In Liebe Dein Karl

Im Nachhinein war es ein Fehler, diesen Mann zu heiraten. Nicht dass er bösartig oder geizig wäre, aber eine Partnerschaft, die nur aus praktischen Gründen eingegangen wird, hat letztlich doch zu wenig mit Liebe zu tun. Außerdem brachte er einen kleinen Sohn mit in die Ehe, mit dem ich von Anfang an nicht zurechtkam.

Ich war alleinerziehende Mutter einer Tochter, er wiederum hatte seine Frau verloren und ein kleines Kind großzuziehen. Eine funktionierende Patchworkfamilie hat im Prinzip viel für sich. Mein Mann konnte nun unbesorgt zur Arbeit gehen, ich dagegen meinen verhassten Job als Souf‌f‌leuse beim Stadttheater an den Nagel hängen, wo ich bei allen Proben und Aufführungen hatte präsent sein müssen. Mit den beiden Kindern, Haus und Garten hatte ich mehr als genug zu tun.

Seltsamerweise verstanden sich unsere Kinder auf Anhieb gut. Ja, mein Lenchen entwickelte mit seinen sieben Jahren geradezu mütterliche Gefühle

Jeden Abend saß dieser Mensch, der mir letztlich fremd geblieben ist, am Bettchen seines Sohnes und sang.

Abba Haidschi bumbaidschi schlaf lange,

Deine Mama ist ausgegange,

Sie ist ausgegange

Und kommt wieder heim,

Sie lässt ihren Timmi doch niemals allein …

Mit solchen gedankenlosen Versen nährte er die Hoffnung des Kindes, seine leibliche Mutter käme wie durch ein Wunder wieder zurück. Damit nahm er mir gänzlich die Chance, mit der Zeit an ihre Stelle zu treten.

Timm war ein verschlossener Junge. Er starrte mich mit seinen großen blauen Augen so

 

Timm wurde von seinem Vater über die Maßen verwöhnt. Es leuchtet sicherlich ein, dass ich für

 

Allein schon wegen ihrer abartigen Vorlieben musste diese Frau eine Spinnerin gewesen sein, wahrscheinlich kam der Junge ganz nach ihr. Um ehrlich zu sein, hasste ich sie ebenso wie ihr Kind, obwohl ich sie ja niemals kennengelernt hatte. In meiner Gegenwart sprachen mein Mann und sein Sohn nie über die Tote, aber man spürte, dass sie unentwegt an sie dachten. Der Geist dieser Spökenkiekerin waberte durch unser Haus und quälte mich. Hin und wieder zerbrach ich absichtlich einen Gegenstand aus ihrem Besitz, den sie wahrscheinlich schön gefunden hatte. Auf diese Weise

Timm blieb wie immer stumm, fixierte mich aber auf so penetrante Weise, dass ich es schließlich nicht mehr aushielt und ihn im Badezimmer einsperrte. Als mein Mann nach Hause kam, protestierte er scharf gegen diese Maßnahme. Ich hörte zu meinem Erstaunen, wie der sprachlose Timm anklagend sagte: »Papa! Mamas Katze ist tot.« Mich hatte das Kind nie mit Mutter, Mama oder Mutti angeredet.

Am nächsten Tag wurde Timm krank, mein Mann konnte ihn auf dem Weg zur Arbeit nicht wie gewohnt im Kindergarten absetzen. Der Junge habe erhöhte Temperatur und Halsschmerzen, behauptete er, vielleicht sei es ja die Schweinegrippe; ein

Gegen die eigene Überzeugung fragte ich Timm: »Möchtest du ein Eis?«, denn ich wollte meinem Mann keinen Anlass geben, mir wieder einmal Vorwürfe zu machen. Der Junge nickte matt, man hätte wirklich etwas mehr Dankbarkeit erwarten können. »Vanille oder Schokolade?«, fragte ich, doch er antwortete nicht. Dann solle sich das Herrchen gefälligst in den Keller bequemen und sein Eis selbst aussuchen, befand ich. In seinem ewig schmutzigen Schlafanzug und Lenes roten Pantoffeln schlurfte Timm hinter mir die Treppe hinunter.

Ich öffnete den schweren Deckel der Gefriertruhe, hob Timm ein Stückchen hoch und ließ ihn hineinschauen. Die Vorräte waren fast aufgebraucht, weshalb die Eispackungen tief unten lagerten. Zaghaft deutete er auf ein Cornetto-Hörnchen.

