Über Gerhard Henschel

Foto: Jochen Quast

Gerhard Henschel, bekannt durch seine vielbändige und kontinuierlich weiter wachsende Chronik über die Geschicke des Romanhelden Martin Schlosser, hat immer wieder Satiren und Grotesken veröffentlicht. Auch Sachbücher und Erzählungen gehören zum Werk des 1962 geborenen Autors. Seine Romane wurden u. a. mit dem Hannelore-Greve-Literaturpreis, dem Nicolas-Born-Preis und dem Georg-K.-Glaser-Preis ausgezeichnet. Er lebt bei Hamburg.

In der Buchhandlung Patz in Bad Bevensen klirrten die Gläser.

»Liebe Freundinnen und Freunde des gepflegten Buches«, rief der Geschäftsführer Detlev Patz in die Runde, »normalerweise stoßen wir hier ja erst nach dem Ende einer Veranstaltung miteinander an, aber wie Sie alle wissen, ist es schon Tradition, daß die Lesungen des Autors Armin Breddeloh bei uns auf seinen Wunsch mit einem Sektempfang beginnen. Also Prost!«

Die Büchertische und die Ständer waren beiseite geräumt worden, damit genug Stuhlreihen Platz fanden, und ganz hinten wurden immer noch weitere Klappstühle aufgestellt, denn der Andrang war immens. Nach »Heideblut« und »Heidejagd« spielte auch Breddelohs dritter Kriminalroman »Heidefieber« in Bad Bevensen, einem Städtchen in der Lüneburger Heide, das in Wirklichkeit nur selten als Tatort grausamer Verbrechen von sich reden machte. Vielleicht gefielen diese Krimis den Einwohnern gerade deshalb so gut. In Breddelohs Büchern gingen Mörder mit Eispickeln und Kettensägen auf einheimische Orthopäden, Kassiererinnen, Bäcker, Busfahrer und Bademeister los, und das Blut sprudelte an Orten, die jeder kannte – im Rosenbad, am Elbeseitenkanal, im Kloster Medingen, im Baumarkt an der Ludwig-Ehlers-Straße oder auf der Klein Bünstorfer Heide. Und zwar in Strömen, denn Breddeloh war »kein Kind von Traurigkeit«. Das hatte er in einem Interview mit dem Uelzener Anzeiger betont.

Auch in seinem neuen Roman, aus dem er jetzt las, richtete jemand gleich auf der ersten Seite ein Blutbad an. In der Jod-Sole-Therme am Kurpark schlich der Täter sich an eine Rentnerin heran, die nichts Böses ahnte: »Sie hatte es sich in ihrer Wickelpackung auf der Thermo-Spa-Liege bequem gemacht und genoß mit geschlossenen Augen den Duft der Aromaöle«, las Breddeloh vor.

Breddeloh blickte auf. Und er konnte zufrieden sein: In den Gesichtern malten sich Abscheu und Angstlust.

In dem Kapitel, das er vortrug, schlug der Mörder am Ende ein zweites Mal zu, doch die Tatwaffe war eine andere. Diesmal bediente er sich eines Bolzenschußgeräts, um den jüngsten Sohn der geköpften Rentnerin, einen Jugendtrainer, im Vereinsheim des BSV Union Bevensen von allen Sorgen zu erlösen.

»Nach getaner Tat«, las Breddeloh weiter vor, »trat der Mann einen Schritt zurück, um sein Werk zu begutachten. Es behagte ihm ganz ausgezeichnet. Vor allem das gespenstische Grinsen, zu dem sich der Mund des Opfers verzogen hatte. ›Saubere Arbeit‹,

Breddeloh klappte das Buch zu und trank einen Schluck Sekt, während das Publikum applaudierte.

Detlev Patz erhob sich. »Vielen Dank, Herr Breddeloh, für diesen schaurigen Einblick in die Unterwelt von Bad Bevensen, in der es offenkundig gefährlicher zugeht, als die Polizei erlaubt! Und vielen Dank auch Ihnen, meine Damen und Herren, daß Sie so zahlreich erschienen sind. Gestatten Sie mir noch den Hinweis auf die nächste Veranstaltung: Am Freitagabend nächster Woche wird der renommierte Hamburger Schriftsteller Frank Schulz hier bei uns aus seinem Kriminalroman ›Onno Viets und der Irre vom Kiez‹ lesen. Beehren Sie uns dann bitte wieder! Und bevor ich gleich das kleine Büfett eröffne, das wir für Sie angerichtet haben, wird Herr Breddeloh gewiß gern einige Bücher signieren. Oder möchten Sie vorher vielleicht noch die eine oder andere Frage an ihn richten? Ja? Der Herr dort hinten in dem grünen Jackett?«

Ein Mittfünfziger stand auf und sagte: »Herr Breddeloh, in dem Abschnitt, den Sie heute vorgelesen haben, kommt zweimal die Formulierung ›einen Moment lang‹ vor. Ist das Absicht oder Einfallslosigkeit?«

Breddeloh lief rot an. »Sie scheinen zu glauben, daß Sie meine

Dafür gab es abermals Beifall, und als Breddeloh die Bücher signierte, bekam er viele Komplimente zu hören. »Sie haben so eine samtige Stimme«, sagte eine freundliche ältere Dame, die sich auf ihren Rollator stützte. »Machen Sie auch Hörbücher, Herr Breddeloh?« Ein junger Mann teilte ihm mit, daß er niemals etwas Geileres gelesen habe als die Schilderung des Amoklaufs in der Fritz-Reuter-Schule in dem Roman »Heidejagd«. »Wie da die Lehrer in der Mensa umgenietet werden – das hätte nicht mal Stephen King besser hingekriegt!« Und eine Buchhändlerin aus Lüneburg, Ende zwanzig, sommersprossig und strohblond, reichte ihm ihre Visitenkarte, lud ihn zu einer Lesung ein und fragte ihn, ob denn auch schon ein vierter Roman in Arbeit sei.

»Oja«, sagte Breddeloh. »Der wird ›Heidegold‹ heißen. Da geht es um die Verwicklung eines Juweliers aus Bad Bevensen in illegale Geschäfte mit Edelmetallen aus dem Amazonasbecken. Ich arbeite mich gerade in diese Materie ein …«

Trotz des Zuspruchs konnte man ihm deutlich ansehen, daß ihm eine Laus über die Leber gelaufen war. In Gestalt des Herrn mit dem grünen Jackett. Der nun auch noch die Frechheit besaß, die nette Buchhändlerin aus Lüneburg in ein Gespräch zu ziehen, obwohl Breddeloh ihr gern noch etwas mehr von seinen Recherchen für das neue Buch berichtet hätte.

