image

Juliane Rebentisch

Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung

image

Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Ina Kerner, Berlin
Dieter Thomä, St. Gallen

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

www.junius-verlag.de

© 2013 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelbild: Piero Manzoni,

Socle du Monde (1961)

E-Book-Ausgabe September 2019

ISBN 978-3-96060-103-6

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-697-2

4., unveränderte Auflage Oktober 2017

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zur Einführung …

hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1977 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Seit den neunziger Jahren reformierten sich Teile der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften und brachten neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervor. Auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sahen sich die traditionellen Kernfächer der Geisteswissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diesen Veränderungen trug eine Neuausrichtung der Junius-Reihe Rechnung, die seit 2003 von der verstorbenen Cornelia Vismann und zwei der Unterzeichnenden (M.H. und D.T.) verantwortet wurde.

Ein Jahrzehnt später erweisen sich die Kulturwissenschaften eher als notwendige Erweiterung denn als Neubegründung der Geisteswissenschaften. In den Fokus sind neue, nicht zuletzt politik- und sozialwissenschaftliche Fragen gerückt, die sich produktiv mit den geistes- und kulturwissenschaftlichen Problemstellungen vermengt haben. So scheint eine erneute Inventur der Reihe sinnvoll, deren Aufgabe unverändert darin besteht, kompetent und anschaulich zu vermitteln, was kritisches Denken und Forschen jenseits naturwissenschaftlicher Zugänge heute zu leisten vermag.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in der Hinsicht traditionell, dass es den Stärken des gedruckten Buchs – die Darstellung baut auf Übersichtlichkeit, Sorgfalt und reflexive Distanz, das Medium auf Handhabbarkeit und Haltbarkeit – auch in Zeiten liquider Netzpublikationen vertraut.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Ina Kerner
Dieter Thomä

Inhalt

Einleitung: Die Gegenwart der Gegenwartskunst

I.Entgrenzung und Erfahrung

1. Das offene Kunstwerk

2. Ein Neuanfang in der Ästhetik

II.Formen der Partizipation

1. Sozialintegration durch Kunst

2. Der Doppelcharakter der Teilhabe an Kunst

III.Der Plural der Kunst

1. Medienspezifik, Verfransung, Intermedialität

2. Das ästhetische Recht der Singularität

IV.Grenzgänge

1. Die Außergewöhnlichkeit des Gewöhnlichen: das Readymade

2. Die Materialität der Idee: Konzeptkunst

3. Arbeit an der visuellen Kultur: die Pictures-Generation

4. Kritik der Institution/Institution der Kritik: Kunst im Kontext

5. Die Aufgabe der Übersetzung: Welt und Kunstwelt

6. Die Zukunft des Vergangenen: Geschichte in der Kunst

7. Dialektik von Natur und Kultur: das Erbe der Land Art

Dank

Anhang

Anmerkungen

Über die Autorin

Einleitung: Die Gegenwart der Gegenwartskunst

Gegenwartskunst, könnte man etwas tautologisch formulieren, hat Konjunktur. Kaum eine Stadt, die nicht durch ein Museum der Gegenwartskunst demonstrierte, was sie auf sich hält. An immer mehr Orten weltweit widmen sich Biennalen regelmäßig ihrer Bestandsaufnahme und ziehen dabei ein internationales Massenpublikum an. Professuren und Forschungsprogramme werden zu ihrer Erklärung eingerichtet. Aber was besagt der Begriff Gegenwartskunst genau? Und vor allem: Auf welche Gegenwart bezieht er sich?

Auffällig ist zunächst, dass der Begriff weitgehend den der modernen Kunst abgelöst hat, wenn es darum geht, die Kunst unserer Zeit zu bezeichnen. »Absolut modern« zu sein ist heute offenbar endgültig nicht mehr zeitgemäß – und dies, obwohl Arthur Rimbauds Forderung von 18731 noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wirksam war. Wie soll man aber die Absetzung der zeitgenössischen Kunst, der Kunst der Gegenwart, von Begriff und Phänomen der Moderne verstehen? Eine erste Intuition könnte sein, diese Bewegung als eine Distanzierung von den programmatischen Absetzbewegungen der modernen Kunst selbst zu verstehen. Moderne Kunst, das war schließlich eine dezidiert anti-traditionelle, eine dem Fortschritt verschriebene Kunst. Demgegenüber gibt sich der Begriff der Gegenwartskunst, vorderhand zumindest, neutral. »Gegenwartskunst«, könnte man deshalb meinen, bezeichnet schlicht das zur Zeit Gegebene. Jedoch greift eine solche Bestimmung, nach der sich der Begriff neutral auf diejenige Kunst beziehen soll, die eben gerade jetzt entsteht, offenkundig zu kurz. Denn dann wäre alle Kunst einmal Gegenwartskunst gewesen und wäre alles gestern Produzierte bereits keine Gegenwartskunst mehr. Erschwerend kommt hinzu, dass jeder Versuch, der Gegenwart dadurch habhaft zu werden, dass man sie auf einen Jetztzeitpunkt zusammenzieht, ohnehin durch sich selbst unterlaufen würde; sie springt just in dem Moment, in dem man sie sich auf diese Weise gegenwärtig zu machen versucht, weg.2

