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Impressum

1. Auflage, 2019

© egoth Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit
ausdrücklicher Genehmigung des Rechteinhabers.

ISBN: 978-3-903183-10-0

ISBN E-Book: 978-3-903183-63-6

Redaktion: Egon Theiner

Lektorat: Lisa Krenmayr

Coverbilder und alle weiteren Bilder: KTM, APA Picturedesk,
Red Bull Content Pool, Swatch Freeride World Tour, ŠKODA,
Wolfgang Hillinger, Privatarchiv Walkner

Grafische Gestaltung und Satz: Dipl.-Ing. (FH) Ing. Clemens Toscani
Printed in the Austria

Gesamtherstellung:

egoth Verlag GmbH

Untere Weißgerberstr. 63/12

1030 Wien

Österreich

Matthias

WALKNER

ROAD
BOOK

Eva
WALKNER

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INHALT

Marcel Hirscher: Mein Held Hiasi

Ein folgenschwerer Fehler

Haie in den Bergen

Ein Trio auf einem langen Weg

Meisterlich auf neuem Terrain

Talentiert, aber auch verletzungsanfällig

Ganz oben, ganz unten

Dominatorin und Weltmeisterin

Die Suche nach der Ausfahrt

Filmmacherin und Produzentin

Influencer oder Weltmeisterin

Auf eigenem Weg zum Triumph

Aus Matthias´ Tagebuch

Wilde Hunde? Sicher nicht!

Das Roadbook des Lebens

Mein Held Hiasi

von Marcel Hirscher

Unsere Freundschaft begann vor mehr als 20 Jahren bei einer zufälligen Fahrt am Lift. Wir waren damals Volksschüler, Matthias wohnte keine 15 Kilometer von mir entfernt und Skifahren war unsere gemeinsame Leidenschaft. Auf Bezirks- und Landesebene war er sehr erfolgreich und wer weiß, was daraus geworden wäre, wenn er nicht einen ganz anderen Weg eingeschlagen hätte.

Der Hiasi folgte aber seinem inneren Ruf und der hörte sich nun einmal nach dem Knattern eines Zweitaktmotors an. Schon damals erzählte er mir, wie lässig Motocross sei und dass ich es auch unbedingt einmal versuchen solle. Er beendete seine Skikarriere frühzeitig und schwang sich in den Motorcross-Sattel.

Weil ich auf der Piste blieb, verloren wir uns zwar für einige Jahre aus den Augen, mir blieb aber dieses Motorengeräusch in den Ohren. Hiasi hatte mich mit dem Motocross-Virus derart infiziert, dass ich Ferdl eines Tages gebeten habe, mir auch eine Maschine zu kaufen.

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© picturedesk.com

Dad – der schlaue Trainerfuchs – fand die Idee dieses Ausgleichssports offensichtlich derart gut, dass er mir ein Motocross-Gerät kaufte. Ich war damals 12 Jahre alt. Und dort, auf der Motocross-Strecke, auf die wir zum Trainieren hinfuhren, traf ich den Hiasi wieder. Der drehte mittlerweile, zwei Jahre älter als ich, schon ziemlich kräftig am Gashahn.

Hiasi hatte auch für diesen Sport großes Talent und vor allem den unbedingten Willen, es an die Spitze zu schaffen. Doch seine Mittel waren bescheiden. Motorsport hat in Österreich einfach zu wenig Stellenwert. Hier gibt es keine professionellen Strukturen, wie bei uns im Österreichischen Skiverband. Bei Hiasi war alles Eigeninitiative. Jede Schraube, jedes Ersatzteil musste er sich selbst finanzieren.

In seiner ersten MX1-WM-Saison fuhr er Rennen mit gebrauchten Reifen, was etwa dem gleichkommen würde, wenn ich mit alten Skiern an den Start gehen würde … unvorstellbar! Meinem Vater war das nicht wurscht. Ab Sommer 2010 war also der Ferdl bei den Rennen vom Hiasi dabei. Außerdem begann er ihn auch im Training – vor allem mit seiner Präzision und seinem geschulten Trainer-Auge – zu unterstützen.