Leise grummelnd ging er zum Büfett und angelte sich eine Cocktailtomate.

»Und?« sagte Detlev Patz. »Geht’s jetzt auf große Lesereise?«

»Erst Dienstag. Deutschland, Österreich und die Schweiz. Vier Wochen lang.«

»Ist das nicht langweilig, immer dieselben Sachen vorzulesen?«

Breddelohs Miene verdüsterte sich weiter. Ein Wort der Bewunderung für die Reichweite seiner Lesetour hätte ihm besser gefallen. Was sollte er auf diese unverschämte Frage antworten?

»Nein«, sagte Breddeloh, wobei es ihm mühelos gelang, seine Stimme eisig klingen zu lassen.

»Und Sie haben auch nie eine Lesung von ihm besucht?«

»Nicht daß ich wüßte.« Die Stimme noch fünf Grad kälter.

»Da haben Sie was versäumt! Der Mann war einfach göttlich …«

Harry Rowohlt habe auch mal in Bad Bevensen gelesen, sagte Patz. »Da hat er erzählt, daß er sich ganz komisch gefühlt habe, als er hier aus dem Zug gestiegen sei, und erst nach zehn Minuten sei er darauf gekommen, woran das lag: Er war überall der Jüngste!«

In das Gelächter, das diese Anekdote auslöste, stimmte Breddeloh nicht ein. Man hatte ihn in der vergangenen Viertelstunde zu oft gedemütigt. Er schützte vor, daß er heute noch arbeiten müsse, kassierte sein Honorar und setzte seinen 595 Euro teuren Kaninchenfilzhut von Hermès auf. Dann schwang er sich in seinen vor der Buchhandlung geparkten Citroën C5 Aircross, um in den Nachbarort Bienenbüttel zu fahren, wo er eine Villa mit zwölf Zimmern, Fitneß-Studio, Dachgarten und Außenpool bewohnte.

Aber er kam nie dort an.

 

»Wer hat ihn entdeckt?« fragte Hauptkommissar Gerold die Polizisten, die das Schutzzelt über dem Nixengrund aufbauten.

»Das Ehepaar da oben am Kopf der Treppe …«

Gerold seufzte. Wie es sich für einen Hauptkommissar gehörte, war er ein breitschultriger Bär von einem Mann mit einem Nervenkostüm aus korrosionsfreiem Stahl, aber wenn es etwas gab, das ihm fast so viel zu schaffen machte wie das Überbringen einer Todesnachricht, dann war es die Befragung von Spaziergängern, die einen grausigen Fund gemacht hatten. Sicherlich, sie standen unter Schock, diese Leutchen, und das mußte man verstehen.

Doch in diesem Fall erwiesen sich die Zeugen als gescheit und zurechnungsfähig. Die beiden Eheleute – ein Forstrat und eine Lehrerin aus Klein Bünstorf, einem Vorort von Bad Bevensen – sagten in aller Ruhe aus: Sie hätten an diesem schönen Frühlingsmorgen eine Wanderung zu dem beliebten Ausflugsziel Sängershöh unternommen, einer hochgelegenen Uferböschung über der Ilmenau, und dort bemerkt, daß im Nixengrund, einem Tümpel unterhalb der Anhöhe, eine Leiche liege, woraufhin sie mobiltelefonisch die Polizei verständigt hätten.

»Haben Sie den Toten angefaßt?« fragte Gerold.

»Wo denken Sie hin!« sagte die Frau, und ihr Mann lachte auf und stellte fest, daß sie weder blöd noch nekrophil seien.

»Das wollte ich Ihnen auch nicht unterstellen«, sagte Gerold. »Sie haben alles richtig gemacht, und wir sind Ihnen dankbar.«

»Chef?« rief die Oberkommissarin Fischer von unten herauf. »Können Sie mal kommen? Wir haben hier was Merkwürdiges gefunden …«

Es war ein menschlicher Augapfel. Zehn Meter vom Fundort der Leiche entfernt.

»Hier liegt noch einer!« rief einer der Polizisten, die den Boden absuchten. »Und der wird gerade von zwei Würmern belutscht!«

 

Angesichts der obduzierten Leiche aus dem Nixengrund fiel es dem Pathologen Dr. Hans-Werner Büthers nicht leicht, die richtigen Worte zu finden. Armin Breddeloh, sagte er, sei durch Strangulation zu Tode gekommen. »Die Gewalteinwirkung auf das Zungenbein und das Kehlkopfgerüst ist unübersehbar. Insofern

»Machen Sie’s nicht so spannend«, sagte Kommissar Gerold. Er saß wie auf heißen Kohlen, denn er hätte seinen Sohn Fabian schon längst aus dem Kegelverein abholen müssen. Noch drei Sekunden länger, und er hätte gesagt: »Spucken Sie’s aus, Doc!«

»Um es kurz zu machen«, sagte Dr. Büthers, »verhält es sich so: Die in der Nähe des Fundorts der Leiche geborgenen Augäpfel sind dem Opfer mit einem Instrument unbekannter Bauart entnommen worden, und dann hat man ihm zwei Glasaugen eingesetzt.«

»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«

»Nein. Diese Leiche hat zwei Glasaugen.«

»Und die hat ihr der Mörder eingepflanzt?«

»Entweder der oder eine andere Person.«

»Vor oder nach dem Mord?«

»Post mortem. Also danach.«

Gerold atmete tief ein. Und wieder aus. »Gibt’s auch irgendwelche guten Nachrichten? Verwertbare Spuren zum Beispiel?«

»Bisher nicht. Der Täter muß einen Weltraumanzug getragen haben. Anders kann ich mir das nicht erklären. Aber der Todeszeitpunkt läßt sich jetzt eingrenzen: zwischen Donnerstagabend um neun und Freitagmorgen um drei.«

Immerhin etwas, dachte Gerold und rief Kommissarin Fischer an. »Sie werden mir nicht glauben, wenn ich Ihnen erzähle, was sich bei der Obduktion ergeben hat …«

 

Weder in Breddelohs Gemächern noch auf seiner Festplatte stießen die Beamten auf weiterführende Anhaltspunkte. Fündig wurde Kommissarin Fischer ganz woanders, und sie eilte in Kommissar Gerolds Büro. »Chef? Ich hab hier was …«

»Seien Sie doch bitte so nett, mich nicht mehr ›Chef‹ zu nennen«, sagte er. »Mein Name ist Gerold. Vorname Gerold, Nachname Gerold. Gerold Gerold.«

»Und was haben Sie?«

»Ich hab Breddelohs Roman ›Heidefieber‹ gelesen. Da wird ein Mordopfer im Nixengrund in Bad Bevensen aufgefunden. Mit zwei Glasaugen, die der Mörder der Leiche eingesetzt hat.«

O Himmel, dachte Gerold. Was ist das für eine kranke Scheiße?

