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Till Magnus
Steiner

Burnout der
Propheten

Die Bibel
im Kontext
der Gegenwart

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1. Auflage 2019

© Verlag Katholisches Bibelwerk, Stuttgart, 2019

Alle Rechte vorbehalten.

Für die Texte der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift

vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe

© Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart 2016

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Layout und Satz: wunderlichundweigand, Schwäbisch Hall

Hersteller gemäß ProdSG:

Druck und Bindung: Finidr s.r.o.,

Lípová 1965, 737 01 Český Těšín, Czech Republic

Verlag: Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH,

Silberburgstraße 121, 70176 Stuttgart

www.bibelwerk.de

ISBN 978-3-460-25528-9

Auch als E-Book erhältlich unter ISBN 978-3-460-51080-7

Inhalt

Einleitung

Die Bibel neu lesen

Im Dialog mit der Gewalt

Von der Körper- zur Todesstrafe

Die dienende Frau

Vom Objekt zur Gottesanklägerin

Familie: biblisch-kompliziert

Vom geglaubten Ideal zur Realität

Schöpfungsauftrag

Von der Klimakrise zum Ins-Gebet-Nehmen

Reich an Armut

Vom Reichtum zum gerechten Lohn

Die Grenze zum Fremden

Vom Flüchtling zur Gastfreundschaft

Nächstenliebe die Heimat!

Vom Mitmenschen zur Überforderung

Krisenkirche

Von Amos zur Berufung

Glaubensbilder in der Krise

Vom Burnout zum Tanzen

Literaturnachweis

Der Autor

Einleitung

Die Bibel neu lesen

„Dann machen wird das“, sagte Werner Kleine einfach, als ich ihm von meiner Idee erzählte. Er, der im Neuen Testament promovierte Theologe, und ich, der damals noch mitten an seiner Doktorarbeit zur Verheißung einer ewigen Dynastie an König David saß, begannen die Arbeit an unserem Blog „Dei Verbum“. Damals im Jahr 2014 wie auch heute noch bin ich zutiefst überzeugt von der Aktualität der Bibel und aus der Idee wurde Realität: Abwechselnd kommentieren wir seitdem aus biblischer Perspektive politische, gesellschaftliche und kirchliche Themen, die die Schlagzeilen bestimmen.

In einem Radiointerview wurde ich dann irgendwann einmal gefragt, ob es nicht schwierig sei, immer etwas Passendes in der Bibel zu finden – Nachrichten erschienen ja schließlich fast stündlich neu und die Bibel bliebe immer die alte. Auf diese naheliegende Frage war ich nicht vorbereitet, aber ich antworte „Nein“, ohne direkt eine Begründung geben zu können. Dabei hatte ich eine Antwort auf diese Frage in der Form eines Zitates an den Anfang unseres Blogs gestellt: „Man muss Bibel und Zeitung lesen. Man muss die Bibel lesen, damit man die Zeitung versteht. Die Zeitung verwirrt einen, wenn man sie nicht liest auf der Basis dessen, was die Bibel an Menschenbild und Zukunftsperspektive hat. Wenn man das aus dem Blick verliert, dann wird man, wie der Apostel Paulus sagt, hin und her getrieben vom Winde der Meinungen.” Das hatte der verstorbene, ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau einmal gesagt.

Ja, die Bibel ist eines der bedeutendsten kulturellen Zeugnisse der Menschheitsgeschichte. Sie ist der Ausdruck eines über Jahrhunderte andauernden Ringens mit der Welt und mit Gott, das unter anderem die Zehn Gebote und die Bergpredigt hervorgebracht hat und zu ethischen Maßstäben werden ließ. Und sie ist für Christinnen und Christen noch mehr: Die Bibel ist das Wort Gottes, das durch die Menschheitsgeschichte bis hin zum heutigen Leser und zur heutigen Leserin zum Erklingen gebracht wird. Dieses Wort endet dabei nicht am Kirchenausgang, sondern die Bibel bietet für den gesellschaftlichen Diskurs Antworten und Anfragen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn die heute an die Bibel herangetragenen Fragen sind zum Teil ganz andere als vor hundert, tausend oder zweitausend Jahren. Jede Generation legt sozusagen notgedrungen die Bibel als Wort Gottes an sie neu aus. Und man muss auch ehrlich zugeben, dass nicht alle Antworten, die die Heiligen Schriften dem Fragenden anbieten, akzeptierbar sind – und manchmal findet man unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche Antworten.