In diesen Jahren haben wir viel Freizeit miteinander verbracht und dabei die verrücktesten Dinge angestellt. Also konkret war er es, der mir damals zeigte, was ein wilder Hund ist. Bei manchen seiner Aktionen blieb mir einfach nur der Mund offen stehen. Einmal stürzte er sich mit seiner Motocross-Maschine, in kurzen Hosen und ohne Helm, einen acht Meter langen Hang hinunter, ein anderes Mal machte er mit dem Straßen-Motorrad einen 32-Meter-Satz. Das wissen wir deshalb so genau, weil der Hiasi das natürlich sofort nachgemessen hat.

Als ihn endlich Heinz Kinigadner ansprach, um ihn in den Rallye-Sport zu holen, war das seine große Chance. Und er nützte sie! Ich war immer von seinen Fähigkeiten überzeugt, doch dass er bereits in seiner dritten Rallye-Saison das letzte große Abenteuer der Sportwelt gewinnen konnte und Dakar-Sieger geworden ist, das hätte ich ihm – so ehrlich muss ich sein – beim besten Willen nicht zugetraut.

Bereit für jedes Risiko, bereit für ein Leben am Limit: genau aus diesem Holz ist er geschnitzt. Genau das braucht es offensichtlich, um solche Prüfungen zu bestehen und als Sieger daraus hervorzugehen. Hiasi, du bist mein Held!

Dein Freund,

Marcel

Bei der Dakar 2016

EIN FOLGENSCHWERER FEHLER

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Es ist der 9. Januar 2016, es läuft die siebte Etappe der „Dakar“ und ich liege auf Platz drei der Gesamtwertung. Doch das Klassement ist in diesen Augenblicken irrelevant. Bedeutender ist, dass ich auf dem Boden liege, das Motorrad neben mir, dass ich schwer zu Sturz gekommen bin gleich zu Beginn einer Etappe, die von Uyuni in Bolivien nach Salta in Argentinien führte.

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Der Startort liegt auf 3671 m. Es war noch dunkel, als wir uns bereit machten für diese Sonderprüfung. „Warum müssen wir so früh wegfahren“, sagte ich zu meinen Mechanikern, „es ist noch dunkel, die Sonne ist noch nicht einmal aufgegangen und in 10, 15 Minuten sollen wir schon Rennen fahren. Voll arg eigentlich.“

Es war ein bisschen heller, als ich als Zweiter hinter Toby Price vom Staatspräsidenten Boliviens auf die Strecke geschickt wurde. Vollgas ging es direkt in den Sonnenaufgang. Ich sehe überhaupt nichts, dachte ich mir, die Sonne blendete, der Staub, den die Räder von Toby Price aufgewirbelt hatten, lag noch in der Luft, und in das Tal, in das wir zu fahren hatten, blies auch kein Wind. Ich fuhr so schnell es ging, vielleicht 80 Prozent von dem, was ich prinzipiell kann, doch die Sicht war einfach zu diffus. Wo ich bei guten Bedingungen 160 km/h hätte fahren können, waren es an jenem Morgen 130, 140, und dort, wo 65 km/h möglich gewesen wären, waren es 50.

Ich fuhr also blind im Staub und Dunst. Die dritte oder vierte Roadbook-Anmerkung war ein S, das sich durch einen Bach schlängelte und als ich dieses Gewässer durchfuhr, wusste ich zum ersten Mal, dass ich auf dem richtigen Weg war. Andere Kreuzungen oder Anhaltspunkte hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht beachtet, das Roadbook war relativ einfach und ich war damit beschäftigt, auf der Straße zu bleiben.

Nach 15 Kilometern ging die Streckenführung nach links, es blendete nicht mehr so sehr, doch weil die Sonne nunmehr von der Seite kam, ergab sich ein Wechselspiel von Licht und Schatten. Der Kurs sollte ab jetzt geradeaus gehen und ich dachte mir, dass ich nun wieder mehr Gas geben könne. Nicht dass die Sicht optimal gewesen wäre, ich fand es echt schwierig, den Unterschied zwischen einem Schatten und einem Loch zu erkennen. Ich las im Roadbook, dass eine 1,5 km lange Gerade in Richtung eines Dorfes führte, in dem ein Tempo-Limit eingehalten werden musste. Passt, bis dorthin kannst du Gas geben, sagte ich mir.

Auf dieser langen Geraden war eine Danger-2-Stelle verzeichnet. Diesen Hinweis hatte ich nicht wahrgenommen. Habe ihn überlesen, übersehen.