 

Im Beisein von Detlev Patz sahen Kommissar Gerold und Kommissarin Fischer sich das Video von Armin Breddelohs letzter Lesung an. Die Überwachungskamera hatte alles aufgezeichnet.

»Wer ist denn dieser Meckerpott in dem grünen Jackett?« fragte Gerold.

Patz zuckte die Achseln. »So ’n Journalist aus Lüneburg, glaub ich. Der war ab und zu schon mal hier. Alwin Peters oder so. Haben Sie den etwa im Verdacht?«

»Das lassen Sie mal unsere Sorge sein«, sagte Kommissarin Fischer. »Ist Ihnen an dem Abend hier was aufgefallen, das uns weiterhelfen könnte?«

Da müsse er passen, sagte Patz. »Es war alles wie immer. Von den Leuten, die hier gelesen haben, ist vorher noch nie einer umgebracht worden, und soweit ich weiß, ist von unseren Kunden auch noch nie einer auf einem Steckbrief aufgetaucht …«

»Spulen Sie mal vor«, sagte Gerold. »Bis zu der Stelle, wo dieser Grünspecht Ihren Laden verläßt.«

Das war um 21.57 Uhr gewesen. Zwanzig Minuten nach Armin Breddelohs Abgang.

»Dann sollten wir jetzt vielleicht doch diesem Peters auf den Zahn fühlen«, sagte Gerold und reckte seine ansehnlichen Schultern. Dabei blieb sein Blick an einem Tisch mit Kriminalromanen

Der Mörder schlug den Mantelkragen hoch und stapfte durch den Schafkot zur Bushaltestelle. Irgendwo bellte ein Hund.

»Verkaufen Sie viele von diesen Heidekrimis?« fragte Gerold.

Patz nickte. »Hunderte.«

»Und wie viele Breddelohs haben Sie im letzten Quartal verkauft?«

»Jedenfalls mehr als die von seinem schärfsten Konkurrenten Waldemar König aus Schneverdingen. Der schreibt auch nur lauter Heidekrimis. Für die haben wir einen eigenen Tisch eingerichtet. Wollen Sie mal sehen?«

Es lagen dort Bücher mit Titeln wie »Die zersägte Äbtissin«, »Die Heidegrabschänder« und »Die Blutmühle von Barum« aus.

»Das scheint ja ein einträgliches Marktsegment zu sein«, sagte Kommissarin Fischer.

»Segment?« Detlev Patz lachte so trocken auf, wie er konnte. »Das ist kein Segment! Die Kunden kaufen praktisch überhaupt keine anderen Bücher mehr! Versuchen Sie mal, denen was von Goethe oder Arno Schmidt schmackhaft zu machen!«

Kommissar Gerold sah ihn groß an. »Arno wer?«

»Arno Schmidt«, sagte Patz. »Der hat auch in der Lüneburger Heide gewohnt. Aber nicht, daß Sie den jetzt auch noch verdächtigen. Arno Schmidt ist schon 1979 gestorben.«

Kommissarin Fischer empfing einen Anruf und sagte dann: »Chef? Ich meine, Gerold?«

»Ja?«

»Neuigkeiten. Wir haben Breddelohs Wagen. Leider ausgebrannt. Auf einem Acker zwischen Becklingen und Bostelwiebeck.«

»Zwischen wo?«

»Zwischen Becklingen und Bostelwiebeck.«

 

Bevor sie losfuhren, um Alwin Peters zu verhören, drückte Kommissarin Fischer ihrem Chef im Auto Armin Breddelohs Roman »Heidefieber« in die Hände. Auf Seite 204 stand:

Mit einem Schuhlöffel klaubte Lamborghini-Uwe dem Posaunisten das rechte Auge heraus.

»Haben Sie doch Erbarmen«, wimmerte der Musiker. »Ich bin ein Vater von drei Kindern!«

»Nein, von drei Halbwaisen«, sagte Lamborghini-Uwe und riß ihm auch das andere Auge heraus. Dann setzte er ihm mit einer Spezialzange zwei Glasaugen ein und schnitt ihm die Kehle durch. Weil er das cool fand. Und weil er die Bullen damit schocken wollte.

»Adieu, Monsieur«, sagte er und warf den Toten in den Nixengrund.

Es stiegen drei, vier Wasserblasen auf, und dann versank die Leiche im Morast.

»Das ist ja grauenhaft schlecht geschrieben«, sagte Gerold. »Und was soll das für eine Zange gewesen sein?«

Kommissarin Fischer meinte, daß Herr Breddeloh da wohl zu faul zum Googeln gewesen sei. »Wohingegen unser Täter genau gewußt hat, wie man in so einem Fall vorgehen muß. Er hat das getan, wovon Breddeloh nur phantasiert hat.«

»Na, wenn das Schule machen sollte, sehe ich schwarz für unsere Krimischreiber«, sagte Gerold. »Dann können sie einpacken!«

Unterwegs trommelte er mit den Fingern aufs Lenkrad und singsangte: »Pampa dammtamm, pada tamm, pampa dammtamm, pada tamm …«

Im Profil sieht er noch ganz passabel aus, dachte

Links und rechts sausten die Maisfelder und die Birken vorbei.

»Pampa dammtamm, pada tamm«, sang Kommissar Gerold vor sich hin.

»Ist das irgendein Geheimcode?« fragte Kommissarin Fischer.

