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Sima G. Sturm

MEHR SCHEIN ALS SEIN

Kriminalroman

© 2020

édition el!es

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Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-306-7

Coverfotos:
iStock.com/IgorKovalchuk
iStock.com/violettenlandungoy

Freitag, 6. Juli

»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?« Wieke wedelte energisch mit der Hand vor Hannas Gesicht herum.

»Äh, was hast du gesagt?« Hanna wusste ganz genau, dass das nicht das war, was Wieke hören wollte, aber ihr Blick hing an einer jungen Frau, die in der gut gefüllten Hafenkneipe immer ganz dicht an den besetzten Barhockern und um die Tische herumschlich. Allein dieser Umstand ließen bei ihr die Alarmglocken läuten.

»Ich dachte, du wolltest etwas sagen«, erwiderte Wieke spitz. »Ich dachte«, sie machte eine bedeutungsvolle Pause, »wir wollten über unsere Beziehung reden.«

Wieder zog der freche Kurzhaarschnitt der blonden jungen Frau Hannas Blick an. »Ähm . . . ja . . . klar . . . unsere Beziehung . . .«, murmelte sie abwesend, während sie die Blondine mit Argusaugen beobachtete.

Eigentlich hatte Wieke schmale Hände, aber als sie eine davon nun zur Faust geballt vor Hanna auf den Tisch donnerte, hätte man das gar nicht vermutet.

Instinktiv hielt Hanna ihr Bierglas fest und spürte im selben Moment, wie ein paar Spritzer des Weizengebräus auf ihren Unterarm tropften. »Was ist los mit dir?«, fragte sie überrascht.

Wieke schnappte laut nach Luft. »Was mit mir los ist? Sag mal, spinnst du? Wir wollten über unsere Beziehung reden, aber du hast nichts Besseres zu tun, als anderen Weibern hinterherzustarren. Ihr Blick durchbohrte die junge Frau in den abgewetzten Jeans fast, die Hanna immer noch nicht aus den Augen ließ.

Schwupps. Schon versanken flinke Finger in einer Jackentasche, die über einer Stuhllehne hing. Abrupt sprang Hanna auf. »Entschuldige Wieke, wir reden gleich weiter. Dauert nicht lange.« Die Worte, die ihre Freundin ihr noch hinterherrief, wurden von den Kneipengeräuschen verschluckt. Hanna kümmerte sich nicht darum. Sie hatte nur noch ein Ziel vor Augen: sich die kleine Diebin zur Brust zu nehmen, bevor die noch das Weite suchte.

Sie glitt zwischen den Sitzgruppen entlang, bis sie direkt hinter der Blondine, die sich bereits dem nächsten Zielobjekt – eine Geldbörse, die aus einer Gesäßtasche hervorlugte – widmete, zum Stehen kam. Hanna beugte sich leicht nach vorn, sodass sie fast den Kopf der Taschendiebin streifte. »An Ihrer Stelle würde ich das lassen. Ansonsten muss ich Sie jetzt verhaften«, sagte sie mit gedämpfter, aber eindringlicher Stimme.

Wie vom Blitz getroffen schoss das Haupt der jungen Frau in die Höhe. Beinahe wäre sie mit dem Hinterkopf gegen Hannas Nase geknallt, die gerade noch so zurückweichen konnte. Fast schon zeitlupenartig drehte sich die Blondine nun zu Hanna um. Ihre blaugrauen Augen waren weit aufgerissen, und der Ausdruck in ihrem Gesicht spiegelte blankes Entsetzen wider. »Scheiße«, entfuhr es ihr, und es hörte sich fast wie ein Stöhnen an.

Jetzt erschien die Frau Hanna sogar noch jünger. Ihr gehetzter Blick suchte links und rechts nach einer Fluchtmöglichkeit. Und auch wenn sie versuchte, das unauffällig zu tun, so hatte Hanna es doch sofort bemerkt. Unwillkürlich glitt ihr ein leichtes Schmunzeln über die Lippen, ehe sie wieder ein unnachgiebiges Gesicht aufsetzte. Ihr Gegenüber fest im Blick bewegte Hanna ihren Kopf nur ein wenig hin und her. »Vergiss es. Oder du handelst dir gleich eine gehörige Portion Ärger ein«, warnte sie die junge Frau, etwas Unüberlegtes zu tun. »Wie heißt du?«, fragte sie.

»Niki«, kam es schmallippig zurück. Sie trat von einem Bein aufs andere. Ihre Unruhe war ihr deutlich anzusehen.

»Niki wie Nicole oder Nikita? Hast du vielleicht auch einen Nachnamen?«, fragte Hanna weiter. Doch dafür erntete sie nur ein Schulterzucken. Sie seufzte auf. »Erst klauen wie ein Rabe und dann auch noch unkooperativ sein.«

Die junge Dame zog eine Schnute wie ein kleines, bockiges Kind. »Bist du etwa ein Bulle oder warum willst du das wissen?«, reagierte sie auffallend schnippisch. Offenbar hatte sie sich von ihrem ersten Schock erholt. Am widerspenstigen Ausdruck in ihren Augen erkannte Hanna, dass sie gerade abwog, wie weit sie noch gehen konnte.

Herausfordernd hob Hanna eine Augenbraue und erwiderte den finsteren Blick. »Nein, ich bin der barmherzige Samariter. Liebe deinen Nächsten und so weiter. Du verstehst mich?« Den spöttischen Unterton konnte sie sich nicht verkneifen. Und erzielte damit genau die Wirkung, die sie sich erhofft hatte. Die Blondine zuckte unvermittelt zusammen. »Du wirst jetzt auf der Stelle zurückgeben, was du eben aus der Jacke da vorn – mit einem Kopfnicken wies sie in die Richtung – unberechtigterweise an dich genommen hast. Und versuch mich ja nicht zu verarschen«, schob sie noch eine Warnung hinterher.

Nun senkte die junge Frau die Augenlider, während sie sichtlich nervös auf ihrer Unterlippe kaute. Sie wirkte mit einem Mal richtig niedergeschlagen und stand wie ein Häufchen Elend vor Hanna. Die Arme hingen jetzt schlaff an ihr herunter. Schließlich nickte sie zögernd. Offenbar hatte sie sich entschieden, und Hanna hoffte, dass die Kleine das Richtige tat. Sie wollte um keinen Preis Aufsehen erregen und sich hier als Super-Cop aufspielen. Sie war ja nicht mal im Dienst. Und hinter ihr, am Tisch in der Ecke, wartete immer noch Wieke auf sie, der sie auf jeden Fall eine Erklärung schuldete.

Die rechte Hand der Frau verschwand unvermittelt in der großen Seitentasche ihres Hoodies. Es war purer Reflex, dass Hanna automatisch eine Habachtstellung einnahm. Ihre Hände hoben sich vor ihren Oberkörper, um einen plötzlichen Angriff besser abwehren zu können.

Mit einem misstrauischen Blick, wobei sie die Augenbrauen ein wenig zusammenzog, musterte die Blondine Hanna. Fast hatte es den Anschein, als checkten sie sich gegenseitig ab. Dann, mit einem Ruck, wandte sich Niki, oder wie auch immer die Frau tatsächlich hieß, ab und schwebte leichtfüßig wie eine Elfe zu besagter Jacke. Im Vorbeigehen zog sie ihre Hand aus dem Pullover und ließ das Portemonnaie geschickt in die Jackentasche zurückgleiten. Anschließend drehte sie sich noch einmal kurz zu Hanna um, die sie nicht aus den Augen gelassen hatte, und verschwand im nächsten Moment von der Bildfläche, als ob sie sich in Luft aufgelöst hätte. Selbst nachdem sie ertappt worden war, schien sie von ihrer Behändigkeit nichts eingebüßt zu haben.

