Literaturkritik und Literaturwissenschaft im Gespräch

Vor 28 Jahren erschien Der doppelte Boden: ein langes, spannendes, höchst anregendes, lehrreiches und zugleich gewitztes »Gespräch« über Literatur und Literaturkritik. Eigentlich waren es mehrere Gespräche in dichter Folge. Der an der Universität Zürich lehrende Literaturwissenschaftler Peter von Matt hatte sie 1986 mit dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki geführt, der die Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung leitete. Eine kürzere Fortsetzung der Gespräche folgte 1991 in einer historisch und persönlich veränderten Situation. Reich-Ranicki blieb in der Zeitung zwar Redakteur der von ihm begründeten Frankfurter Anthologie, war aber im Alter von 68 Jahren als Redaktionsleiter des Literaturteils von Frank Schirrmacher abgelöst worden. Seine öffentliche Präsenz als Kritiker wurde dadurch allerdings nicht beeinträchtigt. Im Gegenteil: Das seit 1988 gesendete Literarische Quartett machte ihn so populär wie nie zuvor. Noch deutlicher zeigt sich in den Gesprächen von 1991 jedoch, dass sie bald nach dem Ende der deutschen Teilung stattfanden. Der Streit um Christa Wolf im eben erst vereinten Deutschland, um ihre Erzählung Was bleibt und um ihre Rolle in der ehemaligen DDR war nur eines der Themen, die der veränderten Situation Rechnung trugen. Und ein Phänomen, das schon 1986 wiederholt aufgegriffen wurde, das Neben-, Gegen- und Miteinander von vier deutschsprachigen Literaturen – aus

Die Initiative zu dem Gespräch kam aus der Schweiz. Der Ammann Verlag in Zürich hatte 1990 Reich-Ranickis gesammelte Essays über Thomas Bernhard veröffentlicht, 1991 folgten entsprechende Bände über Martin Walser und Max Frisch, 1992 über Günter Grass, später über Vladimir Nabokov und Wolfgang Koeppen. Von diesen Autoren und von vielen anderen ist in den Gesprächen die Rede. Ammann veröffentlichte die Aufzeichnungen 1992, zwei Jahre später der Fischer Taschenbuch Verlag. Das Buch war lange Zeit vergriffen und liegt nun in einer neuen Ausgabe vor. Der Gesprächstext und die damaligen Informationen über Marcel Reich-Ranicki wie über Peter von Matt wurden als historische Dokumente unverändert übernommen, aber im Anhang vor allem durch vier spätere Essays Peter von Matts über Reich-Ranicki ergänzt. Sie lassen sich als eine Art Fortsetzung der früheren Gespräche verstehen. In dem Essay zum 85. Geburtstag des Kritikers erinnert sich Peter von Matt: »In den achtziger Jahren habe ich mit ihm auf Aufforderung des Verlegers Egon Ammann einige lange Gespräche geführt. Das geschah in der Frankfurter Wohnung in der Gustav-Freytag-Straße. Ammann saß mit dem Tonband daneben; im Hintergrund, kettenrauchend, Frau Tosia. Sie hörte lautlos zu, und wenn ihrem Mann ein Name, ein Titel nicht gleich auf die Zunge kam, warf sie das Wort blitzschnell in den Raum. Aus den Gesprächen wurde dann das Buch.«

Die Gespräche sind heute ein bemerkens- und bewahrenswertes Dokument zur Erinnerung an das literarische Leben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, an einen Dialog auch zwischen Literaturkritik und Literaturwissenschaft, und sie haben mit zahlreichen Problemstellungen, die Autoren, Kritiker, Verleger, Wissenschaftler und andere

»Gespräche« haben in der Geschichte der Literaturkritik eine lange Tradition. Als eine der ersten und maßgeblichen Zeitschriften, die Literaturkritik im heutigen Sinne veröffentlichten, gelten die von dem Frühaufklärer Christian Thomasius zwischen 1688 und 1690 publizierten Monats-Gespräche. Hier wurden Neuerscheinungen im wörtlichen Sinn »besprochen«, und zwar nicht in der lateinischen Sprache der Gelehrten, sondern in allgemeinverständlichem Deutsch. Und besprochen wurden sie in Form von fiktiven Dialogen zwischen zwei und fünf Personen. Diese Form erfundener Gespräche wurde im 18. Jahrhundert zwar bald aufgegeben, aber den Charakter von Dialogen hat Literaturkritik behalten, wenn ihre Einschätzungen nicht als quasi richterliche und autoritative Urteile einer einzelnen Person, sondern als Anregungen und Beiträge zu einer offenen Diskussion verstanden werden wollten. Diesem undogmatischen Selbstverständnis der Literaturkritik sind ausdrücklich auch einige Literaturwissenschaftler gefolgt. Nicht zufällig einem Buch über Probleme der literarischen Wertung, einem der ersten zu diesem die

