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Für Verena, Mathilde und Johann

Tobias Schlicht

Soziale Kognition zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Ina Kerner, Koblenz
Dieter Thomä, St. Gallen

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

www.junius-verlag.de

© 2018 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelbild: © iStock.com/RichVintage

E-Book-Ausgabe September 2019

ISBN 978-3-96060-118-0

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-810-5

1. Auflage 2018

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zur Einführung …

… hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1977 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Seit den neunziger Jahren reformierten sich Teile der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften und brachten neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervor. Auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sahen sich die traditionellen Kernfächer der Geisteswissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diesen Veränderungen trug eine Neuausrichtung der Junius-Reihe Rechnung, die seit 2003 von der verstorbenen Cornelia Vismann und zwei der Unterzeichnenden (M.H. und D.T.) verantwortet wurde.

Ein Jahrzehnt später erweisen sich die Kulturwissenschaften eher als notwendige Erweiterung denn als Neubegründung der Geisteswissenschaften. In den Fokus sind neue, nicht zuletzt politik- und sozialwissenschaftliche Fragen gerückt, die sich produktiv mit den geistes- und kulturwissenschaftlichen Problemstellungen vermengt haben. So scheint eine erneute Inventur der Reihe sinnvoll, deren Aufgabe unverändert darin besteht, kompetent und anschaulich zu vermitteln, was kritisches Denken und Forschen jenseits naturwissenschaftlicher Zugänge heute zu leisten vermag.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in der Hinsicht traditionell, dass es den Stärken des gedruckten Buchs – die Darstellung baut auf Übersichtlichkeit, Sorgfalt und reflexive Distanz, das Medium auf Handhabbarkeit und Haltbarkeit – auch in Zeiten liquider Netzpublikationen vertraut.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Ina Kerner
Dieter Thomä

Inhalt

1.Einleitung: Die Wissenschaften vom Gedankenlesen

1.1 Homo socialis

1.2 Ein interdisziplinäres Projekt

1.3 Mentale Zustände: Intentionalität und Phänomenalität

1.4 Kurzer Überblick über die Kapitel

2.Theorie-Theorien

2.1 Anthropologische Science Fiction

2.2 Kinder als Wissenschaftler

2.3 Theoriewandel und Bayesianische Lernmechanismen

3.Modularitäts-Theorien

3.1 Careys und Spelkes Theorie des Kernwissens

3.2 Baren-Cohens Modularitätstheorie

3.3 Autismus als Störung der sozialen Interaktion

3.4 Implizites vs. explizites Gedankenlesen

3.5 Zwischenfazit

4.Simulations-Theorien

4.1 Lipps’ Theorie der Einfühlung

4.2 Goldmans zweistufige Simulations-Theorie

4.3 Probleme und Einwände

4.4 Spiegelneuronen

4.5 Simulation und Empathie

5.Enaktivistische Theorien

5.1 Aspekte situierter Kognition

5.2 Gallaghers Interaktions-Theorie

5.3 Soziale Interaktion, Individualismus und das Gespür für Andere

5.4 Direkte soziale Wahrnehmung

5.5 Das Gehirn als Vorhersagemaschine

5.6 Fazit und Ausblick: Pluralismus sozialer Kognition

Danksagung

Anhang

Literaturverzeichnis

Über den Autor

1.Einleitung: Die Wissenschaften vom Gedankenlesen

Der junge Zauberlehrling Harry Potter wird eines Tages zu seinem Lehrer Professor Snape gerufen, weil dieser ihn in der magischen Kunst der Okklumentik unterweisen soll, der Kunst, den eigenen Geist gegen magisches Eindringen und Beeinflussung von außen zu schützen (Rowling 2003: 574–76). Denn Harrys verschlagener Gegenspieler in den Romanen von J.K. Rowlings Bestsellerreihe, Lord Voldemort, sei »hervorragend in Legilimentik«. Was nun das wieder sei, möchte Harry wissen. »Das ist die Fähigkeit, Gefühle und Erinnerungen aus dem Kopf einer anderen Person herauszuziehen«, erwidert Snape. – »Er kann Gedanken lesen?«, fragt Harry verängstigt. Aber Snape weist ihn zurecht: »Der Kopf ist kein Buch, das man willentlich aufschlagen und nach Belieben studieren kann. Gedanken sind nicht innen in den Schädel eingraviert, auf dass sie von einem Eindringling gelesen werden könnten.« Wer jedoch die Legilimentik beherrsche, doziert Snape, »ist unter gewissen Voraussetzungen in der Lage, in die Köpfe seiner Opfer einzutauchen und das, was er vorfindet, richtig zu deuten.«

In gewisser Weise handelt dieses Buch ebenfalls von der magischen Kunst der Legilimentik. Allerdings betrachten wir das Gedankenlesen als eine alltägliche Fähigkeit, die wir Menschen alle mehr oder weniger gut beherrschen. Denn zwar scheinen unsere Gedanken, Gefühle, Absichten usw. in unseren Köpfen verborgen zu sein, insofern wir sie jeweils nur selbst erleben oder haben können; wir glauben aber gleichwohl oft sehr gut zu wissen, was Andere denken, fühlen oder beabsichtigen. Was ist erforderlich, um auf diese Phänomene in den Köpfen Anderer zugreifen zu können? Auf welchen Wegen gelangen wir zu diesem Wissen? Von der Untersuchung dieser Strategien unter dem Titel der sozialen Kognition handelt diese Einführung.

Zentraler Bestandteil der »Legilimentik« ist unsere Fähigkeit, das Verhalten Anderer sowie unser eigenes anhand der Selbst- und Fremdzuschreibung von Überzeugungen, Gefühlen, Wünschen und Absichten zu erklären, zu antizipieren oder sich zu vergegenwärtigen. Philosophen und Psychologen verwenden für diese Fähigkeit zahlreiche verschiedene Bezeichnungen, u.a. den nicht minder mysteriösen Ausdruck »Mindreading«, also Gedankenlesen. Shaun Nichols und Stephen Stich benennen in ihrem gleichnamigen Buch sowohl die Assoziation zu Mystik und Telepathie als auch ihre Ehrfurcht vor dieser rätselhaften Fähigkeit, die unseren Alltag so grundlegend bestimmt (Nichols & Stich 2003: 2). Das Gedankenlesen hat in der Tat etwas Magisches, vor allem solange die geistigen Phänomene, die zugeschrieben werden, den Schleier des Mysteriösen selbst noch nicht vollständig abgelegt haben. Denn die zeitgenössische Philosophie des Geistes hat keineswegs aufgezeigt, inwiefern diese mentalen Zustände und psychischen Akte als natürliche, physikalisch beschreibbare Phänomene, z.B. als Gehirnvorgänge, aufgefasst werden können (vgl. Liptow 2013, Newen 2013). Dazu mehr in Abschnitt 1.3.