Hanna blieb stirnrunzelnd zurück. Hätte sie das Mädel nicht trotzdem festnehmen müssen, um sie dann den Kollegen vom Streifendienst zu übergeben? Wer weiß, was sie noch alles geklaut hat. Hanna wusste ja gerade mal ihren Vornamen. Und ob der überhaupt stimmte, war auch dahingestellt.

Nachdenklich drehte sie sich um, um zu ihrem Tisch und zu Wieke zurückzukehren. Doch schon auf halbem Wege musste sie erkennen, dass der Platz nicht mehr besetzt war. Ihre Freundin war einfach abgehauen? Sie war doch keine fünf Minuten weggewesen.

Unmut machte sich wie ein Geschwür in ihr breit, als sie einen kleinen Zettel auf der Mitte des Tisches erblickte. Ohne wirklich zu verstehen, las sie die Zeilen, die in einer Sauklaue dahingekritzelt und ein Beleg dafür waren, dass sie eilig und lieblos verfasst worden waren. »Das darf doch nicht wahr sein«, fluchte sie leise. Wieke hatte es tatsächlich fertiggebracht, eine zweijährige Beziehung mit ein paar Wörtern und auf ziemlich unpersönliche Art und Weise zu beenden. Und was bitte schön wollte sie ihr denn mit dem letzten Satz sagen?

Ich habe eine andere Frau kennengelernt, die meine Vorzüge eindeutig zu schätzen weiß.

»Großartig. Schön für dich«, grummelte Hanna, während sie sich ächzend auf den Stuhl fallenließ, als hätte sie plötzlich einen Schwächeanfall. Nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, mischte sich Einsicht unter die Gefühlswallungen, die sie regelrecht überschwemmt hatten. Wieke hatte ja recht. Sie war mehr mit ihrem Beruf liiert und hatte sich viel zu wenig Zeit für ihre Partnerin genommen. Die Aufmerksamkeit, die sie ihr geschenkt hatte, war in den letzten Monaten immer spärlicher geworden.

Seufzend strich Hanna sich über die Augenlider. Sie war schon immer ein Workaholic. Aber während ihrer Verliebtheitsphase hatte das keine Rolle gespielt. Doch der Rausch war viel zu schnell dem Alltag gewichen, und als Ermittlerin der Mordkommission in Rostock war sie oftmals mehr auf Arbeit als zu Hause. Ihre Beziehung war schon zum Scheitern verurteilt, noch bevor sie es bemerkte. Wie ein schleichendes Gift, das langsam und unsichtbar seine tödliche Wirkung entfaltete.

Vor sich hingrübelnd verließ Hanna schließlich die Kneipe. Ihren blauen Ford Mustang hatte sie in der Nähe des Warnemünder Bahnhofes geparkt. Es war kurz nach Mitternacht, und ein paar Regentropfen benetzten ihre unbedeckten Arme. Doch noch immer war es schwülwarm. Nach wenigen Metern klebte das trägerlose Shirt an ihrem verschwitzten Körper.

Mitten in ihre Gedanken hinein mischte sich plötzlich ein seltsames Gefühl, so als würde sie beobachtet werden. Eine Gänsehaut kroch ihr über den Rücken hinauf zum Nacken, und sofort stellten sich die kleinen Härchen auf. Sie atmete tief die salzige Meeresluft ein. Jetzt nur nicht verrücktmachen lassen. Vielleicht bildete sie sich das auch bloß ein, und die aufkommende Müdigkeit spielte ihr einen kleinen Streich.

Doch dann sah Hanna sie. Schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite, saß eine brünette Schönheit in einem schwarzen BMW bei laufendem Motor und heruntergelassener Fensterscheibe. Sie schien allein zu sein. Augen, deren Farbe Hanna nicht erkennen konnte, fixierten sie regelrecht, und dies auch noch ziemlich ungeniert.

Wieso starrt sie mich denn so an?, fragte Hanna sich verwundert. Normalerweise wäre sie jetzt einfach weitergegangen, doch irgendetwas faszinierte sie an der Fremden. Also entschloss sie sich, entgegen ihrer Art, die Frau direkt anzusprechen.

Aber die schien zu wissen, was Hanna vorhatte, noch ehe sie überhaupt einen Schritt auf die Straße setzte. Ihr rechter Mundwinkel hob sich zu einem spöttischen Grinsen. Dann trat sie auch schon aufs Gas und rauschte mit heulendem Motor dicht an Hanna vorbei. Ihre langen, braunen Haare wedelten im Fahrtwind. Es sah ein bisschen so aus, als würden sie Hanna zuwinken.

Samstag, 7. Juli

Helene Fischers Herzbeben riss Hanna unsanft aus dem Schlaf. Sie riss die Augen auf und starrte ungläubig auf ihr Handy, das vibrierend auf dem Nachtschränkchen lag. Herzbeben? Von wegen. Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie vermutlich gerade erst eingenickt war, nachdem sie sich die halbe Nacht mit trübsinnigen Gedanken herumgeplagt hatte.

»Wer stört mich zu dieser Uhrzeit?«, meldete sie sich schlaftrunken und erstickte damit die jetzt einfach nur nervtötende Melodie im Keim.

»Eine Leiche im Kurpark Warnemünde.«

Hanna verzog augenrollend das Gesicht. »Eine Leiche wird mich wohl kaum anrufen«, grummelte sie. Sie war noch viel zu verschlafen, daher brauchte sie einen Moment, bis sie die Stimme ihres Vorgesetzten, Hauptkommissar Stefan Meier, erkannte. »Moin, Chef«, sagte sie schließlich.

»Guten Morgen, Hanna. Tut mir leid, dass ich dich an deinem freien Wochenende stören muss«, entschuldigte er sich. »Aber der Kriminaldauerdienst hat mich gerade angerufen. Die Kollegen sind völlig ausgebucht, und die Bereitschaftskraft auf dem Revier geht nicht ans Telefon. Könntest du den Fall übernehmen? Am Montag hättest du ihn sowieso auf dem Tisch.«

Ja, aber eben erst am Montag, dachte sie, sagte es aber nicht. »Bin schon so gut wie unterwegs«, antwortete sie stattdessen. Hanna ließ ihren Kopf und die Schultern kreisen, um ihre Nackenmuskulatur zu lockern.

»Prima. Die Kollegen werden es dir danken.«

»Ja, ja.« Hanna lachte leicht. »Da bin ich aber mal gespannt.«

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, schwang Hanna sich sofort aus dem Bett. Während sie sich etwas frischmachte und in ihre Klamotten schlüpfte, dachte sie daran, dass sie noch gestern Abend ganz in der Nähe an der Westseite des Alten Stroms gewesen war. Der Kurpark war nur wenige Querstraßen entfernt. Sie selbst wohnte und arbeitete in Rostock. Das Ostseebad Warnemünde, ein Stadtteil im Norden der Hansestadt, fiel daher auch in das Zuständigkeitsgebiet der Kripo Rostock.