Direkt am Anfang

In einem meiner ersten Texte, die ich für den Blog schrieb, ging es um die Bundestagsdebatte, bei der über verschiedene Gesetzentwürfe, die die sogenannte „Sterbehilfe“ neu regeln sollten, diskutiert wurde. Besonders umstritten war und ist im Endeffekt heute noch die Beurteilung der „aktiven Sterbehilfe“: die gezielte und gewollte Herbeiführung des Todes durch das Handeln zum Beispiel eines Arztes aufgrund des tatsächlichen oder mutmaßlichen Wunsches einer schwerstkranken Person. In dieser Debatte hatte der christdemokratische Politiker Peter Hintze eine klare Position bezogen: „Ich halte es für unvereinbar mit dem Gebot der Menschenwürde, wenn aus dem Schutz des Lebens ein Zwang zum Qualtod würde.“ Ich war nicht so naiv zu glauben, dass sich in der Bibel eine solch eindeutige Position finden lassen würde, auch wenn sie als norma normans gilt – was auf Deutsch so viel bedeutet wie: die Norm aller Normen. Nüchtern betrachtet handelt es sich bei der Bibel um eine Ansammlung verschiedenster Schriften aus verschiedenen Zeiten von verschiedenen Autoren. Bereits das deutsche Wort „Bibel“ zeigt an, dass es sich nicht nur um ein Buch handelt, sondern um eine ganze Bibliothek. Der Begriff „Bibel“ leitet sich vom griechischen Ausdruck βιβλία (gesprochen: biblia) ab. Grammatikalisch handelt es sich um eine Pluralform, die sich folgendermaßen übersetzen lässt: „Bücher, Schriften, Briefe, Dokumente“. Aufgeteilt in das Alte und das Neue Testament finden sich in der katholischen Bibel insgesamt 73 Bücher mit den verschiedensten Stimmen in Form von Erzählungen, Sprichwörtern, Poesie, Briefen, Visionen und vielem mehr. Das Wort Gottes begegnet einem in der Bibel sozusagen in vielen Stimmen. Im Falle der Frage nach der aktiven Sterbehilfe waren es zwei Stimmen, die ich fand. Der Wunsch von Sterbenden, dass ihnen der Tod durch menschliche Fremdeinwirkung herbeigeführt wird, wird zweimal in der Bibel erzählt.

Im Buch der Richter wird im neunten Kapitel der Tod von Abimelech, dem ersten König in Israel, erzählt. Bei der Einnahme der ephraimitischen Stadt Tebez fliehen die Einwohner in einen befestigten Turm in der Mitte der Stadt. Als Abimelech sich dem Turm nähert, um ihn samt aller Einwohner zu verbrennen, wirft eine Frau vom Dach des Turmes einen Mühlstein auf Abimelechs Kopf „und zerschmetterte ihm den Schädel“ (Richter 9,53). Die Zertrümmerung seines Schädels verdeutlicht die Tötung Abimelechs – dennoch äußert er im folgenden Vers gegenüber seinem Waffenträger noch einen Wunsch: „Zieh dein Schwert und töte mich! Man soll nicht von mir sagen: Eine Frau hat ihn umgebracht“ (Richter 9,54).

In seiner Bitte verwendet er nicht dieselbe Verbform wie im fünften Gebot des Dekalogs: „Du sollst nicht töten“ (Exodus 20,13 und Deuteronomium 5,17), das die Tötung mit böser Absicht verbietet, sondern es liegt ein Verb vor, dass sich von dem hebräischen Wort für „Tod“ ableitet (hebräisch מות, gesprochen: mawet). Die Übersetzung mit „töte mich“ wird dem hebräischen Vorlagetext jedoch nicht vollends gerecht. In der Bitte Abimelechs liegt eine äußerst seltene Form des Verbes vor, die Martin Buber passend übersetzt hat: „und töte mich vollends“. Der Tod Abimelechs ist unabwendbar und er bittet seinen Waffenträger den Tod herbeizuführen. Der Waffenträger leistet aktive Sterbehilfe „und durchbohrte“ Abimelech mit dem Schwert. Die Handlung des Waffenträgers, die Tötung des sterbenden Abimelechs durch das Schwert, wird vom Erzähler nicht kommentiert. Die Bibel gibt kein moralisches Urteil und als Ursache des Todes Abimelechs erinnert man sich nicht an die Handlung des Waffenträgers, sondern an die Handlung der Frau, an den Wurf des Mühlsteins (2 Samuel 11,21).