Aber je nach Kontext und Diskurs findet man in der Literatur auch die Bezeichnungen »Theorie des Geistes« (theory of mind), »Alltagspsychologie« (folk psychology), »Fremdverstehen« (understanding others) und »Mentalisierung« (mentalizing). Als Alltagspsychologie bezeichnen Philosophen und Psychologen unser naives intuitives Verständnis des Mentalen, losgelöst von der wissenschaftlichen Disziplin der Psychologie. Untersucht man die Alltagspsychologie, so geht es darum, wie wir das Verhalten Anderer verstehen und vorhersagen. Antwort: häufig durch unsere Praxis, ihnen Kombinationen mentaler Zustände wie Überzeugungen und Wünsche zuzuschreiben. Sobald Kinder dazu explizit in der Lage sind, spricht man häufig davon, sie verfügten über eine Theorie des Geistes. Gemeint ist damit, dass sie das Verhalten Anderer als durch deren mentale Zustände (nicht durch deren äußeres Verhalten) verursacht verstehen. Zunächst ist es unbedenklich, diese Ausdrücke synonym zu verwenden, auch wenn sie unterschiedliche, teils ungewollte, Assoziationen wecken. Etwas unglücklich ist z.B., dass Theorie des Geistes oft nicht nur die Thematik selbst, sondern bereits eine konkrete Position zur Natur der sozialen Kognition benennt (nämlich die Theorie-Theorie, siehe Kapitel 2). Um solche Zweideutigkeiten zu vermeiden, verwende ich zur Benennung der Thematik meistens die Ausdrücke »soziale Kognition« oder »Fremdverstehen«, seltener auch »Gedankenlesen«.

»Soziale Kognition« bietet sich als neutraler Ausdruck an, auch weil er nicht derartige Verwirrung stiftet. Soziale Kognition umfasst allerdings weit mehr, als in diesem Buch besprochen werden kann. Sie umfasst z.B. weit mehr als bloß das Phänomen des Gedankenlesens oder die Zuschreibungspraxis psychischer Zustände zur Verhaltenserklärung. In der Sozialpsychologie bezeichnet der Begriff z.B. außerdem eine Bewegung, die insbesondere in den 1970er Jahren mithilfe der Methoden, Theorien und Techniken der kognitiven Psychologie sozialpsychologische Phänomene wie etwa die kognitive Dissonanz, Stereotypisierung, Selbstwissen und Selbsttäuschung sowie andere Themen untersuchte (siehe Fiske & Taylor 1991, 2017). Das kann hier nicht alles besprochen werden. Im Fokus steht die Frage, mit welchen Strategien wir die mentalen Zustände Anderer verstehen. Die Forschung der letzten fünfzig Jahre konzentrierte sich zunächst sehr stark auf die alltagspsychologische Erklärung und Vorhersage des Verhaltens, während die jüngere Forschung zunehmend andere Dimensionen sozialer Kognition in den Blick nimmt, die zwar ebenfalls mit unserem Verstehen mentaler Zustände zu tun haben, aber losgelöst vom Ziel der Verhaltenserklärung. Zur sozialen Kognition gehört allerdings auch der Phänomenbereich der Empathie – Phänomenbereich deshalb, weil der Ausdruck mittlerweile eine ganze Reihe verschiedener Phänomene von der emotionalen Ansteckung bis hin zum Mitgefühl (Batson 2009) bezeichnet, was zu einer gewissen begrifflichen Unschärfe und Unübersichtlichkeit in den Debatten geführt hat. Wie sich zeigen wird, fällt daher die Antwort auf die Frage, wie wir die mentalen Zustände Anderer verstehen, sehr komplex aus und bedarf der Erörterung nicht nur philosophischer Theorien, sondern auch der Deutung zahlreicher empirischer Befunde aus entwicklungspsychologischen und neurowissenschaftlichen Experimenten und Untersuchungen.

1.1 Homo socialis

Soziale Kognition ist ein universales und alltägliches Phänomen. Sie ist unausweichlich, weil wir uns gar nicht gegen sie entscheiden können. In unserem Alltag sind wir ständig von Menschen umgeben. Unser Zusammenleben setzt soziale Kognition voraus. Der Mensch ist auch nicht nur in einer Hinsicht, sondern in vielerlei Hinsicht ein zutiefst soziales Wesen. Das haben Philosophen spätestens seit Platon und Aristoteles immer wieder betont. Auch wenn andere Tiere ebenfalls Gemeinschaften bilden, bei der Jagd kooperieren und soziale Hierarchien kennen, so verfolgen sie dabei doch weitestgehend egoistische Ziele der Bedürfnisbefriedigung. Der Mensch hingegen bildet nicht nur politische und religiös motivierte Gemeinschaften, er kennt auch Wissenschaft sowie die diversen kollektiven Manifestationen von Sport und Kunst. Insbesondere im scheinbar biologisch fundierten Drang nach Kooperation sehen viele Forscher eine genuin menschliche Fähigkeit (Tomasello 2010). Damit verbunden ist Michael Tomasello zufolge auch die offenbar angeborene Neigung zu altruistischem Verhalten, das insbesondere Kleinkinder bedingungslos an den Tag legen. Menschen engagieren sich zudem gemeinnützig und ehrenamtlich in vielfältigen sozialen Gemeinschaften, spenden für wohltätige Zwecke und riskieren für Andere auch ihr Leben. Viele dieser Aspekte menschlichen Zusammenlebens werden ermöglicht und unterstützt durch die Sprache, die den Menschen ebenfalls wesentlich auszeichnet, aber auch ganz entscheidend durch Empathie und andere Formen sozialer Kognition, um die es hier geht.