Auf dem Weg zum etwa fünfzehnminütig entfernten Tatort hatte sie gleich mit mehreren Verkehrsrowdys zu kämpfen. »Diese halbstarken Spinner«, fluchte sie und drückte auf die Hupe. Es war Samstagmorgen, und die letzten Nachtschwärmer fuhren jetzt vermutlich gerade erst nach Hause. Dann wurde die Bundesstraße gern mal als Rennstrecke und für waghalsige Überholmanöver missbraucht.

Als sie glücklicherweise heil am Kurpark eintraf, stellte sie zufrieden fest, dass bereits großräumig abgesperrt worden war und die Kriminaltechniker und Dr. Weiland, der Rechtsmediziner, mit ihrer Arbeit schon begonnen hatten.

Der Boden unter ihren Füßen war noch etwas feucht, weil es in der Nacht geregnet hatte. Sie hob das Polizeiabsperrband an und glitt darunter hindurch.

Eine ältere, uniformierte Polizeihauptmeisterin erwartete sie bereits und begrüßte sie freundlich. Sie sah müde aus. Vermutlich war sie noch von der Nachtschicht, die eigentlich bereits zu Ende war. So brachte sie Hanna auch ohne Umschweife auf den aktuellen Stand.

»Das Opfer, eine junge Frau, soweit ich sehen konnte, lag bäuchlings im Gras.« Sie blickte auf ihren kleinen Notizblock, den sie in den Händen hielt. »Ich konnte etwas Blut am Hinterkopf entdecken«, fuhr sie fort. Ihr Blick schweifte kurz zum Leichenfundort hinüber. »Mit den Kriminaltechnikern und dem Doktor habe ich noch nicht gesprochen. Ich dachte, das überlasse ich Ihnen.«

»Natürlich.« Hannas Mundwinkel zuckten. Aus Erfahrung wusste sie, dass die Streifendienstkollegen bei derartigen Kriminalfällen immer froh waren, wenn dann die zuständige Kripo vor Ort kam und sich der Sache annahm.

Mit etwas gerecktem Hals versuchte sie, einen Blick auf die Leiche zu werfen. Inzwischen hatten ihre Kollegen jedoch einen Sichtschutz davor aufgebaut, um zu verhindern, dass Touristen, die sich auch um diese Zeit schon hierher verirren konnten, ihre Sensationslust mit Handy- oder Kameraaufnahmen befriedigten.

»Der betagte Herr da drüben hat sie gegen halb fünf gefunden. War mit seinem Hund Gassi.« Sie rollte übertrieben mit den Augen. »Wie kommt man bloß auf die Idee, in dieser Herrgottsfrühe mit seinem Hund spazieren zu gehen? Das würde mir im Traum nicht einfallen«, brummte sie kopfschüttelnd.

Hanna lächelte. »Das können wohl nur Hundebesitzer verstehen.« Sie schaute hinüber zu dem alten Mann, der einen Rauhaardackel an der Leine führte und die Absperrung hoch- und runterspazierte. »Hat sonst wer noch was gesehen?«, fragte sie.

Erneut schüttelte die Kollegin den Kopf. »Wir haben keine weiteren Zeugen angetroffen.« Diesmal lag Bedauern in ihrer Stimme. »Den Klamotten nach war das Opfer bestimmt nicht das Tanzbein schwingen. Sieht mir eher nach einer Streunerin aus. Aber wer kann das bei der heutigen Jugend schon wissen.« Sie zuckte die Schultern und klopfte nun schweigend mit ihrem Kugelschreiber auf dem Notizblock herum.

»Okay, ich übernehme dann mal hier. Kann ich das haben?« Hanna zeigte schmunzelnd auf das Blatt mit den wenigen Notizen. Sie streckte die Hand aus und nahm den Zettel entgegen. »Ich bräuchte aber noch ein paar Uniformierte hier zur Absicherung, die die Gaffer zurückhalten. Wird nicht mehr lange dauern, und dann kommen die Touristen angerannt«, erklärte sie augenzwinkernd.

Die Hauptmeisterin hob einen Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen an. »Unsere Ablösung dürfte gleich da sein«, sagte sie. Und im selben Moment kamen zwei Streifenwagen angefahren. »Passt doch.« Sie lächelte verschmitzt und tippte sich an die Polizeimütze.

Hanna nickte ihr zur Verabschiedung kurz zu. Dann ging sie über die Wiese. Dabei achtete sie darauf, nicht auf mögliche Spuren zu trampeln.

Als erstes wollte sie mit dem Rechtsmediziner sprechen und selbst einen Blick auf das Todesopfer werfen.

Doch kaum hatte sie den Sichtschutz passiert, wodurch sie einen freien Blick auf die Leiche bekam, da erstarrte sie. Oh, mein Gott. Sie schaute auf den leblosen Körper zu ihren Füßen. Die Begrüßung von Dr. Weiland nahm sie nur wie durch einen Schleier wahr.

Ein einziger Blick hatte genügt. Die zerschlissene Jeans, der schwarze Kapuzenpullover und die blonde Fransenfrisur, die nun gar nicht mehr so keck wie gestern Abend in der Kneipe aussah. Das Opfer war Niki, der sie doch noch vor ein paar Stunden gegenübergestanden hatte.

»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, drangen des Doktors Worte dann doch zu ihr durch. »Sie sehen so blass aus.«

Nur mühsam wandte Hanna sich von dem Anblick ab. Als hätte sie einen Bleigürtel im Nacken, hob sie den Kopf. Ihr Mund fühlte sich staubtrocken an, und so musste sie sich erst räuspern, um vernünftig antworten zu können. »Nein, schon gut. Ich hatte heute Morgen nur noch keinen Kaffee.« Sie versuchte zu lächeln, aber sie wusste selbst, dass ihr das gehörig misslang.

Und so, wie Dr. Weiland sie ansah, konnte sie sich ausmalen, was er dachte. Beruflich hatten sie schon mit vielen Todesfällen zu tun gehabt. Und er kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, dass ihr beim Anblick einer Leiche nicht gleich übel wurde. »Kennen Sie die Frau?«, hakte er prompt nach, weil ihm das wahrscheinlich am logischsten erschien.

Innerlich stöhnte Hanna auf. Sie hätte jetzt einfach ihre Arbeit machen wollen. Stattdessen sah sie sich nun in Erklärungsnot. Ein paar Möwen flogen kreischend über sie hinweg, und sie strich sich seufzend die Haare aus der Stirn. »Ich kenne oder besser gesagt ich kannte sie nicht. Aber ich bin ihr gestern Abend kurz begegnet. In einer Kneipe, unten an der Flaniermeile.« Ihre unruhigen Hände schob sie vorsorglich in die Taschen ihrer Stoffhose. »Können Sie denn schon etwas sagen?«

Der Oberarzt rückte die Brille auf seiner Nase zurecht. »Nun, sie ist noch nicht lange tot. Höchstens fünf Stunden. Aber genau kann ich das natürlich erst nach der Obduktion sagen. Sie wurde mit einem stumpfen Gegenstand niedergeschlagen. Hier, schauen Sie.« Er zeigte mit dem behandschuhten Finger auf die größere Wunde am Hinterkopf. »Vermutlich war sie schon bewusstlos, als sie vornüber ins Gras fiel. In ihren Haaren und oberhalb des Nackens finden sich Reste von Erde. Sieht aus, als hätte man ihr anschließend auf den Kopf getreten. Dadurch wurde ihr Gesicht in den Boden gedrückt, und sie ist erstickt. Aber wie gesagt, Näheres nach der Obduktion.«

Mit zusammengepressten Lippen hatte Hanna die Informationen aufgenommen und in ihrem Kopf abgespeichert. »Danke, Doc«, sagte sie schließlich.