Nachdem Reich-Ranicki 1958 Polen verließ und in der Bundesrepublik Deutschland bald zum prominentesten Literaturkritiker des Landes wurde, hat er das kritische Gespräch über Literatur in vielfältiger Weise gesucht, gefunden und gefördert: zuerst in der Gruppe 47. An den späteren öffentlichen Diskussionen, die er beim Klagenfurter Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis und im Literarischen Quartett leitete, war auch Peter von Matt beteiligt. Dass es lohnend sein könnte, mündliche Gespräche mit Reich-Ranicki zu verschriftlichen und im Buchformat zu veröffentlichen, war eine Idee des Verlegers Egon Ammann, die der Literaturwissenschaftler gerne und engagiert mit umzusetzen bereit war. Erst zehn Jahre nach der Veröffentlichung des in jeder Hinsicht geglückten Versuchs in Der doppelte Boden zeigten sich weitere Verlage an der Publikation von Büchern mit Gesprächen Reich-Ranickis interessiert. 2002 erschienen in dem Band Marcel Reich-Ranicki. Kritik als Beruf, herausgegeben von Peter Laemmle, dem damaligen Leiter des Nachtstudios des Bayerischen Rundfunks, im Fischer Taschenbuch Verlag seine vorher im Hörfunk gesendeten Gespräche mit Eva Demski, Wilfried F. Schoeller und Joachim Kaiser. Im

Das Gespräch mit Peter von Matt war und blieb, abgesehen vom Umfang, von den eigenständigen, gleichberechtigten Anteilen beider Gesprächspartner daran und von den so geordneten wie vielseitigen Reflexionen über wichtige, nicht auf einzelne Autoren oder Bücher fixierte Problembereiche, auch deshalb singulär, weil es zwischen einem Literaturkritiker und einem Literaturwissenschaftler geführt wurde. Neben der spannungsvollen Beziehung zwischen Literaturkritikern und Schriftstellern sowie der zwischen Literaturkritik und Buchhandel, die hier ein wiederkehrendes Thema sind, ist auch das Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und journalistischer Kritik schon immer problematisch gewesen. Der Literaturwissenschaft gilt die Literaturkritik gemeinhin als zu oberflächlich, flüchtig, subjektivistisch, kurz: als unwissenschaftlich; der Literaturkritik ist die Literaturwissenschaft zu akademisch, sprachlich zu abstrakt oder hermetisch, zu welt- und gegenwartsfern, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, zu öffentlichkeitsfern und zu langsam. Die Beziehung zwischen beiden ist von vielen gegenseitigen Ressentiments, Rivalitäten und von Ignoranz geprägt – bis hin zur jüngsten Wiederbelebung alter Stereotype der Germanisten-Schelte, wie sie im Februar 2017 ein Redakteur des Spiegel zu initiieren versuchte. Dass ein Literaturwissenschaftler sich derart intensiv und herausfordernd mit einem in der Gegenwart agierenden Literaturkritiker auseinandersetzt, wie Peter von Matt es getan hat, ist heute immer noch selten. Und

