb geschlossenen Augen, wiegte sich Hildur sacht im Takt. Gleichgültig, dass Ingrid sie von der anderen Seite der Halle aus beobachtete. Ob sie sich schon das Maul zerreißt oder vor Neid platzt? Sollen sie doch lästern. Gunnar macht weit mehr her als die meisten Männer aus Lade.

Frauen fassten sich bei den Händen und tanzten ausgelassen. Alsbald gesellten sich Männer zu ihnen. Verstohlen schielte Hildur zu Gunnar, der dies mit einem Schmunzeln beantwortete.

Mit wild pochendem Herzen stürzte sie den Rest Met hinunter, fasste den Krieger bei der Hand und zog ihn mit sich zu den Tanzenden.

»Was soll das werden?«

»Das«, erklärte Hildur keck, »ist etwas, das mich wirklich beeindrucken würde.«

Gunnar fügte sich bereitwillig in sein Schicksal.

»Lass uns den Jarl beim Wort nehmen und feiern, als weilten wir heute Nacht in Valhalla«, raunte sie ihrem Tanzpartner ins Ohr und hauchte ihm einen Kuss auf die Schläfe.

»Valhalla, ja.« Gunnars Augen blitzten dunkel. Warm und schwer ruhte seine große Hand an ihrem Rücken und die Zeit verflog wie im Rausch. Lied für Lied umkreisten beide einander, näherten und lösten sich wieder voneinander. Ein Spiel, das nach Hildurs Wünschen die ganze Nacht hindurch andauern mochte. Und nur die Nornen wissen, wie es ausgehen mag. Die Gesichter der übrigen verschmolzen in ihrer Wahrnehmung zu einer ununterscheidbaren Masse. In diesem die Sinne berauschenden Wirbel aus Farben, Gelächter, Met und Musik, war und blieb für sie einzig Gunnar Graufell von Bestand.

Schließlich zog er sie beiseite. Außer Atem lehnte sie den Kopf an seine Schulter. Die Welt schien sich zu drehen, während er seinen Arm um ihre Hüfte schlang. Ihr Mund war wie ausgedörrt und ein flaues Gefühl rumorte in ihrem Magen.

»Hat dich das beeindruckt?« Seine Lippen streiften ihr Ohr, ließen ihren Körper wohlig erschauern.

»Das war … durchaus beeindruckend, Gunnar Graufell.«

Der Krieger legte ihr einen Finger unter das Kinn, hob es sacht an. Hildurs Wangen glühten. Sie fühlte sich leicht und schwindelig zugleich. Unschlüssig biss sie sich auf die Unterlippe, betrachtete diesen Mann, von dem sie wenig wusste, doch dem sie sich so seltsam nah wähnte.

Im nächsten Moment drang eine Stimme an ihr Ohr, kaum mehr als heiseres Raunen, doch von solcher Intensität, dass Hildur sich ihr nicht zu entziehen vermochte. Gunnar seufzte leise, als sie sich von ihm löste und sich umsah.

Snotra saß wenige Schritte entfernt auf einem Schemel vor dem Feuer, umringt von Männern und Frauen. Kinder drängten sich zu ihren Füßen. Staunend und mit großen Augen lauschten alle den Worten der Völva.

Wie gebannt trat auch Hildur mit Gunnar an ihrer Seite näher und lehnte sich müde an ihn. Ihre Finger verschlangen sich ineinander, während Snotra Geschichten wisperte. Von mutigen, starken Recken, die sich auf Víking bewährten. Von gerüsteten Walküren, die deren Seelen nach Valhalla geleiteten. Und von Odens Jakt, die in den Raunächten die Lande durchzog. Die Völva hob das Haupt. »Und die Nornen werden uns Wege offenbaren, die noch im Dunkeln liegen.« Als ihr Blick Hildur traf, schlug deren Herz auf einmal schwerer in der Brust – beinahe als gefriere es mit jedem Schlag mehr und mehr. Immer wieder versank die Welt vor Hildurs Augen in Nebeln, die sich nur für die Dauer von Herzschlägen lichteten. Alles drehte sich. Sie schmeckte bittere Galle auf der Zungenspitze, kniff angestrengt die Augen zusammen, aber ihre Sicht klärte sich nicht. Hildur fühlte sich unendlich erschöpft, fahrig und auf seltsame Art fiebrig.