Eine der drei Leute von der Kriminaltechnik trat zu ihnen. Es war Sandra Bommer, eine zierliche Frau. Und in dem weißen Schutzanzug wirkte sie fast ein wenig verloren. Doch ihre Stimme, als sie Hanna freundlich begrüßte, war kraftvoll und sprühte vor Energie. Und auch ihr war offenbar nicht entgangen, dass Hanna aussah, als hätte sie einen Geist gesehen. »Was ist los?«, fragte sie leise.

»Nichts. Alles in Ordnung«, beeilte Hanna sich zu sagen. Sie schielte zu Dr. Weiland hinüber, der sich aber bereits abgewandt hatte und wieder seiner Arbeit nachging. »Hatte sie einen Ausweis oder irgendwas bei sich?«, fragte sie an ihre Kollegin gewandt. Sie musste endlich wieder zu ihrer gewohnten Professionalität zurückfinden. Aber das fiel ihr unfassbar schwer. Immer wieder rauschte nur ein Gedanke durch ihren Kopf: Hätte ich Niki gestern festgenommen, dann würde sie jetzt vielleicht noch leben.

Neben ihr raschelte es, und die Kriminaltechnikerin hielt einen durchsichtigen Beutel hoch. »Das war alles, was wir bei ihr gefunden haben. Ein Portemonnaie mit Bargeld, Ausweis und Kreditkarten. Aber ausgestellt auf einen gewissen – sie drehte den Beutel in ihrer Hand, um den Namen ablesen zu können – Harry Wagner aus Elmenhorst.«

Am liebsten hätte Hanna ihren Frust herausgebrüllt. Doch sie biss sich auf die Zunge und starrte nur regungslos auf den Inhalt der sorgfältig verschweißten Plastiktüte. Verdammt noch mal, sie hätte es wissen müssen. War doch klar, dass die Kleine nicht zum ersten Mal geklaut hatte. Und sie hätte vor allem reagieren müssen, so wie es sich für eine integre Polizistin gehörte. Stattdessen hatte sie Niki einfach so gehen lassen. Und jetzt war das Mädchen tot.

Die Schuldgefühle, die Hanna mit einem Mal überkamen, erdrückten sie fast. Hätte sie die Wahl, dann würde sie den Fall jetzt einfach abgeben. Aber das stand nicht zur Debatte. Sie konnte nur noch eins für Niki tun: ihren Mörder oder die Mörderin finden.

»Ich werde diesen Herrn Wagner mal kontaktieren. Bestimmt vermisst er sein Portemonnaie schon«, murmelte sie geistesabwesend.

Sandra zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Du glaubst, sie hat ihm die Sachen geklaut?« Ihr Blick richtete sich nach unten auf die Tote, und sie schüttelte betrübt den Kopf. »Nun ja, ist schon ziemlich ungewöhnlich, dass sie die Sachen bei sich hatte. Da stimme ich dir zu. Wenn sie eine Diebin war, dann ist sie vielleicht dem Falschen auf die Füße getreten.«

Hannas Glieder schmerzten, weil sie sich immer mehr verkrampfte. »Nun, Harry Wagner wird wohl kaum ihr Mörder sein, um dann noch seine Dokumente bei ihr zurückzulassen«, platzte es ein wenig unbeherrscht aus ihr heraus. Ihre Kollegin blickte sie mit großen Augen an. Nicht nur sie. Auch Dr. Weiland schaute mit verdutzter Miene auf.

Entschuldigend hob Hanna die Hand. Sie war eindeutig neben der Spur und ließ jegliche Professionalität vermissen. »In ein paar Stunden wissen wir sicher mehr. Vielleicht liegt die Tote schon bei uns im System ein, damit wir sie identifizieren können«, fügte sie in gemäßigtem Ton hinzu. Sie spürte die Erleichterung, als Sandra ihr auf beruhigende Art zulächelte und sich wieder auf Spurensuche begab.

Am Tatort gab es für Hanna nichts mehr zu tun. Daher sprach sie noch mal mit dem alten Mann, ihrem einzigen Zeugen bislang. Aber er konnte ihr nichts Neues erzählen.

Sie blickte in alle Richtungen und schätzte die Entfernung zu den Straßen ab, die um den Kurpark führten. Einfamilienhäuser, Residenzen und Hotels gab es in der Umgebung. Aber die vielen Bäume versperrten die Sicht, und der Mord geschah im Schutz der Dunkelheit und mitten im unbeleuchteten Teil des Parks, abseits der Wege. Sie seufzte grübelnd auf.

Schlussendlich wartete sie noch den Abtransport der Leiche ab und verabschiedete sich von Dr. Weiland. Später würde sie ihm einen Besuch in der Rechtsmedizin abstatten, auch wenn das nicht so gern gesehen war. Schließlich konnten alle neuen Informationen auch per Telefon, Fax oder E-Mail übermittelt werden. Aber der Oberarzt hatte schon manchmal eine Ausnahme bei ihr gemacht. Doch während der Obduktion stand man als Polizist eigentlich nur im Weg, und so manch einer musste dann überstürzt den Sezierraum verlassen, weil ihm speiübel geworden war.

Sie ging an einem noch sehr jung aussehenden Polizeimeister vorbei, der seine Mütze in den Händen drehte und ziemlich angespannt wirkte. Anscheinend hatte er noch nicht so viele Leichen zu Gesicht bekommen. Hanna schenkte ihm ein gutmütiges Lächeln, obwohl sie selbst unter Strom stand und ein paar aufbauende Worte gerade hätte gut vertragen können.

Automatisch musste sie an Wieke denken. Seit gestern Abend schien in ihrem Leben einiges schiefzulaufen. Beziehung futsch und jetzt noch ein totes Mädchen, dessen trauriges Schicksal sie hätte vielleicht verhindern oder wenigstens beeinflussen können. Doch andererseits wusste natürlich, dass das Blödsinn war. Niki hätte keine zwei Stunden auf der Wache zubringen müssen, bis man ihre Personalien aufgenommen und den Diebstahl zur Anzeige gebracht hätte. Danach hätte man sie sowieso wieder laufenlassen. Und dann hätte sie ihrem Mörder trotzdem noch begegnen können.

Und dennoch konnte Hanna dieses Wissen keinesfalls beruhigen. Immer wieder schoben sich Bilder in ihr Gedächtnis, wie Niki sie angesehen hatte. Da war Angst in ihren graublauen Augen gewesen. Aber Hanna hatte die ganze Zeit gedacht, dass dies daher kam, weil sie erwischt worden war. Doch je häufiger sich die ganze Szene vor ihrem inneren Auge abspielte, umso mehr kam sie zu der Erkenntnis, dass Niki ihr noch etwas hatte mitteilen wollen. Wenigstens schien sie darüber nachgedacht zu haben, so wie sie Hanna noch einmal angeschaut hatte, kurz bevor sie verschwunden war.