Denn die Formen kollektiver Intentionalität, seien sie kooperativer oder kompetitiver Natur, sowie altruistisches Verhalten setzen die Fähigkeit voraus, sich in den Anderen hineinzuversetzen. Die geistigen Einstellungen Anderer zu verstehen und darüber nachzudenken ist erforderlich, um ihr Verhalten zu erklären und zu prognostizieren, um Interaktion zu koordinieren, Verabredungen zu treffen, Pläne zu schmieden oder sie, wie in politischen Kontexten, für sich und die eigene Position einzunehmen, sie zu täuschen oder zu manipulieren. Zu erkennen, was im Kopf eines Anderen vorgeht, welche Meinungen, Wünsche, Absichten und Gefühle jemand hat, bildet das Herzstück menschlicher Gesellschaften. Neuere Studien legen nahe, dass nicht nur Erwachsene, sondern bereits wenige Monate alte Säuglinge unwillkürlich die Perspektive einer anwesenden Person (z.B. ihre Blickrichtung) berücksichtigen, selbst wenn dies die gegenwärtige Situation nicht erzwingt (Kovács et al. 2010). Wir machen uns ständig Gedanken darüber, warum Menschen dies oder jenes tun, wie es ihnen geht, was sie wünschen oder beabsichtigen, wodurch sie motiviert sind, was sie vom Handeln abhält usw. Diese Fähigkeit macht uns alle gleichsam zu Psychologen, zu ›Alltagspsychologen‹, die sich das Verhalten Anderer verständlich machen, indem sie ihnen Meinungen, Wünsche und andere geistige Einstellungen zuschreiben. Eine kurze E-Mail genügt und ich kann erfolgreich voraussagen, dass mein Freund mich zwei Wochen später im Flughafenterminal am anderen Ende der Welt erwartet, weil ich davon ausgehe, dass er gewisse Dinge glaubt und andere beabsichtigt sowie einige Meinungen über meine Absichten und Überzeugungen hegt. Mein Sohn öffnet die Kühlschranktür wohl, weil er etwas zu essen oder zu trinken wünscht und weil er glaubt, dort fündig zu werden. Meine Tochter betritt freudestrahlend das Zimmer. Vielleicht, weil sie stolz auf etwas ist oder einfach nur weil sie erfreut ist, mich zu sehen und mir etwas erzählen möchte? Auch unser eigenes Verhalten können wir so auf Nachfrage plausibilisieren oder rechtfertigen: »Aber ich wollte doch nur …« – Wir sind oft davon überzeugt, dass solche Erklärungsversuche erfolgreich sind. Gleichwohl sind wir dabei nicht vor Fehleinschätzungen und Missverständnissen gefeit. Steven Pinker (1994: 94) illustriert dies mit einem amüsanten Beispiel: Sagt ein Mann zum anderen: »Ich habe vor unserer Hochzeit nicht mit meiner Frau geschlafen. Du etwa?« – Sagt der andere Mann: »Keine Ahnung. Wie hieß sie denn mit Mädchennamen?« – In diesem Dialog, bei dem nicht klar ist, ob es ein Missverständnis ist oder ob der zweite Mann sich lustig macht, spielen eine Reihe von Annahmen über die kommunikativen Absichten und Gedanken der beiden Männer eine Rolle (insbesondere die Ambiguität der Referenz des Ausdrucks »meine Frau« ist natürlich wichtig, aber auch die Frage, ob der zweite Mann den ersten auf den Arm nehmen will oder ob er es ernst meint usw.). Unsere Annahmen über die hinter den Aussagen der Männer liegenden und sie leitenden Motive füllen die Lücken und eliminieren im Bestfall Mehrdeutigkeiten im Gesagten. Auch das ist ein Anlass sozialer Kognition.

Neben solchen Erklärungen können wir Verhaltensweisen mithilfe dieser Zustände antizipieren und vorhersagen, aber auch regulieren (McGeer 2007). Wir setzen unserem eigenen Verhalten sowie dem Anderer mithilfe unseres alltagspsychologischen Wissens Grenzen, insbesondere rationaler Art. Der Lernprozess, die Gefühle, Absichten und Gedanken Anderer zu verstehen geht einher mit der Fähigkeit, die eigenen Gefühle, Absichten und Gedanken Anderen transparent zu machen, d.h. sich verständlich zu machen. Die gegenseitige Zuschreibungspraxis in der unvermeidlichen sozialen Interaktion führt unweigerlich dazu, dass man sein eigenes Verhalten bestimmten rationalen Normen unterwirft und anpasst, weil man merkt, dass die Unterstellung einer bestimmten Überzeugung auch gewisse Verpflichtungen mit sich bringt. Nicht nur das Beherrschen alltagspsychologischer Prinzipien reguliert unser Verhalten; auch unsere Persönlichkeit, unser Selbstverständnis und unsere sozialen Rollen können zu Stereotypisierungen führen (»Sie ist eine Karrierefrau«, »Er kommt eben aus Bayern«, »Ich stehe hier und kann nicht anders«), die Anderen jeweils unser Verhalten, unsere Motive und unseren Geist offenlegen. Insofern hier nicht ständig explizite Zuschreibungen spezifischer mentaler Zustände erforderlich sind, um Andere zu verstehen, weil der Kontext und unsere Kenntnis der jeweiligen Person einen Teil der kognitiven Arbeit für uns verrichten, macht sich unser alltagspsychologisches Wissen in manchen Fällen gewissermaßen entbehrlich.