Als ich an diese Stelle kam, war die Straße weggeschwemmt. Weggebrochen, sodass eine Baustellen-Ausweichstelle eingerichtet worden war. Ich sah die Auswaschung erst, als ich über den kleinen Hügel fuhr, der sich am Straßenrand gebildet hatte, und ich wusste im gleichen Moment, dass es sich nicht ausgehen würde. Das Loch war rund eineinhalb bis zwei Meter lang und knapp eineinhalb Meter tief.

Es gibt Entscheidungen, die in Sekundenbruchteilen getroffen werden müssen. Wenn ich in einem Auto auf eine Wand zurase und weiß, den Aufprall nicht mehr verhindern zu können, ist es dann besser, mit geringerer Geschwindigkeit reinzudonnern? Oder ist es besser, nochmals aufs Gas zu steigen, um sicherzugehen, dass der Airbag ja aufgeht?

Ich hatte ein extrem schlechtes Gefühl im Bauch. Mein Kopf sagte mir, dass es sich nicht ausgehen würde, über das Loch zu springen. Was tun? Meine Entscheidung in Bolivien lautete, die Geschwindigkeit zu erhöhen und das Unmögliche zu probieren. Nachher, so viel ist klar, ist man immer gescheiter.

Mit dem Vorderrad landete ich auf der Straße, mit dem Hinterrad nicht. Ich setzte mit der Motorschutzplatte auf, wurde Vollgas in den Boden gestaucht. Der Schwung sorgte dafür, dass es mich überschlug.

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Jetzt liege ich da und bin damit beschäftigt, mich abzutasten. Mein linker Oberschenkel ist gebrochen, das hat der Lenker, der die Rolle vorwärts ebenfalls mitgemacht hat, erledigt. Der Knochen zerbeult die Hose, der Körperteil fühlt sich schwammig und weich an. Hoffentlich ist es kein offener Bruch, bete ich. An Aufstehen ist nicht zu denken. Das rechte Knie weist maximale Flexibilität auf, da wird es auch einige Bänder zerfetzt haben, denke ich mir. Aber meine Hauptsorge gilt dem Rücken, ich habe extreme Schmerzen. Schwillt es an?, frage ich mich. Werden Nerven abgedrückt?, sorge ich mich. An bleibende Schäden, eine Querschnittslähmung beispielsweise, will ich gar nicht denken. Bleib einfach ruhig liegen! In ein paar Minuten wird Hilfe zur Stelle sein.

Es vergeht eine Minute, dann noch eine. Da ich mich mit mir selber beschäftige, kommt mir die Warterei gar nicht lange vor. Wieder eine Minute später höre ich ein Motorengeräusch. Es ist jenes der Maschine von Paulo Goncalves. Der portugiesische Honda-Pilot bleibt stehen, steigt ab, eilt zu mir. „Mein Oberschenkel ist gebrochen und der Rücken schmerzt“, sage ich ihm, „bitte bleib bei mir und pass auf, dass meine Situation hier nicht aus dem Ruder läuft.“ Ich fürchte, dass überengagierte Helfer meine schweren Verletzungen noch verschlimmern könnten.

Goncalves drückt den roten „Sentinel“ auf seinem Motorrad, eine Art Notruf-Knopf. Wenn dieses Zeichen abgesetzt wird, dann wissen die Organisatoren, dass Schwerwiegendes passiert ist. Die Organisatoren melden sich bei ihm, er erklärt, was passiert ist, und bekommt die Information, dass ein Hubschrauber schon unterwegs sei. Die Zeit, die Goncalves verliert, um mir beizustehen, ehe er weiterfährt, elf Minuten, wird ihm gutgeschrieben. So sieht es das Reglement vor: Jeder ist verpflichtet, anderen Fahrern zu Hilfe zu eilen, wenn diese am Boden liegen. Zeitliche Nachteile entstehen dadurch aber nicht.

Fünf Minuten später landet der Hubschrauber.

Aber es ist der falsche. Es ist das Fluggerät für die Medienschaffenden des Veranstalters. Dieser fliegt die Strecke immer wieder ab, und da der Unfall nah am Start passiert ist, war der Hubschrauber quasi nur ums Eck. Die Leute steigen aus und einer hält mir auch gleich eine Kamera ins Gesicht: „Erzähl, was ist passiert? Wie geht es dir?“ Ich finde die Arbeit des Reporters nicht verwerflich. Die Rallye Dakar lebt von Bildern und Geschichten und vom Mythos des Gefährlichen. Wenn der Drittplatzierte schwer verletzt da liegt, dann hat dies News-Wert und spült Wasser auf die Mühlen des langen, extremen, herausfordernden Events. Doch wenn der eigene Körper höllisch schmerzt, dann finde ich solche Fragen unpassend und aufdringlich. „Bitte, geh, das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um Interviews zu geben.“ Ich bin bestimmt und ernst, aber nicht aufbrausend oder ungut. Er versteht und geht.