Im ersten Buch Samuel wird im 31. Kapitel vom Tod des ersten gesamt-israelitischen Königs Saul erzählt. Im Angesicht der verlorenen Schlacht gegen die Philister und der sich auf Saul richtenden Bogenschützen bittet Saul seinen Waffenträger: „Zieh dein Schwert und durchbohre mich damit! Sonst kommen diese Unbeschnittenen, durchbohren mich und treiben ihren Mutwillen mit mir“ (1 Samuel 31,4). Der Waffenträger verweigert ihm diesen Wunsch und Saul stürzt sich selbst in sein eigenes Schwert. In 2 Samuel 1,1–16 wird jedoch berichtet, dass der Sturz Sauls in sein Schwert nicht seinen Tod herbeigeführt hat. Ein Mann aus dem Lager Sauls, ein Amalekiter, der vom Schlachtfeld zurückkehrt, berichtet David, dass er Saul auf dessen Wunsch hin getötet habe. Der Mann zitiert David den Todeswunsch Sauls: „Komm her zu mir und töte mich! Denn mich hat ein Schwächeanfall erfasst, aber noch ist alles Leben in mir“ (2 Samuel 1,9).

In der erzählten Bitte Sauls findet sich dieselbe Verbform wie in der Bitte Abimelechs: „Töte mich vollends!“ Saul bittet um aktive Sterbehilfe und der Amalekiter handelt entsprechend dem Wunsch Sauls: „Ich ging also zu ihm hin und tötete ihn; denn ich wusste, dass er seinen Sturz nicht überleben würde“ (2 Samuel 1,10). Hier wie in 1 Samuel 31,4 findet sich dasselbe hebräische Wort: Saul ließ sich ins Schwert „fallen“ und der Amalekiter erkannte, dass Saul diesen „Fall“ nicht überleben wird. Er sagt damit aus, dass er die Selbsttötung Sauls auf dessen eigenen Wunsch zu Ende gebracht und nur den unvermeidlichen Tod herbeigeführt hat. Anders als im Fall Abimelechs bzw. seines Waffenträgers wird die Tat des Amalekiter jedoch verurteilt. David fragt ihn: „Wie kommt es, dass du dich nicht davor gefürchtet hast, deine Hand auszustrecken, um den Gesalbten des HERRN umzubringen?“ (2 Samuel 1,14). David verurteilt die Tat und befiehlt die Hinrichtung des Amalekiter als Mörder.

Beide Geschichten weisen auf einen wichtigen Aspekt innerhalb der Diskussion um die aktive Sterbehilfe hin: Handelt es sich bei aktiver Sterbehilfe um eine zu verurteilende Tötung oder ist aktive Sterbehilfe eine nicht zu verurteilende Herbeiführung des unvermeidlichen Todes aufgrund des Wunsches des Sterbenden? Dabei fällt in beiden Geschichten auf, dass der Wunsch nach aktiver Sterbehilfe nicht beurteilt und nicht verurteilt wird. Einen weiteren wichtigen Aspekt betont besonders die Geschichte um den Tod Sauls: Was bedeutet aktive Sterbehilfe für denjenigen, der sie am Sterbenden ausführen soll? Besonders auffallend ist im Zusammenhang mit dieser Frage, dass der Waffenträger die Tötung Sauls ablehnt, weil er sich „fürchtet“. Und der Amalekiter wird von David zum Tode verurteilt, weil er sich nicht „gefürchtet“ hat, Saul zu töten. In beiden Fällen steht im hebräischen Text das Verb ירא (gesprochen: jara). Dieser Begriff kann in der Hebräischen Bibel die einfache Bedeutung „sich fürchten“ haben, er wird aber auch verwendet, um den hebräischen Begriff für Gottesfurcht zu bilden (יראת יהוה, gesprochen: jerat adonaj). In der Frage Davids in 2 Samuel 1,14 wird deutlich, dass die Tötung Sauls auch eine Handlung gegen Gott darstellt und der Gottesfurcht widerspricht, über die es im Buch Kohelet heißt: „Fürchte Gott und achte auf seine Gebote!“ (Kohelet 12,13).