1.2 Ein interdisziplinäres Projekt

Wenn wir von sozialer Kognition sprechen, von welcher anderen Form von Kognition ist sie dann unterschieden? Kognitive Systeme zeichnen sich im Gegensatz zu unbelebten Gegenständen und Automaten dadurch aus, dass sie auf Umweltreize in flexibler Weise reagieren können, statt bloß starre Verhaltensweisen an den Tag zu legen. Diese Flexibilität verdanken wir, so eine gängige Annahme der Philosophie des Geistes und der Kognitionspsychologie, interner Informationsverarbeitung. Die soziale Kognition nun unterscheidet sich von der nicht-sozialen Kognition durch die Art der Information, die verarbeitet wird. Wie schon erwähnt, sind wir in unserem Alltag ständig von anderen Menschen umgeben. Aber eben nicht nur. Die unbelebten Naturobjekte und Artefakte unterscheiden sich grundsätzlich von Menschen und anderen Tieren. Wenn wir nun unsere Interaktion mit der Natur betrachten, so ist die von dem Sozialpsychologen Fritz Heider vorgeschlagene Unterscheidung zwischen nicht-sozialer »Dingwahrnehmung« und sozialer »Personenwahrnehmung« hilfreich (Heider 1958: 33). Personen nehmen wir Heider zufolge als »Handlungszentren« wahr, die »uns absichtlich nutzen oder uns schaden« können. Als Personen gelten hier allgemein Wesen, die eine subjektive Innenperspektive aufweisen und die Welt von einem individuellen Standpunkt aus erleben. In der physikalischen Natur orientieren wir uns mittels eines intuitiven Wissens über die Naturgesetze, welches es uns ermöglicht, das Verhalten unbelebter Gegenstände mit hoher Zuverlässigkeit vorherzusagen, wenn wir sie z.B. fallen lassen oder in anderer Form manipulieren. Insofern Personen allerdings selbst Handlungszentren sind, fällt uns die Vorhersage ihrer Verhaltensweisen ungleich schwerer; wir müssen dazu, wie Heider (1958: 13) sich ausdrückt, das »nicht- oder halbformulierte Wissen über zwischenmenschliche Beziehungen benutzen, wie es sich in unserer Alltagssprache und Alltagserfahrung ausdrückt«. Heider nennt dies »common-sense-Psychologie oder naive Psychologie«. Soziale Kognition im hier verwendeten Sinn betrifft demnach diejenigen informationsverarbeitenden Prozesse, die unserer Interaktion und Kommunikation mit anderen Menschen zugrunde liegen und sie mitunter auch leiten bzw. regulieren. Aufgrund der Komplexität der sozialen Beziehungen und der Vielfalt mentaler Zustände bei uns und anderen Personen ist die soziale Informationsverarbeitung für uns Menschen eine ungleich anspruchsvollere Aufgabe als die Informationsverarbeitung physikalischer Gegenstände. Dieser Band beschränkt sich somit auf eine der Kernfragen in derPhilosophie des Geistes und der Kognitionswissenschaft: Wie führen Menschen ihre kognitive Fähigkeit aus, Informationen über andere Menschen und soziale Situationen zu verarbeiten, zu speichern, abzurufen und anzuwenden?

Die sich daran anknüpfenden Fragen bezüglich der sozialen Kognition sind philosophischer, psychologischer und neurowissenschaftlicher Natur: Wie sollten wir die kognitiven Prozesse, die unserem Verstehen der geistigen Einstellungen anderer Personen zugrunde liegen, adäquat charakterisieren? Wie werden dabei mentale Zustände als solche konzipiert? Welche Rolle spielt unser Körper sowohl für die Konstitution der geistigen Zustände selbst als auch für unser Verstehen bzw. die Zuschreibung dieser Zustände? Andere Fragen in diesem Kontext betreffen Entwicklung und Ursprung der kognitiven Fähigkeit: Wie stellt sich die kognitive Entwicklung vom Kleinkind bis zum Erwachsenen im Hinblick auf die soziale Kognition dar? Gibt es typische Abläufe, eine allmähliche Entwicklung oder Brüche und grundlegende Wandlungen im Verstehen Anderer? Welche pathologischen oder sonst auffälligen Abweichungen von der typischen Entwicklung – etwa Autismus oder Schizophrenie – gibt es und worin bestehen die Ursachen für solche Abweichungen? Ein besseres Verständnis der Prozesse und Mechanismen der sozialen Kognition verhilft uns auch zu einem tieferen Verständnis dieser Einschränkungen im Fall von Autismus und Schizophrenie und unterstützt die Suche nach möglichen Therapiemaßnahmen und Unterstützungsangeboten für Betroffene. Angenommen, die Ursache aller mentalen Zustände liegt im Gehirn, so stellt sich die Frage, welche neuronalen Prozesse und Mechanismen für soziale Kognition – sowie folglich für Autismus und Schizophrenie – verantwortlich sind. Werden wir mit einem spezifischen neuronalen Mechanismus für soziale Kognition geboren oder gelingt uns das Verstehen anderer Personen mithilfe allgemeiner Lernmechanismen, die für andere kognitive Zwecke ebenso nützlich sind? Dies sind nur einige wenige der vielen spannenden Fragen, die derzeit untersucht werden und mehr oder weniger ausführlich in diesem Band zur Sprache kommen.

Insofern dieses Thema also an der Schnittstelle von Philosophie und empirischen Kognitionswissenschaften liegt, ist es nicht nur höchst spannend, sondern auch höchst komplex. Denn die zwangsläufige Interdisziplinarität impliziert nicht, dass die unterschiedlichen Wissenschaften Beiträge zu denselben Fragen liefern. Zwangsläufig sind die Fragen der Psychologen andere als die der Philosophen und der Neurowissenschaftler. Philosophen konzentrieren sich auf Natur und Ursprung der sozialen Kognition, während Psychologen sehr an der Entwicklung dieser Fähigkeit interessiert sind und Neurowissenschaftler die Grundlagen der sozialen Kognition im Gehirn erforschen. Eine Einführung in die soziale Kognition muss versuchen, dieser Komplexität gerecht zu werden. Daher kann sich die erörternde Darstellung nicht allein auf philosophische Aspekte dieses Themas konzentrieren, auch wenn die philosophische Theoriebildung der Schwerpunkt sein soll; vielmehr muss sie die Wechselwirkungen, theoretischen Argumentationen und empirischen Befunde in einer kohärenten und integrierten Überschau zu erfassen versuchen. Denn letztlich soll, so der Anspruch der Philosophen, die Theorie mit den am besten belegten empirischen Entdeckungen kompatibel sein und stabile erhobene Daten über die kognitive Entwicklung adäquat erklären können. Diese interdisziplinäre Komplexität hat den Vorteil, dass dieser Band hoffentlich für Forscher aller beteiligten Disziplinen von Interesse ist. Sie hat aber außerdem die Konsequenz, dass hier keine endgültigen Antworten auf die oben formulierten Fragen gegeben werden. Das Ziel des Bandes ist ein orientierender Überblick über das vielfältige und spannende Forschungsfeld der sozialen Kognition, der Anlass zu tiefergehender Lektüre bieten möchte.