Allerdings gibt es noch eine ganz andere Interpretation des neutralen Anscheins, den der Begriff Gegenwartskunst erweckt, eine Interpretation, die ihm nicht selbst aufsitzt, sondern ihn vielmehr als Ideologie kritisiert. Nach den entsprechenden Diagnosen hat sich der Begriff der Gegenwartskunst in dem Maße gegen den der modernen Kunst durchgesetzt, wie jede Perspektive auf historische Veränderung verloren gegangen ist – und zwar zugunsten einer Scheindynamik, die nichts anderes ist als die Fortsetzung und Bestätigung des Immergleichen. Die andauernde Produktion von Neuem, die in der Gegenwartskunst zu verzeichnen ist, erhebt nach dieser Diagnose, anders als dies noch bei den modernen Avantgarden der Fall war, keinen Anspruch auf ein gegenüber der Tradition Anderes. Das Neue sei nur noch originell, nicht mehr originär – es setze sich allenfalls individualistisch ab, aber produziere keinen neuen – über die Originalität des Einzelnen hinausreichenden – Anfang mehr.3 Die Gegenwart der Gegenwartskunst ist dieser düsteren Diagnose zufolge nichts als der Albtraum eines ewigen Jetzt, eine flache Gegenwart ohne historische Tiefe, die sich aufs Beste mit einer umfassenden Durchökonomisierung der Lebenswelt verträgt, als deren Konsequenz es nur noch Neues zu konsumieren, nicht aber zu leben gibt. Die empiristische Fixierung auf das Jetzt in der Kunst ist dann das genaue Korrelat einer in Immanenz gefangenen Zeit.4

Dieser Lagebeschreibung entspricht das diffuse Gefühl, dass die Gegenwart nicht mehr von dem Richtungsvektor einer geschichtlichen Entwicklung bestimmt wird, sondern sich eigentümlich wattig ausdehnt, dass sie »breiter« wird, wie Hans Ulrich Gumbrecht formuliert.5 Entsprechend konturlos erscheint der Kritik auch die Kunst einer solchen Gegenwart. Statt selbst eine klar identifizierbare und von Vergangenem unterschiedene Bewegung hervorzubringen und so Geschichte zu schreiben, eigne sich die Gegenwartskunst die Bewegungen der Vergangenheit auf eine Weise an, die jedes Geschichtsbewusstsein nivelliert. Indem sie das Vergangene unterschiedslos zum verfügbaren Material aktueller Produktion mache, dehne die Gegenwartskunst ihre eigentümlich geschichtslose Gegenwart auch nach hinten nur immer weiter aus. Die Gegenwartskunst absorbiert demnach in dem Maße alle bisherigen -ismen, alle historischen Bewegungen, wie sie sich selbst nicht mehr als Teil einer historischen Entwicklung identifizieren lässt, wie sie also selbst gerade kein -ismus mehr ist, vor allem eben auch kein Modernismus. Dieser kulturpessimistischen Lesart zufolge hat sich im Blick auf die Gegenwartskunst mithin tatsächlich verwirklicht, was man in den 1990er Jahren unter dem Stichwort »Posthistoire« diskutierte. Alles erscheint dieser Lesart, als wäre die Kunst in eine Zeit nach dem Ende der Geschichte eingetreten: An die Stelle einer über den Stil vermittelten Vergegenwärtigung der historischen Zeit sei eine eklektische Nivellierung historischer Differenzen getreten, an die Stelle sichtbarer Brüche eine falsche Totalität und an die Stelle entschiedenen Engagements Indifferenz und Langeweile.

Nun lässt sich nicht bestreiten, dass es all dies in der gegenwärtigen Kunstwelt gibt: leeren Eklektizismus, Geschichtsvergessenheit, Indifferenz, Langeweile. Die Frage aber ist, ob von diesen Phänomenen auf das Ganze geschlossen werden sollte. Zwar gehört es mittlerweile fast schon zum guten Ton, sich kritisch vom Begriff der Gegenwartskunst zu distanzieren – sei es, um die eigene Ernsthaftigkeit gegenüber dem Verdacht zum Ausdruck zu bringen, man folge bloß den aktuellen Konjunkturen, sei es aufgrund eines gewissen Ungenügens an einem Begriff, der, wie der weitgehend synonym verwendete der zeitgenössischen Kunst, der Contemporary Art, kein Jenseits mehr zu kennen scheint und daher natürlich gerade das Begehren der kritischen Intelligenz wecken muss, ihn hinter sich zu lassen. So veranstaltet man Symposien mit Titeln wie Beyond What Was Contemporary Art6, um zu signalisieren, dass die vermeintlich geschichtslose Phase der Gegenwartskunst selbst nur eine historische Episode ist, der eine andere folgen kann. Allerdings ist es symptomatisch, dass die Kritik an der Geschichtslosigkeit der Gegenwartskunst mit Vorliebe von Akteuren der gegenwärtigen Kunstwelt selbst formuliert wird. Denn das lässt darauf schließen, dass die Posthistoire-Diagnose nicht die ganze Wahrheit über die Gegenwartskunst aussprechen kann. Wenn dem aber so ist, so muss dies auch bedeuten, dass signifikante Bestände der Gegenwartskunst gegen die kulturpessimistische Diagnose auch ganz anders gedeutet werden können. Tatsächlich gibt es einigen Grund, hier nicht vorschnell das Kind mit dem Bade auszuschütten. Was wäre, wenn man die Absetzung der Gegenwartskunst von der Programmatik der Moderne weniger als einen Ausstieg aus der Geschichte denn als eine kritische, eine begründete Wendung gegen bestimmte Aspekte der Moderne verstünde? Folgt man dieser Intuition, so verliert freilich der Begriff Gegenwartskunst sogleich seinen problematisch neutralistischen Sinn und wird normativ als eine Figur des Fortschritts an kritischem Bewusstsein vom Gehalt der Moderne lesbar.

