cover
Jutta Wölk, Azrael ap Cwanderay

Die Schuld der Väter

Ausgeliefert





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Intro

 

 

 

 

DIE SCHULD

DER VÄTER

 

von

 

Jutta Wölk

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vollständige Ausgabe 2019

Copyright:

© HAMMER BOOX, Bad Krozingen

(Fehler sind natürlich - wie immer - beabsichtigt und dürfen ohne Aufpreis behalten werden J )

 

Lektorat: Doris E. M. Bulenda

Korrektorat: Hammer Boox

Cover: Azrael ap Cwanderay

Satz und Layout: HAMMER BOOX

12 / 19 - 12

 

 

EINE BITTE:

 

Wie ihr vielleicht wisst, ist HAMMER BOOKS noch ein sehr junger Verlag.

Nicht nur deshalb freuen wir uns alle, wenn ihr uns wissen lasst, was ihr von diesem Roman haltet.

Schreibt eine Rezension, redet darüber, fragt uns, wenn ihr etwas wissen wollt...

 

 

 

 

 

 

Christine und Stefan ziehen aufs Land, um endlich mit einem schweren Schicksalsschlag abzuschließen. Sie erwerben ein Haus in einem kleinen Dorf und starten einen Neubeginn. Während Stefan vorübergehend noch in seiner alten Heimat arbeitet, inspiziert Christine mit ihrem Hund die neue Wohngegend.

Bei einer ihrer Erkundungstouren in einen nahegelegenen Wald fällt Christine plötzlich auf, dass es dort ungewöhnlich still ist. Sogar ihr Hund scheint sich zu fürchten.

In den Nächten darauf plagen sie Albträume, die sie sich nicht erklären kann. Als sie dann noch von einer alten Frau träumt, der sie Tage später leibhaftig begegnet, glaubt sie nicht mehr an Zufall. Es kommt ihr zudem merkwürdig vor, dass die Einwohner des Dorfes sie offensichtlich davon abhalten wollen, den Wald zu betreten.

Verbirgt sich dort ein Geheimnis, von dem nur Alteingesessene wissen?

 

 

 

 

 

Hinweise:

 

Die Novelle ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Personen, Städten, Namen und Handlungen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Dieser Roman erschien bereits unter dem Titel

»ROTE ROSEN« und liegt hier in neu lektorierter Form vor.

 

 

Danksagung:

 

Ich bedanke mich bei meiner lieben Autorenkollegin Alegra Cassano und bei meiner lieben Freundin Heidemarie Rabe für ihre wertvolle Hilfe beim Manuskript.

 

 

 

Prolog

 Prolog

 

 

»Nein!«, wimmerte die junge Frau und warf sich vor die Füße des Mannes. »Tue es nicht! Bitte, ich flehe dich an. Lass es mir. Bitte!«

Er sah bekümmert auf sie herab. »Es ist besser so.«

Sie legte ihre Stirn auf seine Schuhspitze, umklammerte mit den Händen seine Unterschenkel und schluchzte herzerweichend. Ihr blütenweißes Nachthemd war in Höhe des Schosses von Blut durchtränkt. Es würde fraglos Flecken auf den teuren italienischen Fliesen hinterlassen, aber momentan interessierte es sie nicht, dass sie den kostspieligen Bodenbelag beschmutzte. Auch wenn es vermutlich den Zorn der Hausherrin nach sich ziehen würde.

Die junge Frau dachte in diesen Sekunden auch wenig darüber nach, dass sie das Blut wegwischen musste, bevor das Dienstpersonal es sah. Ihr war ebenso bewusst, dass ein Teil der Verunreinigung in den Rissen des alten Marmors und in den Fugen nicht vollständig zu beseitigen war. Doch in ihrer Verzweiflung war ihr das einerlei, selbst dass sie sich damit vor ihrer verhassten Schwiegermutter erniedrigte. Sie wollte nur, dass sie ihr nicht nahm, was ihr mehr als ihr eigenes Leben bedeutete.

Sie versuchte alles, um ihren Mann von seinem Vorhaben abzubringen, obwohl sie tief in ihrem Innern wusste, dass ihm keine Wahl blieb. Zu viel stand für ihn auf dem Spiel. Außerdem ließ er sich zu leicht beeinflussen. Er war schwach und besaß zu wenig Mut, um mit ihr diesem Ort den Rücken zu kehren. Weit weg zu gehen von diesen kalten Menschen, die egoistischer nicht sein konnten. Sie selbst war ja ebenfalls nicht stark genug, um fortzugehen. Sie konnte erst recht nicht ihre große Liebe verlassen, auch wenn er ihr das jetzt antat!