»Entschuldige mich kurz«, murmelte sie, machte sich kraftlos von Gunnar los und taumelte ins Freie. Die klirrende Kälte der Raunacht traf ihren Körper mit voller Wucht, fraß sich durch den Stoff ihres an ihrem verschwitzten Leib klebenden Gewandes, und drang ihr bis auf die Knochen. Klappernd schlugen Hildurs Zähne aufeinander, doch sie stolperte weiter, heraus aus dem goldenen Lichtschimmer, der aus den Toren sickerte. Tastete sich an der Außenwand des Langhauses entlang tiefer hinein in Schnee und Dunkelheit.

Es ist dies eine besondere Nacht, mein Mädchen, klangen ihr Snotras Worte im Ohr. Ihr Magen verknotete sich ängstlich. Hildur würgte. Die Nornen werden uns Wege offenbaren, die noch im Dunkeln liegen. Die Knie gaben unter ihr nach, doch im gleichen Augenblick umschlang ein kräftiger Arm ihre Hüfte und verhinderte ihren Sturz. Gunnar stützte sie, da ihre Beine sie nicht mehr mit gewohnter Zuverlässigkeit trugen. Rasch legte er ihr ihren Umhang um die Schultern, in dem noch die Wärme des Langfeuers nistete.

»Was ist mit dir?« Besorgt strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Erschöpft schmiegte Hildur die Wange in seine Handfläche. Tröstlich glitt sein Daumen über ihre Haut. »Ich weiß es nicht«, entgegnete sie mit zittriger Stimme. So viel habe ich doch gar nicht getrunken, als dass ich mich so fühlen sollte.

Gunnar zog sie an sich. Eine Hand in ihrem Haar, die andere auf ihrem Rücken hielt er sie. Fest und unerschütterlich. Hildur lauschte seinem beruhigenden Herzschlag. Die Kälte und Gunnars Nähe bewirkten, dass sie sich allmählich besser fühlte, sich ihr Blick klärte und die Welt endlich wieder ihren Platz einnahm.

»Sieh nur«, flüsterte Gunnar und deutete voraus in Richtung Fjord. Hildur folgte seinem Fingerzeig – und es verschlug ihr schier den Atem: Tiefgrüne Schleier tanzten über das sternenfunkelnde Firmament. Spiegelten ihre Ebenbilder auf der glatten Wasseroberfläche.

»Diese Lichter«, raunte Gunnars samtenwarme Stimme neben ihrem Ohr, »weißt du, woher sie stammen?«

Fasziniert schüttelte Hildur nur leicht den Kopf.

»Es ist das Licht, das aus Odins goldenen Hallen dringt«, erklärte er leise. »Es bricht sich auf den glänzenden Rüstungen der Walküren. Immer wenn sie einen künftigen Einherjer an die Tafel des Allvaters führen, können wir Menschen in Midgard seinen Widerschein sehen.« Er küsste sie auf die Schläfe. Langsam wanderten seine Lippen über ihre Wange.

Hildurs Herz klopfte unbändig in ihrer Brust. So ungebärdig, dass sie gar nicht richtig wahrnahm, wie das Gunnars immer langsamer schlug.

»Und in den Raunächten«, setzte er wispernd nach, »leuchten sie Odens Jakt den Weg.« Seine Lippen trafen ihren Mundwinkel und Kälte breitete sich nun dort aus. »Ich habe so lang nach dir gesucht. Bin so weit gereist.« Sein Atem strich über ihren Mund. »Bin deinem Ruf gefolgt.« Ein unausgesprochenes Versprechen. Hildur bräuchte nur den Kopf zu drehen …

»Meine Huldra.«

Der Bann brach. Verwundert sah sie auf – und keuchte erschrocken auf. Das kann nicht sein! Es schien nicht mehr länger Gunnars Antlitz, auf das ihre Augen blickten. Die Züge und auch das verschmitzte Lächeln wirkten unverändert, doch mutete es seltsam wächsern an. An der Stelle seines linken Auges klaffte nun ein dunkles, von knotigen Narben umspanntes Loch.