1.3 Mentale Zustände: Intentionalität und Phänomenalität

Bei der sozialen Kognition geht es also um unser Wissen über den Geist, oder, um diese verdinglichende Redeweise zu vermeiden, um unser Wissen über geistige Fähigkeiten, Episoden und Zustände bei uns selbst und Anderen. Paradigmatische geistige Vorgänge und Zustände sind Gedanken, Empfindungen und Gefühle, Überzeugungen, Wünsche und Absichten. Ein Alltagspsychologe zu sein umfasst die Fähigkeit bzw. Praxis, sich das Verhalten anderer Menschen durch die Zuschreibung solcher geistigen Zustände verständlich zu machen und vorherzusagen. Wenn man also klären will, was es eigentlich heißt, ein Alltagspsychologe zu sein, bzw. aufklären möchte, was Alltagspsychologen eigentlich machen, dann setzt das bestimmte Annahmen darüber voraus, was mentale Zustände sind, was also eine Überzeugung, ein Wunsch oder ein Gefühl ist. Daher werden sich theoretische Ansätze zur Natur der sozialen Kognition auch abhängig davon unterscheiden, welche Auffassungen über mentale Zustände sie jeweils zugrunde legen.

Wie fast alle philosophischen Ausdrücke hat auch der Ausdruck »mentaler Zustand« keine klare Definition. Der Versuch, alle mentalen Phänomene durch ein einziges Merkmal auszuzeichnen, ist notorisch schwierig (Rorty 1981: 27ff.). Die intentionalen und phänomenalen Eigenschaften mentaler Zustände werden jedoch gemeinhin als zentral für viele geistige Phänomene anerkannt. Was ist damit gemeint? Gemäß einer weit verbreiteten Ansicht in der Philosophie des Geistes sind Phänomene wie Wahrnehmungen und Überzeugungen dadurch gekennzeichnet, dass sie einen Inhalt haben bzw. (intentional) auf etwas gerichtet sind. Franz Brentanos (1874) Analyse folgend sind sie »intentional«, insofern sie die Welt als in bestimmter Weise beschaffen vorstellen. Zutreffende Überzeugungen richten sich auf Tatsachen, falsche Überzeugungen stellen die Welt anders vor, als sie tatsächlich beschaffen ist (Crane 2001). Auch Wahrnehmungen scheinen analog zu Überzeugungen die Welt als so-und-so beschaffen zu präsentieren (Searle 2015), auch wenn dies von einigen Philosophen bestritten wird (Byrne & Logue 2009). Unstrittig ist, dass viele geistige Phänomene in dieser Weise auf etwas gerichtet sind; strittig ist, ob tatsächlich alle geistigen Phänomene intentional sind. Eine weit verbreitete Theorie stellt sie als Repräsentationen mit einem intentionalen Gehalt und Erfüllungsbedingungen vor (Searle 1983, Siegel 2011). Von zentraler Bedeutung für unseren Kontext sind die sogenannten propositionalen Einstellungen wie z.B. Überzeugungen oder Wünsche. Sie können in der Regel mithilfe eines dass-Satzes ausgedrückt und sich selbst oder Anderen zugeschrieben werden. Daniela rennt, weil sie meint, dass das Geschäft bald schließt, Mathilde trainiert, weil sie sich wünscht, dass sie den Wettbewerb gewinnt. Mathilde mag auch hoffen, dass sie den Wettbewerb gewinnt, Daniela könnte befürchten, dass das Geschäft schließt. Propositionale Einstellungen bestehen aus einer Einstellung, d.h. einem mentalen Akt des Meinens, Wünschens, Hoffens, Befürchtens usw., sowie aus einem repräsentationalen Gehalt, auf den sich dieser Akt richtet. Der propositionale Gehalt (etwa dass das Geschäft schließt) steht für dasjenige, was der mentale Zustand repräsentiert, sei es eine Tatsache in der Welt oder eine fiktive Situation. Die vielleicht einflussreichste Theorie in der Philosophie des Geistes und den Kognitionswissenschaften ist die Repräsentationale Theorie des Geistes (Field 1978, Fodor 1978), der zufolge propositionale Einstellungen durch neuronale Vehikel (Prozesse, Mechanismen) in unserem Gehirn implementiert sein sollen. Der Gehalt dieser Repräsentationen ist die Proposition, z.B. dass das Geschäft schließt. Diese unterschiedlichen Repräsentationen sollen untereinander und mit der Umwelt über Input- und Output-Beziehungen interagieren. Einige philosophische Theorien der sozialen Kognition, z.B. die in Kapitel 2 vorgestellte Theorie-Theorie, basieren auf diesen Annahmen; andere wiederum, z.B. die in Kapitel 5 diskutierte enaktivistische Interaktionstheorie, stellen diese gesamte repräsentationalistische Konzeption mentaler Zustände infrage.

Das zweite hervorstechende Merkmal geistiger Phänomene besteht in ihrer Phänomenalität. Wahrnehmungszustände sowie Empfindungen weisen einen phänomenalen Aspekt auf, insofern es für uns immer irgendwie ist, sie bewusst zu erleben (Nagel 1974). Ein stechender Zahnschmerz fühlt sich für mich anders an als der erfrischende Schluck Wasser in der prallen Mittagshitze oder der ohrenbetäubende Lärm schreiender Kinder auf dem Spielplatz. Diesen Erlebnissen ist gemeinsam, dass sie sich mir auf eine spezifische Weise präsentieren. Ob sie auf etwas gerichtet sein oder etwas repräsentieren müssen, um diese Phänomenalität aufzuweisen, ist hier nicht entscheidend. Die unterschiedlichen Qualitäten von Empfindungen sind Gegenstand kontroverser Debatten, insbesondere hinsichtlich der möglichen Hindernisse, die sie für eine naturalistische Auffassung des bewussten Erlebens darstellen (Chalmers 1996). Sie werden in diesem Buch keine große Rolle spielen (siehe Liptow 2013).

Dennoch werfen diese beiden Eigenschaften geistiger Phänomene – Intentionalität und Phänomenalität – in philosophischer Hinsicht sowohl metaphysische als auch erkenntnistheoretische Fragen auf. Die zentrale metaphysische Frage lautet: Was sind diese Zustände genau? Sind sie z.B. Gehirnvorgänge und -zustände? Oder sind sie Zustände und Vorgänge einer anderen, womöglich nicht-physischen Art? Wie passen Phänomene mit diesen Eigenschaften in eine Welt, die wir fundamental als physikalisch beschaffen und mit den Mitteln der Naturwissenschaften erklärbar auffassen? Diese Fragen fasst man gewöhnlich unter dem Stichwort »Leib-Seele-Problem« zusammen, denn sie betreffen die Natur des Geistes und das Verhältnis der geistigen Zustände zu den im weitesten Sinne physikalischen Vorgängen der Natur. Diese metaphysischen Fragen bezüglich des Leib-Seele-Problems können in diesem Einführungsband größtenteils ausgespart werden (vgl. dazu Schlicht 2007). Wir setzen für die Zwecke dieses Bandes eine Form des Naturalismus voraus, dem zufolge geistige Phänomene Teil der Natur sind.