Die junge Frau hob den Oberkörper an, zog sich auf die Knie und umklammerte jetzt mit ihren Armen seine Oberschenkel wie ein verängstigtes Äffchen, das nicht loslassen wollte.

»Ich bringe mich um, wenn du tust, was sie verlangen. Dann verlierst du mich für immer. Ich meine es ernst, ich schwöre es!« Sie würde nichts dergleichen tun, nur fiel ihr keine andere Möglichkeit ein, als ihm zu drohen, sich das Leben zu nehmen.

»Hör auf!«, beschwor er sie eindringlich. »Bitte! Ich will es doch auch nicht, aber mir sind die Hände gebunden.«

Der Mann richtete sein Hauptaugenmerk auf die Person, die vom ersten Stock aus über das Geländer auf ihn herabsah, weg von dem wimmernden Weib zu seinen Füßen, das ihm psychische Schmerzen bereitete. Er fühlte sich innerlich zerrissen, wollte ihr das nicht antun, mochte ihre Worte nicht mehr hören und konnte ihre vergeblichen Anstrengungen nicht länger ertragen. Es tat zu weh. Nur, was blieb ihm übrig?

Er schluckte, senkte den Blick wieder und sah auf die Frau hinab, die er so sehr liebte. Ihr verzweifeltes Bemühen ließ ihn wanken.

Was soll ich nur tun?, fragte er sich, während er die Weinende betrachtete, die sich weiter an ihn klammerte. Ihre Tränen benetzten seine auf Hochglanz polierten Schuhe, und er fragte sich wieder einmal, warum er so fehlerhaft und ob es das alles wert war. Er war dabei, einen nicht wiedergutzumachenden Fehler zu begehen. Er hoffte auf ihre Vergebung, schließlich verzieh sie ihm auch seine Schwäche. Gott, betete er im Stillen, hilf mir, zeig‘ mir eine Lösung.

Der Herr blieb stumm, nur das verzweifelte Schluchzen zu seinen Füßen traf ihn bis ins Mark.

Bitte, hilf mir!

Als es sich in seinen Armen rührte, versuchte der Mann, seine große Liebe mit sanftem Druck von sich zu stoßen, doch sie presste sich nur umso zäher an ihn. »Lass los«, bettelte er betrübt, »ich möchte dir nicht wehtun.«

Er schüttelte das Bein, und als sie nicht aufgab, noch stärker. Da sie immer noch nicht losließ, trat er schließlich in seiner Verzweiflung nach ihr, und endlich löste sich ihre Umklammerung.

Kurz sah er auf das Häufchen Elend, das nun am Boden kauerte, das Gesicht in den Händen vergraben und bitterlich weinend. Sein Herz zerriss! Er zögerte, schaute zu dem Bündel in seinen Armen, obwohl er es nicht wollte. Der Anblick erschütterte ihn zutiefst, und er riss sich schnell davon los. Niedergeschlagen schaute er sich um und hoffte, ihm würde doch noch eine Lösung einfallen.

Zu dieser späten Stunde war es im Eingangsbereich ruhig, so eisig still wie in der Familiengruft draußen in der kalten Erde. Kalte Erde!, schoss es ihm durch den Sinn, und ihm schauderte. Nur das Wimmern seiner Geliebten war zu hören, das in seinem Kopf nachhallte und ihn peinigte, stärker als jede physische Qual.

Er musste sich keine Sorgen darüber machen, dass das Personal das verzweifelte Weinen mitbekam, denn die Dienstbotenzimmer lagen in einem Nebengebäude. Erst am frühen Morgen durften sie das Haupthaus betreten, um die notwendigen Arbeiten zu verrichten. Weder Dienstmädchen noch Stallknechte oder andere Außenstehende konnten ahnen, welches Drama sich in diesen Minuten im Eingangsbereich des Schlosses abspielte. Aber das tröstete ihn keinesfalls. Verunsichert verharrte er auf der Stelle, im Innern mit sich ringend.