»Gunnar«, wisperte sie entsetzt und stieß den Krieger von sich. »Was …«

Flehentlich streckte er die Hand in ihre Richtung, doch ein Brüllen ließ ihn herumfahren. Im nächsten Augenblick riss ein dunkler Schatten ihn von den Beinen und zu Boden. Hildur begriff nicht, was vor sich ging. Wusste nur, dass es galt, den Kämpfenden tunlichst nicht in den Weg zu geraten.

Ein Hüne drang auf Gunnar ein. Der linke Arm hing schlaff an der Seite des zerschlissenen Hemdes herab. Schnee spritzte auf, als seine schwere Keule ebendort niederfuhr, wo sich einen Wimpernschlag zuvor noch Gunnars Kopf befand.

Instinktiv packte Hildur einen aus einer Schneewehe ragenden Ast und schlug mit voller Wucht auf den Rücken des Hünen, der sich davon jedoch gänzlich unbeeindruckt zeigte. Langsam wandte der Angreifer sich zu ihr herum – und die behelfsmäßige Waffe entglitt ihren kraftlosen Fingern, kaum dass sie sein Gesicht gewahrte. Die linke Hälfte war bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert, doch die Züge der rechten Seite waren ihr beängstigend vertraut. Aber … das ist nicht möglich!

Vor ihr stand Bothi, ein Raufbold aus dem Nachbardorf. Ein junger Mann mit zu heißem Gemüt, der keine Möglichkeit zum Streit ausließ – und bei einer solchen Gelegenheit von Thorolf erschlagen wurde.

Er neigte das Haupt, musterte sie mit gierigem Grinsen. »Ich bin Bothi, der Warner, nimm dich in Acht«, raunte er dunkel und trat einen Schritt auf Hildur zu, »denn heut’ zieht Odens Jakt durch die Nacht.«

Noch in der Bewegung erstarrte sein Körper. Ein Langmesser ragte bis zum Heft aus seinem Hals. Mit einem schmatzenden Geräusch befreite Gunnar die Klinge – und der Hüne verging vor Hildurs entsetzten Augen in einem grünen Funkenwirbel.

Mit bebenden Schultern schöpfte Gunnar Atem, steckte langsam das Messer zurück hinter den Gürtel und trat mit beruhigend ausgestreckter Hand einen Schritt auf Hildur zu. »Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten.« Der Widerschein der Himmelslichter schimmerte auf seinem Haar und in seinem verbliebenen Auge. »Nicht solange ich bei dir bin, Huldra.«

»Hildur«, widersprach sie mit sich vor Furcht überschlagender Stimme. »Ich bin Hildur, nicht Huldra.«

Leises Lachen ließ seine Brust und seinen Bart vibrieren. »Mag sein«, meinte er gedehnt und hielt auf sie zu, »doch heute Nacht offenbaren uns die Nornen Wege, die bisher im Dunkeln lagen. Ich bin gekommen, um dich zu holen.«

Odens Jakt! Bin ich verdammt?

»Die weite Reise habe ich gewiss nicht auf mich genommen, um mit leeren Händen von dannen zu ziehen.«

»We-welche Reise?« Gleich einem Hasen, den der Wolf in die Enge trieb, wich Hildur verzweifelt nach einem Ausweg suchend zurück. Versuchte zu begreifen, was hier überhaupt vor sich ging.

Unbestimmt deutete seine Hand empor, wo einzig die Himmelslichter beobachteten, was am schneebedeckten Ufer des Fjords geschah. »Du bist mein, Huldra.«

Geistesgegenwärtig bückte Hildur sich rasch, schleuderte ihm eine Handvoll Schnee ins Gesicht und rannte sofort los. Das ungehaltene Fluchen hinter ihr wurde immer leiser.