»Quatsch. Ich brüte nur gerade die Melodie für einen Song aus. Ich hab da so ’ne Garagenband. Schon seit Jahren …«

»Und wie heißt die?«

»Das wollen Sie nicht wissen.«

»Doch.«

Er warf ihr einen Seitenblick zu. Eine Liaison mit dieser jungen Kollegin kam nicht in Frage. Erstens würden sich alle darüber das Maul zerreißen, zweitens gab es da den Altersunterschied, und drittens …

»Reden Sie sich’s von der Seele, Chef. Sie wissen doch, wie sehr einen Geständnisse erleichtern.«

»Sie sollten Gerold zu mir sagen.«

»Gut. Ich merk’s mir. Und wie heißt nun Ihre Band?«

»Gerold Gerold and the Middle Agers.«

Es entging ihm nicht, daß sie sich auf die Unterlippe biß.

»Und wovon handelt der Song?« fragte Kommissarin Fischer.

»Von einem Computerspiel. Fortnite.«

»Nie gehört.«

»Kombiniere, kombiniere: Sie haben keine Kinder.«

»Richtig.«

»Und das halten Sie für bedenklich?«

»Sagen wir’s mal so: Es kotzt mich an. Und der Refrain ist schon fast fertig: ›Fort mit Fortnite, weg damit! Spiel nicht diesen Killefit!‹«

»Killefit?«

»Kennen Sie das Wort nicht?«

»Nein.«

Kommissar Gerold kratzte sich am Kiefer und fragte sich, ob diese Frau überhaupt von irgendwas eine Ahnung hatte.

 

Alwin Peters lachte lange und herzlich, nachdem er begriffen hatte, daß er verdächtigt wurde, Armin Breddelohs Mörder zu sein. »Entschuldigen Sie bitte meine Heiterkeit«, sagte er und hielt sich seinen dicken, vor Vergnügen bebenden Bauch. »Aber da sind Sie auf dem Holzweg! Ich habe Herrn Breddeloh immer für einen Dünnbrettbohrer gehalten, aber ich habe ihm nie nach dem Leben getrachtet.«

»Sie haben die Buchhandlung Patz um kurz vor zehn verlassen«, sagte Kommissarin Fischer. »Wo sind Sie dann hingegangen?«

»Zum Bahnhof. Und um zehn nach zehn bin ich in den Metronom gestiegen. Die Fahrkarte müßte hier noch irgendwo rumliegen. Ich kann Ihnen sogar zwei Zeugen für mein Alibi nennen, denn der Schaffner, der meine Fahrkarte kontrolliert hat, ist ein Vetter von mir, und der Taxifahrer, der mich heimgefahren hat, ist ein Schwager meiner Nachbarin.«

»Gibt es einen tieferen Grund dafür, daß Sie Herrn Breddeloh vor versammelter Mannschaft angegriffen haben?« fragte Kommissar Gerold.

Peters räusperte sich. »Ich bin Literaturkritiker«, sagte er. »Ich habe Herrn Breddeloh wegen seiner Schlamperei zur Rede gestellt.

Kommissar Gerolds Blick schweifte über die Rücken der Bücher in den Regalen. »Haben Sie die alle gelesen?« fragte er.

 

»Chef, ich meine, Gerold«, sagte Kommissarin Fischer, als sie wieder im Wagen saßen, »jetzt mal ernsthaft: Was wollten Sie mit dieser bescheuerten Frage bezwecken?«

»Das hat mich halt interessiert«, sagte er. »Wenn einer seine Bude dermaßen mit Büchern vollstopft, kann man das doch fragen …«

»Aber uns ist hoffentlich beiden klar, daß Alwin Peters als Verdächtiger ausscheidet.«

»Ja. Leider. Und jetzt sollten wir uns mal diesen Waldemar König vornehmen.«

»Den fragen Sie dann aber bitte nicht, ob er die Bücher, die ihm gehören, alle gelesen hat.«

»Und wieso nicht?«

»Weil das nur Idioten fragen.«

Er sah sie an, doch sie blickte geradeaus, und er musterte ihre Adlernase. Andere Frauen hätten sich einen solchen Höcker wegoperieren lassen, dachte er. Aber dafür mußte man wohl ein klein wenig mehr verdienen. Und bei Licht betrachtet sah sie gar nicht so verkehrt aus, diese Nase. Irgendwie indianisch. Oder persisch. Doch man hieß nicht mit Nachnamen Fischer, wenn man indianische oder persische Gene hatte. Es sei denn, daß sich irgendwann eine Indianerin oder eine Perserin in den Stammbaum verlaufen hatte …

Kommissar Gerold schnallte sich an und straffte sich, wobei ihm auffiel, daß es klüger gewesen wäre, sich erst zu straffen und dann anzuschnallen. Im unangeschnallten Zustand hätte er beim Straffen mehr Bewegungsfreiheit gehabt und das Augenmerk der

 

Am Rande von Schneverdingen bewohnte Waldemar König, 48, ein »Nurdachhaus«, das so hieß, weil es keine Seitenwände hatte, und er servierte seinen Besuchern Fencheltee in selbstgetöpferten Keramiktassen. Das alles hätte schon genügt, um Kommissar Gerolds Stimmung zu dämpfen, aber König trug außerdem einen Schnurrbart zur Schau, der waffenscheinpflichtig zu sein schien: ein beidseitig in eine neunfache Spiralform gezwirbeltes Ding, das starke Zweifel an der Intelligenz seines Besitzers nährte.

»Kannten Sie Breddeloh persönlich?« fragte Kommissarin Fischer.

»Nein«, sagte König, und Kommissar Gerold sah angewidert zu, wie der Befragte ein Schlückchen Fencheltee schlipperte und es dabei sorgfältig vermied, seine Barthaare zu benetzen.