»Dann hol es dir«, sagte ich. Als der Junge während des Tauchgangs kopfüber in der Truhe hing,

Irgendwann war ich fertig mit der Arbeit und sah auf die Uhr. Sollte ich Timm jetzt wieder aus der Truhe befreien? Und wohin mit ihm, falls er erfroren war? Man durfte mir nicht auf die Schliche kommen, ich musste mir eine glaubwürdige Ausrede einfallen lassen. Doch in diesem Fall war es relativ einfach: Der Junge hatte sein Eis bereits aufgegessen und wollte sich unerlaubterweise ein zweites besorgen. Also war er in die Truhe geklettert, die zufällig noch nicht fest verschlossen war, und dabei war der Deckel zugefallen. Ein Unglücksfall, wie er im Buche steht. Sollte man mir erst einmal das Gegenteil beweisen.

 

Wo nur meine Lene blieb? Sie hätte längst von der Schule zurück sein müssen, es war inzwischen Mittag. Als ich zur Haustür lief und auf die Straße schaute, entdeckte ich neben der Gartenpforte ihr

Vielleicht hatte ich beim Fernsehen die Klingel überhört, und mein Kind hatte ratlos vor verschlossener Tür gestanden? Doch plötzlich bemerkte ich, dass das Garagentor offen stand, und mir fiel ein, dass Lene ja zum Glück das Versteck des Garagenschlüssels kannte. Wahrscheinlich saß sie schon längst im Kinderzimmer und machte Hausaufgaben.

Aber weder dort noch sonst wo im Haus war Lenchen zu finden. War es denkbar, dass sie von einem Pädophilen verfolgt und beim Betreten der Garage entführt worden war? Hatte sie heute vielleicht Wandertag, und ich wusste nichts davon, oder gab es noch ähnliche Strafen wie früher das Nachsitzen? In meiner Not rief ich bei der Schulsekretärin an und erfuhr, dass man die gesamte zweite Klasse am Morgen gleich wieder nach Hause

Und wenn doch alles viel schlimmer war? Hatte Lene vielleicht auf dem Weg durch die Garage den Vorratskeller durchquert und Lust auf ein Eis bekommen? Und war sie am Ende zu ihrem Bruder in die Truhe geklettert und hatte den defekten Deckel nicht hochgehalten, so dass er zufiel und beide darin gefangen waren? Sekundenlang spürte ich einen fast übermächtigen Impuls, die Treppe hinunterzurennen, die Gefriertruhe aufzureißen und die Kinder zu retten.

Doch vielleicht war es längst zu spät, und es galt, zwei Tote zu bergen. Schon allein bei der Vorstellung wurde mir schlecht, ich musste mich übergeben und taumelte ins Schlafzimmer, wo ich mich halb ohnmächtig verschanzte. Trotz zweier Daunendecken bekam ich heftigen Schüttelfrost, muss aber kurze Zeit später eingeschlafen sein.

 

Wie ein durchsichtiges Gespenst stand Lene plötzlich vor meinem Bett und weinte. Als sie Stunden zuvor heimgekommen sei, habe sie den kleinen Timm tot in der Gefriertruhe entdeckt und in einer Art Schockzustand die Flucht ergriffen. Das dürfe

Meine kleine, aber kräftige Tochter half mir, den steifgefrorenen Jungen in den Hobbyraum zu tragen und mit der Motorsäge grob zu zerlegen. Die großen Teile schweißte ich ein und beschriftete sie mit rotem Folienstift: Rehkeule, Gänsebrust, Hasenfilet, Wildschweinrücken. In der Tiefkühltruhe würden die Pakete vorerst nicht weiter auffallen. Allerdings konnte ich mit den Händen und Füßen sowie dem abgetrennten Kopf, aus dem mich die riesigen blauen Augen immer noch anstarrten, nicht ebenso verfahren. Ich steckte alles in eine Kaufhaustüte, tauschte diese dann aber zwecks besserer Verrottung gegen ein Jutesäckchen aus und vergrub das Bündel im Komposthaufen. Entbeinte Stücke schnitt ich in mundgerechte Happen und gab sie mit Olivenöl, Zwiebeln, zwei Lorbeerblättern, Paprika, Salz und Pfeffer, Tomatenmark, Wacholderbeeren und Knoblauch in die heiße Pfanne. Dann löschte ich mit Rotwein ab. Schon bald duftete es köstlich, aber selbst die nimmersatte Lene mochte nicht einen Bissen probieren. Sie half zwar beim Umrühren, doch ihre Tränen tropften unablässig in den Bräter, so dass ich schon befürchtete, der Fond