Die zentrale erkenntnistheoretische Frage lautet: Wie erlangen wir Wissen über geistige Zustände und Vorgänge? Die Fragen nach Möglichkeit, Ursprung und Strategien unseres Verstehens geistiger Zustände stellt sich sowohl in Bezug auf uns selbst – das ist das Problem des Selbstwissens – als auch in Bezug auf Andere – das ist das Problem des Fremdwissens, in dessen Kontext die Thematik der sozialen Kognition angesiedelt ist. In welchem Verhältnis stehen Selbstwissen und Fremdwissen zueinander? Gibt es eine Asymmetrie bezüglich unseres Zugangs zu diesen Zuständen und unserer epistemischen Autorität hinsichtlich entsprechender Überzeugungen darüber? Zwangsläufig kann jeder nur seine eigenen Empfindungen und Gedanken selbst erleben, nicht aber die Erlebnisse einer anderen Person. Das lässt allerdings die Frage offen, ob man etwas (und wenn ja was und wodurch) über die Empfindungen und Gedanken einer anderen Person wissen kann oder nicht. Denn es folgt nur dann, dass man überhaupt nichts über die geistigen Zustände Anderer wissen könne, wenn man die Annahme radikal bezweifelt, dass andere überhaupt geistbegabte Wesen sind. Dieser radikale Skeptizismus zieht sich auf die Position zurück, dass man lediglich Wissen über die Verhaltensweisen (oder Bewegungen) anderer Personen erlangen könne, daraus aber nicht mit Gewissheit ableiten könne, dass sie über geistige Zustände verfügten. Selbst Roboter oder (philosophische) Zombies (Chalmers 1996) könnten diese Verhaltensweisen an den Tag legen, ohne geistige Zustände mit intentionalen und/oder phänomenalen Eigenschaften zu haben.

Im Alltag sind wir allerdings selten Skeptiker dieser Art. Wir stellen uns höchst selten die Frage, ob ein anderer Mensch geistige Zustände hat oder nicht und ob wir irgendetwas darüber wissen können. Das generelle Problem des Fremdpsychischen (Avramides 2001) scheint ein rein theoretisches Problem zu sein, das die Rechtfertigung unserer faktischen Überzeugung betrifft, dass andere Menschen ebenfalls Gedanken, Gefühle, Absichten usw. haben. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass wir dazu neigen, sogar mechanische und leblose Gegenstände zu personifizieren und als Wesen mit geistigen Zuständen zu behandeln. Man beschwert sich darüber, dass der Computer nicht wisse, wo die zuletzt vermeintlich gespeicherte Datei zu finden sei, oder dass das Auto nicht starten wolle usw. Ältere und abgelegene Kulturen verehrten und verehren beseelte Naturgewalten. Der Wind ist »verärgert«, die See »wütend«. Die Psychologen Fritz Heider und Marianne Simmel entwickelten bereits in den 1940er Jahren eine Filmanimation, in der geometrische Figuren – ein kleiner Kreis, ein kleines und ein großes Dreieck – sich auf dem Bildschirm hin und her bewegten (siehe Abbildung). Als sie Versuchspersonen baten, die Bewegungen der Figuren zu beschreiben, tendierten alle dazu, sie zu anthropomorphisieren, ihre Bewegungen als beabsichtigt und zielgerichtet zu beschreiben und mit Tätigkeitsverben sowie mithilfe mentaler Bezeichnungen für Empfindungen zu charakterisieren. So jagte z.B. das bedrohliche größere Dreieck den kleinen Kreis, der verängstigt flüchtete, während das kleinere Dreieck den Kreis zu retten versuchte (vgl. Helton 2017).

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Abb. Heider & Simmel 1944

Der Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen stellt ein erkenntnistheoretisches Problem dar, scheint aber in unserem Alltag keine Rolle zu spielen. Er ergibt sich vor allem für solche Positionen, die von einer strikten Trennung des Geistigen von Gehirn und Körper ausgehen, die wir hier nicht zugrunde legen. Alva Noë (2010) vermutet, dass unsere Festlegung auf die Existenz anderer geistbegabter Wesen überhaupt keine theoretische Annahme sei, sondern vielmehr eine Grundbedingung für die Art von Leben, die wir führen. Studien mit Neugeborenen und jungen Kindern legen die Vermutung nahe, dass wir nicht erst lernen müssen, dass Andere fühlen und denken, sondern schon von Geburt an unhinterfragt davon ausgehen (Trevarthen 1979). Mehr dazu in Kapitel 5. Auch hier lassen wir das skeptizistische Problem der Existenz des Fremdpsychischen beiseite und konzentrieren uns auf die Frage, wie wir ein Wissen über die geistigen Einstellungen Anderer erlangen. In diesem Buch geht es um die Strategien, Prozesse und Mechanismen, die uns Zugang zur fremden Psyche gewähren.

1.4 Kurzer Überblick über die Kapitel

Wie die Fähigkeiten, zusammengefasst unter den Stichworten des »Gedankenlesens« oder »Fremdverstehens« bzw. der »sozialen Kognition«, genau beschaffen sind und welche psychologischen Prozesse dabei genau ablaufen, sind Themen lebhafter interdisziplinärer Debatten. Das vorliegende Buch konzentriert sich auf diesen Aspekt der sozialen Natur des Menschen und möchte einen systematischen Überblick der theoretischen Ansätze liefern. Die Gliederung dieser Einführung orientiert sich grob an dem historischen Auftreten der derzeit meistdiskutierten Theorien: Dazu zählen die Hypothese, (1) dass wir wie Wissenschaftler Theorien über den Geist Anderer entwickeln und verändern (Kapitel 2), (2) dass wir mit angeborenen bereichsspezifischen Mechanismen ausgestattet sind, die sich im Lauf der Evolution ausgebildet haben (Kapitel 3), (3) dass wir Andere mithilfe unserer Einbildungskraft und bewussten Erfahrung gleichsam simulieren (Kapitel 4), sowie (4) dass wir oft die Emotionen, Absichten oder andere Einstellungen fremder Personen in konkreten sozialen Interaktionen unmittelbar wahrnehmen können, statt auf sie schließen zu müssen (Kapitel 5). Wir werden die jeweiligen theoretischen Ansätze exemplarisch und typologisch anhand der einflussreichsten Arbeiten ausgewählter Autoren untersuchen anstatt zu versuchen, allen Varianten der jeweiligen Positionen gerecht zu werden und einen vollständigen Überblick über die Literatur zu geben. Die Auswahl der erörterten Texte und Autorinnen und Autoren erfolgt jedoch nicht willkürlich, sondern spiegelt den Einfluss, den diese Theorien in der Debatte hatten und haben. Im Laufe der Diskussion der theoretischen Positionen kommen weitere wichtige Aspekte zur Sprache, die an dieser Stelle nur kurz genannt seien: Zum einen spielt der Beitrag der noch jungen Disziplin der sozialen Neurowissenschaft sowie speziell die bahnbrechende Entdeckung von Spiegelneuronen im Zusammenhang mit der Simulations-Theorie eine wichtige Rolle. Zum anderen müssen auch Störungen der sozialen Kognition und Interaktion angesprochen werden, insofern die Analyse solcher Störungen je nach Theorie unterschiedlich ausfällt.