Der »Criticus« ist ursprünglich der Typus des historisch universal gebildeten Gelehrten, der sich besonders im Umgang mit Texten griechischer und lateinischer Sprache eine besondere Beurteilungskompetenz erworben hat. In oft spöttischer Abgrenzung zu dem als welt- und publikumsfern geltenden »Bücherwurm« und seiner pedantischen Anhäufung historischen Wissens sowie zu dem an René Descartes geschulten Typus des rationalistischen Methodologen, dessen philologische Textkritik die gesicherte Erkenntnis seines Gegenstandes und die zuverlässige Rekonstruktion seiner Bedeutung sucht, entsteht in Frankreich im 17. Jahrhundert nach dem Vorbild des Essayisten Michel de Montaigne der neue Typus des »weltmännischen« Kritikers. Dessen critique mondaine richtet den Blick stärker auf die Gegenwart und die aktuelle Buchproduktion, er schreibt nicht mehr in der lateinischen Sprache der Gelehrten, sondern in der jeweiligen Volkssprache und wendet sich, bevorzugt in Zeitschriften, an ein breiteres Publikum. Dieser neue Typus des Criticus, aus dem der Literaturkritiker im heutigen Verständnis hervorging, etabliert sich im 18. Jahrhundert, gestützt auch durch das Prestige, das der Begriff »Kritik« im Zeitalter der Aufklärung gewinnt.

In seinem hartnäckig propagierten Bemühen um Verständlichkeit und um eine Literatur, die einer breiteren Öffentlichkeit nicht unzugänglich bleibt, sowie um einen Stil der Auseinandersetzung mit Literatur, der die Kluft zwischen kulturellen Eliten und einem breiten Publikum zu schließen versucht, stand Reich-Ranicki, wie das Gespräch mit Peter von Matt deutlich erkennen lässt, in dieser Tradition. »Dass er kein Freund der Germanisten ist, hat sich herumgesprochen«, schreibt Peter von Matt in einem seiner

Gelungen ist dies ebenfalls dem Hochschulgermanisten Peter von Matt. Er war seinerseits auch als Literaturkritiker erfolgreich – nicht zuletzt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 1982 erschien seine erste Gedichtinterpretation in der Frankfurter Anthologie, es folgten viele andere. Ab 1998 verlieh die Zeitung an Interpreten, deren Beiträge für die Frankfurter Anthologie besonders hoch geschätzt wurden und die sich auch sonst um die Vermittlung von Lyrik verdient gemacht hatten, einen Preis. Peter von Matt war der Erste, der ihn erhielt. Zu den auf diese Weise Ausgezeichneten gehörten in den folgenden Jahren etliche Literaturwissenschaftler: Ruth Klüger, Wulf Segebrecht, Harald Hartung und Walter Hinck.

Peter von Matt widmete 2008 die Sammlung seiner »Kleinen Deutungen deutscher Gedichte« in dem Band

Zur Überwindung der Kluft zwischen Literaturkritik und Literaturwissenschaft haben deutsche Universitäten, sieht man von der 1974 erfolgten Ernennung Reich-Ranickis zum Honorarprofessor an der Universität Tübingen ab, relativ spät beigetragen – im Gegensatz zu Universitäten in anderen Ländern: 1968 lehrte Reich-Ranicki ein Semester lang deutsche Literatur an der Washington University in Saint Louis. Von 1971 bis 1975 war er wiederholt als Gastprofessor für neuere deutsche Literatur an den Universitäten von Stockholm und Uppsala tätig. In Uppsala erhielt er 1972 die erste Auszeichnung in seiner Kritikerkarriere: die Ehrendoktorwürde der Universität. Erst nach zwei Jahrzehnten folgten entsprechende Auszeichnungen an deutschen Universitäten, zuerst 1992 an den Universitäten Augsburg und Bamberg, zuletzt 2006 und 2007 an zwei Universitäten in Berlin.

Reich-Ranicki schätzte eine Literatur, die ihre Leser weder unter- noch überfordert. Sein kritisches Engagement galt dem »intelligenten, dem gehobenen Unterhaltungsroman«. An jener massenhaft verbreiteten Unterhaltungsliteratur, die man auch als »Trivialliteratur« bezeichnet, hatte er kein Interesse. Ihr fehle der »doppelte Boden«, ohne den bessere Literatur nicht auskomme: »Wenn einem Text die Zeichenhaftigkeit fehlt, dann ist es keine Literatur, der doppelte Boden muss vorhanden sein.« Mit welcher Anschaulichkeit er darüber zu reden vermochte, als er den guten Schriftsteller dabei mit einem Schmuggler verglich, dessen Koffer mit doppeltem Boden mehr enthält und anderes als das, was auf den ersten Blick in ihm sichtbar ist, kann man sich bei der eigenen Lektüre des Gesprächs vor Augen führen lassen.

Im selben Jahr, in dem Der doppelte Boden erschien, führte er ein Gespräch mit der Schriftstellerin Eva Demski,