Mike Meto Mettke

Der Klang der Ferne

Stories von unterwegs

Niemals kann Freiheit in unserem Leben

länger dauern als ein paar Atemzüge lang,

aber für sie leben wir.

Alfred Andersch

Für Kai,

mit dem ich aufbrach, als es endlich möglich wurde.

Inhalt

Prolog

If I can make it there

Go West

Out of Africa

Himalaya

Art & Adventure

Down Under

Mitad del Mundo – Die Mitte der Welt

Nirgendwo ist auch ein Ort

Intermezzo

Amazonien

Trommeln in der Nacht

Von ganz oben nach ganz unten

Kalaallit Nunaat

Samburu

Wondimu Kedru

Der weiße Dampfer

Es wird einmal in Marrakesch

Der Prinz in der Wüste

Auf der Suche nach Macondo

Die Perle Afrikas

Von Boxern, Barbaren und Bürgerkriegen

Die Rote Insel

Epilog

Prolog

Am Anfang ist das Wort. Ist Wortmusik.

Wir gehen hin zu Orten, von denen wir gehört haben.

Lassen uns verzaubern und verführen vom Klang der Namen.

Timbuktu und Marrakesch, Amazonas und Okavango, Sahara und Atacama, Patagonien und Feuerland, Galapagos und Sansibar, Himalaja und Hindukusch, Serengeti und Kalahari …

Sie klingen wie Strophen eines unendlichen Liedes der Ferne.

Den Ureinwohnern Australiens war diese topographische Poesie nicht unbekannt. Ihre Traumpfade, die sich quer durch den ganzen Kontinent schlängelten und die sie auf rituellen Walkabouts mit einer inneren Landkarte aus unfassbar langen Gesängen abwanderten, waren unsichtbare Reisewege in scheinbar markierungslosen Wüsten und Einöden. Man muss sich diese Traumpfade als Spaghetti-Labyrinthe aus Odysseen vorstellen. Ein Lied war Karte und Kompass zugleich. War ein Google Maps für ziemlich nackte homerische Gedächtniskünstler, denen der Jakobsweg wie ein Abendspaziergang vorgekommen wäre …

Als ich ein kleiner Junge war, lebte unsere Familie in einem Plattenbau in Cottbus nahe der Spree, an dessen rechten Ufer mächtige und alte Kastanien standen. Es war eine wunderschöne Allee, in der in Sommernächten die Nachtigallen schmetterten. Und so war sie allen Leuten der Stadt eigentlich nur als „Kastanienallee“ bekannt. Kaum jemand kannte ihren offiziellen Namen. Am Geländer eines alten Wehres, das den Fluss an dieser Stelle ohrenbetäubend über eine Schwelle springen ließ, hing ein rostiges Schild mit rotbraun zerfressenen, ursprünglich erhabenen Lettern.

Eine mickrige Trauerweide verdeckte mit ihren herabhängenden Ruten die Tafel. Niemand las das Schild.

Ich war acht Jahre alt und probierte überall meine noch unsicheren Lesekünste aus. Auf der Jagd nach Bedeutungen fand ich das Schild und: las es.

Ein Name stand darauf: Ludwig Leichhardt.

Und dass er ein großer Australienforscher gewesen sei und in dem brandenburgischen Dorf Trebatsch geboren.

Außerdem kam ein Wort vor, welches ich noch nicht kannte:

VERSCHOLLEN.

Ludwig Leichhardt war auf einer seiner Expeditionen durch Australien verschollen.

Ich rannte zu meiner Mutter, um sie zu fragen, was es mit dem Wort auf sich habe. Sie überlegte kurz und meinte dann, wenn man verschollen sei, wäre man wohl irgendwie verlorengegangen

Ich besaß auch einen kleinen, apfelgroßen Globus aus dünnem Aluminium, der als Sparbüchse gedacht war. Alle erkennbar großen Länder waren mit einer fetten roten Linie umrandet – das schien wichtig – und jeder Erdteil hatte eine andere Farbe. Das Land, in dem ich aufwuchs, war fast vollständig vom Namen der Hauptstadt zugedeckt.

Ich suchte Australien.

Australien war grün, ja grün, vergleichsweise groß und übersichtlich. Der Südpol war nah, der Nordpol mit dem Schlitz für die Münzen ziemlich weit weg.

Ich schraubte die beiden Erdhalbkugeln auseinander und das Geld fiel heraus. Dann nahm ich einen Schraubenzieher und bohrte eine Direktverbindung von unserem Land – der Name der Hauptstadt verschwand im Eingangsloch – nach Australien.

Ich kam irgendwo in der Simpson-Wüste raus und schnitt mir am Bohrgrat des Austrittslochs in den Finger.

Dann setzte ich die Erdhalbkugeln wieder zusammen, hielt den Globus vors Gesicht und schaute durch die zwei Löcher nach Australien.

Ich sah in das entsetzte Gesicht meiner Mutter.

Mit meinem blutenden Finger verschmierte ich ganz Island und mindestens die Hälfte der Sowjetunion …

20 Jahre später las ich in dem Roman Traumpfade von Bruce Chatwin, dass es nichts Schöneres gebe, als in Australien verlorenzugehen. Es verschaffe einem ein wunderbares Gefühl von Sicherheit. Ich dachte an Ludwig Leichhardt, der in derselben Stadt wie ich sein Abitur gemacht hatte und der auf andere Art, wahrscheinlich in der Simpson-Wüste, verloren gegangen war.