»Haben Sie denn mal ein Buch von ihm gelesen?«

»Ja. Diesen Fehler habe ich jedoch nur ein einziges Mal begangen. Über Breddelohs Charakter steht mir kein Urteil zu, aber als Autor ist er ein Stümper gewesen.«

»Und wo waren Sie in der Tatnacht?« fragte Kommissar Gerold. »Zwischen zehn Uhr abends und drei Uhr morgens?«

»In einem Puff in Soltau«, sagte König und lächelte. Vielleicht aus stiller Freude über die Verblüffung, die seine Antwort ausgelöst hatte, vielleicht aber auch nur wegen der süßen Erinnerung an seine Erlebnisse in der Soltauer Lustoase. »Dort hat man mich schon um zwanzig Uhr willkommen geheißen, und wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, bin ich erst um fünf Uhr morgens wieder gegangen. Das können Mandy, Pamela, Daisy und Coco bezeugen.« Er zückte ein Kärtchen und reichte es Kommissar Gerold. »Hier finden Sie alle notwendigen Angaben, was diesen kleinen, exklusiven Club betrifft. Sie können die Damen von mir

Das Lächeln, das Königs Lippen unterhalb seiner Bartgirlanden umspielte, wurde breiter, aber Kommissar Gerold blieb bei der Sache. »Wir werden das überprüfen. Und lassen Sie uns nochmal auf Ihr Verhältnis zu Armin Breddeloh zurückkommen. Seine Krimis sind größere Verkaufsschlager als Ihre eigenen. Sehe ich das richtig?«

Wenn König sich von dieser Bemerkung vor den Kopf gestoßen fühlte, wußte er es gut zu verbergen. Es sei ihm begreiflich, sagte er, daß ein schlichtes Polizistengehirn ihn für den Mörder halte und ihm als Motiv den Neid auf Breddelohs Bestseller unterschieben wolle. »Sehen Sie sich doch mal das Ranking bei Amazon an. Im Hinblick auf Armin Breddelohs Buchverkäufe ist seine Ermordung der größte Glücksfall seines Lebens. Bei den Krimis steht sein neuer Roman jetzt auf dem ersten Platz, und Sie dürfen mir glauben, daß ich keinen Finger gerührt hätte, um irgendetwas zu diesem Hype beizutragen. Haben Sie sonst noch Fragen?«

 

»Dieser ekelhafte, selbstgefällige, fenchelteeschlabbernde Hurenbock mit seinem Kotzbrockenbart!« schrie Kommissarin Fischer, als sie neben Kommissar Gerold wieder im Wagen saß. »Wieso haben wir den nicht gleich in Beugehaft genommen? Wenn ich den mal als Falschparker erwischen sollte, dann gnade ihm Gott!«

Kommissar Gerold unterbrach sie nicht. Er aß ein Snickers, schaute aus dem Fenster und wartete das Ende des Wutausbruchs ab.

Doch sie war noch lange nicht fertig. »Glaubt dieser Pestfetzen im Ernst, daß er was Besseres ist als Armin Breddeloh? Und daß er mit seinem Heidegrabschändermüll den Literaturnobelpreis abgreifen kann? Und was sollte das anzügliche Geläster über Ihre Gehaltsstufe? Darauf ist er wohl auch noch stolz, dieser miese, eingebildete, vernagelte und arrogante Schmierlappen, der sich

»Stammen Sie aus Ostfriesland?«

»Jau!«

»Eigentlich schade, daß Sie Herrn König das alles nicht ins Gesicht gesagt haben.«

»Dat haar ick man daun sullt …«

»Fertig?«

»Weet ick noch neet.«

»Statt zu schimpfen, sollten Sie lieber ein stilles Gebet sprechen und den lieben Gott darum bitten, daß Königs Alibi wasserdicht ist. Oder würden Sie ihn gern ein zweites Mal verhören?«

»Das nicht. Aber Handschellen würde ich ihm schon gern anlegen …«

2

Die Kleinstadt Hachenburg im Westerwald bot ein Bild des Friedens. Fleißige Einzelhändler dekorierten ihre Schaufenster, die örtlichen Taxibetriebe wickelten die Fahrten der Dialysepatienten ab, im Forstlichen Bildungszentrum wurde ein Rezept für Wildkraftbrühe mit Rehnudeln ausgearbeitet, und in der hochklassigen Hähnelschen Buchhandlung in der Wilhelmstraße gingen zwei Dutzend Kriminalromane von Frieder Lindenthal über den Tisch: »Blutiger Westerwald«, »Der Westerwald-Killer« und »Spiel mir das Lied vom Westerwald«.

In diesen Romanen ging es etwas härter zu als im wirklichen Leben. Lindenthal, ein gebürtiger Hachenburger, hatte seine Heimatstadt zum Schauplatz internationaler Bandenkonflikte erkoren, und der Erfolg gab ihm recht: Selbst den Schußwechsel zwischen der GSG 9 und der Todesschwadron eines kolumbianischen

Jetzt heizte er seine Kellersauna an. »Ich bin ein Genießertyp«, hatte er in einer Talkshow verkündet. »Ich gehe gern mal mit mir allein in die Sauna. Dann weiß ich wenigstens, daß ich mich in guter Gesellschaft befinde. Denn ich mag mich! Wer sich selbst nicht leiden kann, der ist auf dem falschen Dampfer …«

Dieser Satz war sogar in der Washington Post zitiert worden:

Those who do not like themselves are on the wrong steamer, as Mr. Lindenthal said, a prominent German novelist.

Ein treuer Leser hatte ihm diese Zeitungsseite zugeschickt. Lindenthals Blick ruhte jedesmal wohlgefällig darauf, wenn er sie wieder hervornahm, und das tat er oft.

Doch nun war eine Runde Schwitzen angesagt. Er hatte an der Gürtellinie etwas zugelegt und wollte Fett verbrennen.

Die Kohlen glühten gemütlich, und er streckte sich auf seinem saugstarken, in pfiffigen Pastelltönen kolorierten Badehandtuch aus gekämmter ägyptischer Baumwolle aus und dachte über seinen nächsten Kriminalromantitel nach. Denn der Titel war ja das eigentliche Tittenpaket. Der mußte Goldstandard haben. Vielleicht »Westerwaldgift« oder »Tod im Westerwald« oder »Den Westerwald sehen und sterben« oder etwas in dieser Richtung …

Wenn Lindenthal ein feineres Gehör besessen hätte, wäre er bereits aufgeschreckt, als die Terrassentür aufgebrochen wurde. Das erste Geräusch, das er bewußt wahrnahm, war eine Art Scharren. Als würde jemand etwas Schweres durch die Diele schleifen. Aber konnte das sein?

Lindenthal stand auf und öffnete die Saunatür.

Stille.

»Ist da wer?«

Eine blöde Frage. Wer hätte da schon sein sollen? Die Putzfrau kam jeden Donnerstagmittag, und heute war Montag. Außerdem hatte sie keinen Schlüssel. Und es besaß auch sonst niemand einen Schlüssel.

