frei wie die Kindheit, wenn Winter die Erde in Weiß windet.

Wenn der Großfürst nachmittags mit uns Schlitten fährt

und wir in den Bergen uns fürchten.«

T.S. Eliot, Neuengland

Love, life, wife.

Nachdem es ihnen gelungen war, sich aus dem Strom der Frauen, Männer und Kinder zu lösen, die mit Klappsesseln, Kühltaschen und Sonnenschirmen zum Walden Pond unterwegs waren, hatten sie die Replika am Rand des Parkfeldes betreten. Hat seine Frau die Sehnsucht gesehen, die der Anblick des kleinen Raumes und der einfachen Möbel – Tisch, Bett, Stuhl – bei ihm auslöste? Er will nicht alles und jeden nur mehr mit Ekel

 

Er ist am Ende.

 

Ich bin am Ende.

Also stehe ich am Anfang.

 

Das Blätterdach der mächtigen Bäume hält das Sonnenlicht zurück und sorgt dafür, dass sie sich in dem hohen grünen Gewölbe fühlen wie unter einer Glasglocke. Sie sind allein an Thoreaus Gedenkstätte, müde vom Spaziergang in der Hitze. Es riecht nach Harz und Seewasser, das seit Tagen von der Sonne aufgeheizt wird, und es riecht nach Erde, obwohl es lange nicht mehr geregnet hat. Es soll erneut 34 Grad werden, wie ihnen die Besitzerin des Hawthorne-Inn versicherte, dem Bed and Breakfast in Concord, in dem sie auch die letzte Nacht vor dem Rückflug nach Zürich verbringen werden. Die Luft steht reglos zwischen den

Soll er seiner Frau von der Szene aus Thoreaus Journalen erzählen, an die er sich erinnert, während er an der Rinde einer Birke zupft, die sich in der Dürre wie die Haut einer Schlange abgeschält hat? Willst du einen Honigbaum finden, schreibt Thoreau, sollst du eine Biene fangen, deren Beine mit Blütenstaub beladen sind, die also zum Heimflug bereit ist. Die Biene, die du fängst, indem du ein Glas über sie hältst und mit einem Stück Pappe verschließt, trägst du zu einem offenen, mit Vorteil höher gelegenen Platz, lässt sie frei, beobachtest genau, wohin sie fliegt, und läufst zur Stelle, an der du sie zuletzt gesehen hast. Dort wartest du geduldig auf die nächste Biene, fängst sie, lässt sie frei und folgst ihr mit Blicken. Biene um Biene, schreibt er, wird dich schließlich zum Honigbaum führen.

Seine Frau sieht einer Chickadee-Meise nach, Maines Staatsvogel, die über einen Schwertfarn jagt, und er behält Thoreaus Rat für sich. Am Silberstamm einer Weißbuche arbeitet ein Specht emsig hämmernd daran, zu seiner Nahrung zu kommen.

»Lächerlich, doch. Aber Thoreau war kein Eremit.«

»Schmuckeremiten, die sich mit Tieren auskannten, Gäste begrüßten, weise Ratschläge erteilten, meist für sieben Jahre verpflichtet und täglich mit einer Mahlzeit verköstigt wurden. Klingt nach Zirkus.«

»Und nach Theater. Thoreau hat übrigens oft bei Freunden in Concord gegessen.«

»Bei seiner Mutter«, ergänzt seine Frau lächelnd, »hat er auch gegessen.«

Später wollen sie Concords Friedhof Sleepy Hollow besuchen, der sich über mehrere bewaldete Hügel hinzieht, weil sie die Grabstätten des Denkers und früheren Pastors Ralph Waldo Emerson, des Bostoner Stadtmenschen und späteren Landkommunenmitglieds Nathaniel Hawthorne und des Wanderers und Kanufahrers Henry David Thoreau sehen möchten, doch noch schaffen sie es nicht, den stillen grünen Raum über dem See zu verlassen. Wundern werden sie sich über den separaten Grabstein, den die weitverzweigte Thoreau-Familie ihrem früh verstorbenen Henry David gewährte, klein wie für ein Kind, bis auf

»Ich weiß, dass du wegmusst«, sagt seine Frau schließlich.

Hoch über ihren Köpfen fliehen zwei Streifenhörnchen über schwankende Aststege von Baum zu Baum, auf dem Waldboden, hart geworden in der langen Trockenheit, liegen Kiefernzapfen, die sein österreichischer Onkel Leopold Kienäpfel nannte, ihre ausgedörrten Schuppenschilder aufgesperrt wie hungrige Vogelmäuler.