Gleichsam blind vor Angst achtete sie nicht darauf, wohin sie lief. Wollte nur weg von Bothi, dem Wiedergänger, und Gunnar, der gar nicht Gunnar war – es vielleicht doch war, oder gar nie gewesen war.

Längst hatte sie auf ihrer Flucht den letzten Hof von Lade hinter sich gelassen. Der einzige Weg zur Methalle, die trügerische Sicherheit versprach, hätte an Gunnar vorbeigeführt, dem sie keinesfalls in die Arme laufen wollte.

Hildur rannte weiter. Einfach geradeaus. Passierte den Waldsaum. Die frostige Nachtluft füllte ihre Lunge bei jedem Atemzug mit flüssigem Feuer. Unter den kahlen Ästen lag der Schnee unberührt und reichte bis etwa zur Hälfte der Wade. Nur langsam kam die Fliehende voran, war sich ihrer deutlichen Spuren in der Schneedecke allzu bewusst. Ein Leichtes für ihren Verfolger, sie aufzuspüren und einzuholen, fänden ihre Kräfte erst ein Ende. Ihre Muskeln verkrampften.

Ich habe so lange nach dir gesucht.

Tränen der Erschöpfung und Verzweiflung rannen heiß über ihre kalten Wangen. Was ist das nur? Was geschieht mit mir? Jedes Knacken im Unterholz ließ Hildur zusammenfahren. Gehetzt spähte sie immer wieder voll Furcht über die Schulter zurück, ob ihr Häscher schon dicht zu ihr aufgeschlossen habe.

Bin so weit gereist.

Zweige peitschten ihr ins Gesicht, rissen an ihrem Umhang und verfingen sich in ihrem Haar. Die Schatten knorriger Äste schienen sich nach ihr zu recken, sie packen zu wollen.

Du bist mein, Huldra.

Die Anstrengung ließ dunkle Flecken vor ihren Augen tanzen. Völlige Erschöpfung erzwang schließlich eine kurze Rast. Hildur befand sich ganz in der Nähe der Lichtung, auf der sie mit ihren jüngeren Schwestern manch einen Sommertag damit verbrachte, Blütenkränze zu flechten. Nun lag der Ort schneestill und verschlafen unter den Himmelslichtern, die unablässig über das Firmament tanzten. Sie hüllten die Welt in dämmrig-grünes Zwielicht – und zeichneten die Umrisse einer Gestalt nach, die inmitten der Lichtung auf einem Baumstumpf saß.

Hildur schluckte ihr Entsetzen herunter und trat wider besseren Wissens zögernd näher. Ein graues Fell lag um breite Schultern. Also hat er mich gefunden. Ich kann nicht entkommen.

»Gunnar?« Ihre Stimme brach.

Der andere zeigte keine Regung.

Behutsam, die Sinne zum Zerreißen gespannt, näherte sie sich.

»Huldra.« Ein Funkeln erschien in seinem Auge, ein Lächeln huschte über seine Lippen.

»Die bin ich nicht«, beharrte sie erneut, doch der Sitzende schüttelte beinahe bedauernd den Kopf. »Ich suche dich schon so lange. So lange.« Sein Blick brannte auf ihre Seele, lähmte ihre Glieder. »In jeder Raunacht. In jedem verdammten Jahr.« Auf einmal begannen weiße Strähnen sein dunkles Haar und den Bart zu durchziehen. Mit jedem Wort sanken die Schultern des stolzen Kriegers unter der Last des Alters, die sich zunehmend schwerer auf ihn senkte, mehr und mehr herab.