Wieder ein paar Minuten später landet der Hubschrauber, auf den ich gewartet habe.

Der Notarzt untersucht mich und tastet mich ab. Ich bekomme ein schmerzlinderndes Mittel, das nicht wirkt. Mir wird eine Halskrause angelegt, und ich werde auf eine Plastiktrage gehoben. Meine Schmerzensschreie, die ihren Weg raus aus dem Körper suchen, verbeiße oder verschlucke ich. Im Hubschrauber bekomme ich Schmerzmittel, Morphin, das sofort wirkt. Ich sehe mich in einem Bett aus Watte und Wolken liegen, ich spüre keine Pein mehr und verliere jegliche Hemmung, die ich in bewusstem, nüchternem Zustand habe. Zu fünft schälen sie mich aus meiner Motorradmontur, bis ich nackt vor ihnen liege. Weiteres Weichteilgewebe wird beschädigt, der Oberschenkel hängt an der Haut, sein Knochen ist scharf und spitz.

Der Flug geht ins Lazarett, das einem Bierzelt ohne Tischen und Bänken gleicht und mit einer Vielzahl von Feldbetten ausgestattet ist. Lebensgefährlich Verletzte werden sofort ins Krankenhaus weitertransportiert, für alle anderen – so auch für mich – heißt es: bitte warten, bis die Etappe abgeschlossen ist. Das ist einerseits verständlich, denn die vorhandenen Ressourcen könnten für schwerwiegendere Fälle benötigt werden, andererseits schwer verdaulich, wenn man selbst betroffen ist.

Ich will nicht sagen, dass sich die Ärzte und Pfleger im Lazarett nicht um mich gekümmert hätten. Doch letztlich liege ich mich auf der Plastikbahre, von der ich nicht genommen wurde, wund, hänge an einem Tropf und werde von Stunde zu Stunde vertröstet. Meine Fragen, wann es denn endlich ins Spital ginge, haben Standardantworten – „bald, bald“ – zur Folge.

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Ausflüchte hört auch meine Schwester Eva. Auf einer speziellen APP der „Dakar“ verfolgt sie wie auch unsere Eltern die Etappen ihres Bruders mit, so detailliert und zeitnah wie nur möglich, von Wegpunkt zu Wegpunkt. Sie sieht die Live-Übertragung der Etappe und liest, dass ich gestürzt sei. In einer ersten Information ist von einer Schulterverletzung die Rede, Aufruhr herrscht im Hause Walkner: Hoffentlich nichts Schlimmes, denken sich alle. Wenig später wird korrigiert, es ist offiziell, dass es sich um einen Oberschenkelbruch handelt.

Weil ich nicht erreichbar bin, versucht Eva über KTM-Sportchef Alex Doringer weitere Informationen zu erlangen. Als wir telefonieren können – ich habe mir das Handy eines Arztes ausgeliehen – hört mich meine Schwester zum ersten Mal tiefunglücklich und verzweifelt weinen. „Bitte hilf mir, ich weiß nicht mehr weiter“, sage ich ihr, „niemand spricht Englisch, und ich habe keine Ahnung, wie es hier weitergehen wird …“

Eva kontaktiert das medizinische Zentrum der Rallye Dakar, spricht über ihren Bruder, dessen Sturz und möchte erfahren, wie denn nun die weitere Vorgangsweise sei. Matthias läge ja schon ein paar Stunden im Lazarett, wann würde denn endlich der Weitertransport ins Krankenhaus stattfinden, besonders den Umstand beachtend, dass alle ja nicht genau wüssten, wie schwer die Rücken- und Beinverletzungen nun denn seien.

Während ich tatenlos herumliegen muss, wird Eva von Stunde zu Stunde vertröstet. Es dauert nicht mehr lange. Der Helikopter ist schon unterwegs. Der Helikopter kann aufgrund eines Sandsturms nicht starten. Er kommt in einer Stunde. Und so weiter. Die Telefonate zwischen Eva, mir und dem „medical center“ kosten meiner Schwester sicher 400, 500 Euro, doch jedes Mal, wenn ich sie höre, geht es mir ein klein wenig besser, und die Hoffnung, dass alles gut werden wird, flackert wieder auf. Sie ist meine Nabelschnur zur Außenwelt.