Ein entsprechendes Verständnis der Gegenwartskunst kann sich freilich nicht mit dem empiristischen Registrieren von vermeintlich Gegebenem zufriedengeben, es muss sogar dezidiert anti-empiristisch sein. Etwas als Gegenwartskunst zu qualifizieren heißt dann, es normativ auszuzeichnen, und zwar sicherlich nicht zuletzt hinsichtlich der in ihm sich manifestierenden kritischen Auseinandersetzung mit den Deutungsmustern, die für die Beschreibung der eigenen Zeit bereitstehen. Der volle normative Sinn des Begriffs Gegenwartskunst besteht darin, dass sie ihre historische Gegenwart gegenwärtig machen soll. Zeitgenossenschaft bedeutet folglich für diejenigen, die Kunst produzieren, ebenso wie für diejenigen, die die Kunst ihrer Zeit in Gedanken zu erfassen versuchen, viel mehr als die bloße Teilhabe an der chronologischen Zeit. Von Boris Groys stammt der schöne Gedanke, dass der Zeitgenosse, wie jeder gute Genosse, Gefährte oder Kamerad, der eigenen Zeit helfen, ihr beispringen sollte, wenn es schwierig wird – zum Beispiel dann, wenn sie als unproduktiv, als in klebriger Immanenz befangen, als indifferent und bedeutungslos wahrgenommen wird.7 Der eigenen Zeit gegenüber in dieser Weise treu zu sein, ein guter Genosse oder eine gute Genossin zu sein, bedeutet dabei nicht zuletzt, in das Kontinuum der chronologischen Zeit gewisse Diskontinuitäten einzufügen. Mit der Zeit zu sein, kon-temporär zu sein, heißt, so formuliert es Giorgio Agamben, die Zeit zu spalten, Zäsuren einzufügen, die sie allererst lesbar machen.8 Denn um den historischen Ort der Gegenwart zu bestimmen, muss man die Gegenwart zur Vergangenheit in ein Verhältnis setzen, und zwar so, dass die Gegenwart durch dieses Verhältnis eine Richtung, die Richtung einer historischen Entwicklung erhält.

Welche Zäsuren aber lassen sich setzen, um die Gegenwart der Gegenwartskunst in diesem Sinne näher zu konturieren? Der mexikanische Kunstkritiker und Kurator Cuauhtémoc Medina bemerkt in seinem Beitrag zu einem Sammelband über die Frage What Is Contemporary Art?, dass in dieser Angelegenheit keineswegs Einigkeit herrscht: Ein Nachschlagewerk mit dem Titel Theories and Documents of Contemporary Art nimmt beispielsweise 1945 zum Ausgangspunkt, die Tate Modern hingegen organisiert ihre Bestände der Gegenwartskunst im Blick auf die künstlerischen Produktionen nach 1965, und in jüngerer Zeit wird verstärkt auch erst 1989 als dasjenige Datum genannt, durch das die Gegenwart der Gegenwartskunst Profil gewinnen soll.9

An dieser auf den ersten Blick sehr heterogenen Reihe – 1945, 1965, 1989 – fällt jedoch ein Verbindendes auf: Die Daten lassen sich mit verschiedenen Krisen moderner Fortschrittserzählungen in Beziehung bringen, die auf je unterschiedliche Weise mit der Geschichte der Kunst verknüpft sind. Wenn es richtig ist, dass sich der Begriff der Gegenwartskunst programmatisch von dem der Moderne absetzt, und zwar in einer Weise, die die modernen Fortschrittsideen mit betrifft, so haben wir es hier tatsächlich mit einer signifikanten Reihe zu tun. Statt aber aus diesem Zusammenhang – wie die Vertreter der Posthistoire-These – kurzerhand zu folgern, dass die Gegenwartskunst für eine Krise des Fortschritts überhaupt steht und also der Begriff des Fortschritts im Blick auf die Gegenwartskunst selbst gar keinen Sinn mehr ergibt, sollte man, so meine Überzeugung, die künstlerische Kritik moderner Fortschritts- und Geschichtsmodelle selbst als Fortschritt werten. Und das gilt für alle drei der genannten Etappen.

Das erste Datum, 1945, markiert eine Schwelle, nach der es nicht mehr möglich ist, Geschichte nach Hegel’schem Modell unmittelbar als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit zu fassen. Denn es steht für die Erfahrung einer politisch-moralischen Katastrophe von derartigen Ausmaßen, dass diese Auffassung in ihren Grundfesten erschüttert werden musste. Nach Auschwitz, so fasst es Theodor W. Adorno bündig, »der bereits vollzogenen […] Regression, wirkt nicht nur jede positive Fortschrittslehre, sondern jede Behauptung eines Sinnes der Geschichte problematisch affirmativ«10. Dieser Einschnitt hatte auch Auswirkungen auf den ästhetischen Diskurs. Vor seinem Hintergrund konnte sich die Rede von einer Fortschrittlichkeit der Kunst nur noch auf solche Werke beziehen, die dem falschen Optimismus des idealistischen Fortschrittsmodells entgegenarbeiteten. Dies schlug sich nicht zuletzt in einer künstlerischen Kritik an der von der idealistischen Ästhetik als Ausdruck von Freiheit verherrlichten Schönheitskonvention nieder. So ist bereits für die vielleicht bis heute einflussreichste (nachkriegs-)modernistische Ästhetik – die von Adorno – nicht mehr die Kategorie des Schönen, sondern die des Erhabenen entscheidend: An die Stelle der selbstgerecht über ihr Anderes triumphierenden Schönheit tritt eine Arbeit des Formlosen im Herzen der (dadurch nicht mehr affirmativ schönen) Form.11

Die zweite Schwelle, von der Tate etwas willkürlich auf das Jahr 1965 datiert, steht für einen Entwicklungsstand der Kunst, der nicht mehr ohne Weiteres mit den Kategorien der nachkriegsmodernistischen Ästhetik kompatibel ist. Denn die Kunst wendet sich in den 1960er Jahren mit Nachdruck gegen das System der Künste sowie gegen die Einheit des Werks – gegen Voraussetzungen also, welche die Ästhetik der 1950er Jahre auch dort noch bestimmen, wo sie sich ins Zeichen des Erhabenen stellt. Zwar beginnt die Entwicklung zu offenen und intermedialen Werken bereits früher, aber in den 1960er Jahren verstärkt sich diese Tendenz derart, dass sie unabweisbar und somit für die modernistische Kunsttheorie zum Problem wird. Denn es begegnen nun immer häufiger Werke, die sich weder der Tradition allein einer Kunst zuordnen lassen noch überhaupt sich auf die traditionellen künstlerischen Medien beschränken, um stattdessen neue Technologien und industrielle Produktionsweisen in den Horizont künstlerischen Schaffens einzulassen. Überdies geben die Werke oftmals nicht mehr zu erkennen, wo die Grenze zu ihrem nicht-künstlerischen Außen verläuft; vielmehr destabilisieren sie diese gezielt. Durch diese Entwicklungen gerät die nachkriegsmodernistische Kunsttheorie, die, bei aller Kritik der idealistischen Ästhetik, noch an der Idee geschlossener Werke und an der Notwendigkeit einer Einteilung der Kunst nach Künsten festhält, in eine Krise – und mit ihr der Begriff des künstlerischen Fortschritts. Denn angesichts hybrider und offener Werke erscheint es auf den ersten Blick unmöglich, überhaupt noch Entwicklungslogiken zu identifizieren. Die entgrenzten Werke scheinen sich nämlich nicht nur dem Vergleich mit der Kunst der Vergangenheit zu entziehen, weil sie sich – als intermediale – nicht mehr eindeutig vor dem Hintergrund je einer Tradition (der Musik, der Malerei, der Bildhauerei, der Literatur usw.) lesen und beurteilen lassen, sie sind – durch ihre unklaren Grenzen zur nicht-ästhetischen Lebenswelt – noch nicht einmal mehr als ein objektiv Bestimmtes gegeben. Denn es ist hier vielfach unklar, welches Element überhaupt noch zum Werk zu zählen ist und welches nicht mehr.