»Ich … ich bin nicht die, die du suchst.«

Mit schräg gelegtem Kopf musterte der Alte Hildur – und lachte dann. »Nein, das scheinst du wahrlich nicht zu sein. Aber du …« Sein Finger deutete auf sie. »Du bist eine andere, als du zu sein glaubst.« Mit schmerzverzerrter Miene presste er die Hand auf die Brust über dem Herzen und keuchte auf. »Nimm dich in Acht, Hildur Knutsdóttir. Niemand kann sich aus dem Gewebe lösen, das die Nornen spannen.« Einzelne grüne Funken lösten sich von ihm, schwebten empor zu den Sternen. »Niemand, nicht einmal der Göttervater.«

In einem Funkenregen verging auch sein Körper – wie zuvor Bothi. Verwirrt und voller Furcht wich sie vor dem Baumstumpf zurück, auf dem eben noch Gunnar saß – oder etwas, das sie für den Krieger gehalten hatte.

Hildur schluchzte auf. Zu viel. Das war alles zu viel!

Kopflos flüchtete die Verängstigte ins Unterholz. Ihre Knie gaben nach, sie schlug der Länge nach hin und Schmerz explodierte hinter ihrer Schläfe. Schnee stach gleich glühend heißen Nadeln in ihre Haut.

Ihren Kopf betastend, fuhr sie mit einem Zischen zusammen. Spürte etwas Warmes, Feuchtes. Dunkles Blut glänzte an den Fingern. Benommen versuchte Hildur, wieder auf die Beine zu kommen.

Überraschend schlossen sich in diesem Moment knochige Finger um ihr Handgelenk. Halfen ihr mit unerwarteter Stärke auf.

»Völva!« Nie zuvor war ihr der Anblick der Seherin derart willkommen. Erleichtert krallte Hildur sich in deren Umhang. »Snotra, den Göttern sei Dank!« Was ihr Unglaubliches widerfuhr, sprudelte nur so über ihre Lippen.

Als ihr Bericht endete, lächelte die Seherin mild. »Mein Mädchen«, sanft strich sie ihr die Haare aus der Stirn, »sagte ich nicht, dass heute Nacht eine besondere Nacht sei?«

»Du … du meinst … Gunnar war …«

Die andere nickte bedächtig.

»Das … ist nicht möglich«, wisperte Hildur tonlos.

»Wenn du morgen nach Lade gingest und Leute nach deinem Begleiter fragtest: Was glaubst du, wie viele dir antworten würden, du habest in der Nacht allein getanzt?«

Ingrids abschätziger Blick. Dachte sie die ganze Zeit über, ich sei allein gewesen – und betrunken? Hildur öffnete den Mund, doch fand keine Worte.

»Nur du und ich, mein Mädchen. Nur du und ich.« Fürsorglich, beinahe liebevoll strich die Hand der Seherin über Hildurs Wange. »Meiner Probe hätte es gar nicht bedurft.«

»Du … du hast mich auf die Probe gestellt? Aber wie …«

»Der Met, den ich dir gereicht habe«, erklärte die andere ruhig, »war mit einem besonderen Sud aus getrockneten Pilzen und Kräutern versetzt. Mit dem, den ich anwende, um die Schleier des Künftigen zu lüften. Mit einem, der den Blick erweitert.«

»Heißt das, ich … habe mir deiner Kräuter wegen alles nur eingebildet?«

Snotra lachte leise. »Wer weiß das schon – in einer Nacht wie dieser?« Ihr Blick glitt zu den tanzenden Himmelslichtern empor. »Komm, mein Mädchen. Die Nornen offenbarten dir den Weg, der vor dir liegt. Ich werde dich lehren, ihn zu beschreiten. Und am Ende deiner Reise«, sie nahm Hildur bei der Hand, »wirst du meinen Platz als Völva von Lade einnehmen.«

 

 

Über die Autorin

Anna Eichenbach wurde 1994 im Münsterland geboren. Seit dem Abitur studiert sie mit Hingabe Geschichte, wird aber nicht müde, sich auch in ihrer Freizeit mit Büchern zu beschäftigen. Für sie gibt es nichts Schöneres, als in phantastische Welten und vergangene Zeiten einzutauchen – und ihre Leser in eben solche zu entführen. In ihrem historischen Romandebüt Wellensang – Eine Limfjord-Saga (Burgenwelt Verlag) lässt sie die Wikingerzeit für eine Weile wieder lebendig werden.