Doch die Situation zehrt an unser aller Nerven. Ich bin fix und fertig, Eva bemüht sich in ihrer Kommunikation mit dem Ärzteteam um Respekt und Gelassenheit, verliert am Ende des langen Tages aber dann auch die Fassung: „Wenn irgendwas sein wird, wenn Folgeschäden bei Matthias bleiben, dann macht euch auf etwas gefasst! Dann mache ich euch dafür verantwortlich. Es kann ja nicht sein, dass bei einem der größten Motorsportevents der Welt ein Verletzter nicht in ein Krankenhaus geflogen werden kann – egal, ob es ein Profi, ein Amateur, mein Bruder oder nicht mein Bruder ist.“ Eva wird selten laut und sauer, aber wenn, dann richtig.

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„Wann geht es endlich weiter ins Spital?“

„Bald, bald.“

Ich starre an die Decke des Zeltes, und ich lasse das Geschehene nochmals Revue passieren. Danger-2-Eintragungen im Roadbook bedeuten in der Regel eigentlich, dass die Straße eng ist, weil links oder rechts Teile von ihr weggebrochen sind, analysiere ich. Sie sind eigentlich für Autos oder Laster relevanter als für uns Motorradfahrer. Warum gibt es auch ein einziges Roadbook für alle verschiedenen Teilnehmer?! Mir wird klar, dass ich nicht hundertprozentig bei der Sache war, als der Unfall passierte. In meinem Innersten haderte ich immer noch mit dem Veranstalter und mit dem Umstand, dass die Startzeit dermaßen früh angesetzt worden war: Was macht es denn für einen Unterschied, ob wir um zwei oder drei oder vier Uhr im Ziel sind? Das Tempo war für meine Verhältnisse nicht allzu hoch, ich hatte somit nicht den Eindruck, riskant unterwegs zu sein. Nur abgelenkt. Nur unkonzentriert. Bis zu jenem Schatten, der sich als Loch entpuppte.

Spätestens im Lazarett wird mir schmerzlich vor Augen geführt, dass ich auch bei meiner zweiten „Dakar“-Teilnahme das Ziel nicht sehen werde. Dies war mein Minimalanspruch: nach den vielen Erfahrungen aus dem Vorjahr, das Rennen bis zum Schlusstag bestreiten zu können. Ernährung, Schlaf, Markierungen im Roadbook, Teamarbeit – so viele Dinge liefen 2016 schon besser als 2015. Dies begann bei Kleinigkeiten wie dem Putzen des Helms und der Vorbereitung der Montur für den nächsten Tag und führte über einen eigenen Koch bis zu selbst mitgebrachten Lebensmitteln wie Olivenöl, Honig, Datteln, Haferflocken, Mandelmus, Wasser oder Astronautennahrung. Ich hatte mich besser auf die Höhe vorbereitet und nicht nur am Kitzsteinhorn für zweimal vier Tage, sondern auch in einem Höhenzelt, in dem ich bei mir zuhause 150 Stunden schlief. In dieses pumpt ein Generator Luft hinein, die mit weniger Sauerstoff angereicht ist. In Summe kam ich mit 250 Höhenstunden nach Südamerika.

Als in Buenos Aires die „Dakar“ eröffnet wurde, hieß das Ziel tatsächlich erst einmal: durchkommen. Aber mit einem großen Aber. Wenn ich durchkäme, dachte ich mir, und wenn ich keine groben Fehler machen würde, wenn ich abrufen könnte, was ich kann, und wenn alles einigermaßen passen würde, dann könnte ich auch auf dem Podest stehen. Sehr viele „Wenn“, sicher! Aber nachdenken, auch träumen war erlaubt. Klar war aber auch: einmal verfahren, eine Penalty erhalten – und aus einer Podestplatzierung würde nichts mehr werden.

In der ersten Woche wollte ich in der Gesamtwertung auf Schlagdistanz bleiben, in der zweiten, nach dem Ruhetag, angreifen. So lautete mein Plan. Auf der fünften Etappe wurde ich Dritter, einen Tag später lag ich auf Platz zwei und auf Rang drei in der Gesamtwertung.