Dieser Umbruch ist sicher der für die Gegenüberstellung von Gegenwartskunst und moderner Kunst entscheidende, weil hier die mit dem Begriff des High Modernism assoziierte Kunsttheorie der Nachkriegsmoderne ausdrücklich an eine Grenze kommt, und zwar nicht zuletzt hinsichtlich ihrer Begriffe von Fortschritt und Geschichte. Entsprechend muss auch die Posthistoire-Diagnose als Indikator für eine zweifelsohne tiefgreifende Veränderung verstanden werden. Jedoch kann diese Veränderung in einem ganz anderen Licht erscheinen, wenn man sich in kunsttheoretischer Hinsicht von den kulturpessimistischen Diagnosen ab- und einer nicht minder tiefgreifenden Neuorientierung in der philosophischen Ästhetik zuwendet. Der in diesem Zusammenhang maßgeblichen, weil auch in Reaktion auf die entsprechenden Entwicklungen in der Kunst ausgebildeten ästhetischen Theorie zufolge haben wir es mit einer Situation zu tun, die nicht das Ende der Kunst und ihrer Geschichte, sondern lediglich das Ende einer bestimmten Kunsttheorie beziehungsweise Ästhetik samt ihrem eindimensionalen Modell von Fortschritt und historischer Entwicklung bedeutet.12

Dass sich die Kunst seit den 1960er Jahren nicht mehr in die Entwicklungsgeschichten der traditionellen Kunstgattungen einordnen lässt, ja dass die entgrenzten Werke überhaupt nicht mehr als ein objektiv Bestimmtes gegeben, sondern aufgrund ihrer offenen Form vielmehr nachdrücklich auf ihr Konstituiertwerden durch einander widerstreitende Interpretationen, Lektüren, Erschließungen verweisen, erscheint in dieser Perspektive weniger als das Symptom einer generellen Geschichtsvergessenheit denn als Manifestation eines angemessenen Verständnisses der Geschichtlichkeit von Kunst. Tatsächlich zeigt schon ein oberflächlicher Blick auf die durch Konjunkturen, Spannungsverluste, Latenzzeiten und Wiederentdeckungen geprägten Rezeptionsgeschichten beliebiger Werke, dass deren geschichtliches Leben nicht in der Rolle aufgeht, die ihnen von einer Fortschrittsgeschichte zugewiesen werden mag. Historisch wandelbare Erfahrungen erschließen die Werke auch in ihrem Innovationspotenzial immer wieder neu, und umgekehrt lässt das Ausbleiben solcher Erschließungen die Werke in Bedeutungslosigkeit versinken. Daran zeigt sich übrigens auch, dass Zeitgenossenschaft nicht irgendeine Zusatzqualität ist, die Kunstwerke haben können oder auch nicht, sondern dass sie für ihren Begriff wesentlich ist. Alle bedeutende Kunst, alle Kunst im emphatischen Sinne, ist zeitgenössisch. Sie hat Bedeutung für die Gegenwart.

Das hat Konsequenzen auch für die Kanon-Diskussion. Statt von der transhistorischen Gültigkeit großer Werke auszugehen, rückt nun der Umstand in den Blick, dass sich solche Größe selbst historisch bildet: in der und durch die Geschichte ihrer Neu- und Wiedererschließungen in jeweils zeitgenössischen Kontexten. Das bedeutet auch, dass der Kanon in jedem Moment zur Disposition steht oder jedenfalls prinzipiell stehen kann, man muss ihn sich dynamisch vorstellen. Die vielen Wiederentdeckungen von vergessenen Künstlern und Künstlerinnen oder Kunstwerken durch Protagonisten der zeitgenössischen Kunst wären dann ebenfalls nicht, jedenfalls nicht allesamt, Ausdruck eines bloß subjektiven Retro-Geschmacks, der sich sein Material zum Zwecke individueller Distinktion einverleibt, sondern Ausdruck eines komplexeren Verständnisses von (Kunst-)Geschichte. Und es ist sicher nicht verfehlt, darin auch eine Korrektur im Verständnis der Moderne selbst zu sehen. Obwohl die Moderne im Rahmen modernistischer Theoriebildung zuweilen erscheint, als gäbe es für sie nur eine einzige zeitliche Richtung – die nach vorne –, ist sie, worauf Jacques Rancière aufmerksam gemacht hat, faktisch doch mindestens ebenso durch bahnbrechende Neuaneignungen der Tradition geprägt. Die moderne »Tradition des Neuen« wäre unzureichend verstanden, ignorierte man die »Neuheit der Tradition«, die mit ihr einhergeht.13