»Weg«, sagt er, »was heißt schon weg. Und du?«

»Nicht so dringend wie du.«

»Wir können uns das Cottage in Maine doch gar nicht leisten.«

»Nein«, sagt sie, »aber wir kaufen es trotzdem. Finde ich.«

 

Sonst gehe ich ein.

Sonst geht er ein.

 

Das Cottage steht vier Autostunden nördlich von Boston auf Spruce Head Island in Maine, einer kleinen Insel, die durch eine Brücke mit dem

 

Das Cottage misst 57 Quadratmeter, Wohnküche, Schlafzimmer, Bad. Das erste Mal, seit er vor achtunddreißig Jahren mit Schreiben angefangen hat, wird er kein Arbeitszimmer haben, welche Erleichterung.

 

Er ist bereit, erneut ein anderer zu werden.

 

 

Er erwacht.

Ich erwache.

 

Der Fluss fließt träge und langsam mitten durchs Schlafzimmer, das mir auch im dritten Winter hier

Im Schutz der Nacht klingt das Meer näher, gewaltiger. Dunkelheit ordnet die Welt neu, macht die Stille umfassender. In manchen Winternächten ist es in Maine so still, als wäre alles vorbei, alles ausgestanden. Es gibt die Natur, aber nicht den Menschen, so groß ist die Stille, in der sich Hirsche, Schneehasen, Rehe und andere scheue Tiere zeigen, die uns meiden. Diese Stille anzunehmen, in der

Lärm ist toxisch für uns Menschen, wir können ihn nicht ignorieren, unser Körper ist beschaffen, darauf zu reagieren: Schallwellen versetzen die drei winzigen Gehörknöchelchen in unserem Mittelohr mit den sprechenden Namen Hammer, Amboss und Steigbügel in Schwingungen, die als elektrische Impulse ins Hörzentrum unseres Gehirns schießen. Diese Attacke wehrt unser Körper ab, auch im Schlaf, indem er Stresshormone ausschüttet, was den Blutdruck nach oben treibt und das Risiko

 

Der Vikar, der Religionskunde unterrichtete, die ich als katholischer Junge besuchen musste, las aus dem ersten Buch der Könige und erklärte uns, wie Gott sich Elia zeigte, indem er erst einen Orkan aufziehen ließ, danach ein Erdbeben herbeiführte und schließlich eine Feuersbrunst entfachte. Gott aber sei nichts von alledem, flüsterte der Vikar, ein Männlein mit Fistelstimme, Gott war weder Orkan noch Erdbeben, noch Feuersbrunst, nein, Gott kam danach, als ein »stilles, ein sanftes Sausen«. »Heißt das«, fragte ich entgeistert, »Gott ist die Stille?« »Genau das heißt es!« Damit hatte er mich auf seiner Seite, der Vikar.

 

Thomas Edison war taub, als er den Phonographen erfand, den Vorgänger des Plattenspielers. Um die Musik oder vielmehr die Vibrationen der Musik

 

Ich trete ans Fenster, das nach Osten in unseren Garten hinausgeht, aber da ich tagsüber Kontaktlinsen trage, kann ich nicht erkennen, wie viel Schnee gefallen ist. Das Thermometer, das ich vor diesem Fenster angeschraubt habe, zeigt – 17 Grad an. Gestalt und Topographie unseres Gartens sind verändert: Zwei hohe Schneedünen schieben sich von verschiedenen Richtungen auf das Gelände; für meine kurzsichtigen Augen hat die Stelle, an der die Kammlinien aufeinandertreffen, die Form der Sichel, mit der Onkel Leopold das Gras um das Geviert Brennnesseln schnitt, in dem sein Birnbaum stand. Von den Staketen des Holzzaunes sind nur die Spitzen zu erkennen, dunkle Punkte, die über den Schnee laufen und das Gelände trennen. Später, wenn ich die Kontaktlinsen eingesetzt habe, werde ich sehen, dass der Schnee über einen Meter hoch liegt; die Veranda ist bis unter das mit Brettern verschalte, hüfthohe Geländer mit Schnee gefüllt, die kurze Holztreppe in den Garten nicht länger zu erkennen. Über die Veranda werde ich das Cottage nicht verlassen können. Die Erinnerung, in meiner Kindheit seien in Österreich Straßen und Wege von meterhohen Schneewänden gesäumt gewesen, habe ich die letzten Jahre als