Nun gibt es im Alten und auch im Neuen Testament kein Gebot Gottes, dass die aktive Sterbehilfe regelt – und auch wenn es ein biblisches Gesetz geben würde, wäre dies nicht der Schlussstrich unter die aktuelle Diskussion zu diesem Thema. Allerdings verweist der Begriff der Furcht bzw. der Gottesfurcht darauf, dass der Mensch sich für seine Taten verantworten muss – gegenüber anderen und gegenüber Gott. Wolf hart Pannenberg (1928–2014), ein bedeutender evangelischer Theologe, schreibt über die Gottesfurcht: „Gott fürchten – das heißt, Gott als Gott anzuerkennen in seiner Erhabenheit und Macht, als den Schöpfer, von dem unser Leben in jedem Augenblick abhängt, und als den Richter, vor dem nichts verborgen bleibt.“1 In Bezug auf die Frage nach der aktiven Sterbehilfe bedeutet dies, dass sich derjenige, der die Sterbehilfe erbittet, und derjenige, der gewillt ist, die Bitte zu erfüllen, vor Gott zu verantworten haben. In diesem Kontext kann die Anfrage berechtigt sein, ob es einen „Zwang zum Qualtod“, wie Peter Hintze die momentane Gesetzeslage zur Sterbehilfe beschrieben hat, geben darf: Kann Gott einen qualvollen Tod wollen? Allerdings ist zugleich die Verantwortung des Menschen gegenüber Gott zu bedenken, dem die Bibel die „Macht über den Sterbetag“ (Kohelet 8,8) zuschreibt und es stellt sich die Frage, was es bedeutet, zu Gott zu beten: „In deiner Hand steht meine Zeit“ (Psalm 31,16)?

So endet dieser Text für den Blog zum Thema aktive Sterbehilfe mit Fragezeichen anstatt einer klaren Position. Nicht zu allen Fragen der Zeit findet man Antworten in der Bibel und sehr oft ergeben sich nach dem Lesen mehr Fragen als zuvor. Wenn man sich darauf einlässt, die einen umtreibenden Fragen im Dialog mit den in der Bibel versammelten Stimmen zu diskutieren, ist die Bibel aktuell. Das versuche ich immer wieder aufs Neue und auf diesen Diskussionen mit der Bibel basieren die hier veröffentlichten biblischen Gedankengänge und Essays.

Mit dem Herzen lesen

Ohne Zweifel prägt es die eigene Bibellektüre, wenn man jahrelang alle zwei Wochen mit einer politischen, gesellschaftlichen oder kirchlichen Themenstellung durch die Bücher blättert. Und zugleich prägen bestimmte Bibelstellen meine Art und Weise, die Heilige Schrift zu lesen. Da ist zum Beispiel diese eine Aussage im Buch Deuteronomium. Die vom erzählten Mose verkündete Lehre Gottes sei weder eine Überforderung noch sei sie unverständlich. Das Gebot Gottes müsse nicht erst durch himmlische Wahrheiten oder neue Offenbarungen erschlossen werden. Es bedarf keiner die Grenzen des Menschseins übersteigende Anstrengungen: „Denn dieses Gebot, auf das ich dich heute verpflichte, geht nicht über deine Kraft und ist nicht fern von dir. […] Nein, das Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten“ (Deuteronomium 30,11.14). Anders als die Weisheit, die zumindest gemäß dem Buch Ijob weit entfernt, verhüllt und verborgen ist, ist das im Buch Deuteronomium gegebene, geoffenbarte Gesetz einfach zugänglich. Es wird im Israeliten selbst verortet, sowohl in seinem Denken als auch in seinem Reden. Diese Aussage ist keine Mahnung, sondern eine Voraussetzung: „[…] wovon das Herz überfließt, davon spricht der Mund“ (Matthäus 12,34) – und daraus soll das gute Handeln gemäß dem Gesetz folgen.