Wieder einen Tag später liege ich in einem verfluchten Feld-Lazarett, in dem nichts weitergeht.

Mein KTM-Team war über meinen Ausfall und meine Verletzung informiert worden, doch sie alle waren draußen, um unsere anderen Fahrer zu unterstützen. Ich nehme wahr, dass sich das Sanitätszelt immer mehr füllt, doch ich bin zu sehr mit mir selbst beschäftigt, als dass ich Anteil nehmen könnte an den Problemen der anderen. Ich finde keine Position, in der das Liegen schmerzfrei möglich wäre, Fuß und Ferse schlafen mir ein, weil ich das Bein nicht bewegen kann. Der Oberschenkel schmerzt, das Kreuzweh nimmt zu, jede noch so kleine Bewegung ist eine Qual für meinen Körper. Sie denken, dass es bei mir nicht so schlimm ist, und deswegen lassen sie mich liegen, rede ich mir ein, dabei kann ich mich immer weniger bewegen. Oh Gott! Ich sehe, wie der Oberschenkel immer mehr blutet, und spüre, wie der Rücken immer mehr schmerzt. Es ist, als läge ich auf einer heißen Herdplatte und dürfte diese nicht verlassen.

„Wann fahren wir endlich ins Krankenhaus?“

„Bald, bald.“

„Wann fahren wir endlich los?“

„In einer Stunde.“

Wahrscheinlich habe ich an diesem Tag hundert Mal oder öfter danach gefragt. Doch im Lazarett sind alle gleich. Acht Stunden nach meiner Einlieferung geht es tatsächlich los: mit dem Hubschrauber zum Flughafen, mit dem Sanitätsflieger in die Hauptstadt Boliviens, mit dem Krankenwagen durch die Rush Hour der 800.000 Einwohner zählenden höchstgelegenen Kapitale der Welt. Kurz vor 18 Uhr war ich zusammen mit einem französischen Fahrer, der sich beide Hände gebrochen hatte, im „Hospital del Nino“ von La Paz.

Das Krankenhaus ist schmutzig und grauslich und überfüllt. Im Stiegenhaus warten heruntergekommene, ärmliche Personen. Ich frage mich, ob ich hier am richtigen Ort bin, doch ich bin verletzt, alleine und somit doppelt hilflos. Kommunikation ist nicht möglich, niemand scheint hier Englisch zu sprechen. Ich werde in einer Halle auf ein Bettgestell gelegt und mit meinen Schmerzen eine Stunde dort gelassen. Als es zum Wirbelsäulenröntgen geht, ersuche ich um Schmerztabletten. Ich bekomme irgendwelche Pillen; ihren Zweck erfüllen sie nicht. Die Aufnahmen bringen keine neuen Erkenntnisse. Nichts passiert, sagt man mir, aber ich bin sicher, dass ich mir einen Schaden zugezogen habe, nichts Knöchernes vielleicht, aber etwas, das man nicht sieht: eine rausgedrückte Bandscheibe beispielsweise, oder eine Verstauchung der Wirbelsäule. Hin und wieder zwickt es mich noch heute, und ich führe dies auf den Unfall im Januar 2016 zurück.

Wieder ein paar Stunden später tritt ein Arzt an mein Lager. Ich atme auf. Christian Fuentes ist ungefähr 40 Jahre alt, schaut einigermaßen seriös aus und er spricht die englische Sprache – endlich jemand, mit dem ich mich unterhalten kann.

“Please try your very best. It is in your hands to change my life for better or worse”, sage ich ihm.

Er lächelt freundlich zurück und antwortet auf Englisch: „Mach dir keine Sorgen, du bist in guten Händen.“ Und dann kommt er noch mit einer Frage auf mich zu, die ich in dieser Situation nicht erwartet hätte. Ob er denn nicht noch schnell ein Foto mit mir machen könne, für seine Freunde. Diese hätten über das Fernsehen mitbekommen, dass der Matthias Walkner nach La Paz ins Krankenhaus gebracht worden wäre. Und weil er und seine Kollegen „Dakar“-närrisch seien, wolle er ihnen zeigen, wen er da als nächstes operieren würde. Das Selfie entstand quasi am OP-Tisch.