Aus diesen Gedanken riß ihn ein Mann, der in die Sauna eindrang und ihm an den Händen und den Füßen Plastikfesseln anlegte, bevor er überhaupt verstand, wie ihm geschah. Mit einer weiteren Fessel fixierte der Einbrecher Lindenthals Hals an der Saunabank.

»Wer sind Sie?« wollte er fragen, doch die Halsfessel engte ihn zu stark ein. Auf der Zunge lagen ihm noch viele weitere Fragen, die er nicht mehr stellen konnte: »Was wollen Sie von mir? Wieso machen Sie das? Geht es um Geld? Muß ich noch beteuern, daß ich dem Phantomzeichner der Polizei gegenüber schweigen werde, obwohl ich Ihr Gesicht gesehen habe? Gehen Sie jetzt weg? Und sind Sie sicher, daß es klug ist, eine Flasche Rapsöl auf die Kohlen zu packen?«

Lindenthal sah richtig: Der Eindringling legte eine Plastikflasche mit einem Liter Rapsöl auf die Kohlen in der Sauna und ging dann hinaus.

Jetzt war Lindenthal klar, was ihm blühte – der gleiche Tod wie einem der Opfer in seinem Roman »Blutiger Westerwald«. Das war in seiner Sauna verbrannt, nachdem der Mörder es gefesselt und von außen einen schweren Grabstein an die Tür gelehnt hatte, damit sie sich von innen nicht mehr öffnen ließ. In Lindenthals

»Stirb, du Schwein«, dachte Rogowski und weidete sich daran, wie Leonhards Haut kross wurde und in Flammen aufging. Es war lustig, die einzelnen Feuerstellen aufspringen zu sehen, während das Leben in Leonhards Augen erlosch …

Als Lindenthal die Plastikflasche schmelzen sah, gab er sich selbst noch zwei Sekunden.

Der Plopplaut, mit dem das Öl explodierte, klang bescheiden, aber das Feuer röstete Lindenthals Haut von der Stirn bis zu den Knien, und der Brand, der darauf folgte, verzehrte ihn bis auf die Knochen.

 

»Das kann kein Einzeltäter gewesen sein«, sagte Hauptkommissarin Elke Farian, als sie das Meßergebnis prüfte. Der Grabstein, den der Mörder an die Saunatür gelehnt hatte, wog neunzig Kilogramm. »Wie soll jemand ganz allein einen derartig schweren Stein die Kellertreppe runtergetragen haben? Und man klaut auf dem Friedhof auch nicht eben mal so einen Grabstein von diesem Kaliber, wenn man nicht mindestens einen Komplizen hat …«

Oberkommissarin Anna Schubert nickte und signalisierte mit zwei Fingern vor dem Mund ihr Interesse an einer Zigarettenpause.

»Gut«, sagte Kommissarin Farian. »Laß uns rausgehen.«

Neben dem Eingang des Gebäudes stand zu diesem Zweck ein sandgefüllter Betonkübel bereit, der nur unregelmäßig geleert wurde. Wer unbedingt rauchen will, schien dieses Ding zu besagen, der kann es zwar tun, doch er soll sich bloß nicht einbilden, daß er oder sie einen hübscheren Aschenbecher verdient hätte.

Die beiden Frauen rauchten eine Weile stumm vor sich hin. Dieser Mordfall bot ihnen viel Stoff zum Nachdenken. Nicht einmal ein Augenbrauenhärchen schienen die Täter in dem Haus zurückgelassen zu haben. Nur den Grabstein und ein paar

»Und was macht deine Urlaubsplanung?« fragte Kommissarin Schubert. »Mecklenburger Seenplatte oder wieder Schiermonnikoog?«

»Weder noch. Mein Mann will ins Gebirge …«

Dann wurde Kommissarin Farian ans Telefon gerufen.

 

»Guten Tag, Frau Kollegin. Hauptkommissar Gerold hier aus Uelzen. Ich hab von Ihrem Fall in Hachenburg gehört. Ist Ihnen bekannt, was bei uns in Bad Bevensen passiert ist?«

»Nein. Überraschen Sie mich.«

Er setzte sie ins Bild.

»Das sind wirklich ganz erstaunliche Parallelen«, sagte Kommissarin Farian. »Und wie kommen Sie voran?«

»Keinen Millimeter. Der Kerl ist ein Phantom.«

»Sie gehen davon aus, daß es nur einer ist?«

»Es ist mir bereits ein Rätsel, wie ein einziger Mensch so wenige Spuren hinterlassen kann. Bei zwei oder drei Tätern würde das schon an ein Wunder grenzen.«

»Vielleicht haben wir’s in Hachenburg ja mit einem Nachahmungstäter zu tun.«

»Möglich ist alles. Das mit den Glasaugen haben wir allerdings nicht an die Öffentlichkeit gegeben.«

»Sehr vernünftig. Halten Sie mich bitte auf dem laufenden über Ihre Ermittlungen.«

»Eine Hand wäscht die andere«, sagte Kommissar Gerold.

Drei Seemeilen nördlich von Spiekeroog machten zwei Aale Jagd auf einen Hering. Er war auf einem Auge blind, seit er in der Nacht zuvor mit einer Makrele gekämpft hatte, und seine Chancen standen schlecht. Auf dem Meeresboden hätte er sich vielleicht in einem gesunkenen Krabbenkutter oder hinter dem versteinerten Backenzahn eines Mammuts verstecken können, aber nicht hier oben, nur ein paar Meter unter der Wasseroberfläche, ohne jeden Schutz durch seinen Schwarm, den er nach dem Zusammenstoß mit der Makrele nicht mehr wiedergefunden hatte.

Er geriet in Konfusion, so wie die meisten Heringe außerhalb ihres Schwarms, und suchte sein Heil in der Flucht. Aber die Aale waren kräftiger und schneller. Mit dem heilen Auge erhaschte der Hering, als er sich umsah, einen Blick auf die spitzen Kieferzähne des einen Aals, der ihn verfolgte, während der andere aus dem toten Winkel auf ihn zuschoß.

Es gab drei Augenzeugen dieser Attacke – einen Petersfisch, einen Heilbutt und einen Froschdorsch –, doch sie gingen auf Distanz. Sie hatten ihre eigenen Erfahrungen mit räuberischen Aalen gesammelt, und es lag ihnen nichts am Leben eines Herings. Wenn er den Appetit seiner Jäger stillte, umso besser.