Die Mauer fiel. Und ich machte mich daran, mich in meinen Träumen zu verlieren …

Heute ist der 25. März 2016. Ein klarer, sonnenüberstrahlter Tag auf Spitzbergen. Ich bin auf 78° Grad nördlicher Breite. Arktis. All die großen Polarforscher, deren Berichte ich als kleiner Junge verschlungen habe, sind hier gewesen. Nansen, Amundsen, Nordenskjöld, Nobile … Sie strebten zum Nordpol, einem imaginären Punkt, einer Erfindung der Geographen. Mit Segelschiffen, Luftschiffen, Flugzeugen und Hundeschlitten.

Meine Schlittenhunde heißen Carmen, Jacklin, Luke, Clint, Jan M. und Konjak. In wenigen Minuten geht es los. Nicht zum Pol, aber in meine nächste Geschichte. Ich habe jetzt meine eigenen Geschichten …

-20°C, Atemwolken fallen als Reif zu Boden.

Heftiges Gebell. Und wie von der Sehne geschossen, geht es los …

If I can make it there

(New York, 1990)

Ich kam nach New York und in nur wenigen Stunden

machte New York etwas mit mir: die Stadt erweckt

Möglichkeiten. Hoffnung bricht aus.

Philip Roth

Anflug auf New York City. Eine Stadt ertrinkt in ihrem gleißenden Licht. Long Island, Umrisse von Manhattan. Empire State Building … Alles was ich zu erkennen vermeine, folgt nur angelesenem Wissen oder erinnerten Filmen. Ich weiß nichts.

Ich bin ein tumber Tor, bin ein Parzival auf der Suche nach seinem Heiligen Gral, und da unten leuchtet die Stadt der Städte. Es ist die erste Stadt der freien Welt, die ich mit eigenen Füßen betreten werde …

Jay Jay, der Busfahrer, ein Fats-Domino-Typ mit mindestens 150 Kilogramm Lebendgewicht, kräht auf der Washington Bridge fröhlich mit Reibeisen-Stimme ins Bordmikrophon:

„Anyway, welcome to America!“

Danach gefällt er sich in obszönen Zweideutigkeiten. Alle lachen im Halbdunkel des Busses, der uns nach Manhattan bringt, und niemand sieht die paar Tränen, die ich mir aus den Augen wische …

Dass ich hier sein kann, verdanke ich einem Spot des Radiosenders RIAS 2, der Bewerbungen für Councelor-Jobs in Sommerlagern in den USA publik macht. Camp America.

Ein paar Dutzend Plätze für einige Tausend Bewerber allein in Berlin. Mein Freund Kai und ich probieren es.

Zwei ostdeutsche Jungs ohne harte Währung.

Die aber Englisch können. Weil sie es studiert haben.

Auf einmal beginnen Fähigkeiten, eine Rolle zu spielen.

Auf einmal sind es nicht Parteizugehörigkeit oder Beziehungen, die zählen.

Plötzlich haben wir Eintrittstickets für die „weite Welt“ …

Wir bekommen Freiflüge. Hin und zurück. Und 300 Dollar für neun Wochen Arbeit. Aus den neun Wochen machen wir knapp vier Monate im „Land der Freien“ …

Kai kommt nach Los Angeles. Ein Upper-Class-Camp.

Ich komme in ein Y.M.C.A.-Camp in der Tri-State-Area New York-New Jersey-Pennsylvania. Zwei Autostunden von der City entfernt. Mitten im Wald. Lower Class.

Unterrichte Kids aus der Bronx, Brooklyn und Harlem.

Bringe ihnen Schwimmen, Bogenschießen und einfache Naturerlebnisse bei.

Eines Tages dröhnt der Wald über den Baumspitzen.

Ein Helikopter setzt auf der Lichtung auf.

Mein texanischer Camp-Leiter zerrt mich in Badehose aus dem Schwimmunterricht am See. In breitem Texanisch, als zerbeiße er ein halbes Pfund Hustenbonbons, versucht er mir etwas zu erklären. Ich verstehe nichts.

In der Mitte der Lichtung steht eine alte Lady von um die 75 in einem taubengrauen Kostüm. Sie trägt eine Handtasche, wie sie auch die Queen bei offiziellen Besuchen dabeihat.

Im Halbkreis hinter ihr stehen ihre Bodyguards in zu engen Anzügen. Als sie mich bemerken, verziehen sich ihre Nussknacker-Gesichter zu einem freundlicheren Grinsen.

Ich bin ein Beefcake, das Wort habe ich im Camp gelernt und es bezeichnet einen Mann, der so lange mit schweren Gewichten trainiert hat, dass das Ergebnis unübersehbar ist. An der Uni ist die übliche Reaktion darauf eine nur schlecht kaschierte Annahme meiner intellektuellen Defizite. In Amerika wird das anders wahrgenommen.

Die Bodyguards halten mich für einen der ihren.

Die alte Lady begutachtet mich wie einen Mastochsen auf einer Landwirtschaftsausstellung, aber mit Wohlgefallen.

Der Texaner stupst mich zu der Lady hin und stellt mich als That East German Guy vor. Dann fällt ihr Name.

Mrs. Rockefeller.

Sie reicht mir wahrlich königlich die Hand. Wie im Autopilotmodus murmele ich: Nice to meet you, Ma’am.

Ich bin der Exot. Der Eiserne Vorhang ist gerade gefallen. Und jetzt steht ein ostdeutscher Eingeborener in Badehose in ihrem Königreich der Wohltätigkeit. Ich habe einen Bonus. Das wird schnell klar. Später werde ich diesen anderswo noch weidlich ausnutzen.

Wir kommen ins Gespräch. Ich habe nichts zu verlieren.

Die alte Dame ist hellwach, intelligent und erstaunlich gut informiert. Ihr Interesse nicht gespielt.