Im Zeichen einer Auseinandersetzung um das Verständnis von Modernität, Geschichte und Fortschritt steht auch die jüngste Schwelle, die mit dem Begriff der Gegenwartskunst assoziiert wird: 1989. Das Datum steht weltpolitisch für das Ende des Kalten Krieges und die sogenannte Globalisierung, unter deren Überschrift sich einerseits die Durchsetzung eines ebenso global operierenden wie neoliberal-deregulierten Kapitalismus vollzieht, andererseits aber auch eine neue Aufmerksamkeit für Fragen des Postkolonialismus zu verzeichnen ist. Im Blick auf die Entwicklung in der Kunst ging mit Letzterer freilich eine weitere Kritik an den modernistischen Fortschrittsnarrativen einher: Problematisch wurde nun verstärkt deren Verengung auf das, was die Kritik polemisch, aber treffend als NATO-Kunst bezeichnet hat.14 Wenn es hier um eine kritische Reflexion des universalistischen Anspruchs der westlichen Moderne im Zeichen multipler Modernen geht, um die Anerkennung einander durchdringender Genealogien und komplexer Übersetzungsverhältnisse, so steht deren Untersuchung nicht zuletzt auch im Dienste eines Verständnisses der Gegenwart, das diese gerade nicht als ort- und zeitlos vorstellt, sondern in ihrer jeweiligen geografischen, kulturellen und historischen Spezifik vergegenwärtigt.

Keines der drei genannten Daten dokumentiert mithin den Ausstieg der Gegenwartskunst aus der Geschichte – als wollten Künstler und Künstlerinnen heute die schlechthin existenzielle Frage umgehen, ob Fortschritt sei. Vielmehr stehen die Daten in jeweils anderer Weise für ein Umdenken in dieser Frage, das beinhaltet, Fortschritt nicht mehr notwendig mit der Metaphorik des linearen Voranschreitens zu assoziieren.15 Insofern dieses Umdenken aber nicht nur in kritischer Auseinandersetzung mit modernen Geschichts- und Fortschrittsmodellen erfolgt, sondern dabei zugleich an das aufklärerische Potenzial der Moderne anknüpft, kann es auch als eine kritische Selbstüberschreitung und Selbstüberwindung der Moderne begriffen werden. Besonders evident wird das bezeichnenderweise gerade an der jüngsten der genannten Entwicklungen in der Gegenwartskunst, denn angesichts der global ungleichzeitig und lokal spezifisch sich entfaltenden Modernen stellt sich die Frage nach dem Verbindenden. Gerade diese Entgrenzung, die Entgrenzung der Moderne selbst, forciert mit anderen Worten noch einmal die Frage nach dem Begriff der Moderne. Die avancierte Gegenwartskunst bezieht sich also auf die Moderne offenkundig nicht in der Weise, dass sie mit ihrem Projekt abgeschlossen hätte; sie ist nicht mit ihr »fertig« in einem Sinne, der alles mit ihr Assoziierte hinter sich gelassen hätte. Die Gegenwart der Gegenwartskunst scheint vielmehr die einer sich kritisch selbst transformierenden, einer deshalb als wesentlich unvollendet zu denkenden Moderne zu sein.

Dafür spricht auch, dass die These des Bruchs selbst noch im Blick auf das Verhältnis zu kurz greift, das die entgrenzte Kunst der Gegenwart zur Ästhetik der Nachkriegsmoderne unterhält. So lässt sich etwa der Durchbruch zu offenen Werkformen durchaus auch als Konsequenz aus dem Innendruck deuten, unter den die geschlossene Form bereits unter dem Einfluss einer die negative Arbeit der Formlosigkeit betonenden Ästhetik des Erhabenen geraten war. Es ließen sich noch andere solcher Zusammenhänge rekonstruieren. Dass einige unter dem Begriff der Gegenwartskunst firmierende Sammlungen oder Dokumentationen Werke mit aufnehmen, die dem High Modernism der 1950er Jahre zugerechnet werden, und umgekehrt Institutionen, die sich unter den Titel der modernen Kunst stellen, wie beispielsweise das Frankfurter Museum für Moderne Kunst (MMK), als Häuser bekannt sind, in denen aktuelle Positionen der Gegenwartskunst gezeigt werden, mag als ein weiteres Indiz dafür zählen, dass die Spannung, die der Begriff der Gegenwartskunst zu dem der modernen Kunst unterhält, nicht im Sinne eines absoluten Bruchs, sondern im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Projekt der Moderne verstanden werden sollte, durch die allein ihm die Treue gehalten werden kann.

Obwohl dies alles darauf hindeutet, wie der mit den Tendenzen zur Entgrenzung der Kunst und der Künste in den 1960er Jahren beginnende kunstpraktische und -theoretische Umbruch verstanden werden sollte, nämlich im Sinne einer kritischen Fortsetzung des modernen Projekts – und nicht seiner Destruktion oder Ersetzung im Ganzen –, relativiert sich dadurch keineswegs, dass es sich um einen für das Verständnis von Kunst weitreichenden Umbruch handelt. Denn sofern sich die modernistischen Ästhetiken, bei aller Unterschiedlichkeit, ausnahmslos an der Vorstellung eines in sich geschlossenen und klar einer Kunst zuzuordnenden Werks orientieren, wird ein ganzes kunsttheoretisches Paradigma durch kunstpraktische Entwicklungen herausgefordert, die sich dezidiert gegen das geschlossene Kunstwerk kehren und gezielt die Grenzen zwischen den Künsten und zwischen Kunst und Nichtkunst destabilisieren. Insofern diese Entwicklungen also zentrale begriffliche Voraussetzungen der (nachkriegs-)modernistischen Kunsttheorie und Ästhetik betreffen, spricht einiges dafür, den Begriff der Gegenwartskunst mit diesem Umbruch zu assoziieren. Wenn diese Einführung – wie alle Bände der Reihe, in der sie erscheint, eine Theorieeinführung – ihren Ausgang also nicht schon bei der Kunst der Nachkriegsmoderne, sondern bei jenen seit den 1960er Jahren sich intensivierenden Entwicklungen zur Entgrenzung der Kunst und der Künste nimmt, so geschieht dies deshalb, weil es hier um einen theoretischen Paradigmenwechsel geht, bei dem nichts Geringeres auf dem Spiel steht als unser Begriff von Kunst – wenn auch freilich umstritten ist, wie das neue kunsttheoretische Paradigma genau ausbuchstabiert werden sollte.