Auch von der Ohrenqualle, die dort herumschwabbelte, konnte sich der Hering keine Hilfe erhoffen. Quallen und Heringe hatten nie gelernt, einander beizustehen.

Die Rettung kam von oben. Kurz bevor die beiden Aale zuschnappen konnten, fiel aus einem Boot etwas Großes und Blutiges auf sie herab: die enthauptete Leiche von Hobbe Hubertus Schepker, der die Inselkrimis »Mord auf Spiekeroog«, »Selbstjustiz auf Baltrum«, »Totschlag auf Sylt«, »Exitus auf Pellworm« und »Amoklauf auf Amrum« verfaßt hatte.

Ein Dornhai und zwei Zitterrochen, die auch etwas von dem Happen abhaben wollten, verjagten die Aale und fraßen sich am Bauchspeck satt. Das restliche Fleisch reichte in den folgenden Stunden sogar noch für dreihundert andere hungrige Mäuler, denn an seinem Todestag hatte Schepkers Körper zweihundertfünfzig Pfund gewogen. Ohne den Kopf.

 

Am Hafen von Neuharlingersiel roch es nach Seetang und Meersalz, aber das nahm Fritjof Haferland kaum noch wahr, denn danach roch er selbst, und mit seinem Geruchssinn war es nicht mehr weit her, seit er hoch in den Siebzigern stand. Auch sein Gehör hatte gelitten, doch die Augen und die Beine waren noch intakt.

Nach fast sechzig Arbeitsjahren als Fischer versah er zweimal in der Woche vormittags seinen Dienst als Wärter des Buddelschiffmuseums in Neuharlingersiel. Dank einiger Fernsehbeiträge hatte es überregionale Bekanntheit erlangt, und er wies die Besucher immer wieder gern auf die schönsten Modelle hin: Thor Heyerdahls Floß Kon-Tiki, ein Nilschiff mit Zweibeinmast, eine chinesische Dschunke, die sinkende Titanic und ein Atom-U-Boot.

An diesem etwas windigen und regnerischen Vormittag war nicht mit vielen Leuten zu rechnen. Haferland nahm auf einem Stuhl neben der Eingangstür Platz und holte aus seiner Aktentasche eine Zeitschrift heraus, die den Titel Rätsel mit Pfiff trug. Ein Geschenk seiner Großnichte Paula aus Ziallerns.

Südwind am Gardasee mit drei Buchstaben? Besser anderswo ansetzen, sagte sich Haferland. Zugmaschine am Verschiebebahnhof mit zehn Buchstaben? Woher sollte er das wissen? Er suchte sich ein anderes Kreuzworträtsel aus. Erkrankung am Pferdefuß

Den Polizeibeamten sagte Haferland später, daß er das Heft nach einer Viertelstunde weggelegt und einen Rundgang durch das kleine Museum unternommen habe, um nachzusehen, ob irgendwo Staub gewischt werden müsse. Und dann habe er die Flasche mit dem Schädel von Hobbe Hubertus Schepker erblickt. An der Stelle, wo sonst die chinesische Dschunke gestanden habe. »Un ick dach’, mi draapt de Slag! Daar stunn ick tomaal de Mann tegenöver! Of beter geseggt, sien Kopp! Oog in Oog!«

 

»Ja … ja … ja … verstehe … was? Das kann doch wohl nicht sein! … Aha … ja … ja … und wie soll das funktioniert haben? … Verstehe … gut … ja … tun Sie das … nein, wir stochern hier noch im Nebel … ja … danke …«

Kommissar Gerold legte auf, glotzte Löcher in die Luft und ließ die Unterlippe hängen.

»Bad news?« fragte Kommissarin Fischer.

Er sah sie an. »Das können Sie laut sagen. Unser Mann hat wieder zugeschlagen. Falls es wirklich unser Mann ist.«

»Und wo?«

»In einem Kaff an der Nordseeküste. Hat einem Krimischreiber aus Jever den Kopf abgehackt und ihn in einem Buddelschiffmuseum ausgestellt. In einer Glasflasche. Und die Kollegen fragen sich, wie er den Schädel da reingekriegt hat.«

»Und?«

»Zur Stunde ist die einzige Erklärung die, daß er ein Glasbläser ist und das Flaschenglas um den Schädel herumgeblasen hat.«

»Schwachsinn«, sagte Kommissarin Fischer. »Wie soll denn das gehen?«

Zum erstenmal fiel ihr jetzt auf, daß sich unter Gerolds Augen Tränensäcke bildeten. Die Vorboten des Alters. Noch recht unscheinbar, denn er war ja erst Anfang vierzig, aber hey, noch

»Das ist alles noch unklar«, sagte Gerold. »Die Flasche und der Schädel werden jetzt von der KTU untersucht. Wenn hier tatsächlich ein Serienmörder am Werk ist, dann hat er mehr drauf als Jack the Ripper, Fantomas und David Copperfield zusammen. Was aber nicht heißt, daß wir ihn nicht drankriegen können …«

4

Der Zellersee in der baden-württembergischen Gemeinde Kißlegg im Landkreis Ravensburg war an und für sich eine gute Wahl als Kulisse für seine Kriminalromane gewesen, denn auf den Zellersee und dessen Umgebung war zuvor noch niemand verfallen, und es hatten sich viele Titel angeboten: »Zellerseemord«, »Zellerseeblut«, »Zellerseegift« und »Zellerseetod«. Drei davon hatte Justus Weindl bereits verbraucht, als er nach einem Ohnmachtsanfall mit gefesselten Händen und Beinen wieder zu Bewußtsein kam und sich in Erinnerung rief, was vorgefallen war: Er hatte einem Paketboten die Tür geöffnet und war k.o. geschlagen worden. Und nun lag er hier in seinem Jacuzzi. Nackt, gefesselt und mit schweren Fußkugeln zur Unbeweglichkeit verurteilt.

»Wollet Sie mai Geld?« fragte er den Einbrecher, der aus dem Nebenraum auf einer Sackkarre ein großes graues Objekt hereinschob. Was war das? Ein Bierfaß?