Um uns herum hat sich mittlerweile das ganze Lager in respektvollem Abstand versammelt.

Sie fragt nach dem Leben in Ostdeutschland, fragt nach meinen Motiven für Amerika. Bittet um meine Einschätzung der politischen Lage in den beiden Deutschländern.

(Den Tag der Wiedervereinigung werde ich am Grand Canyon verbringen, aber das kann ich noch nicht wissen.)

Interessiert sich für mein Studium.

(Am Tag vor meiner Abreise habe ich meine Diplomarbeit zu einem Thema der Ethnopsycholinguistik abgegeben. Methoden der interkulturellen Kommunikation …)

Wir reden fast eine Stunde lang.

Dann macht sie mir ein Angebot. Es gebe von ihrer Stiftung unterstützte Stipendien für weiterführende Studien in Amerika. Harvard oder Princeton. Ich solle es mir überlegen.

Sie winkt aus dem kleinen Hofstaat eine Assistentin herbei, die sich alles notiert und mir dann die erste Visitenkarte meines Lebens überreicht.

Mrs. Rockefeller quittiert meine Verwirrung mit einem milden Lächeln. Zum Abschluss sagt sie etwas, das sich mir einbrennt. Sie habe schon lange niemanden getroffen, der so glaubwürdig über Freiheit gesprochen habe. Und das heiße ja, sich entscheiden zu können …

Ich habe die Visitenkarte noch geraume Zeit unschlüssig als Lesezeichen benutzt. Ehe ich mich gegen eine akademische Karriere und für die Welt-Erfahrung entschied.

Bereut habe ich es nicht.

In Amerika betrat ich das große Karussell der Möglichkeiten.

Eine Möglichkeit kann man je nach Mentalität auf zweierlei Art auffassen. Als Risiko, das ist die deutsche Art. Oder als Chance. Das ist die amerikanische.

Mein Freund Sylvester („Sly“) Lane, den ich im Camp kennengelernt habe, ein schwarzer Lehrer aus Harlem, wird mein Mentor.

In Amerika, erklärt er mir, müsse man die Fähigkeit entwickeln, Glück zu haben. Das widersprach nicht nur meinen Überzeugungen, es schien mir ein Widerspruch in sich.

Ich bin Schachspieler. Und mag dieses Spiel, weil Glück darin die denkbar geringste Rolle spielt.

Am Washington Square spielte ich mit den dort zahlreich versammelten alten Männern Blitz-Schach um Geld. Ich hatte viel zu wenig und nahm die Gelegenheit wahr, um mir etwas dazu zu verdienen. Es ging um keine großen Summen. Aber bei einem angesetzten Tagesbudget von knapp fünf Dollar – ein Dollar für ein French Bread vom Vortag, 95 Cent für ein Stück Philadelphia Cream Cheese, kostenloses Wasser an den Speiern im Central Park, zwei Token für die U-Bahn zu je einem Dollar und einem Buck für Unvorhergesehenes – bedeuteten zwei oder drei gewonnene Zehner viel für mich.

Die alten Männer waren ausgebuffte und gewiefte Taktiker. Aber ich kannte auch die Theorie, und nachdem ich mich auf ihre Spielweise eingestellt hatte, gewann ich weit öfter, als ich verlor. Es zahlte sich aus, dass mein Freund Kai und ich unsere Uni-Prüfungen mit nächtlichen Blitzschach-Exzessen „vorbereiteten“ …

Sly sieht mir oft zu und lächelt weise, bis ich seine Theorie endlich begreife. Es kommt darauf an, für das Glück bereit zu sein.

Mein Fünf-Dollar-Etat funktioniert nur, weil ich bei Sly in der 92nd Street in Spanish-Harlem wohnen darf. Er schlägt sich selbst nur mehr schlecht als recht durch.

Wenn ich üppiger gewonnen habe, gehen wir ins nahe Bitter End in der 147 Bleecker Street im Greenwich Village.

Tracy Chapman begann dort ihre Karriere. Auftrittsort von Woody Allen, Bill Cosby, Chick Corea, John Denver, Neil Diamond, Bob Dylan, Neil Young, Pete Seeger, Kris Kristofferson, Stevie Wonder und Bette Midler …

Wer auch immer auftritt, Sly und ich halten uns für den Abend an unseren Vier-Dollar-Heineken fest …

An den Sonntagen nimmt er mich zu seiner Familie nach Black Harlem mit. Wir gehen in die Kirche und ich erlebe Gospel-Happenings der unverfälschten Art. Die Predigten des Pastors sind rhetorisch hochmotorisierte Bekehrungsmaschinen; und ich, der überzeugte Atheist, staune und bewundere die Wirkungsmacht dieses Martin Luther King-Doubles aus Slys Neighbourhood. Das ritualisierte, sich gegenseitig verstärkende Frage-Antwort-Spiel. Ehe alles in einen rauschenden Chorus übergeht …

Ecke Lenox Ave/125th Street. Das Herz Harlems.

Und zum ersten Mal in meinem Leben, lange vor den vielen Schwarzafrika-Reisen, werde ich mir meiner Hautfarbe bewusst.

Bin ich der einzige Weiße. Das fühlt sich merkwürdig an.

Wir essen in Sylvia’s Patio Soul Food. Yams-Gemüse und Rippchen. Sly möchte, dass ich Harlem schmecke, rieche, fühle, sehe …

Ich folge seinen Gebrauchsanweisungen.

Dann will er für meinen Geburtstag, es ist der 4. September, bewusstseinserweiternd vorsorgen.

Irgendwie hat er Geld locker gemacht. Wir besuchen verschiedene „Läden“, bei denen ich draußen bleiben muss, weil mich jeder für einen Cop hält.