Die Perspektive dieser Einführung ist folglich eine systematische. Sie konzentriert sich auf Grundprobleme von Kunsttheorie und Ästhetik, die sich im Blick auf die Entwicklungen in der Kunst der letzten fünfzig Jahre auf besonders nachdrückliche Weise neu gestellt haben. Aus den vielfältigen und thematisch überaus weitgefächerten Beiträgen zur Gegenwartskunst greift sie daher nur solche heraus, die sich ausdrücklich auf die entsprechenden kunsttheoretischen Probleme beziehen. Dabei ist jedoch die disziplinäre Zuordnung der Beiträge ebenso wenig entscheidend wie die Frage, ob sie überhaupt einem akademischen Kontext zuzurechnen sind: Die in diesem Zusammenhang relevante Theoriearbeit stammt aus der Philosophie ebenso wie aus kunstwissenschaftlichen Einzeldisziplinen oder von Kunstkritikern, Kuratoren oder Künstlern. Die Einführung unternimmt den Versuch einer Strukturierung des zwischen den akademischen Disziplinen, aber auch zwischen Academia und Kunstwelt geführten kunsttheoretischen Diskurses in vier Kapiteln. Sie stellt zunächst zwei Ansätze vor, die den kunstpraktischen und -theoretischen Umbruch der letzten fünfzig Jahre in einem allgemeineren Rahmen diskutieren (Kapitel I), um sodann den Implikationen dieses Umbruchs auf einzelnen Problemfeldern näher nachzugehen. Die den Diskurs um die Gegenwartskunst strukturierenden Probleme betreffen, erstens, die Frage, wie Partizipation an und durch Kunst näher bestimmt werden kann (Kapitel II), zweitens die Frage nach dem Schicksal der traditionellen Kunstgattungen und der mit ihnen verbundenen theoretischen Probleme (Kapitel III) sowie, drittens, die selbst noch einmal in sehr verschiedenen Dimensionen geführte Debatte um das Verhältnis von Kunst und Nicht-Kunst (Kapitel IV).

Damit ist bereits angezeigt, was von dieser Einführung nicht erwartet werden sollte. Es kann nicht darum gehen, die Kunst-geschichte der letzten fünfzig Jahre zu erzählen, die hier unter den Titel der Gegenwartskunst gestellt werden. So bedeutsam eine solche Geschichte gerade im Blick auf die Posthistoire-These wäre, die die Gegenwartskunst nicht zuletzt deshalb verwirft, weil sie ihr jede geschichtliche Entwicklung abspricht, so wenig kann ein solches, auf Detailstudien angewiesenes Unternehmen Gegenstand der vorliegenden Einführung sein. Zwar werden historische Zusammenhänge immer wieder eine Rolle spielen, und auf diese Weise werden auch ein paar weitere (über das eben Skizzierte hinausgehende) Anhaltspunkte für die interne Historisierung des halben Jahrhunderts gegeben werden, das die Gegenwart der Gegenwartskunst nach dem hier vertretenen Verständnis bereits andauert. Aber solche Anhaltspunkte werden sich allein aus der Diskussion der kunsttheoretischen Debatten ergeben, die auf die Entwicklungen in der Kunst reagiert haben. Aus dieser Konzentration ergibt sich weiterhin, dass diese Einführung keineswegs den Anspruch erhebt, in die äußerst vielfältigen Themen einzuführen, die in der Gegenwartskunst verhandelt werden; diese finden nur insofern Erwähnung, als sie für die kunsttheoretischen Probleme einschlägig sind, die diese Einführung ins Zentrum stellt – ihnen jeweils als solchen gerecht werden zu wollen bedeutete, den kunsttheoretischen Fokus zugunsten umfassender interdisziplinärer Spezialdiskussionen aufzugeben, von denen die meisten einen eigenen Einführungsband verdienten.16 Schließlich kann es hier auch nicht darum gehen, einen auch nur annähernd vollständigen Überblick über die überaus vielfältige Kunstpraxis zu geben, die die gegenwärtige Kunstwelt international in Bewegung hält.17 Statt den zum Scheitern verurteilten Anspruch auf empirische Vollständigkeit zu erheben, geht es dieser Einführung darum, einige Bausteine für einen normativen Begriff von Gegenwartskunst zusammenzutragen. Damit will sie sich einerseits, so viel sollte bereits jetzt deutlich geworden sein, gegen die kulturpessimistische Lesart der Gegenwartskunst wenden, andererseits aber auch gegen die Bereiche der gegenwärtigen Kunstwelt, die von den kulturpessimistischen Diagnosen durchaus getroffen werden. Die Perspektive dieser Einführung ist also keineswegs neutral: Sie entspricht dem Programm einer als kritisches Projekt verstandenen Kunsttheorie, nämlich ein Verständnis der Kunst im Lichte ihrer besten Möglichkeiten zu entwickeln. Diese Perspektive bestimmt auch die Diskussion der theoretischen Positionen, die in dieser Einführung vorgestellt werden sollen. Ihr Ziel ist die Einführung in eine noch andauernde Debatte um kunsttheoretische und ästhetische Grundlagenfragen, die sich an Begriff und Phänomen der Gegenwartskunst richten. Sie will diese Debatte weniger in der Pseudoobjektivität neutraler Darstellung stillstellen, denn, selbst streitbar, zu ihrer Fortsetzung und Vertiefung anregen.