Gottes Wort ist somit im Herzen verankert. Im Neuen Testament nimmt sich Maria Gottes Wort zu Herzen. Das Lukasevangelium berichtet, dass nach der Geburt Jesu den Hirten Engel erschienen sind und ihnen die frohe Botschaft der Geburt des Messias verkündet haben. Die Hirten eilten darauf hin zu Maria, Josef und dem Neugeborenen und berichteten ihnen alles: „Und alle, die es hörten, staunten über das, was ihnen von den Hirten erzählt wurde. Maria aber bewahrte alle diese Worte und erwog sie in ihrem Herzen“ (Lukas 2,18–19). Die vom Autor verwendeten Verben sind bemerkenswert und für mich wegweisend: (1.) Das griechische Verb συντηρέω (gesprochen: syntereo) steht hier im Imperfekt und drückt damit eine zum erzählten Zeitpunkt nicht abgeschossene Handlung aus. Maria nahm die Worte auf und bewahrte sie für sich, das heißt sie wurden Teil ihres Glaubensschatzes. Aber sie nimmt die Worte nicht einfach hin, sondern sie interpretiert sie. (2.) Das Verb συμβάλλω (gesprochen: symballo) beschreibt die beurteilende Interpretation einer Sachlage. Dieses Abwägen Mariens geschieht jedoch nicht nur auf rein intellektueller Ebene, also nicht im Intellekt, sondern im Herzen. Sowohl in Deuteronomium 30,14 als auch in Lukas 2,19 ist mit dem Herzen die Personenmitte als Sitz des Verstandes, des Willens, der sittlichen Entscheidungen und der Gefühle benannt. Das Herz ist der Ort der Gottesbeziehung: Gott prüft die Herzen der Menschen; der Mensch ist gehalten, seinen Gott mit ganzem Herzen zu lieben; Ziel alles menschlichen Handelns ist ein reines Herz, das sich für Gott entscheidet. Während in der Körpermetaphorik des modernen Denkens Verstand und Emotionen getrennt sind, bilden sie im hebräischen Denken eine Einheit, die im Herz verortet wird. In der Hebräischen Bibel wird nicht mit dem Kopf gedacht, sondern mit dem Herzen – gleiches gilt für das Neue Testament.

Rückwärts lesen

Anstatt die Bibel systematisch zu lesen, sich vielmehr durch äußere Anstöße durch sie treiben zu lassen, gleicht manchmal einer Entdeckungsfahrt: Man weiß eben nicht vorher, wohin man gelangen wird, und erst recht nicht, ob dies einem gefallen wird. Aber diese Art der Konfrontation der Gegenwart mit der Bibel ist meiner Ansicht schon im Verständnis von Zeit und Geschichte in der hebräischen Sprache angelegt. Im hebräischen Denken liegt die Zukunft „hinter“ und die Vergangenheit „vor“ einem. Das Wort לפני („vor/vorher“; gesprochen: lifnej) leitet sich von dem hebräischen Wort für Gesicht ab und gibt an, dass etwas einem vor dem Gesicht steht, sich also im Angesicht der Person befindet. Das Wort אחר („hinter/danach“; gesprochen: achar) leitet sich von dem hebräischen Wort für „Rücken“ ab. Die Vergangenheit liegt dem Menschen somit vor seinem Angesicht und die Zukunft liegt ihm oder ihr im Rücken. Man sieht also in die Vergangenheit, aber geht unaufhaltsam in die Zukunft.

Dieser Gedanke fasziniert mich und er liegt auch diesem Buch zugrunde. Beim Rückblick auf die vielen Texte, die ich in den vergangenen Jahren für den Blog „Dei Verbum“ geschrieben hatte, wurden schnell Themen sichtbar, die immer wiederkehrten. Das mag viele Gründe haben: vielleicht weil es Dauerthemen in der Gesellschaft sind oder vielleicht weil ich selbst diese Themen nicht aus den Augen lasse oder beides. In den einzelnen Texten erkannte ich dann nicht nur immer neue Anläufe, ein Thema neu zu erschließen, sondern ein fortschreitendes Nachdenken, das auch mit der Veröffentlichung dieses Buches nicht abgeschlossen ist. Trotzdem sind es absolut und radikal formulierte Texte, denn radikal ist, was an die Wurzel geht.

Auslegung

Als gläubiger Christ frage ich mich in der Welt, in der ich lebe: Worauf wurzeln mein Glaube und die Kirche in dieser Welt? Eine der Antworten auf diese Frage habe ich für mich als Ausleger der Heiligen Schriften im Buch Nehemia gefunden.