Wieder in seinem Apartment, wird die Feier mit Joints eröffnet. Wird mit gestrecktem Kokain pharmazeutisch sanft gesteigert. Dann das Level mit Wodka, Südstaaten-Brandy, Winecooler und Budweiser in den thermisch-emotionalen Aufwinden gehalten …

Ich bin zwar breit, aber noch aufnahmefähig.

Und zu einem flashigen Kurz-Fazit meines Drogen-Crash-Kurses in der Lage: Marihuana und Hasch machen mich lethargisch.

Kokain ist gefährlich, weil es die assoziativen Synapsen befeuert und mich direkt in den Größenwahn entlässt. Ich will dann sofort ein kreatives Großprojekt starten. Alkohol bleibt das überschaubare Mittel der Erfahrung …

Gott sei Dank bekomme ich nun das schönste Geburtstagsgeschenk ever.

Sly singt für mich Amazing Grace. Natürlich ist sein Resonanzkörper enorm. Aber er kann auch singen. Er singt so gut, dass Religion für ein paar Augenblicke wie eine Option erscheint …

Mein Geldmangel ist für Sly Ansatz für allerlei Job-Vorschläge. Das Schach-Taschengeld findet er zu mickrig.

Er empfiehlt ein Vorstellungsgespräch bei den Chippendales. Die würden mich sicher nehmen.

Halbnackte Männer tänzeln oder scharwenzeln auf einer Bühne für gutbetuchte Frauen, die einem dann Geld in die Unterwäsche stecken. Ich müsse mich nur komplett rasieren.

400 Dollar pro Abend seien realistisch.

Ich denke kurz über meinen Realismus-Begriff nach.

Wenig später telefoniert er in der schwarzen Community herum, die eng vernetzt ist (auch wenn dieser Begriff damals noch unüblich) und offeriert mir ein Angebot, dass für ihn the big chance, a great challenge ist.

Mike Tyson hat gerade gegen Buster Douglas seinen Boxweltmeistertitel verloren. Er benötige Sparringspartner. Solle mit „Fallobst“ wiederaufgebaut werden. Schwarze Trainingspartner gebe es zuhauf, aber ein East German Max Schmeling Look Alike, den habe man eben nicht. Zudem sei ich auf den Inch genau so groß Iron Mike; und wenn ich rasch noch ein paar Pfund zulegte, auch so schwer …

Ich denke an meine tägliche Zwei-Dollar-Diät und wie jemand damit Gewicht machen kann …

Ich sehe berechtigte Chancen, ihn im Schach zu schlagen.

Wahrscheinlich auch im Bankdrücken. Mein Rekord liegt bei 170 Kilo. Aber: Ich bin definitiv kein Boxer!

Und außerdem kommen mir Sly‘s Vermittlungen plötzlich surreal vor. Drogenwirrungen.

Andererseits war Mrs. Rockefellers Auftritt ein Fakt. Ich bin in Amerika …

Sly hält mir den Hörer hin.

Ich winke ab. Gebe klein bei. Habe wenig Lust, für eine überschaubare Gage mir das Hirn beschädigen zu lassen.

Ich muss weg von dieser für mich irritierenden Körperbezogenheit, die hier als normal gilt. Dass Arnold Schwarzenegger auf diesem Ticket später bis zum Amt des Gouverneurs von Kalifornien reist, kann ich ebenfalls noch nicht ahnen …

Egghead, sagt Sly, aber er grinst wenigstens.

Traveler, antworte ich und habe meine Bestimmung gefunden.

Go West

(Los Angeles und kreuz und quer, 1990)

Ich komme gerne nach L.A., aber ich würde

nicht gerne dort leben.

Robert De Niro

In einem New Yorker Reisebüro, Liberty Agency(!), habe ich ein Flugticket nach Los Angeles für 278 Dollar gebucht, das meinen Camp-Verdienst fast vollständig aufbraucht.

In Deutschland hat derweil die Währungsumstellung stattgefunden, dort könnte ich jetzt über ein stark geschrumpftes Restsparguthaben in D-Mark verfügen.

Aber ein Transfer in die Staaten überfordert alle Beteiligten.

Ich werde improvisieren müssen …

Mein Freund Kai und ich haben uns brieflich auf einen Treffpunkt verständigt. Campus der UCLA. Dort soll es nach unseren vagen Informationen einen großen Bronze-Bär geben.

Unsere Verabredung hat etwas naiv Schwejkhaftes.

Nach dem Krieg um sechs im Kelch, so hatte sich der brave Soldat Schwejk mit seinem Freund Woditschka verabredet.

Stundenlang warte ich geduldig auf das Eintreffen meines Freundes, mit dem ich in der DDR alles geteilt und erlebt habe, was junge Männer teilen und erleben konnten.

Bücher, Klamotten, Wohnungen, Frauen, Partys, Prüfungen, Sportwettbewerbe. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge …

Daraus ergibt sich ein unerschütterliches Grundvertrauen, das uns auch bei späteren Expeditionen und Reisen verbindet.

Irgendwann fallen wir uns in die Arme.

Das nächste Kapitel kann beginnen.

Kai hat Verwandte in Los Angeles. Ein Brückenkopf.

Aber natürlich sind arme Verwandte wie wir nicht das, was man sich für länger wünscht. Ganz ohne Geld bekommt auch DNA ein Haltbarkeitsdatum. Verstehen wir.

Indes: Kais angeheirateter Onkel Garo hat ein Herz für uns.

Er ist Armenier. Und in Afrika geboren. Äthiopien. Hat dort 25 Jahre lang gelebt. War staatenlos, ehe ihm Amerika die Chance auf Einbürgerung bot. Dankbar meldete er sich zum Marine Corps und diente seiner neuen Heimat ein Jahr in Vietnam. Kam verwundet zurück …

Er ist wie ich glühender Hemingway-Fan.