I. Entgrenzung und Erfahrung

Während sich für die in den letzten fünfzig Jahren zu verzeichnenden Entwicklungen hin zu intermedialen und offenen Werken der Begriff der Entgrenzung durchgesetzt hat, ist in der ästhetischen Theorie nach 1970, besonders in der deutschsprachigen philosophischen Ästhetik, parallel dazu noch ein anderer Begriff wichtig geworden: der der Erfahrung. Hierzulande standen denn auch beide Begriffe – Entgrenzung und Erfahrung – in den letzten Jahren im Zentrum kunsttheoretischer Debatten um das Verständnis der Gegenwartskunst.1 Zwar mag die Zentralstellung dieser beiden spezifischen Begriffe besonders die deutschsprachige Diskussion charakterisieren; doch werden unter ihrer Überschrift Motive und Probleme verhandelt, die von so grundsätzlicher Natur sind, dass sich auch die internationale Diskussion auf sie beziehen lässt.

Nun konzentriert sich der eine der beiden Begriffe, der der Entgrenzung, eher produktionsästhetisch auf die neuartigen Formen, die die Kunst seit den 1960er Jahren annimmt, während der andere, der der Erfahrung, eher rezeptionsästhetisch die Wirkungen fokussiert, die von der Kunst ausgehen. Weil die beiden Begriffe nicht auf dieselben Problemfelder antworten, werden sie in den beiden folgenden Abschnitten auch zunächst getrennt voneinander diskutiert. Gleichwohl aber wird sich zeigen, dass beide Diskussionen auch aufeinander verweisen. So ist der Begriff der Erfahrung nicht zuletzt in Reaktion auf die durch die Entgrenzungstendenzen in der Kunst ausgelöste Krise des Werkbegriffs zum Schlüsselbegriff ästhetischer Theoriebildung geworden. Diese kunstpraktischen Entwicklungen sind, wie wir sehen werden, zwar nicht der einzige, aber immerhin doch ein prominenter Grund für die Theorie, die Spezifik des Ästhetischen überhaupt nicht mehr in bestimmten Objekteigenschaften, also nicht mehr im objektivierbaren Werk aufzusuchen. Stattdessen wird begrifflich von Werk auf Erfahrung umgestellt, das heißt, die Spezifik des Ästhetischen wird nun in einem besonderen Verhältnis zwischen interpretierendem Subjekt und wesentlich bedeutungsoffenem Objekt ausgemacht. Dadurch wird die Idee eines objektiv gegebenen Werks in einer Weise unterlaufen, dass die explizit offenen Werkformen nun geradezu als Paradigma des Ästhetischen erscheinen. Die enge Verzahnung der Diskussionen zeigt sich aber nicht nur daran, dass sich die Umstellung ästhetischer Theoriebildung auf den Begriff der Erfahrung durchaus als Antwort auf die Entgrenzungstendenzen in der Kunst verstehen lässt. Vielmehr wird der Zusammenhang von Entgrenzung und Erfahrung auch im Blick auf die Kunstpraxis selbst evident. Im näheren Blick auf die offenen Werkformen zeigt sich nämlich, dass diese gar nicht unabhängig von der Instanz ihrer Erfahrung – von den Subjekten, die sich interpetierend auf sie beziehen – gedacht werden können. Zu ihrer vollen Entfaltung bedürfen die offenen Werke ganz ausdrücklich des interpretierenden Engagements, wenn nicht gar ganz handgreiflicher Interventionen vonseiten derer, die sich auf sie einlassen. Wir haben es hier mit Werken zu tun, die, anders als die selbstgenügsam in sich geschlossenen Werke, bereits ihrer Form nach mit ihren, wenn nicht sogar auf ihre Interpreten rechnen. In der offenen Form neuerer Kunst manifestiert sich die aktive Rolle, die den Interpreten bei der Konstitution des Werks als Werk zukommt: Es wird erst durch sein Interpretiertwerden ins Werk gesetzt.

Anhand von zwei besonders einflussreichen Texten – Umberto Ecos »Die Poetik des offenen Kunstwerks«2 (Abschnitt 1) und Rüdiger Bubners für die erfahrungstheoretische Wende in der philosophischen Ästhetik bahnbrechendem Aufsatz »Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik«3 (Abschnitt 2) – soll dieser Zusammenhang nun weiter erhellt werden. Zwar konzentrierte sich ein nicht unbeträchtlicher Teil der erfahrungstheoretischen Diskussion, die in der Philosophie im Anschluss an Bubner geführt worden ist, auf die Frage, wie die Struktur der ästhetischen Erfahrung näher zu fassen sei, so dass die kunsttheoretische Frage nach dem Gegenstand dieser Erfahrung zwischenzeitlich so weit in den Hintergrund rückte, dass sich der Eindruck der Kunstfremdheit der entsprechenden Diskussion ebenso nahelegen konnte wie die falsche Alternative zwischen »Rezeptions-« und »Produktionsästhetik«. Doch weisen gerade die beiden Klassiker der philosophischen Diskussion in ihrer Komplementarität – Umberto Ecos Opera Aperta wurde 1962 erstpubliziert, Bubners »Über einige Bedingungen« 1973 – auf einen engen Verweisungszusammenhang zwischen kunst- und erfahrungstheoretischen Überlegungen hin, der für die Theorie der Gegenwartskunst auch dort noch instruktiv ist, wo man sich nicht explizit auf diese Texte bezieht.