Als er seinen Blick erneut hob und in die Augen seiner Mutter sah, die mit harter Miene auf ihn herabschaute und ihm still zu gehorchen befahl, drehte er sich um und ging auf die Kellertür zu. Tränen rannen ihm über die Wangen, heiße Tränen, die er nicht länger zurückhalten konnte. Vor der schweren Eichentür blieb er stehen, drückte mit dem Ellbogen die Klinke nach unten und wankte mit zitternden Knien die Stufen hinab. Am Ende der langen Treppe streckten sich ihm zwei Arme fordernd entgegen. Er übergab ihnen das Bündel, sackte auf die Knie und ließ den Kopf hängen.

Vater vergib mir, betete er stumm mit gefalteten Händen.

 

 

Kapitel 1

 

 

1.

 

»Na …«, sagte ich zu meiner Hündin, die mit dem Schwanz wedelte, als ich ihr das Halsband umlegte, »sollen wir heute mal einen neuen Weg erkunden?«

Treue braune Augen schauten voller Tatendrang zu mir auf. Ich schnappte mir die Leine und Gina drehte sich vor Freude aufgeregt im Kreis.

Nicht, dass ich meine beste Freundin anleinen musste, doch es war besser, sie an der Leine zu führen, falls uns unterwegs Jäger begegneten. Deren Finger saßen oft nur locker am Abzug, wenn sie annahmen, ein Hund würde wildern. Sie waren dabei sogar im Recht und durften Gina erschießen, falls sie einem Wildtier nachjagte. Das hatte ich nach Erkundigungen im Rathaus herausgefunden. Die Männer benutzten ihre Waffen nur zu gerne und es war ihnen gleichgültig, welches Getier ihnen vor die Flinte lief, Hauptsache, es kam überhaupt etwas ins Visier.

Ich war mir darüber im Klaren, dass es hin und wieder notwendig war, Wild zu schießen, um die Verbreitung von Krankheiten einzudämmen und zu großen Wildbestand zu verhindern. Allerdings hatte ich Antipathie gegen Männer und Frauen, die lediglich aus Spaß Tiere jagten und töteten, um sich später damit zu brüsten. Ich schaute weg, wenn sie in ihren grünen Kastenwagen mit offener Ladefläche an mir vorbeifuhren, denn sonst hätte ich die toten Fasanen und Hasen sehen müssen, die wie Trophäen gut sichtbar kopfüber an Stangen aufgehängt waren. Jedermann sollte mitbekommen, wie erfolgreich die Jagd verlaufen war.

Wir lebten seit Kurzem in Norddeutschland, außerhalb der Kleinstadt Heren, zu der das Dorf Oltendorf, das nur etwas über eintausend Einwohner zählte, gehörte. Hier gab es weder störenden Dauermotorenlärm noch aneinandergereihte, hohe Betonbauten und nur wenige gefährliche Straßen. Hier gab es überwiegend grünes, flaches Land mit Bauernhöfen, Nutzvieh, Pferden und Felder und Weiden, soweit das Auge reichte. Stress und Hektik suchte man in der kleinen Ortschaft vergebens. In unserer neuen Heimat ging es wesentlich gemächlicher und ruhiger zu, als wir es aus der Großstadt gewohnt waren. Auch aus diesem Grund waren wir hierhergezogen. Früher, als ich mit meinen Eltern Jahr für Jahr in den Urlaub an die Nordsee fuhr, kamen wir immer an diesem Ort vorbei und ich hatte schon damals die Landschaft bewundert. Seitdem hatte es mich hierher gezogen, aber ich hätte nicht im Traum daran gedacht, dass ich eines Tages wirklich hier leben würde.

Oft bestaunte ich jetzt bei Spaziergängen mit Gina die wunderschöne Umgebung und die üppige Natur, sah Kühen beim Grasen zu, schaute mir hübsche Einfamilienhäuser mit gepflegten Vorgärten an und atmete die saubere Luft. Hier und da mischte sich der Geruch von streng riechender Gülle darunter, wenn die Bauern ihre Felder düngten. Meinen Mann Stefan und mich störte der manchmal penetrante Gestank nicht sonderlich, denn nach ein paar Tagen war er wieder verschwunden. Er gehörte für uns einfach zum Landleben.

Wenn ich mit meinem Vierbeiner einen Spaziergang machte, begegnete ich kaum einem Menschen. Ich genoss jede Sekunde der Einsamkeit und erfreute mich an den riesigen Anbauflächen, den Weiden und an den Tieren selbst. Ich hatte mit meiner Schäferhündin inzwischen so manchen unwegsamen Abschnitt in der Gegend ausgekundschaftet, doch es wartete noch so viel Neues auf uns. Mir gefiel es, unbekanntes Terrain zu erforschen, und Gina ging es augenscheinlich ebenso.