Nach der Zerstörung Jerusalems, nach dem Exil in Babylonien und nach der Wiedererrichtung des Tempels versammelt sich das Volk nicht an heiliger Stätte, sondern im öffentlichen Raum. Es ergreift die Initiative und lässt sich nichts sagen, sondern will hören: „Das ganze Volk versammelte sich geschlossen auf dem Platz vor dem Wassertor und bat den Schriftgelehrten Esra, das Buch mit der Weisung des Mose zu holen, die der HERR den Israeliten geboten hat. Am ersten Tag des siebten Monats brachte der Priester Esra die Weisung vor die Versammlung, Männer und Frauen und überhaupt alle, die schon mit Verstand zuhören konnten“ (Nehemia 8,1–2). Dabei gibt es keine elitären Unterscheidungen, keine Sondergruppen, keine Unterschiede, er richtet sich an alle, „die schon mit Verstand zuhören konnten“. Egal, ob Mann oder Frau, sie alle versammeln sich um das Buch, das an das Volk gerichtete Wort Gottes: „Vom frühen Morgen bis zum Mittag las Esra auf dem Platz vor dem Wassertor den Männern und Frauen und denen, die es verstehen konnten, daraus vor. Das ganze Volk lauschte auf das Buch der Weisung“ (Nehemia 8,3). Im Mittelpunkt stehen keine schnell vorgetragenen Thesen, keine eingedampften Parolen, sondern die Ausdauer verlangende Weisung Gottes. Und drumherum: Aufmerksamkeit, Konzentration, Fokussierung. „Der Schriftgelehrte Esra stand auf einer Kanzel aus Holz, die man eigens dafür errichtet hatte. Neben ihm standen rechts Mattitja, Schema, Anaja, Urija, Hilkija und Maaseja und links Pedaja, Mischaël, Malkija, Haschum, Haschbaddana, Secharja und Meschullam“ (Nehemia 8,4). Die Verkündigung geschieht von oben herab, damit sie hörbar ist, nicht damit sie autoritär wirkt. Die Autorität liegt im Wort Gottes – nicht in der verkündenden Person. Und es ist auch nicht eine Person allein, die das Wort verkündet, sondern Esra ist symbolisch umgeben von Laien, die für das gesamte Volk dort oben neben ihm stehen. In der Verkündigung trennt kein Amt und kein sozialer Status. „Esra öffnete das Buch vor aller Augen; denn er stand höher als das versammelte Volk. Als er das Buch aufschlug, erhoben sich alle. Dann pries Esra den HERRN, den großen Gott; darauf antworteten alle mit erhobenen Händen: Amen, amen! Sie verneigten sich, warfen sich vor dem HERRN nieder, mit dem Gesicht zur Erde“ (Nehemia 8,5–6). In der Verkündigung des Wortes begegnet das Volk seinem Gott. Aus dieser Begegnung entsteht Gottesdienst. Es sind eben nicht nur Worte für die Gläubigen. „Jeschua, Bani, Scherebja, Jamin, Akkub, Schabbetai, Hodija, Maaseja, Kelita, Asarja, Josabad, Hanan und Pelaja, die Leviten, erklärten dem Volk die Weisung; die Leute blieben auf ihrem Platz“ (Nehemia 8,7). Das Ja und Amen erklingt gar, bevor sie das Gehörte verstehen. Das Wort Gottes ist nicht selbsterklärend, auch wenn es direkt an den Menschen gerichtet ist. Dienst am Menschen bedeutet nun, dorthin zu gehen, wo die Leute sind, und ihnen die Weisung zu erklären. „Man las aus dem Buch, der Weisung Gottes, in Abschnitten vor und gab dazu Erklärungen, sodass die Leute das Vorgelesene verstehen konnten“ (Nehemia 8,8). Es reicht nicht, die frohe Botschaft herauszubrüllen. Nein, sie muss erklärt werden. Sie muss in kleinen Schritten den Menschen eröffnet werden, damit sie selbst darin Bedeutung finden und die Worte verstehen können.

Das Wort Gottes zu verstehen, das bedeutet: betroffen sein. Das Volk reagiert mit großer Trauer, denn es versteht, dass es nicht nach dem Willen Gottes lebt – vielleicht spüren sie auch die große Last der Weisung Gottes. Aber darauf hat der Schriftgelehrte Esra eine einfache und alle Zeit gültige Antwort: „Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am HERRN ist eure Stärke“ (Nehemia 8.10).