2.Theorie-Theorien

Vor ziemlich genau vierzig Jahren warfen die Psychologen David Premack und Guy Woodruff (1978) die Frage auf, ob Schimpansen eine »Theorie des Denkens« (theory of mind) besitzen. Ihr Aufsatz wird häufig als Startschuss der heutigen Debatte über soziale Kognition angesehen. Allerdings wollten sie tatsächlich darauf hinaus, dass sowohl Schimpansen als auch Menschen beim Verstehen der geistigen Einstellungen Anderer auf eine Theorie zurückgreifen, auch wenn es eine implizite, also ihnen nicht bewusste Theorie sein sollte. Daher reservieren wir für die Zwecke dieses Bandes den Ausdruck ›Theorie des Geistes‹ für diese spezifische Position, die uns die erste Antwort auf die Frage liefert, wie soziale Kognition funktioniert. Das folgende Kapitel klärt, was damit eigentlich gemeint ist, und beginnt mit einigen Erläuterungen zu den philosophischen Grundlagen, denen sich eine Diskussion konkreter Versionen der Theorie-Theorie anschließt.

2.1 Anthropologische Science Fiction

Vom Behaviorismus zum Funktionalismus

Jede philosophische Theorie über unser Verständnis der geistigen Zustände anderer Personen impliziert eine spezifische Auffassung über die Natur dieser geistigen Zustände. Ein kurzer historischer Rückblick soll helfen, die heutigen Varianten der Theorie-Theorie zu motivieren und besser zu verstehen. Die Grundidee lässt sich zu den Arbeiten von Wilfrid Sellars zurückverfolgen (Sellars 1957/1999), dessen Philosophie außerdem als Inspirationsquelle für den Funktionalismus in der Philosophie des Geistes gilt (Putnam 1967). Aber sowohl die Theorie-Theorie als auch der Funktionalismus entstanden aus den ihnen unmittelbar vorausgehenden Konzeptionen des Geistigen, insbesondere dem Behaviorismus, eine in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowohl in der Philosophie als auch in der Psychologie populäre Auffassung. Der Behaviorismus besagt, dass geistige Tätigkeiten Reizereignisse aus der Umwelt mit (motorischen) Reaktionen verknüpfen. Es regnet, also öffne ich den Regenschirm. Außer Assoziationen zwischen Reizen und Reaktionen kann man dieser Position zufolge nichts über geistige Phänomene sagen und wissen. Die bis dahin »offizielle Doktrin« (Ryle 1969: 7) des Dualismus schroff ablehnend, konzipierten Behavioristen geistige Phänomene nicht als innere Episoden, sondern als Verhaltensweisen bzw. -dispositionen (Watson 1913). Einige Philosophen verteidigten den Behaviorismus als logisch-sprachliche These über die Bedeutung der Ausdrücke für geistige Zustände wie z.B. »Schmerz«, »Wunsch«, »Überzeugung« usw. (Ryle 1969). Doch der Behaviorismus konnte nicht überzeugen. Man kann Schmerzen empfinden, ohne eine der damit assoziierten Verhaltensweisen zu zeigen, und ein Schauspieler kann diese Verhaltensweisen an den Tag legen, ohne Schmerzen zu empfinden. Außerdem treten mentale Zustände nicht isoliert auf. Wir beobachten einen Mann, der mit einem Regenschirm in der Hand das Haus verlässt. Er denkt offenbar, dass es regnet oder regnen wird. Selbst wenn er diesen Gedanken hegt, wird ihn das nur dann dazu bewegen, den Regenschirm mitzunehmen oder gar zu öffnen, wenn er zugleich auch wünscht, nicht nass zu werden, und glaubt, dass der Regenschirm ihn davor bewahrt. Jeder mentale Zustand ist Teil eines ganzen Netzwerks von geistigen Zuständen – Absichten, Überzeugungen, Wünschen. Und es gibt natürlich eine Reihe alternativer Erklärungen des Verhaltens dieses Mannes. Er könnte den Schirm als Mordwaffe verwenden oder verschenken wollen; er könnte ein Versprechen halten wollen, indem er den Schirm seiner rechtmäßigen Besitzerin zurückgibt usw. Es gibt also keine eindeutige Beziehung zwischen Reizen, spezifischen Verhaltensweisen und konkreten geistigen Einstellungen. Einige Verhaltenserklärungen mögen abwegiger sein als andere, besonders vor dem Hintergrund von Kontextwissen (über die Wettervorhersage etwa). Dieses Kontextwissen schreiben wir der Person ebenfalls zu und favorisieren diejenige Erklärung, die unter den Umständen die vernünftigste zu sein scheint, d.h. diejenige, die ihm genau die Gedanken zuschreibt, die er haben sollte (Dennett 1987). Aber mangels einer eindeutigen Beziehung scheint die Annahme plausibler, dass die geistigen Einstellungen vielmehr die Ursachen der Verhaltensweisen und -dispositionen sind, statt mit diesen identisch zu sein. Daraus ergibt sich die Annahme, dass wir über die Gedanken, Empfindungen und Gefühle Anderer etwas erfahren, indem wir berechtigte Schlussfolgerungen über die inneren Ursachen ihres Verhaltens anstellen.