Stefan und ich lebten seit einem Monat in unserem ersten eigenen Haus, Stefan leider zurzeit nur am Wochenende. »Christine«, tröstete er mich, wenn er mich am Sonntagabend verließ, »ich bin schneller zurück, als du denkst.«

Wir hatten längst noch nicht alle Dorfbewohner kennengelernt, die uns aber in Windeseile in Augenschein genommen hatten. Hier kannte jeder jeden, wie wir schnell mitbekamen. Wenn wir jemandem begegneten und ein Schwätzchen hielten, erfuhren wir aus diesen Gesprächen, dass es im Dorf keine Geheimnisse gab. Das kam leider nur recht selten vor, da die Leute neuen Einwohnern gegenüber zurückhaltend waren. Man achtete noch aufeinander, das begrüßten wir, und es war uns egal, was die Dörfler hinter unseren Rücken tuschelten. Schließlich hatten wir nichts zu verbergen! Wir freuten uns auf die vielen glücklichen Jahre, die wir vor uns haben würden. Hier wollten wir alt werden.

Gina schnüffelte an unsichtbaren Spuren, während ich mich an der Weite und den blühenden Blumen kaum sattsehen konnte. Selbst das zahlreiche Unkraut in seiner Vielfalt von Farben und Formen bewunderte ich. Grasende Milchkühe schauten mit ihren großen, dunklen Augen zu uns herüber und vertrieben mit ihren Schwänzen die Fliegen. Gegenüber dem abgezäunten Weideland stand auf einem riesigen Feld sonnengelber Raps in voller Blüte und verströmte einen süßlichen Duft, der mich an Kräuterbonbons erinnerte. Von Zeit zu Zeit kreuzten Fasanen kreischend unseren Weg und Häschen hoppelten zum nächsten saftigen Grasbüschel. Gina jagte ihnen nicht hinterher, darüber musste ich mir keine Sorgen machen. Wir besaßen selbst ein Zwergkaninchen, das vom Vorbesitzer ausgesetzt worden war. Gina liebte den kleinen Nager und spielte sogar mit ihm.

Etwa einhundert Meter vor mir sah es aus, als ginge es auf diesem Feldweg nicht weiter. Eine Begrenzung aus Laubbäumen und Tannen zog sich zu beiden Seiten entlang der Weiden und Felder, vereinte sich in der Mitte und versperrte uns den Weg. Ob es sich dabei um einen Wald oder um einen Grünstreifen mit Bäumen handelte, wusste ich nicht. Aber das würde ich schon noch herausfinden, schließlich war ich ausgezogen, um unbekanntes Gelände zu erforschen.

Abenteuerlustig steuerte ich auf die Baumreihe zu. Gina lief neben mir her und hielt ihre Nase dicht über dem Boden. Wahrscheinlich suchte sie nach Duftmarken ihrer Artgenossen. Stefan und ich sagten in solchen Momenten, sie würde wieder in der Hunde-Zeitung, der Animal-Post, blättern. Vielleicht hatte sie auch andere Fährten aufgenommen, jedenfalls war sie genauso aufgeregt wie ich.

Als ich die Bäume erreicht hatte, hielt ich rechts und links Ausschau, ob es einen Weg zwischen den Stämmen gab, konnte dort aber nur Wildwuchs und dichtes Unterholz ausmachen. Ich überlegte, meinen Spaziergang abzubrechen, da ich nur eine kurze Hose anhatte und mir die Haut nicht an Dornen oder Stacheln aufreißen wollte.

Zufällig entdeckte ich dann doch einen fast zugewachsenen Trampelpfad. Ich hatte einem vorbeifliegenden Specht nachgeschaut, als er im Dickicht verschwunden war. Ohne den scheuen Vogel hätte ich den Weg sicher nicht bemerkt.

Meine Neugier war geweckt, und ich zwängte mich trotz der Shorts durch Farnwedel, Brennnesseln und anderes Gestrüpp, das bis über die Ränder des Pfades wuchs. Neugierig schaute ich mich um. Meine treue Gefährtin lief aufgeregt kreuz und quer durchs Unterholz. Es fiel ihr wesentlich leichter als mir, herumzustromern. Ich machte kurz Halt, schloss die Augen und nahm die Düfte der Natur in mich auf. Es roch nach Tannennadeln, verwelktem Laub und Erde. Ein Mix, den ich nur zu gerne in mich aufsog. Glücksgefühle kamen in mir auf.