1.Das offene Kunstwerk

Was ist ein offenes Kunstwerk? Der Ausdruck, so gibt Umberto Eco selbst zu bedenken, ist unscharf (Eco, 30). In gewisser Hinsicht nämlich könne jedes Kunstwerk offen genannt werden. Denn auch das organische, das formal in sich geschlossene Kunstwerk kann aus unendlich vielen Perspektiven gesehen und aufgefasst werden, ohne doch dadurch aufzuhören, es selbst zu sein. Und gemeinhin halten wir eben dies für eine besondere Qualität von Kunstwerken. Jedoch sind die künstlerischen Produktionen, die Eco Anfang der 1960er Jahre beschreiben will, offen in einem sehr viel konkreteren Sinn. Sie erscheinen wie »›nicht fertige‹ Werke, die der Künstler dem Interpreten mehr oder weniger wie die Teile eines Zusammensetzspiels in die Hand gibt, scheinbar uninteressiert, was dabei herauskommen wird« (30f.). Ein Kunstwerk ist in der diagnostischen Lesart also dann offen zu nennen, wenn es sich erst durch die Intervention eines Interpreten konkret realisiert. So bleibt es etwa, das ist eines von Ecos Beispielen (vgl. 27), dem jeweiligen Interpreten von Karlheinz stockhausens Klavierstück XI überlassen, in welcher Reihenfolge er die musikalischen Phrasen montiert, die auf einem einzigen großen Blatt derart angeordnet sind, dass sich kein Hinweis auf ihre korrekte Abfolge entnehmen lässt. Denkt man jedoch an grafische Notationen, wie sie von Leuten wie Earle Browne (Four Systems), Roman Haubenstock-Ramati (Graphic Music) oder Cornelius Cardew (Treatise) entwickelt worden sind, erscheint Stockhausens Klavierstück XI noch vergleichsweise wenig offen. Während dieses dem Interpreten lediglich die Entscheidung über die Reihenfolge der ansonsten traditionell notierten und also weitgehend festgelegten Phrasen überlässt, bleibt in jenen sogar noch die Gestalt der Phrasen selbst zu interpretieren. Durch solche – grafischen – Formen der Notation wird die »Zone der Unbestimmtheit«4, die immer zwischen dem musikalischen Werk als (Vor-)Schrift und seiner Interpretation in der Aufführung besteht, radikal ausgedehnt, und zwar bis hin zu dem Punkt, an dem die Notation gerade nicht mehr leisten kann und soll, was nach Nelson Goodman doch ihre primäre Funktion ist: ein Werk von Aufführung zu Aufführung identifizierbar zu halten.5 Stattdessen gewinnt das Werk Gestalt erst durch die Interpretation, und das heißt: Es realisiert sich immer wieder neu, und zwar stets singulär, in der Relation zwischen offener (grafischer) Notation und konkreter Interpretation. So existieren von Cardews Treatise beispielsweise sehr verschiedene Aufnahmen, von denen keine auch nur ansatzweise etwas mit den anderen zu tun zu haben scheint.

So sehr also beide Redeweisen zu unterscheiden sind – die systematisch-metaphorische Rede von der Offenheit des Kunstwerks im Sinne seiner generellen Bedeutungsoffenheit und die diagnostisch-buchstäbliche Rede von der Offenheit des neueren Kunstwerks im Sinne seiner konkreten Unvollendetheit –, so sehr ist auf der anderen Seite jedoch ernst zu nehmen, dass beide Redeweisen durchaus auch in einem Zusammenhang miteinander stehen. Schließlich, so Eco, wird die Instanz des Interpreten als signifikanter Faktor im Leben eines Kunstwerks in beiden Verständnissen anerkannt. Auch die Rede von der Bedeutungsoffenheit des Kunstwerks impliziert nämlich bereits eine entwickelte Sensibilität für den Umstand, dass ein Kunstwerk nicht nur eines Schöpfers bedarf, der es hervorbringt, sondern auch fortgesetzter Akte kongenialer Interpretation, die es immer wieder neu erschließen und so in der Geschichte seiner Rezeption lebendig halten.

Die neueren offenen Kunstwerke machen daher nach Eco in gewisser Hinsicht bloß explizit, was bereits auch für die geschlossenen galt. Jedes Kunstwerk, ob formal geschlossen oder nicht, fordert »eine freie und schöpferische Antwort« (31) von seinem Publikum. Denn nur die Interpretationsleistungen seiner Betrachter, Hörer oder Leser können es schließlich beleben und in seinen ästhetischen Qualitäten freisetzen. Mit den explizit offenen Kunstwerken tritt das Bewusstsein von der konstitutiven Funktion der interpretierenden Subjektivität für das Sein der Werke allerdings nachdrücklich in diese selbst ein. Es wird zum Formprinzip.

Indes reflektiert sich in diesem Zusammenhang ein spezifisch modernes Selbst- und Weltverständnis. Obwohl, wie Eco feststellt (32), schon den Alten nicht entgangen ist, dass bei der Rezeption eines Kunstwerks stets ein subjektiver Anteil im Spiel ist, hat dies weder in der Antike noch zunächst auch in der Folge dazu geführt, dass dieser Anteil explizit anerkannt und durch die Form der Werke gefördert wurde. Man hat vielmehr lange, lange Zeit alle Anstrengungen daran gesetzt, diesen Anteil zu kontrollieren. Es wurden Mittel und Wege gefunden, die Interpretationsspielräume einzudämmen. So kann Eco zufolge beispielsweise selbst noch das allegorische Kunstwerk des Mittelalters nur in einem sehr eingeschränkten Sinn als bedeutungsoffen gelten, weil es lediglich eine überschaubare Reihe fixierter Bedeutungen zulässt. Von einer Anerkennung der Freiheit der Interpretation kann hier noch keine Rede sein. Diese Anerkennung aber bildet das Zentrum des modernen (bedeutungs-)offenen Kunstwerks. Entsprechend geht es um weit mehr als bloß darum, ob dem Interpreten nur ein paar abzählbare oder aber unendlich viele Möglichkeiten der Interpretation offenstehen: Es geht nicht um eine quantitative, sondern um eine qualitative Frage, es geht um ein ganzes »Weltbild« (34).

Die mit wenigen groben Strichen skizzierte Entwicklung zum (bedeutungs-)offenen Kunstwerk beginnt für Eco im Barock – und zwar nicht nur deshalb, weil die dynamischen, wie in ständiger Wandlung begriffenen barocken Formen von jedem Betrachter, der sie auffassen will, ebenfalls eine gewisse, zuweilen sogar konkret physische, vor allem aber mentale Beweglichkeit und Aktivität fordern, sondern auch deshalb, »weil sich hier [in der Epoche des Barock] zum erstenmal der Mensch der Norm des Kanonischen […] entzieht und in Kunst und Wissenschaft einer in Bewegung befindlichen Welt gegenübersteht, die ein schöpferisch-erfinderisches Verhalten von ihm verlangt« (35). Die barocke