Hier kommt Sellars ins Spiel, denn in einem Stück »anthropologischer Science Fiction« entwirft er den Mythos von Jones, einem genialen Mitglied einer prähistorischen Gemeinschaft von Behavioristen, den »Ryleianern«, die zwar noch nicht über mentale Phänomene sprechen, aber bereits über eine Sprache verfügen, Ausdrücke für die öffentlichen Gegenstände in ihrer Umwelt entwickelt haben sowie sogar von elementaren logischen Operatoren wie Negation, Konjunktion und Quantifizierung Gebrauch machen. Sellars (1957/1999: 81) fragt nun, welche Ressourcen zu dieser Sprache hinzutreten müssten, »um sie in die Lage zu versetzen, sowohl andere als auch sich selbst als Lebewesen zu erkennen, die denken, beobachten, Gefühle und Empfindungen haben, und zwar so, wie wir diese Ausdrücke gebrauchen« (Sellars 1957/1999: 82). Die entscheidenden Anreicherungen bestünden im semantischen und theoretischen Diskurs. Jones, der Held der Geschichte, bemerkt eines Tages, dass sich seine Mitmenschen auch dann intelligent verhalten, wenn keine offensichtlichen Äußerungen oder Verhaltensweisen beobachtet werden können, und entwickelt eine Theorie über das Sprachverhalten seiner Mitmenschen. Sellars fährt fort: »Und nehmen wir an, dass ihm nichts anderes als das offene Sprachverhalten als Modell dieser Episoden dient, die am Beginn jener Ereignisse stehen, die in offenem Sprachverhalten gipfeln … dann läuft die Theorie darauf hinaus, dass es sich bei offenem Sprachverhalten um die Kulmination eines Vorgangs handelt, der mit ›innerer Rede‹ beginnt.« (Sellars 1957/1999: 93) Die inneren Äußerungen, die Gedanken, werden in Jones’ Theorie zu den theoretischen Ursachen des Verhaltens. So gelingt es Jones, das Verhalten seiner Mitmenschen erfolgreich zu deuten und vorherzusagen; er bringt ihnen diese Strategie bei und merkt, dass er sie auch auf sich selbst anwenden kann. Er formuliert nicht nur den Satz »Johann denkt, dass p«, sondern auch die Selbstzuschreibung »Ich denke, dass p«, basierend auf analogen Beobachtungsdaten. Die Theorie behandelt die inneren Episoden so wie die Äußerungen als intentional sich auf etwas richtend, etwas bedeutend, und wird analog zu allen anderen möglichen Theorien betrachtet, d.h., sie ist offen für Weiterentwicklungen; die postulierten Episoden gelten als »theoretische Entitäten«. Es kann zunächst offenbleiben, woraus diese unbeobachtbaren inneren Entitäten (die Gedanken) bestehen, obwohl sich empirisch herausstellen könnte, dass sie physiologischer Natur sind. Sellars erklärt sogar, es spreche bereits jetzt einiges für die Annahme, »dass diese Gedanken mit bestimmten komplexen Ereignissen in unserer Großhirnrinde, deren Funktionsprinzip dem einer Rechenmaschine gleicht, ›identifiziert‹ werden müssen« (Sellars 1957/1999, 95).

Mit dieser originellen Spekulation über den Ursprung unserer Alltagspsychologie formuliert Sellars die Kernidee funktionalistischer Theorien, die Ausdrücke für mentale Zustände wie z.B. »Schmerz«, »Wunsch«, »Überzeugung« als Bezeichnungen für kausale Rollen bzw. Funktionen analysieren (daher »Funktionalismus«). Jeder einzelne mentale Zustand ist durch eine funktionale Rolle charakterisiert, die er in der mentalen Ökonomie einer Person spielt. Die Identität eines geistigen Zustands ergibt sich aus seinen Relationen zu Umweltbedingungen und -reizen, zu anderen inneren Zuständen und zu Verhaltensweisen. Eine Schmerzempfindung z.B. steht in kausalen Beziehungen zu sensorischen Ursachen (Verletzungen eines Körperteils etwa), zu Überzeugungen und Wünschen (die Schmerzempfindung und ihre Ursache betreffend) sowie zu bestimmten Verhaltensweisen wie Wehklagen. Diese später von Hilary Putnam (1967) entwickelte rein funktionale Analyse mentaler Zustände in der Debatte zum Leib-Seele-Problem hat den Vorteil, dass sie in ihrer Abstraktheit metaphysisch neutral ist, da sie keine Aussage über die physische Realisierung solcher Funktionen trifft. So könnten mentale Zustände letztlich Gehirnzustände sein, die entsprechende Funktionen erfüllen; sie könnten aber als funktionale Zustände auch anders realisiert sein. Diese Frage kann der Funktionalist zunächst offenlassen, denn worauf es seiner Meinung nach ankommt, ist die spezifische kausale Rolle, die der Zustand hinsichtlich des Verhaltens spielt (zur Charakterisierung verschiedener Spielarten des Funktionalismus vgl. Schröder 2004: 86–114). Auch bindet die funktionale Analyse mentale Zustände nicht an bestimmte Verhaltensweisen oder -dispositionen und vermeidet somit die Probleme des Behaviorismus. Schmerzempfindungen müssen nicht zwangsläufig in Wehklagen resultieren.

Die den Funktionalismus ergänzende Theorie darüber, wie sich die funktionalen Rollen mentaler Zustände angeben lassen, nennt man auch deshalb »Psychologie der Überzeugungen und Wünsche« (belief-desire psychology), weil sie sich in der Erklärung von Verhaltensweisen genau darauf beruft. Der alternative Ausdruck »Alltagspsychologie« betrachtet diese Vorgehensweise analog zu unserem basalen Wissen über allgemeine Gesetzmäßigkeiten, die das Verhalten physikalischer Objekte oder Lebewesen bestimmen, was man als »Alltagsphysik« (folk physics) und »Alltagsbiologie« (folk biology) bezeichnen könnte. Mit solchen Bezeichnungen bezieht man sich jeweils auf einen Korpus intuitiver Annahmen innerhalb dieser Bereiche, die sich von den jeweiligen Theorien der entsprechenden wissenschaftlichen Disziplinen Psychologie, Physik und Biologie unterscheiden, vor allem darin, dass sie häufig im Detail falsch sind, selbst wenn sie für viele praktische Zwecke hinreichend und nützlich sein mögen, um sich in der Welt zu orientieren (McCloskey et al. 1983).