Ich legte den Kopf in den Nacken und horchte in die Stille. Als ich die Lider wieder geöffnet hatte, blickte ich lächelnd zu den hochgewachsenen Laubbäumen auf, deren dichte Blätterkronen das Sonnenlicht fast vollständig abschirmten. Das musste hier tatsächlich ein Wald sein, denn soweit ich sehen konnte, gab es nur Bäume und Wildwuchs. In diesem Forst war es beinahe so finster wie in der Abenddämmerung und auch wesentlich kühler als auf dem freien Feld.

Wir hatten Mitte Mai, es war für die Jahreszeit sehr warm.   Ich schätzte die angenehmen Temperaturen.

Mein Blick wanderte umher. Farne und dichte Büsche überwucherten so ziemlich jedes freie Fleckchen zwischen den Stämmen. Offensichtlich überließ man die Natur hier sich selbst. Schön, dachte ich, wie alles ungehindert gedeihen darf. Ein Paradies für das Wild. Ob ich wohl ein Reh zu Gesicht bekommen würde?

Je tiefer ich mich in den Wald hineinkämpfte, desto unwegsamer wurde das Gelände. Ich hätte gerne eine Machete bei mir gehabt, um vor allem die Brennnesseln abzuschlagen. Sie quälten mich bei jeder Berührung an der nackten Haut mit ihrem säurehaltigen Abwehrstoff. Erst brannte es höllisch dort, wo mich die Blätter mit ihren Brennhaaren streiften, anschließend juckte es unerträglich. Ich kratzte mich trotzdem unbewusst, obwohl ich wusste, dass es die Unannehmlichkeiten verstärkte. Auf dem Handrücken und den Waden bildeten sich rasch Quaddeln. Dass ich so dumm gewesen war und in kurzen Hosen den Wald betreten hatte, war meine eigene Schuld. Momentan konnte ich nichts daran ändern. Jetzt fühlte ich mich wie ein Pfadfinder, der unbedingt Neues auskundschaften musste. Dabei durfte ich mich von meinen lädierten Beinen und Händen nicht ablenken lassen.

Gina lief kreuz und quer herum und ich beneidete sie um ihr schützendes Fell. Auch die Käfer und Spinnen, die ihr ins Haar fielen oder daran haften blieben, störten sie nicht. Das hätte bei mir Schreikrämpfe ausgelöst. Sie hielt die Ohren gespitzt und war sehr wachsam. Ich fürchtete mich nicht, da auf meinen tierischen Bodyguard Verlass war. Gina würde mich bei Gefahr mit ihrem Leben verteidigen, das wusste ich genau. Deshalb konnte ich die Stille, die hier noch ausgeprägter schien als auf dem Weg hierher ungestört genießen.

Plötzlich raschelte es in der Nähe. Ich warf den Kopf interessiert herum und hoffte, einen scheuen Waldbewohner zu sehen, doch mehr als einen Farnwedel, der sich im Wind bewegte, konnte ich nicht ausmachen. Ruhig, ohne mich zu bewegen, wartete ich darauf, jeden Moment ein Tier zu entdecken. Leider blieb der Erfolg aus und ich war ein wenig enttäuscht, dass ich weder ein Reh noch vielleicht sogar ein niedliches Kitz zu sehen bekam.

Während ich regungslos auf der Stelle verharrte, beschlich mich ein unangenehmes Gefühl, der Forst kam mir plötzlich unheimlich vor. Lauerte etwas darin? Etwas, das nichts Gutes mit mir im Sinn hatte? Obwohl ich die Ruhe normalerweise begrüßte, wirkte sie in diesem Augenblick keineswegs beruhigend, sondern eher bedrückend auf mich.

Wieso habe ich bisher eigentlich keine Tiere gesehen, nicht einmal Wildkaninchen? Weder Wild noch umherflatternde Vögel. Seltsam! Ich hatte schon oft mit Gina Wälder und unbekannte Orte erkundet, aber so totenstill, ganz ohne Leben, wie an diesem Ort, war es noch nirgendwo gewesen. Das ist sehr ungewöhnlich!

Ich drehte mich langsam um die eigene Achse und blickte auf die dicken Baumstämme und das eng beieinanderstehende Unterholz. Es wirkte so dicht, dass ich mich davor ängstigte. Ich hatte das Gefühl, als rückten die Stämme, Zweige und Äste von allen Seiten  näher und versuchten mich einzuschließen. Ein Schauer lief mir über den Rücken und meine Nackenhaare stellten sich auf, als ich mir vorstellte, nie wieder aus diesem Wald herauszufinden.