»Was machst du denn hier?« Hanna war am Morgen gerade auf dem Weg ins Büro, als sie Karen Schendler von der Abteilung für Sexualdelikte Gang begegnete. »Hast du etwa eine feuchte Wohnung?«

Karen machte ein betretenes Gesicht. »Es tut mir leid, dass sie dich an deinem freien Wochenende reingeholt haben.« Ihre Miene wurde noch ein bisschen betrübter. »Ich habe Bereitschaft, aber ich habe das Telefon nicht gehört«, gestand sie zerknirscht. »Hab vergessen, es lautzustellen.« Sie blickte zu Boden und strich mit der Schuhspitze über das graue Linoleum.

»Ach was, mach dir keinen Kopf.« Hanna musste schmunzeln. Da passiert ein Mord, und dann hat ausgerechnet jemand von den Sexualdelikten Bereitschaftsdienst. Wie bei den Ärzten. Hat man einen Herzinfarkt, kommt ein Gynäkologe. Sie zwinkerte ihrer Kollegin aufmunternd zu und sagte: »So etwas kann doch mal passieren.«

»Ist dir das denn schon mal passiert?«

Hanna dachte kurz nach. »Nein, ich glaube nicht. Seltsam, oder?« Sie musste über sich selbst lächeln und verzog schon fast entschuldigend das Gesicht, während sie weiter den Gang entlanglief und Karen ihr folgte.

»Der KDD meint, ich soll dich unterstützen. Falls du also Hilfe brauchst?«

Als Hanna unvermittelt wieder stehenblieb, prallte Karen fast auf sie drauf. Es hätte sie nicht verwundert, wenn Karens Schuhsohlen gequietscht hätten, so eine Vollbremsung, wie sie hingelegt haben musste.

Über die Worte nachdenkend drehte Hanna sich wieder zu Karen um. Zum jetzigen Zeitpunkt hatte es noch keinen Sinn, bei der Vermisstenstelle nachzufragen. Sie bezweifelte, dass Niki bereits vermisst wurde. Falls überhaupt irgendjemand sie vermisste. Aber dann fiel ihr doch noch etwas ein. »Du kannst tatsächlich etwas für mich tun«, begann sie. »Könntest du mal recherchieren, ob von einem Harry Wagner aus Elmenhorst ein Diebstahl angezeigt wurde? Die Tote hatte seine Geldbörse bei sich.«

»Aber natürlich«, erklärte Karen sich eifrig bereit. Das schlechte Gewissen musste ihr arg zu schaffen machen. Im Moment würde sie wahrscheinlich jede Aufgabe erledigen, die anfiel. Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief den Gang zurück. Bei dem Tempo hüpfte ihr Zopf auf und nieder. »Ich melde mich, sobald ich was hab«, rief sie noch, ehe sie um die Ecke verschwand.

Hannas Computer hatte offenbar auch Wochenende, so elend lange, wie er brauchte, um das Betriebssystem zu starten. Ungeduldig trommelte Hanna mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. Es war noch zu früh, um jetzt schon ins Institut zu Dr. Weiland zu fahren. Und die Kriminaltechniker waren mit der Tatortarbeit vermutlich auch noch nicht fertig. Sie brauchte erst die Fingerabdrücke oder eine DNA-Probe von Niki, um überprüfen lassen zu können, ob die junge Frau schon mal erkennungsdienstlich behandelt wurde. Sobald sie den Zahnstatus hatte, konnte sie auch eine Anfrage an die kassenzahnärztliche Vereinigung schicken.

Doch im Moment war sie ein bisschen zur Untätigkeit verdammt. Und nichts hasste sie mehr als das. Daher schrieb sie nun doch eine Mail an das Führungs- und Lagezentrum und an die Geschäftsstelle der Fahndungsabteilung, die neuerdings auch die Vermisstenfälle bearbeitete, und gab die wenigen Infos, die sie zu Niki hatte, bekannt. So waren die Kollegen dort wenigstens schon vorinformiert, falls in den nächsten beiden Tagen doch noch eine Vermisstenmeldung einging, die auf Nikis Beschreibung passte.

Während sie schon mal die Datenbanken nach etwas Verwertbarem durchforstete, kam Karen mit ein paar losen Zetteln in der Hand zu ihr ins Büro. Hanna hob den Kopf und sah ihre Kollegin erwartungsvoll an.

»Keine Anzeige von Herrn Wagner«, begann Karen jedoch nicht sehr vielversprechend.

Hanna runzelte die Stirn. War das etwa schon alles?

»Aber ich habe da etwas gefunden«, setzte Karen sogleich fort. Wahrscheinlich war ihr Hannas unzufriedener Gesichtsausdruck nicht entgangen. »Er wurde vorgestern auf offener Straße überfallen und dabei ziemlich schwer verletzt. Die Kollegen vom Raubdezernat konnten noch nicht mit ihm sprechen. Er liegt auf der Intensivstation und wurde ins künstliche Koma versetzt. Vielleicht schafft er es nicht.«

Niki, eine brutale Räuberin? So richtig konnte Hanna sich das nicht vorstellen. »War jemand bei ihm gewesen?«

Karen schüttelte den Kopf. »Nein. Er ist gegen elf Uhr abends von einer Firmenfeier, die im Hotelrestaurant Am neuen Teich stattgefunden hatte, zu Fuß nach Hause gegangen. Allein, haben seine Kollegen gesagt. Er soll einiges intus gehabt haben. Ein Radfahrer hat ihn dann blutüberströmt auf der Straße gefunden und den Rettungsdienst gerufen.« Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Unterlagen, ehe sie fortfuhr. »Die Ehefrau von Herrn Wagner hatte gemeldet, dass das Portemonnaie ihres Mannes nicht bei seinen Sachen im Krankenhaus war. Er hatte es an dem Abend aber auf jeden Fall bei sich.«

»Ich gehe davon aus, dass noch nicht überprüft werden konnte, ob die Kredit- oder Girokarte fremdbenutzt wurde«, sprach Hanna mehr zu sich selbst. In so kurzer Zeit war mit Sicherheit noch keine Bankauskunft erteilt worden.

Plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Sie griff zum Telefon und rief Sandra Bommer an. Schnell brachte sie ihr Anliegen vor. Zwar hatte Niki die Geldbörse samt Inhalt bei sich, was eigentlich Beweis genug war. Trotzdem bat Hanna darum, alle Sachen kriminaltechnisch und vor allem auf Fingerabdrücke zu untersuchen.

Mit einem Seufzer legte Hanna den Hörer auf. Sie faltete ihre Hände im Nacken und ließ gedankenverloren ihren Blick schweifen, bis er an Karen hängenblieb, die immer noch am Aktenschrank lehnte. Sie schien förmlich auf den nächsten Auftrag zu warten, so erwartungsvoll, wie sie Hanna anschaute. Über diese Dienstbeflissenheit musste Hanna sogar ein bisschen schmunzeln. Aber sie hatte Erbarmen mit Karen, die jetzt sowieso nichts weiter tun konnte. Und wer wusste schon, ob nicht schon das nächste Verbrechen vor der Tür stand, das ihren Einsatz erforderte.