Das Meer hat die Farbe von nassem Zement, auch das werde ich erst mit den Kontaktlinsen erkennen. Jetzt stehe ich kurzsichtig am Fenster, als halte ich Wache, unsicher auf den Beinen, weil ich den Transatlantikflug wie üblich nicht aus den Knochen bringe, und lausche dem Klatschen schwerer lederner Schwingen, dem unmissverständlichen Geräusch der Einsamkeit, das mir schon lange keine Angst mehr macht. Der Wunsch, allein zu sein, kann genetisch veranlagt sein und ist, wie Biologen herausfanden, messbar: Ist der Oxytocinanteil im Hormonspiegel tief, der von Vasopressin dagegen hoch, kann dies den Wunsch nach menschlicher Zuwendung unterdrücken. Die Dachbalken knarzen in der Kälte, die Innenseite der Fensterscheibe ist mit einer Eisschicht bedeckt, die unter der Berührung meiner Finger knistert. Im Elternhaus meiner Mutter Romana, in dem in meiner Kindheit ihre Schwester Fanny und deren zweiter Mann Leopold lebten, der erste war in Russland gefallen, blühten in den Winterferien Eisblumen auf der Scheibe unseres

 

In meinem Alter löst nahezu alles, was ich sehe, höre, rieche, was ich erlebe, eine Erinnerung aus. Ich habe es aufgegeben, mich dagegen zu wehren. Was soll es ändern oder gar helfen, die Gegenwart nicht mit der Vergangenheit abzugleichen und beides gegeneinander abzuwägen?

Und die Zukunft?

An die Zukunft denke ich nicht mehr.

Ich habe sogar aufgehört, mich deswegen zu wundern.

Das Reich der Wehmut, die Vergangenheit, ist mir wichtiger denn der Ort der Sehnsucht, die Zukunft.

 

Die Uhr über dem Herd zeigt 8 Uhr 40, das Thermometer vor dem Fenster über der Spüle – 13 Grad. Das blaue Licht der Dämmerung verfremdet Distanzen, macht die Welt klein. Katze Smilla sitzt auf dem Tisch und frisst die Reste meines Frühstücks aus meinem Teller, Porridge mit Ahornsirup, wobei sie aufmerksam beobachtet, wie ich das Putztürchen des Eisenofens öffne, eine zusammengeknüllte Zeitungsseite ins Aschefach stopfe und anzünde, um den Propf kalter Luft durchs

Als das Feuer zieht, lege ich trockene Birkenscheite in die Feuerkammer, rücke den Schaukelstuhl, auf dem Smilla tagsüber am liebsten schläft, dicht vor den Ofen und schließe den Schieber. Ich muss Anfeuerspäne schlagen und Brennholz aus der Garage holen.

 

Wie viele Notizbücher hat er in den vergangenen achtunddreißig Jahren aufgeschlagen, wie viele Blatt Papier in wie viele Schreibmaschinen gedreht und nach wenigen getippten Zeilen wieder herausgezerrt, zerknüllt und durchs Zimmer geworfen? Wie viele Computer hat er hoch- und heruntergefahren, wie viele Laptops auf- und zugeklappt, wie viele Füller auf- und zugeschraubt, wie viele Bleistifte gespitzt und zerbrochen, weil er passende Worte nicht fand, weil ihm Sätze nicht gelangen, gefielen? In wie vielen Zimmern hat er allein

 

1985Die Poesie lernt man vom Tiere aus, das sich im Wald befindetZeichne, Antonio, zeichne, Antonio, zeichne und vergeude Schreibe, Schertenleib, schreibe, Schertenleib, schreibe und vergeude keine Zeit2000

Der Tisch, an dem wir auch essen, misst 60 mal 90 cm, ist 74 cm hoch und aus honigfarbenem Buchenholz, hat gedrechselte Beine, keine Schublade. Gefunden haben wir ihn im Rockland Antiques Marketplace; für seine Geschichte begann ich mich erst zu interessieren, nachdem ich den in die Unterseite des Tischblattes gebrannten Namen Torward Erling Haugesen und die Jahreszahl 1905 entdeckte. Maggie, die mir den Tisch verkauft hatte, war nicht einfach zu überzeugen gewesen, mir zu verraten, dass seine ehemalige Besitzerin Bente Elwell heißt, aus einer Familie eingewanderter Norweger stammt und im zwanzig Meilen entfernten Friendship wohnt. Während sich im 17. und 18. Jahrhundert an Maines Küste viele Skandinavier ansiedelten, war das Herzland des Staates mit seinen Wäldern und sanften Hügeln, das an die kanadische Provinz Brunswick grenzt und von Norden nach Süden von Tälern zerschnitten wird, geologischen Kratzspuren der Gletscher, vorwiegend von Akadiern besiedelt, französischen Kolonisten, weswegen sich dort noch heute viele französische Familien finden.

Hätte mich der Name Torward Erling Haugesen auch interessiert, wenn ich mich mit siebzehn auf einer Interrail-Reise im norwegischen Kristiansund nicht in eine junge Frau namens Ingrid Haugesen verliebt hätte?