An den Wochenenden fährt er oft hoch nach Utah zum Jagen.

Danach schaut er rituell den Film Jenseits von Afrika und will eines Tages dahin zurück. Sitzt nach der Jagd und langer Fahrt ungeduscht und mit dem Gewehr zwischen den Knien auf dem Sofa, trinkt sein Bier und spricht tonlos Dialoge mit. Seine Frau ist dann nie zu sehen.

Kai und ich wollen irgendwann auch dahin. Afrika.

Vorher trinken wir Garos reich bestückte Bar leer …

Garo betreibt eine gutgehende Werkstatt und überlässt uns einen alten VW-Rabbit. Wichtiger noch: Er verschafft uns eine Kreditkarte. Wir haben erstmals Kredit. Der Kreditrahmen ist nicht üppig, lässt uns aber Spielraum für ein Fortkommen ohne feste Unterkünfte …

Zum Abschied überreicht mir Garo sein MarineMesser, das ich mir an den Oberschenkel binde.

Take care!

New York war die vertikale Entäußerung einer Stadt.

Los Angeles ist ihre horizontale Entsprechung.

Tausend Vorstädte auf der Suche nach einer Stadt

Der Körperkult in Venice Beach. Santa Monica. Pacific Palisades. Thomas Mann, Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger, Franz Werfel … Hollywood. Sunset Boulevard. Jedes Viertel, jeder Block und jede Straße haben literarische oder cineastische Bezüge. Wir fahren die berühmten Stätten ab, als ginge es darum, touristische Skalpe einzusammeln. Vergleichbar den alten Wanderstöcken, auf die man winzige Abzeichen von den Orten nagelte, die man „besucht“ hatte.

Und zu Hause verkümmert jeder Reisebericht zu einem Namedropping.

Trotz aller Anfangseuphorie – Am Anfang ist das Wort … – wird uns schnell klar, dass wir unsere Reisestrategien ändern müssen, wenn wir die Transformation vom Touristen zum Reisenden schaffen wollen. Das heißt nicht, bekannte Orte oder Sehenswürdigkeiten zu ignorieren, aber sie anders zu erleben. Kai und ich sind uns einig, dass es nicht darum gehen kann, herkömmliche Muster oder Vorgaben zu kopieren. Wir wollen dem Zufall Raum geben, den Neben- und Abwegen, der anderen Perspektive, die sich oft nur ein paar Schritte entfernt bietet. Die Welt ist entdeckt, kartographiert und beschrieben. Neue Einsichten jedoch sind immer möglich.

Weglassen oder Verweilen können. Tiefenbohrung statt Flächenradar. Ein langer Lernprozess.

Heute folge ich nur noch selten den konventionellen Vorschlägen der Reiseführer. Diese Kirche und jenes Museum. Und da ein Schloss und dort ein Denkmal. Das sich merkwürdig fortschreibende Primat von Architektur- oder Religionsgeschichte, die man reisend nachvollziehen müsse.

Ein Markt? Immer. Ein lebendiger Park, wo Einheimische ihr Leben ins Draußen verlagern und picknicken oder spielen? Klar.

Die Schlösser der Loire sind großartig. Wenn man den Fluss mit einem Kajak abfährt und sich ihnen von hinten nähert und das eine oder andere einfach passiert.

Oder wenn man zwei Wochen lang mit einem Mountainbike die Straßen Havannas erkundet und danach 1000 Kilometer Alltag „auf der Uhr“ hat …

Kai und ich sitzen des Nachts vor dem Griffith Observatory und schauen runter auf Los Angeles. Wie Lava in einem riesigen vulkanischen Krater flimmert der Lichter-Ozean bis zum Horizont. Die Highways glühende Seile.

Eine verschwenderische Orgie des Lichts. Dunst und Smog verwandeln das Panorama in eine Fata Morgana.

Wir haben gerade für 6 Dollar eine Lasershow gesehen. Mit einer Ecstacy-Pille wären wir wahrscheinlich besser bedient gewesen. Aber die kostenlose Show vor uns lässt uns verstummen.

Dann sagt Kai etwas, das ich völlig plausibel finde:

„Lass uns nach Mexico fahren!“

Es wird natürlich keine Mexico-Reise. Die hole ich Jahre später nach. Wir stranden in Tijuana. Zu jener Zeit ist Tijuana noch kein Ballermann für US-College-Kids, die sich ins Koma saufen. Aber die anderen Drogen sind schon allgegenwärtig. Die Luft flimmert vor Hitze. Eine gleißende Sonne entfärbt die Sierra.

Alles ist laut. Straßenmusik. Trompeten und Gitarren. Schreien, Feilschen, Kreischen.

Es riecht nach Bohnen, Tacos, Paprika und Staub.

Ständiges Anreden, das in seiner groben Direktheit noch ungewohnt:

Hey Rambo, get the fuck in!

Do you wanna have some pussy?

I’ve got all the shit

Wir bescheiden uns mit ein paar Tequilas in Diskotheken, deren grotesker Männerüberhang erstaunt.

Auf den Straßen aber werden wir immer wieder offensiv von Chicas angesprochen, die keine Prostituierten sind.

Die gesellschaftlichen Gepflogenheiten unserer alten Heimat haben uns in vielerlei Hinsicht unzureichend in die erweiterte Welt entlassen. Mit einer Ausnahme: Sex.