Du sagst zu dem Arzt, unter dessen Messer du dich begibst, nicht Nein. Ich bin prinzipiell ein zugänglicher Typ, wenn jemand ein Foto oder ein Autogramm von mir haben möchte. Es sollte nur der Zeitpunkt passen. Jener in La Paz ist ein wirklich nicht so idealer. Doch ich denke mir auch: Cool, wenn er dich kennt, reißt er sich jetzt sicher zusammen. Das mag vielleicht nicht stimmen, doch der Gedanke beruhigt mich ein wenig.

Mitten in der Nacht, kurz vor 1 Uhr des 10. Januar, 19 Stunden nach meinem Unfall, werde ich in den Operationssaal geschoben. Der Anästhesist beugt sich über mich, die Vollnarkose wirkt quasi sofort, und ich bin wie weggebeamt. Weg vom Schmerz, den mir mein Körper verursacht, weg von den Gedanken an das Gewesene und an das Kommende, die mich quälen.

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Als ich erwache, ist mein Oberschenkel blau und extrem geschwollen. Und er schmerzt. Fassungslos blicke ich auf das Essen, das man mir bringt: zwei Scheiben Toastbrot, mit je zwei Blättern Schinken und Käse. Das war’s. Doch es gibt auch positive Momente.

„Hier, mein Handy. Ruf bei deiner Familie zu Hause an.“

Die Krankenschwester, die mich am Tag nach der Operation betreut, ist nett und hilfsbereit, und mit ihrer Unterstützung gelingt es mir, mich direkt mit meinen Eltern und meiner Schwester Eva in Verbindung zu setzen. Kontaktiert werde ich auch von der Red Bull-Vertretung in Bolivien, und ich schätze einmal mehr, dass mein Sponsor global so gut aufgestellt ist. In den nächsten Tagen kommt immer einer von ihnen vorbei, bringt nicht nur ein Tablet mit Internetanschluss, sondern auch Essen und Getränke und fragt, ob er etwas für mich tun könne. Ich danke für die Speisen, denn obwohl ich mich erst seit wenigen Tagen im Krankenhaus befinde, spüre ich Kraft- und Gewichtsverlust. Doch nicht nur Red Bull, auch KTM kümmern sich um mich und schicken bei der ersten Gelegenheit, die sich bietet, einen der unseren an mein Krankenbett. Zu diesem Zeitpunkt ist die „Dakar“ noch nicht beendet, doch es sieht bereits sehr gut für uns aus. Letztlich siegt der Australier Toby Price deutlich vor KTM-Markengefährten Stefan Svitko aus der Slowakei. Ich hätte der dritte im Bunde sein können – oder sollen.

Den Krankenhauskittel, den ich anstelle meiner Motocross-Kleidung trage, schwitze ich dreimal am Tag durch. Es ist schmerzhaft, auf einer Matratze zu liegen, in der wohl mehr Plastik als Federn enthalten sind. Dr. Fuentes lässt sich das eine oder andere Mal blicken, doch die meiste Kommunikation habe ich mit Eva, die sich engagiert informiert, wie es mir geht, wie der Heimtransport organisiert sei und in welches Krankenhaus ich in Österreich käme. Wollte ich mit dem Spitalspersonal sprechen, so funktionierte dies – über Google Translate. Sie konnten nicht Englisch und ich nicht Spanisch. Google kann, wenn auch nicht fehlerfrei, alles. Glaubt man zumindest, und in Notsituationen noch mehr.

Wenn man verletzt und hilflos ist, dann ist auch die Reise nach Hause zuerst einmal eine Qual. Als ich entlassen werde, will ich der Krankenpflegerin 200 Euro geben, um ihr die Kosten auf ihrem Handy einigermaßen zu ersetzen. Denn sie hatte mir Wildfremdem ihr Mobiltelefon für die gesamte Dauer meines Aufenthalts überlassen und es auch bei Turnuswechsel nicht an sich genommen. Solange ich im Hospital del Nino war, hatte ich quasi mein eigenes Telefon. „Nein, das ist schon in Ordnung, nein das passt schon so“, gab sie mir zu verstehen.

Ich weiß auch heute nicht, wie viel Krankenhauspersonal in Bolivien verdient, vielleicht 300, 400 Euro, in einem Land, in dem der Mindestlohn bei rund 100 Euro pro Monat liegt. Ausrechnen konnte ich mir, dass ich sicherlich 100, 200 Euro vertelefoniert hatte. „Nein, nein, das nehme ich nicht an“, sagte sie mir.