»Danke, Karen. Du hast mir wirklich sehr geholfen.« Sie lächelte ihre Kollegin freundlich an. »Aber ich denke, du kannst dich jetzt erst mal abmelden und nach Hause fahren. Dann wärst du vielleicht noch rechtzeitig zum Frühstück bei deiner Familie.«

»Bist du dir sicher?«, fragte Karen nach. »Es wäre wirklich kein Problem für mich.«

Hannas Mundwinkel zuckten. »Das weiß ich doch. Aber ich brauche erst Ergebnisse, bevor ich hier überhaupt weitermachen kann.« Sie stand auf und reichte Karen die Hand. »Und nun geh endlich. Auf mich wartet niemand zu Hause. Aber du hast Familie.«

Stahlblaue Augen funkelten Hanna entgegen, während die schmale Gestalt dazu auf dem Stuhl in Hannas Büro lümmelte. Es war kaum zu glauben, aber nur eine knappe Stunde, nachdem sie die Rundmail mit Nikis Personenbeschreibung abgeschickt hatte, erhielt sie einen Anruf, dass soeben eine Sandy Hilpert erschienen war, die ihre Freundin vermisste. Die Beschreibung passte haargenau. Daraufhin hatte Hanna die Frau zu sich bringen lassen. Und nun saß sie ihr gegenüber und war bemüht, sich behutsam in das Gespräch mit ihr hineinzutasten.

»Wie heißt denn Ihre Freundin?«, fragte Hanna zunächst.

»Na Nicole. Das hab ich doch schon dem dicken Streifenhörnchen gesagt.«

Hanna hob missbilligend eine Augenbraue. »Sie meinen sicher den Polizeibeamten, der Sie hierhergebracht hat.«

»Meinetwegen auch so«, nuschelte Sandy mit einem betont lässigen Achselzucken. Doch dann verzogen sich ihre Mundwinkel zu einem breiten Grinsen. »Sie dagegen sehen richtig heiß aus, wenn ich das mal so sagen darf.« Sie zwinkerte Hanna aufreizend zu. Es war wohl ein Versuch, verführerisch zu wirken.

Dieses coole Macho-Gehabe war irgendwie drollig, und Hanna musste sich zusammenreißen, nicht darüber zu lachen. »Sie haben es ja schon gesagt«, erwiderte sie nur mit einem dezenten Lächeln. »Soll ich Sie auf die Liste meiner Verehrerinnen schreiben?«

Sandy klappte der Unterkiefer herunter, und sie starrte Hanna mit offenem Mund an. »Wow«, stieß sie bewundernd aus, ehe sie sofort wieder ihre coole Maske aufsetzte.

Doch mit diesem kleinen Intermezzo hatte Hanna unverhofft etwas erreicht. Jetzt hatte sie die vollste Aufmerksamkeit der jungen Frau. Sandy Hilpert war ein Kind der Straße, das erkannte Hanna sofort. Nicht nur wegen ihrer ungehobelten Art oder ihren dreckigen Klamotten, die sie am Leib trug. In ihrem Beruf war Hanna schon so vielen gestrauchelten Existenzen begegnet, sodass sie inzwischen einfach ein Gespür dafür entwickelt hatte.

»Hat Nicole auch einen Nachnamen?«, fragte sie nun wieder mit der gebotenen Ernsthaftigkeit. Sie wusste, dass das tote Mädchen jetzt möglicherweise schneller identifiziert werden konnte, als sie dachte.

Aber Sandy hob nur die Schultern. »Keine Ahnung. Ich nenn sie immer nur beim Vornamen oder Niki. Sie will nicht mit ihrer Familie in Verbindung gebracht werden. Als wir uns kennenlernten, hat sie ihn mal erwähnt, aber gleich gesagt, dass ich ihn wieder vergessen soll. Und das habe ich gemacht.« Sie setzte einen solch treudoofen Blick auf, dass es schon wieder ehrlich wirkte.

»Seit wann vermissen Sie denn Ihre Freundin schon?«, fragte Hanna einfach weiter. Sie würde später noch einmal auf das Thema zurückkommen.

»Wir waren verabredet. Punkt um zwei am Bahnhof in Warnemünde. Ich habe fast zwei Stunden auf sie gewartet, aber sie ist nicht gekommen.« Sichtlich beunruhigt fing sie an, sich hinter dem rechten Ohr zu kratzen. »Wissen Sie . . . Niki hat mich noch nie versetzt. Und wir kennen uns schon eine ganze Weile.«

Als Sandy Hilpert den Bahnhof erwähnte, schoss ein blitzartiger Gedanke durch Hannas Kopf. Gestern Nacht war da doch diese Frau gewesen, eine zugegeben sehr attraktive Frau. Hatte die auf jemanden gewartet? Aber warum war sie dann davongerauscht, als Hanna sie ansprechen wollte? Ihr beruflicher Instinkt meldete sich. Der brünetten Schönheit war sie gegen Mitternacht begegnet. Die kleine Niki wurde kurz nach fünf gefunden. Zum verabredeten Treffpunkt um zwei war sie bereits nicht mehr erschienen. Das hieß, dass sie da vermutlich schon tot war. Bestand da etwa ein Zusammenhang?

Hanna setzte sich ein wenig aufrechter und schaute Sandy durchdringend an. »Wieso waren Sie mitten in der Nacht am Bahnhof verabredet? Um diese Zeit fuhr doch gar kein Zug mehr.«

Ein tiefes Seufzen drang aus Sandys Kehle. Ihre Nervosität nahm zu, das war nicht zu übersehen. Immer wieder schabte sie mit ihren Turnschuhen über den Boden. »Muss ich Ihnen die Frage wirklich beantworten?«, fragte sie fast ein wenig schüchtern.

»Nein. Müssen Sie nicht. Es hätte mich nur interessiert«, wiegelte Hanna ab. »Ist Ihnen vielleicht nun doch wieder Nicoles Nachname eingefallen?«

»Tut mir leid. Aber ich habe ihn wirklich nicht mehr auf dem Radar«, beteuerte Sandy. »Ich weiß nur, dass ihre Alten stinkreich sind. Haben ’ne Villa und ein riesiges Grundstück auf der Insel . . .« Grübelnd zog sie die Stirn in Falten. »Rügen, glaub ich.« Sie lachte abfällig. »Nicole hat dieses Spießerleben gehasst. Es war die Hölle für sie. Aber hier draußen am Meer«, sie machte eine ausladende Armbewegung, »da sind wir frei, und wir können tun und lassen, was wir wollen.«

»Zum Beispiel anderer Leute ihr Geld stehlen?«, fragte Hanna aus einem Impuls heraus.

Sandy schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trocknen. »Scheiße. Sie haben sie also erwischt. Oder?« Mit ihren großen, blauen Augen, die durchs Büro huschten, schien sie den ganzen Raum zum Leuchten zu bringen. »Das versteh ich nicht. Sie ist die Beste und wurde noch nie erwischt.«

Hanna verschränkte die Arme und musterte ihr Gegenüber. »Haben Sie eigentlich jemals darüber nachgedacht, Geld mit ehrlicher Arbeit zu verdienen?«

»Ach . . .« Sandy winkte geringschätzig ab. »Dieses verdammte System lässt doch gar nicht zu, dass man sich frei entfalten kann. Überall wird man wie eine Gefangene behandelt und in irgendeine Schublade gesteckt.« Demonstrativ streckte sie einen Arm mit nach oben gerichteter Handfläche nach vorn, als würde sie eine Tür zuschieben, ohne die Klinke zu benutzen.

Die fehlende Akzeptanz war deutlich spürbar. Genauso wenig hielt die junge Frau vermutlich von der Polizei, das exekutive Staatsorgan. Und doch war sie hierhergekommen, weil sie ihre Freundin vermisste.