»I hon vill Geld gbunkerd!« rief Weindl. »Damit könndet Sie sich einen schöna Lebensabend uf Ibiza macha! Wäre des ned schee?«

Der Einbrecher hatte es jedoch weder auf Geld noch auf Wertgegenstände abgesehen. Er stellte das Faß ab und rollte die Sackkarre wieder hinaus.

Jede Zeile dieser Szene stand Weindl wieder vor Augen:

»Ich serviere dir zwei Gänge«, sagte der Unbekannte und kippte das erste Plastikfaß aus. Fünfzehn Löwenmähnenquallen schwappten in das Wasser. Sie gehörten zum Stamm der Nesseltiere und gesellten sich sofort zu dem rosaroten Menschenleib, der ihnen keinen Widerstand leisten konnte. Mit ihren Tentakeln riefen sie eine starke allergische Reaktion hervor. An Steinmaiers Haut auf den Beinen und am Gesäß bildeten sich rötliche Quaddeln.

»Holen Sie mich hier raus!« schrie er. »Ich gebe Ihnen alles, was Sie wollen!«

»Zu spät«, knurrte der Unbekannte und kippte das andere Faß aus. »Hier kommt der nächste Gang, mein Herr …«

Eine zwei Meter lange Streifenruderschlange, deren Biß tödlich war, glitt aus dem Wasserschwall und steuerte Steinmaiers haarige linke Wade an. Der Homo sapiens fiel zwar nicht in ihr Beuteschema, aber wie hieß es so schön? In der Not frißt der Teufel Fliegen …

Und diese Schlange war wirklich außergewöhnlich hungrig. Dafür hatte ihr Eigentümer umsichtig gesorgt. Falls »Eigentümer« der richtige Ausdruck war, denn er hatte sie illegal erworben, in Doha am Persischen Golf, und sie nach Deutschland geschmuggelt, um ein bißchen Spaß mit ihr zu erleben.

Nun war es soweit. Steinmaier brüllte und bäumte sich auf, das

Aber wie, fragte sich Weindl, soll dieser Wahnsinnige, der mich überfallen hat, an eine Streifenruderschlange gekommen sein? Oder an fünfzehn Löwenmähnenquallen? Das hier war das reale Leben und nicht irgendeine Räuberpistole, in der sich die Gesetze der Wahrscheinlichkeit nach Belieben außer Kraft setzen ließen …

»Falls Sie sich gerade an ein bestimmtes Romankapitel erinnert fühlen sollten«, sagte der Einbrecher, während er das zweite Faß hereinrollte, »dann beglückwünsche ich Sie zu Ihrer Intuition. Sie haben richtig geraten. Ich habe weder Kosten noch Mühen gescheut, um für unser Treffen alles so zu arrangieren, wie es Ihren Vorstellungen entspricht. Oder sollte ich sagen: für unser kleines Picknick?«

In der Hoffnung, aus dieser Nummer doch noch herauszukommen, prägte Weindl sich das Äußere des Einbrechers gut ein: Mitte fünfzig, glattes schwarzes Haar, kurzgeschnitten, Blumenkohlohren, hellbraune Augen, hohe Stirn, breite Wangenknochen, breite Nase, Kinngrübchen, muskulös, Größe ungefähr eins achtzig, schwarze Lederjacke, rotes Oberhemd, blaue Leinenhose … und an den Füßen keine Schuhe, sondern … ja, was? Gefrierbeutel? Jedenfalls irgendwas aus Plastik. Solche Treter, wie Mark Wahlberg sie im Finish des Thrillers »The Departed« getragen hatte, um beim Mord an Matt Damon keine Spuren zu hinterlassen.

»Dann wollen wir mal«, sagte der Einbrecher und löste den Deckel vom ersten Faß. »Hier kommt das Vorgericht. Ach nein, verzeihen Sie, ich wollte sagen: Hier kommen ein paar Dinnergäste. Denn das Vorgericht sind Sie ja selbst.«

»Wardet Sie!« rief Weindl. »Könna mir darübr ned no mol

»Geld ist nicht alles«, sagte der Einbrecher und schüttete das Faß aus, in dem sich, wie versprochen, fünfzehn Löwenmähnenquallen befanden. An Süßwasser waren sie nicht gewöhnt, doch es gab da ja jemanden, an dem sie ihren Ärger auslassen konnten.

Weindl wand sich und schrie: »Des könnet Se mir ned andun! Womid soll i des verdiend han? Saget Sie mir des!«

»Der Kavalier genießt und schweigt«, sagte der Einbrecher und öffnete das zweite Faß. »Gestatten: Mister Hydrophis cyanocinctus. Es freut mich, Sie mit Herrn Justus Weindl bekanntmachen zu dürfen, der seinen Lesern schon viel von Ihnen erzählt hat. Er ist ganz versessen darauf, Sie näher kennenzulernen …«

»Dun Se des ned!« schrie Weindl, doch der Einbrecher hatte das Faß bereits angekippt, und die ausgehungerte Streifenruderschlange, die herausschnellte, hielt sich nicht mit Formalitäten auf. In der freien Wildbahn hätte sie als Leckermäulchen einen großen Bogen um jemanden wie Justus Weindl gemacht, aber unter diesen Umständen nahm sie jedes Nahrungsangebot an.

Die letzte klar artikulierte Äußerung, die er von sich gab, lautete: »Des werd i Ihna heimzahla!«

Worauf der Einbrecher erwiderte: »Von mir aus gern. Aber womit? Das letzte Hemd hat keine Taschen, Herr Weindl.«

 

Waldemar König bollerte mit der Faust auf den Tisch. »Wenn das so ist, will ich Ihren Vorgesetzten sprechen!«

»Wie Sie wünschen«, sagte Kommissar Gerold bedächtig. »Der wird Ihnen aber auch keine andere Auskunft erteilen können.«

»Und warum nicht? Ich schwebe in Lebensgefahr!«

»Herr König, haben Sie sich mal angesehen, was bei Wikipedia unter dem Stichwort Regionalkrimi steht? Da werden allein für Deutschland mehr als einhundert Autoren verzeichnet! Wenn wir

»Sparen Sie sich Ihre Schmähungen«, versetzte König. »Ich verlange nur für mich persönlich Polizeischutz! Weil ich besonders stark gefährdet bin. Diese Mordserie hat in der Lüneburger Heide begonnen, und ich bin nun mal der prominenteste lebende Autor von Kriminalromanen, die hier in der Heide spielen!«