Christine, fragte ich mich, was ist los mit dir? Warum fühlte ich mich plötzlich bedroht? So etwas hatte ich noch nie zuvor auf meinen Touren erlebt. War dieser Forst anders als andere? Das ist doch Unsinn, schalt ich mich selbst. Dennoch stellte ich besorgt fest, dass nicht einmal mehr lästige Mücken in der Luft tanzten. Sonst labten sie sich immer und überall gerne an meinem Blut.

Ich schaute auf Gina, bei der sich die Haare am Rücken aufstellten und einen Kamm bildeten. Mein Herz blieb beinahe stehen. So verhielt sich meine treue Begleiterin nur, wenn sie Gefahr spürte.

»Was ist denn?«, fragte ich mehr mich selbst, während mein Blick umherschweifte. »Hast du etwas gesehen, gehört, gespürt?« Jetzt flüsterte ich unwillkürlich, als würde ich mich nicht trauen, laut zu reden. Ich wagte kaum zu atmen, während ich mich weiter konzentriert umschaute.

Wann haben sie eigentlich Nachwuchs?

Bitte lass es kein bösartiges Tier sein,

Was war das?

Von wo genau kam das Gekreische her? Ich sah mich um, doch als Navigator war ich definitiv eine Niete. Jedes Mal verfuhr ich mich, wenn ich den Weg vorher nicht mindestens drei- oder viermal vorher abgefahren hatte. Ohne Gina hätte ich mich sicher auch hier verlaufen, aber sie fand immer den Weg zurück, und ich verließ mich darauf. Ich kniff die Augen zusammen, aber es war keine Menschenseele zu entdecken. Gina schaute mit angelegten Ohren zu mir auf, die Rute hatte sie zwischen die Hinterläufe geklemmt. Momentan erkannte ich meinen Hund nicht wieder. Sie hat Angst! Ich schluckte hektisch und wurde allmählich panisch. Ohne weiter darüber nachzudenken, machte ich auf dem Absatz kehrt und marschierte  eilig den Weg zurück, den ich genommen hatte.

Es war unmöglich, dass ich das Geschrei eines Babys gehört hatte. Ich musste tierische Laute, vielleicht den Ruf eines Vogels, mit dem Weinen eines Kleinkinds verwechselt haben. Gina war Babygeschrei von dem Baby meiner Freundin aus der alten Heimat gewohnt und hätte sich davon nicht aus der Ruhe bringen lassen. Aber wer wusste schon, welche gefährlichen Tiere im Unterholz auf Beute lauerten? Ich hatte nicht nur Angst um mich, sondern auch um meinen Hund. Wenn es hier Wölfe gab, waren wir beide in Gefahr. Danach hatte ich mich bisher nicht erkundigt.

Als ich mit Gina den Wald endlich verlassen hatte, empfing mich blendendes Sonnenlicht, und meine Augen mussten sich erst einmal an die Helligkeit gewöhnen. Ich beschattete sie mit der Hand und blinzelte auf eine Sommeridylle, die sich friedlich vor mir ausbreitete. Es schien mir, als wollte sie mich damit verhöhnen. Sofort musste ich über meine panische Flucht schmunzeln. Jetzt wirkte das dichte Grün hinter mir überhaupt nicht mehr bedrohlich oder unheimlich. Ich sah zu Boden und rief mir das Kreischen ins Gedächtnis zurück, aber dann schüttelte ich energisch den Kopf.

Ich hatte keinen blassen Schimmer, was für Laute die ausstießen.

Deine Vorstellungskraft ist einfach unmöglich!

Wenn Stefan am Wochenende bei mir ist, komme ich wieder her

Am Abend telefonierte ich wie üblich mit ihm und erzählte ihm von dem Waldstück und was ich geglaubt hatte, dort zu gehört zu haben. Er lachte nur und meinte, ich hätte mir das Geschrei höchstwahrscheinlich nur eingebildet. Er bemerkte auch noch, dass es bestimmt irgendwelche Vögel gab, deren Rufe ich nicht erkannte. Und er versicherte mir, dass es weder Wölfe noch Wildschweine in der Umgebung gab, denn er hatte sich darüber informiert. Auch er meinte, ich hätte eine zu ausgeprägte Fantasie. Vielleicht sollte ich nicht so viele Horrorromane vor dem Schlafengehen verschlingen.