In diesem Moment war Hanna schon klar gewesen, dass da mehr dahinterstecken musste. Doch so, wie sich das Gespräch gerade entwickelte, brachte sie das keinen Schritt weiter. Zwar wusste sie jetzt, dass Niki aus einer wohlhabenden Familie stammte. Das ließe sich also bestimmt schnell herausfinden. Aber was es mit dem Raubüberfall auf Harry Wagner auf sich hatte, da konnte sie sich nach wie vor keinen Reim drauf machen. Auch Sandy Hilpert wirkte nicht wie eine gemeingefährliche und brutale Kriminelle. Sie war eher schmächtig und hatte zarte Hände. Typisch für eine Taschendiebin, klein und wendig.

»Ich hoffe doch mal stark, dass Sie jetzt nicht irgendwas Geklautes bei sich haben, während Sie zur Polizei gegangen sind?« Hanna zog ihre Augenbrauen ein wenig zusammen und musterte die junge Frau scharf.

Sandy schüttelte energisch den Kopf. »Ich bin doch nicht dämlich«, protestierte sie, und erneut hörte sie sich ein wenig eingeschnappt an. »Außerdem mache ich das nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss. Ich bin einfach nicht so gut darin.« Nun zuckte sie beinahe um Verzeihung bittend die Schultern.

Hanna überging das Gehörte geflissentlich und nickte Sandy lächelnd zu. Damit wollte sie ihr symbolisieren, dass sie ihr glaubte. »Aber wann Ihre Freundin Geburtstag hat, das können Sie mir doch bestimmt sagen«, lenkte sie das Thema nun wieder in die richtige Richtung.

Sandy streckte ihren Rücken durch. »Aber klar. Sie hatte am elften Juni Geburtstag. Da ist sie zwanzig geworden.« Sie verfiel geradezu in ein verträumtes Lächeln. »Und da haben wir die Sau rausgelassen . . . Wenn Sie wissen, was ich meine«, fügte sie noch mit stolzgeschwellter Brust hinzu.

»Ich kann mir in etwa vorstellen, was Sie damit meinen«, antwortete Hanna nickend, obgleich sie sich das jetzt nicht zu genau vorstellen wollte. »Haben Sie vielleicht auch ein Foto von Nicole?«, fuhr sie daher fort, ohne weiter auf die Bemerkung einzugehen.

»Logo«, antwortete Sandy. Auch sie wurde jetzt wieder ernster, als wäre sie enttäuscht, weil Hanna nicht weiter nachgefragt hatte. Sie fischte einen Brustbeutel unter dem T-Shirt hervor, und eine kleine Klarsichthülle kam zum Vorschein, die sie Hanna reichte.

Das Foto, das in der Hülle steckte, zeigte zwei unbeschwert lachende Mädchen, die vor dem Leuchtturm von Warnemünde standen. Hanna schluckte den Kloß, der sich in ihrem Hals bilden wollte, hinunter. Obwohl sie es die ganze Zeit gewusst hatte, war sie nun doch betroffen, als sie Niki, die Tote vom Kurpark, darauf erkannte.

Aber was sollte sie jetzt tun? Sandy sagen, dass ihre Freundin ermordet wurde? Sie war keine Angehörige, und noch war Nicole nicht eindeutig identifiziert, um zunächst ihre Familie zu benachrichtigen. Jetzt hätte Sie doch noch Karens Hilfe gut gebrauchen können. Mit dem Nicoles Geburtstag war es ein Leichtes, nach dem Mädchen zu recherchieren. Doch das musste jetzt warten. Hinzu kam, dass Hanna sich immer noch nicht erklären konnte, warum Sandy Hilpert nur wenige Stunden später und wegen einer verpassten Verabredung zur Polizei gekommen war. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Sie stand auf, ging um ihren Schreibtisch herum und setzte sich auf den Rand. Die Arme vor der Brust verschränkt, fragte sie: »Weshalb sind Sie wirklich hier, Sandy?«

»Aber das wissen Sie doch«, gab Sandy sich äußerst erstaunt. Sie brachte es sogar fertig, Hanna dabei anzuschauen.

Doch Hanna war erfahren genug, um zu merken, dass dieser Blick nur aufgesetzt war. Das unruhige Flackern in den blauen Augen und das nervöse Herumgezappel, all das war für sie Indiz genug, dass Sandy Hilpert etwas vor ihr verheimlichte. Nur was? Die Sorge um Nicole schien echt zu sein, beinahe extrem, auch wenn Sandy das immer wieder zu kaschieren versuchte. Doch auch für sie, Hanna, war es keineswegs einfach, den Schein zu wahren und die traurige Wahrheit über Nicoles Tod vorerst für sich zu behalten.

»Wie oft wurden Sie schon beim Klauen erwischt?«, fragte sie nun. Den empörten Gesichtsausdruck ignorierend, setzte sie fort: »Ich kann auch nachschauen, aber da Sie nun einmal hier sind, können Sie es mir auch gleich selbst sagen.«

Sandy blickte stur an Hanna vorbei. »Wie kommen Sie denn darauf, dass ich schon erwischt wurde?« Offensichtlich passte es ihr gar nicht, dass die ihrer Meinung nach eigene Unzulänglichkeit hier so offengelegt wurde.

»Nun, Sie haben vorhin selbst erzählt, dass Sie nicht so gut darin sind.« Hanna machte eine kleine Pause, ehe sie fortfuhr. »Das bedeutet aber auch, dass Sie es schon ein paarmal probiert haben müssen, um das einschätzen zu können.«

Sandys Augen schweiften ab und glitten zur Wand. Hanna folgte ihrem Blick. Das schlichte Weiß der Raufasertapete wirkte jetzt irgendwie trostlos. Schließlich schaute Sandy wieder zu ihr zurück. Resignation schien sich in dem zarten Gesicht widerzuspiegeln. »Okay, drei-, viermal vielleicht«, gab sie sich mit leiser Stimme offenbar geschlagen.

Damit hatte sie Hannas Vermutung bestätigt. »Sie haben also schon Erfahrung mit der Polizei und kennen die Prozedere. Sie wissen daher, dass niemand wegen eines einfachen Diebstahls gleich im Knast landet und dass Nicole in diesem Fall spätestens nach ein paar Stunden sowieso wieder auf freiem Fuß wäre. Warum sollten Sie sich also bemühen, zur Polizei zu gehen, nur um herauszufinden, ob Ihre Freundin geschnappt wurde?«

»Das stimmt doch gar nicht«, widersprach Sandy sofort. »Ich bin zu den Bullen, weil Nicole spurlos verschwunden ist.« Jetzt gab sie sich keine Mühe mehr, ihren Unmut zu verbergen. Sie presste die Lippen aufeinander und ballte ihre schmalen Hände zu Fäusten.

Hanna ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken. Das von Sandy Hilpert sorgfältig aufgebaute Kartenhaus schien immer mehr in sich zusammenzufallen. Hanna musste jetzt nur dranbleiben. »Ja, sie als vermisst zu melden, ist eine clevere Idee, um auf diese Weise vielleicht an Informationen zu gelangen. Denn ich bin mir ziemlich sicher, dass Ihnen sehr wohl bekannt ist, dass die Polizei bei einer Erwachsenen, die«, sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, »vor gerade mal sieben Stunden nicht am vereinbarten Treffpunkt erschienen ist, noch gar nichts unternimmt.« Sie ließ ein paar Sekunden verstreichen, um die Wirkung ihrer Worte sich entfalten zu lassen, ehe sie fortfuhr. »Außer es besteht der begründete Verdacht, dass der vermissten Person etwas zugestoßen ist oder sie sich in Lebensgefahr befindet. Dann wissen Sie aber mehr, als Sie mir aus welchem Grund auch immer erzählt haben. Also Sandy, verschweigen Sie mir etwas?«

Eine kleine Träne löste sich aus Sandys Augenwinkel und perlte langsam über ihre Wange. »Kann ich Ihnen denn vertrauen?«, fragte sie schniefend.