Im Dialog mit der Gewalt

Von der Körper- zur Todesstrafe

In Deutschland ist die Körperstrafe gemäß den Europäischen Menschenrechtskonvention verboten. Ein Gesetz – wie das im Folgenden zitierte –, das die Körperstrafe befürwortet, kann als rückschrittlich, überholt und unmenschlich beurteilt werden: „Wenn zwei Männer eine Auseinandersetzung haben, vor Gericht gehen und man zwischen ihnen die Entscheidung fällt, indem man dem Recht gibt, der im Recht ist, und den schuldig spricht, der schuldig ist, dann soll der Richter, falls der Schuldige zu einer Prügelstrafe verurteilt wurde, anordnen, dass er sich hinlegt und in seiner Gegenwart eine bestimmte Anzahl von Schlägen erhält, wie es seiner Schuld entspricht. Vierzig Schläge darf er ihm geben lassen, mehr nicht. Sonst könnte dein Bruder, wenn man ihm darüber hinaus noch viele Schläge gibt, vor deinen Augen entehrt werden.“ Diese Verse stammen aus dem Alten Testament, dem ersten Teil der normativen heiligen Schrift des Christentums. Sie stehen in Deuteronomium 25,1–3 und gelten als göttliches Gesetz. Gemäß dem Buch Levitikus sagt Gott selbst: „Ihr sollt alle meine Satzungen und alle meine Rechtsentscheide bewahren und sie befolgen. Ich bin der HERR“ (Levitikus 19,37). Noch in der Zeit des Neuen Testaments wurde die im Buch Deuteronomium erwähnte Körperstrafe angewandt. Paulus berichtet in seinem zweiten Brief an die Korinther davon, dass er zur Körperstrafe durch Prügel verurteilt wurde und sie erlitten hat: „Fünfmal erhielt ich von Juden die vierzig Hiebe weniger einen“ (2 Korinther 11,24). Gemäß dem Alten Testament gehört die Körperstrafe zum Rechtssystem des biblischen Israel.

Die ethische Qualität der Bibel kann in den Augen eines Lesers und einer Leserin vollends verlorengehen, wenn er oder sie zum Beispiel im Buch Deuteronomium nur wenige Kapitel vorher liest, dass ein erwachsener „störrischer und widerspenstiger Sohn“, der nicht auf seine Eltern hört, von den Ältesten der Stadt zum Tod durch Steinigung verurteilt werden soll: „Wenn ein Mann einen störrischen und widerspenstigen Sohn hat, der nicht auf die Stimme seines Vaters und seiner Mutter hört, und wenn sie ihn züchtigen und er trotzdem nicht auf sie hört, dann sollen Vater und Mutter ihn packen, vor die Ältesten der Stadt und die Torversammlung des Ortes führen und zu den Ältesten der Stadt sagen: Unser Sohn hier ist störrisch und widerspenstig, er hört nicht auf unsere Stimme, er ist ein Verschwender und Trinker. Dann sollen alle Männer der Stadt ihn steinigen und er soll sterben. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen. Ganz Israel soll davon hören, damit sie sich fürchten“ (Deuteronomium 21,18–21). Solche Arten der Bestrafung gehören nicht mehr zum modernen Rechtssystem und die Bibel ist in diesem Punkt sozusagen „überholt“. Aber dennoch sind solche Gesetzestexte in der Bibel zu finden. Wie kann man als gläubige Bibelleserin und als gläubiger Bibelleser mit solchen Texten umgehen?

Wegargumentieren?

Historisch betrachtet ist der Text aus dem Buch Deuteronomium, der die Körperstrafe als rechtmäßige Bestrafung anerkennt, ein typischer Rechtstext des Alten Orients. Ja, die Formulierung in Deuteronomium 25,1–3 stellt sogar einen Fortschritt in der damaligen Rechtsprechung dar: Zwar gibt es hier die Möglichkeit, eine Körperstrafe anzuordnen, aber die Zahl der auf einmal zugefügten Schläge wird auf 40 begrenzt. Das Gesetz nimmt besondere Rücksicht auf die Würde des zu Bestrafenden. Eine solche Erklärung des biblischen Textes würdigt den Inhalt in seinem historischen Kontext – aber eine solche Erklärung lässt zugleich offen, welche Relevanz der Text für die Leserin und den Leser heute noch haben könnte.