Um es klar zu benennen: Der Westen war uns in jeder Hinsicht überlegen, aber wir hatten, weil weniger prüde und mit überschaubaren Freizeitmöglichkeiten ausgestattet, deutlich mehr Spaß im Spiel der Geschlechter. Ein Spiel, das gleichberechtigt und umstandslos bei jeder beliebigen Gelegenheit verhandelt werden konnte. Im Prinzip die einzige lustbetonte Freiheit in der „kommoden Diktatur“ …

Wir wissen jetzt: Amerika ist nur der Anfang unseres

Die-Welt-Erfahrens.

Wieder zurück auf US-Territorium, übernachten wir am Strand von San Diego. Das ist verboten, aber wir liegen gut getarnt in einer von Seegras geschützten Mulde, während über uns die Hubschrauber der Küstenwache mit Scheinwerfern das Gelände absuchen. Endlich mal zahlt sich unsere militärische Ausbildung aus. Wir sparen Übernachtungskosten …

Mich erwischt ein plötzlich hohes Fieber. Wahrscheinlich eine Blasenentzündung oder irgendwas im „Abwassertrakt“.

Zitternd sitze ich an einem Strandlagerfeuer mit der Intensität eines Autodafés, als wäre es ein offener Kühlschrank.

Dee Dee und Sandy nehmen sich meiner an.

Zwei Rugby spielende Lesben von großer Einfühlsamkeit.

In ihrem Haus pflegen sie mich gesund. Ihre Katzen lieben mich und meine fieberverschwitzten Klamotten. Und lange vor der allgegenwärtig politisch korrekten Gängelung erlebe ich die reine Akzeptanz unterschiedlicher Lebensentwürfe …

Der Yosemite National Park in der Sierra Nevada ist der erste Nationalpark überhaupt, den wir erleben. Das Konzept von Nationalparks ist uns bis dahin unbekannt. Wir verbinden mit dem Wort „Park“ eine grüne Oase in der Stadt oder am Stadtrand. Etwas Eingehegtes für Picknicker.

In einem Park erfrieren nur betrunkene Obdachlose auf einer Parkbank und in einer sehr kalten Winternacht.

Wir sind in Kalifornien, und da ist es angeblich immer warm bis heiß. It never rains in Southern California … Das wissen wir aus Songs und von San Diego und Los Angeles.

Tagsüber haben wir uns von einer Landschaft begeistern lassen, die sich von Menschen benutzter Sprache entzieht, weil sie auch ohne Beschreibung oder Wahrnehmung einfach nur „unmenschlich“, also in Abwesenheit derselben, vorhanden ist.

Half Dome und El Capitan, „Schreie aus Stein“ in einer Granitwelt der Superlative. Und die belebte Welt besteht aus Bäumen, Mammutbäumen, die älter sind als die westliche Zivilisation. Grizzly Giant, wieder nur ein Name, eine mehr als 2300 Jahre alte Redwood-Säule …

Nach Sonnenuntergang müssen wir nahe des Tioga-Passes auf knapp 3000 Metern in den Wäldern ein Biwak errichten, für das wir nur unzureichend vorbereitet sind. Unser Rabbit hat in der Höhe einen Hustenanfall, wir können ihm die Überwindung des Passes nicht mehr zumuten.

Wir tragen T-Shirts. Und wir haben einen Pullover, den ich aus völlig irrationalen Gründen in der Hitze Tijuanas gekauft habe. Den streifen wir uns im Viertelstunden-Rhythmus abwechselnd über. Dieser Pullover rettet uns jetzt.

Es wird die längste Nacht unseres Reiselebens.

Die Temperatur sinkt auf -7°C. Das ist objektiv nicht bemerkenswert. Wir werden auf Expeditionen im Himalaja und in den Anden und in Grönland extremere Bedingungen vorfinden.

Aber subjektiv erleiden wir die kälteste Nacht unseres Lebens. Wir üben Schattenboxen, um warm zu bleiben.

Schattenboxen in einer sternklaren Nacht in der Sierra Nevada. Das könnte in der ersten halben Stunde witzig sein. Feuer sind nicht erlaubt. Und das erste Mal in meinem Leben wünsche ich mir, eher mit dem Rauchen angefangen zu haben. Denn dann hätten wir wenigstens ein Feuerzeug.

Immerhin haben wir eine Flasche Tequila, die wir auf die Stunden bis zum Sonnenaufgang portionieren.

Wir kämpfen die legendären Kämpfe Muhammad Alis in Echtzeit nach. The Rumble in the Jungle. The Thrilla in Manila.

Aber ohne die Hitze der Originalschauplätze.

Mit Live-Kommentar, der mögliche Bären abhalten soll, vor denen uns Schilder und stählerne Bearproof Food Lockers warnen. (Dass wir nichts zu essen haben, erweist sich mal als Vorteil.) Wir schlagen uns mit gefühllosen Fäusten auf frostige Rippen. In der Eiseskälte der Berge Kaliforniens.

Am Nachmittag des nächsten Tages erreichen wir das glühende Death Valley. Es ist, als stünde man eben noch unter einer kalten Dusche und plötzlich ergießt sich kochendes Wasser über den Körper. Unser VW-Golf-Rabbit verfügt über keine Klimaanlage. Irgendein wütender Gott schmeißt Hochofenschmelze über den Talboden. Kristallines Salz gleißt trügerisch wie Schnee. Die umgebenden Berge – ocker, rotbraun, rostrot – kommen uns wie von innen befeuert vor.

Nirgendwo auf der Welt fällt weniger Regen.