Also gebe ich das Geld einer Kollegin und bitte sie, nach meiner Abreise meine Außenstände für mich zu begleichen. Ich hätte mich schlecht gefühlt, nicht nur die Empathie, Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit des Personals in Anspruch genommen, sondern auch noch für materielle Verluste gesorgt zu haben.

„Gracias, Mister Fuentes“, sage ich meinem Chirurgen, als ich in den Krankentransport Richtung Flughafen steige. Zwischenstation ist Buenos Aires, wo ich in einer Privatklinik nochmals durchgecheckt und für reisetauglich befunden werde. Tags darauf sitze ich in der Business Class einer Air France-Maschine nach Paris, und auch wenn „Business“ angenehm und relaxed klingt, und auch wenn ein Krankenbetreuer mit mir unterwegs ist, muss ich doch festhalten, dass der Interkontinentalflug dennoch kein Honigschlecken war. Die Verletzungen im rechten Kniewaren nicht operativ behoben worden, weswegen ich mit diesem Fuß nicht auftreten konnte. Der Oberschenkelbruch auf der anderen Seite verhinderte das linke Bein als Standbein zu verwenden.

Und jetzt musst du über dem Atlantik zweimal auf die Toilette. Viel Spaß und viel Erfolg.

Ich für meinen Teil hätte nichts dagegen gehabt, in einen Behälter zu pinkeln. Aber das wäre wohl nicht business-like gewesen.

Die Zeit verstreicht, die Qualen bleiben. In Paris muss ich auf den Anschlussflug warten, der mich nach München bringt. Als ich in der Empfangshalle meiner Zieldestination meine Familie und Freunde sehe, kommen mir die Tränen. Ich bin geschafft. Am Ende. Und so glücklich, endlich daheim zu sein.

Im Salzburger Unfallkrankenhaus werde ich eine Woche lang untersucht und durchgecheckt. Dr. Fuentes habe sehr gute Arbeit gemacht, bestätigt man mir, der Rücken hätte bis auf eine Stauchung und einen Bluterguss keine größeren Verletzungen abbekommen. Das Kreuzband sei gerissen – wir entschieden, das rechte Knie ohne chirurgischen Eingriff zu stabilisieren.

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Es ist Ende Januar 2016 und für mich beginnt die wohl härteste Phase eines Sportlerlebens. In den nächsten sieben Monaten befinde ich mich für die notwendigen Rehabilitationsmaßnahmen täglich im Red Bull-Trainingszentrum in Thalgau.

Dieses Zentrum ist exklusiv für Sportler errichtet worden, die vom weltweit bekanntesten Energy-Drink-Hersteller unterstützt werden. Es ist eine Einrichtung, die keine Wünsche offen lässt. Auf meinem Weg zurück habe ich einen persönlichen Betreuer, der mir 26 Wochen lang nicht von der Seite weicht. Gearbeitet wird besonders in drei Bereichen: physiotherapeutisch, trainingstechnisch und psychologisch.

In der Physiotherapie liegt das Hauptaugenmerk darauf, dem Oberschenkel und dem Knie wieder zu ihrer natürlichen Beweglichkeit zu verhelfen. Ich habe ein richtiges Loch im Oberschenkel, sehr viele Weichteile und Muskeln sind verletzt worden. All dies muss wieder heilen. Im Training geht es um die Stabilisation des Knies und um den allgemeinen Muskelaufbau. Im psychologischen Bereich wollen wir den Kopf und die geistige Flexibilität fit halten.

Die ersten drei, vier Wochen sind der Therapie gewidmet, dann kann ich schon ein recht variantenreiches Trainingsprogramm angehen, auf dem Ergometer, mit der Handkurbel, am Rudergerät oder mit gymnastischen Übungen. Ich betreibe Sport wie andere ins Büro gehen, Montag, Dienstag, Donnerstag von 9 bis 17 Uhr, Mittwoch und Freitag von 9 bis 13 Uhr.

Da ich gerade in den ersten Wochen große Fortschritte mache, bin ich guten Mutes und denke gar nicht daran, dass ich eventuell nicht wieder Motorrad fahren könnte. Die Operation in La Paz ist gut verlaufen, die Heimreise habe ich überstanden, hier in Thalgau werde ich von Experten auf ihrem Gebiet betreut. Ich verschwende keine Gedanken daran, dass ich bei der nächsten „Dakar“ fehlen könnte.