Positiv betrachtet könnte man antworten: Die Lehre des Textes ist es, dass bei der Bestrafung eines Menschen dessen Ehre beziehungsweise seine Würde berücksichtigt werden muss – aber das Faktum, dass hier eine Prügelstrafe legitimiert wird, bleibt dennoch bestehen und kann nicht aus dem Text wegargumentiert werden. Wenn man nun die Körperstrafe nicht einfach aus dem Text verschwinden lassen kann, so könnte man ja zumindest darauf hinweisen, dass es andere Texte in der Bibel gibt, die viel „wichtiger“ sind: zum Beispiel das Gebot der Nächstenliebe, die Zehn Gebote und die Bergpredigt. Solche Texte haben eine bedeutende Wirkungsgeschichte und sie verbinden sich auch eher mit der subjektiv positiven Wahrnehmung der Bibel. Dennoch bleibt das Faktum bestehen, dass eben auch ein Text wie zum Beispiel die Aufforderung, einen erwachsenen widerspenstigen Sohn zu steinigen, zur Bibel gehört.

Warum soll das Gebot der Nächstenliebe heute noch eine besondere Geltung haben, während die Körperstrafe und die Steinigung zu verwerfen sind? Auf eine solche Frage könnte man antworten: Das Gebot der Nächstenliebe besitzt weiterhin Gültigkeit, da es von Jesus gemäß dem Markusevangelium neben dem Gebot der Gottesliebe als wichtigstes Gebot definiert wird: „Ein Schriftgelehrter hatte ihrem Streit zugehört; und da er bemerkt hatte, wie treffend Jesus ihnen antwortete, ging er zu ihm hin und fragte ihn: Welches Gebot ist das erste von allen? Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden“ (Markus 12,28–31). Aber Jesus sagt in der Bergpredigt des Matthäusevangeliums eben auch: „Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich“ (Matthäus 5,19).

Kein Weg führt daran vorbei, dass sowohl Körperstrafen als auch die Todesstrafe zur Bibel gehören. Solche Texte lassen sich weder historisch wegargumentieren noch in ihrer Bedeutung relativieren – und dennoch müssen Bibelleser und -leserinnen die Aussagen dieser Textstellen nicht einfach hinnehmen. Die erste Reaktion, die einem beim Lesen solcher Textstellen überkommt – das Hinterfragen, Kritisieren und Zurückweisen –, gehört zum Bibellesen dazu. Wie in einem guten Gespräch gehört es dazu, der Stimme des Anderen zuzuhören. Aber es ist eben auch erlaubt, zu antworten und zu widersprechen. Dabei hat weder die Bibel noch der Leser oder die Leserin das letzte Wort. Ein Vorbild für diese Art der Lektüre finden sich bereits in der Bibel selbst: bei Abraham.

Im Buch Genesis teilt Gott Abraham mit, dass er nach Sodom und Gomorra gehen wird, um Gericht über die Stadt zu halten. Abraham nimmt dies nicht einfach hin, sondern fragt ihn: „Willst du auch den Gerechten mit den Ruchlosen wegraffen?“ (Genesis 18,23). Dieses Hinterfragen der Absicht Gottes gehört grundlegend zur Bibellektüre dazu. Der Bibeltext muss sich vor dem Leser und der Leserin verantworten und zugleich müssen sich auch Bibelleserinnen und Bibelleser vor dem Bibeltext rechtfertigen – auch die Bibel ist menschlich.

Zur Todesstrafe

Kaum ist die Menschheit erschaffen, geschieht in der biblischen Geschichte bereits der erste Mord. Kain ermordet Abel. Gott bestraft ihn nicht mit dem Tod. Es folgt eine Geschichte der Menschheit voller Sünde, die zur Sintflut führt. Gott will alles Lebendige auf Erden aufgrund dessen Bösartigkeit zerstören – und nur Noach findet Gnade in seinen Augen. Noach wird nach der Sintflut zum Urvater aller Menschen und eine neue Weltordnung beginnt, zu der die Todesstrafe dazugehört. Gott erlässt ein Gesetz, das für die gesamte Menschheit gilt, als er zu Noach spricht: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut wird durch Menschen vergossen. Denn: Als Abbild Gottes hat er den Menschen gemacht“ (Genesis 9,6).