Im verbotenen Westfernsehen habe ich einst den Film Zabriskie Point von Michelangelo Antonioni gesehen, der nach einem Aussichtspunkt im Death Valley benannt ist. Ich erinnere mich an den Soundtrack von Pink Floyd, erkenne die Landschaft, kann jedoch die Handlung nicht mehr nachvollziehen. Mein pubertär-selektives Gedächtnis zaubert ein paar Sex-Szenen hervor; Paare, die sich in Staub und Fels lieben …

Kai und ich verspüren gerade nicht die geringste Lust auf Sex. Ein jeder von uns kämpft eher um das Fortbestehen seiner Schleimhäute.

Und dann kämpfen wir gegen den Sand.

Unsere erste Wüste. Wir biegen nur ein paar Meter vom weichen Asphalt ab, um die Dünen näher zu beschauen. Und bleiben stecken. Der Motor jault wie eine auf den Schwanz getretene Katze. Die Räder mahlen sich fest.

Stille. Kochende Stille. Die Luft ist flimmerndes Sonnenplasma.

Mit bloßen Händen schaufeln wir die Räder frei.

Der Sand kommt mir so heiß vor wie die glühende Asche, mit der in Georgien in kupfernen Bechern Kaffee aufgekocht wird.

An langen Stielen … Das weiß ich von der einzigen Fernreise, die mir im Osten des Kalten Krieges erlaubt wurde.

Ich buddle also im Death Valley Räder frei und denke an georgischen Kaffee. Diese surreale Denkweise wird mich ein Reiseleben hinweg fortan begleiten …

Wir schaffen es kurz vor dem gnädigen Sonnenuntergang auf einen Campingplatz. Saugen aus dem Wasserhahn das lebensnotwendige Nass.

Und legen uns völlig erschöpft auf Holzbänke unter freiem Himmel. Mein Fieber kommt zurück. Ich habe wirre Träume …

Einen Tag später nächtigen wir bei angenehmen Temperaturen in einem Obsthain, den wir für unbewacht halten.

Ich dünge, früh-gedrungen, einen Apfelbaum.

Eine kreischende Frauenstimme verspricht uns, in die nackten Ärsche zu schießen.

Ich sehe eine doppelläufige Flinte.

Selten habe ich meine Hose schneller hochgezogen …

Wir lernen das Stand-your-ground-law kennen und entfliehen rasch.

Bis heute wundere ich mich, warum Las Vegas für so viele Menschen einen Sehnsuchtsort darstellt.

Alles ist billig-künstlich und teuer zugleich.

Mittlerweile war ich öfters dort.

Als Ausgangspunkt für Ausflüge in die unfassbar schöne Umgebung. Lake Mead nur ein Beispiel.

Ich kenne die popkulturellen Bezüge. Casino. Die Shows.

The Rat Pack. Die Boxkämpfe. Die Rentenversicherung für alternde Stars …

Ich habe in Las Vegas gezeltet.

Und fünf Dollar beim Poker verloren. (Aber nur, damit ich diesen Satz schreiben kann.)

Die vielen alten Frauen an den einarmigen Banditen.

Die glitzernde Trostlosigkeit für die weiße Klasse auf dem absteigenden Ast. Klappernde Münzen, springende Jetons, scheppernde Kurbeln. Von seelenlosen und stupiden Automaten begeisterte Gesichter. Zur Animation der Verweis auf einen 500.000 Dollargewinn einer Mrs. Neumann.

Warum sind wir hier?

Weil wir ständig Hunger haben. Echten, realen Hunger.

Und nirgendwo in Amerika kann man so günstig frühstücken …

In San Francisco lernen wir Freunde kennen, die uns fast luxuriös beherbergen. Jenny und Rick. Wir sind im selben Alter und im selben akademischen Zwischenreich.

Fortgeschritten, aber nicht abgeschlossen. Allerdings stellt sich für sie nicht ernsthaft die Frage der Finanzierung des Alltages. Sie können es sich erlauben, Feinheiten auszuleben.

Für sie ist klar, dass wir die Feinheiten des Weingenusses erleben sollten. Da dieser probehalber kostenlos sein soll, stimmen wir zu. Prolls wie wir gehen auf Umdrehung, nicht auf Verfeinerung. Aber wir lernen dazu …

Es werden vier verschiedene Wineries angesteuert. Und je ein Dutzend unterschiedliche Weine verkostet. Die Weißbrothäppchen mit Käse stillen unseren steten Hunger, auch wenn sie nicht dafür gedacht sind.

In Glen Allen, in der Nähe von Jack Londons ehemaligem Wohnhaus, geben wir uns den Rest. Mir ist, als würde ich gekelterte Literatur saufen …

Auf dem Rückweg nach San Francisco liegen wir auf der Ladefläche des offenen Pickups, der über die Golden Gate Bridge schnurrt. Der Nebel kriecht von Nordwesten wie ein großes graues Tier über die Berge in die Bucht. Ich denke an den Horrorfilm The Fog. Aber ich fürchte mich nicht; weiß nur: So sollte es sein. So und nicht anders. Deshalb sind wir hier. Und so muss es weitergehen. Wir haben im Gefängnis des kleinen ostdeutschen Landes gegen eine irrwitzige Ideologie angeträumt. Niemand hat uns wirklich geglaubt. Aber wir fühlen uns als Gewinner einer Geschichte, die wie ein wildes Pferd in die provinzielle Enge unseres Wohnzimmers gestürmt ist. Und jetzt lernen wir, dieses Pferd zu reiten …

Auf der Gefängnisinsel Alcatraz weht mich durch die Ritzen der Fenster von Block D ein kalter Wind an. Das Wasser der Bay hat 8-10 °C. Starke Strömungen erschwerten jegliche Ausbruchsversuche. Ich höre die Schreie der Möwen …

Al Capone war hier, George „Machine Gun“ Kelly, Alvin „Creepy“ Karpis, Robert Stroud, „Birdman of Alcatraz“.