Hanna stieß sich vom Schreibtisch ab und holte ihren Drehstuhl hervor, um sich Sandy Hilpert jetzt direkt gegenüberzusetzen, ohne dass ein Tisch oder sonst was zwischen ihnen stand. »Wenn ich Ihnen sage, dass Sie mir durchaus vertrauen können, würden Sie es dann auch tun? Die Entscheidung liegt bei Ihnen«, erwiderte sie nun mit einfühlsamer Stimme.

Sandy fing an, an ihren Fingernägeln zu knibbeln. Dabei zitterte ihre Hand, deren Haut ganz blass und fahl war und gar nicht zu ihrem ansonsten sonnengebräunten Teint passte.

Ein paar Sekunden verstrichen, in denen nur der beginnende Verkehrslärm, der durch das gekippte Fenster drang, zu hören war.

Zögernd begann sie schließlich zu reden. »Ich bin zu den Bullen . . . äh, zur Polizei«, korrigierte sie sich diesmal, »gegangen, weil ich gehofft habe, dass man mir hier sagt, dass Nicole geschnappt wurde und noch auf der Wache sitzt.«

»Sie haben es gehofft?« Irritiert von dieser Äußerung zog Hanna fragend die Augenbrauen hoch.

»Ja.« Sandy nickte bestätigend. »Dann hätte ich wenigstens gewusst, dass mit ihr soweit alles in Ordnung ist. Dass es ihr gutgeht.«

Das war eine Information, die Hanna regelrecht erschütterte. Wusste Sandy also doch mehr, als sie bislang zu sagen bereit gewesen war? Hatte sie vielleicht von dem Polizeiaufgebot am Kurpark etwas mitbekommen? Die Fragen schwirrten nur so in ihrem Kopf herum. Aber sie zwang sich zur Geduld. Das Mädchen war gerade dabei, sich zu öffnen. Das durfte sie nicht mit einer überhasteten Reaktion zerstören.

»Ich hatte gleich ein ungutes Gefühl letzte Nacht, als Niki nicht am Bahnhof aufgetaucht ist«, sprach Sandy leise weiter. Ihre Stimme klang beim Versuch, neue Tränen zurückzuhalten, ein wenig verzerrt. »Wissen Sie, sie wollte mich nie dabei haben, wenn sie . . .« Sandy brach ab und räusperte sich laut. »Aber sie wurde auch noch nie erwischt. Trotzdem hatten wir für den Fall, dass mal etwas schiefgeht, vereinbart, dass ich noch ein, zwei Stunden am Treffpunkt auf sie warte und dann versuchen sollte, sie anzurufen. Aber ihr Telefon war aus.« Mit einer Hand strich sie sich ununterbrochen durch ihre schwarzen Haare. Sie hatte einen ähnlichen frechen Fransenschnitt wie Niki. »Danach bin ich zu unserem Unterschlupf am Strand gegangen und habe dort weiter auf sie gewartet. Als es immer später geworden ist, hab ich Schiss gekriegt, dass etwas Schlimmes passiert ist. Also bin ich zur Polizei.« Sie senkte ihren Kopf ein wenig und blickte unter ihren Wimpern zu Hanna auf. »Und ich habe doch recht damit, dass Niki etwas zugestoßen ist. Nicht wahr? Sonst hätte man mich doch nicht zu Ihnen zur Kripo nach Rostock gebracht.«

Die Kleine war pfiffiger als erwartet. Hatte sie sich zuvor noch fast um Kopf und Kragen geredet, so wurde Hanna erst jetzt bewusst, dass Sandy durchaus sehr geschickt darin war, ihre Gefühle und Ängste hinter einer Maske zu verbergen. Und wahrscheinlich hatte sie sich an die Möglichkeit, dass Nicole nur etwas länger bei der Polizei aufgehalten wurde, wie an einen Strohhalm geklammert.

Gerade als Hanna zu einer Antwort ansetzen wollte, klingelte das Telefon. Sie erhob sich und ging um den Schreibtisch herum. »Entschuldigen Sie mich kurz«, sagte sie an Sandy gewandt.

Ein Mitarbeiter vom Kriminaltechnischen Institut des LKA war am Apparat, um ihr eine Treffermeldung zur Toten auf schnellstem Wege zu übermitteln. Die Kollegen von der hiesigen Kriminaltechnik hatten die Fingerabdrücke also direkt weitergeleitet. Nun bekam Hanna die Bestätigung. Niki konnte eindeutig als Nicole Bernhagen, geboren am elften Juni 1998 in Stralsund, identifiziert werden, weil sie vor einem Jahr wegen einer gefährlichen Körperverletzung bereits erkennungsdienstlich behandelt worden war. Sandy hatte also die Wahrheit gesagt, zumindest was den Geburtstag betraf. Hanna bedankte sich für die zügige Information.

Nachdenklich verharrte sie noch vor dem Telefon, obwohl sie inzwischen aufgelegt hatte.

»Frau Hilpert?«, sprach sie Sandy schließlich an, um deren Aufmerksamkeit zurückzugewinnen.

Sandy hob langsam den Kopf. Sichtbar mehr Tränen rannen ihr jetzt unaufhaltsam über das Gesicht. Ihr Blick war fragend und verängstigt.

»Sie haben gesagt, dass Sie befürchteten, dass etwas Schlimmes passiert sein könnte. Was sollte das Ihrer Meinung nach sein? Hatte Nicole oder hatten Sie beide in letzter Zeit vielleicht irgendwelche ernsthaften Schwierigkeiten?«

Die junge Frau ihr gegenüber fing laut an zu schluchzen. Da sie sich offenbar gerade nicht imstande fühlte, ihr zu antworten, nickte sie nur hefig.

Hanna griff in ihre Schreibtischschublade und holte eine Packung Zellstofftaschentücher hervor. Sie reichte ihr eins, und Sandy schnäuzte sich mit zittrigen Fingern die Nase. Hanna ließ ihr ein wenig Zeit, um sich etwas zu beruhigen.

Nach einer Weile fing Sandy zu erzählen an. »Niki und ich, wir hatten Schulden. Doch wir hatten nie ernsthafte Probleme, weil wir immer pünktlich gezahlt haben. So ist das, wenn man frei sein will. Das ist das Gesetz der Straße«, fügte sie energisch hinzu, als Hanna nur Luft holte, als ahnte sie, dass die Kommissarin mehr darüber wissen wollte. »Aber Niki hatte sowieso keine Angst, vor niemandem«, setzte sie fort. »Selbst als sie eines Tages mit einem fettgeschwollenen Auge und zerfetzten Klamotten zurückkam. Sie hatte überall blaue Flecken. Ich dachte, da ist vielleicht was schiefgelaufen, während sie auf Tour war. Aber sie hat es abgetan, als wäre es nichts. Doch kurz darauf erzählte sie mir, dass sie sich verfolgt und nicht mehr sicher fühlte und wir deswegen untertauchen müssten.«

Du bist tot