Was haben diese Männer für Träume gehabt, was fühlten sie, wenn Silvester von San Franciscos Yachthafen die Stimmen der Feiernden herübergeweht wurden? Was fühlte der Gefangene, der nach 5 Jahren Abstinenz eines Tages ein Mädchen die Treppen von Alcatraz heraufsteigen sah?

„Machine Gun“ Kelly soll wenigstens gute Geschichten erzählt haben …

Da kann ich wenig entgegensetzen, obwohl ich augenblicklich ein paar Spiegelneuronen zu viel aufbiete.

Mein Sektionschef der Germanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin befand einst, dass Bautzen, das „Alcatraz der DDR“, ein für mich geeigneter Ort sei.

(Im Prinzip hatte er Recht.)

Eine spätere Bundestagsabgeordnete der Nachfolge-Partei, die „immer Recht“ hatte, stimmte ihm zu. Sie belehrt heute Menschen über die Grundprinzipien der Demokratie …

Keine Sorge: Dies wird keine politische Abrechnung.

Und letztlich habe ich nur drei Tage in einem Kasernen-Gefängnis verbracht. Gute Tage. Ich las drei gute Bücher …

Es ist der 3. Oktober 1990. Mein Freund Kai und ich verbringen ihn am Grand Canyon. Wir klettern auf rostig-rote Felssäulen. Unter uns die sakrale Morphologie der Erosion: durch Wind, Wasser, Hitze und Kälte aus dem Stein gefräste Kathedralen, Dome und Kirchenschiffe.

Andächtig hockt ein jeder von uns auf seiner privaten Siegessäule und lässt die Gedanken mit den Adlern, Bussarden und Falken fliegen, die zu unseren Füßen in der Schlucht schweben.

Zeitgleich verschwindet der kleine Staat, der uns so lange daran hinderte, an Orten wie diesem zu sein.

Die Gleichzeitigkeit des Unvergleichlichen.

Ein Thema, das mich nicht loslässt.

Nach knapp vier Monaten, es ist Mitte Oktober, landen wir wieder in New York.

Noch einmal dürfen wir uns bei Sly einquartieren.

Er fragt uns nach Places to see. Denkt an die Hamptons am Ostende von Long Island, wo die Reichen und Schönen wohnen und wo hippe Partys abgehen sollen, in die man sich irgendwie einklinken könne. Auch da habe er Connections.

Mittlerweile sehen wir nicht mehr direkt vorzeigbar aus.

Wir haben zwar jedes überflüssige Gramm Fett abgeschmolzen, aber Kleider machen Leute. Und Geld.

Unser Kreditkartenguthaben ist erschöpft …

Wir entscheiden uns für die South Bronx.

Zu diesem Zeitpunkt ist der Stadtteil noch genauso, wie man ihn aus einschlägigen Gangster-Thrillern kennt.

Der gefährlichste Ort der westlichen Hemisphäre. 1990 ist das mörderischste Jahr des modernen New Yorks. Am Jahresende werden 2245 Morde gezählt. Und die Outer Boroughs gelten praktisch als rechtsfreie Räume. Erst vier Jahre später wird mit dem neuen Bürgermeister Rudolph Giuliani die Kriminalitätsrate durch eine strikte Law-and-Order-Politik drastisch gesenkt und die Stadt befriedet.

Sly rät ab und will uns um nichts in der Welt begleiten. Auch seine Familie beschwört uns bei einem Besuch in Harlem einhellig, darauf zu verzichten.

Also fahren wir allein. Nicht als Risiko-Junkies, sondern als Realitätssüchtige, die sich die Welt nicht mehr aus zweiter Hand erklären lassen wollen.

Mit der Subway bis 161st Street, Yankee Stadium. Dann 149th Street, Grand Concourse. Weiter Jackson Avenue, Prospect Ave, Brook Ave, 152nd Street … Alles nur Parameter für den Polizeifunk.

Wir laufen entlang zerbombt wirkender roter Backsteinhäuser, brennender Mülltonnen und wasserspeiender Hydranten. Schmutz, Abfall, Graffitis. Ein Gebiet voller Ruinen wie im Bürgerkrieg.

Ein vorbeihumpelnder Hispanic murmelt drohend:

You’re white. What are you doing in South Bronx? Get away

Schwarze halten auf Basketballplätzen, die wie geöffnete Raubtierkäfige wirken, plötzlich inne und rufen unverständlich Unmissverständliches.

Eine Auto-Hip-Hop-Party mit aufgedrehten Lautsprechern wird der beiden streunenden Weißen gewahr und entwickelt ein gestisches Interesse, das uns in die Flucht schlägt …

Am letzten Tag unseres ersten Aufenthaltes in Amerika wechseln wir in der 42nd Street, Ecke Fifth Avenue letzte 20 D-Mark in 11 Dollar. Wir haben, hungergeplagt, die Wahl zwischen Pizza und dem Museum of Modern Art.

Wir entscheiden uns heroisch für die Kunst.

Für Picasso, Dali, Miro, Braque, Matisse, van Gogh, Rodin, de Chirico, Grosz, Nolde, Klee, Feininger, Kandinsky, Chagall, Cézanne, Modigliani, Klimt, Dix, Mondrian, Gauguin, Kokoschka … Ja, okay. Wir entscheiden uns gegen das Knurren unserer Mägen für ein unbeachtetes Statement: Für das Beste der alten in der neuen Welt …

Am Kennedy Airport spendet Kai unsere letzten silbernen Quarter einem Sicherheitsbeamten.

Mit buchstäblich leeren Taschen fliegen wir heim.

Voll Vorfreude auf zukünftige Welterkundung …