»Sag dem Papa, dass ich mit Timmi auf dem Spielplatz bin«, sagte sie und verließ das Haus. Mir gab es jedes Mal einen Stich, wenn sie meinen Mann ganz selbstverständlich als Vater akzeptierte, während Timm mich immer wie eine Fremde behandelt hatte. Ich ließ Lene ziehen, denn ich musste dringend die Küche putzen, wenngleich ich bereits von der anstrengenden Arbeit ziemlich erschöpft war und eigentlich in Ruhe die Nachrichten sehen wollte.

Doch ich blieb nicht ungestört, denn schon bald kam mein Mann hungrig von der Arbeit.

»Wie geht es dem Kleinen, Marga?«, fragte er als Erstes. »Ist er wieder gesund?«

»Und ob«, sagte ich. »Er ist gerade mit Lenchen zum Spielplatz gelaufen; Kleinkinder scheinen ja manchmal dem Tode nah und sind zwei Stunden später wieder putzmunter.«

Das kannte mein Mann auch. »Umso besser«, sagte er, »aber mit dem Essen möchte ich nicht mehr lange warten.«

Das gutgewürzte Gulasch schmeckte ihm über alle Maßen, er schaufelte sich dreimal den Teller voll und wischte ihn schließlich mit Brot aus.

Als ich gerade das Geschirr abgeräumt und

Das Lenchen hat mich ausgelacht.

Ihre Mutter hat mich kaltgemacht.

Zu Gulasch wurd’ ich weichgekocht.

Die Köchin wird nun eingelocht.

Der tückische Vogel plante wohl, mich zu verraten. Anfangs wollte ich ihn nur übertönen, konnte aber bald nicht mehr aufhören zu schreien.

 

»Hör auf mit dem Gekreische, Marga! Du bist sehr krank«, sagte mein Mann, beugte sich über mich und rüttelte mich an der Schulter. »Du phantasierst! Aber du musst mir trotzdem sagen, wo die Kinder sind.«

 

Hier in der geschlossenen Abteilung darf ich vorläufig keinen Besuch empfangen, auch nicht fernsehen, Radio hören oder Zeitung lesen. Doch die Putzfrau brachte mir gestern eine Illustrierte, die

Wunderbare Rettung dank Schweinegrippe

Die psychisch kranke Margarete W. kam mit ihrem vierjährigen Stiefsohn nicht zurecht. Das Kind war durch den Tod seiner leiblichen Mama schwer traumatisiert, in seiner Entwicklung zurückgeblieben und lehnte die neue Mutter völlig ab. Frau W. scheint sich anfangs bemüht zu haben, mit dem schwierigen Jungen auszukommen, war jedoch aufgrund ihrer eigenen Psychose restlos überfordert. An jenem verhängnisvollen Tag erkrankte nicht nur der Kleine an einem fieberhaften Infekt, sondern auch sie selbst. Als sich das Kind ein Eis aus der Gefriertruhe holen wollte, stieß sie den Jungen hinein, schloss den Deckel und verließ den Raum. Ihren eigenen Angaben zufolge musste sie dringend bügeln; als das Fieber stieg, legte sie sich jedoch ins Bett und wurde von alptraumhaften Halluzinationen heimgesucht.

Die Tochter von Margarete W., die aus einer

Frau W. hatte weder das Telefon noch die Türglocke gehört, weil sie den Fernseher sehr laut gestellt hatte. Nach anhaltendem vergeblichen Klingeln erinnerte sich ihre Tochter an das Versteck des Garagenschlüssels und beschloss, durch den angrenzenden Keller ins Haus zu gelangen. Als sie an der Gefriertruhe vorbeikam, wollte sie die Gelegenheit nutzen und sich ein Eis herausnehmen. Zu ihrem Entsetzen stieß sie auf ihren kleinen Stiefbruder, der gerade erst in seinen eisigen Sarg eingeschlossen worden war. Wäre die Siebenjährige nur wenige Minuten später gekommen, hätte man das Kind wohl nicht mehr retten können.

Statt sich aber sofort einer Nachbarin anzuvertrauen, flohen die verstörten Kinder Hals über Kopf aus dem elterlichen Haus. Da der

Frau W. wurde in das psychiatrische Landeskrankenhaus eingewiesen. Laut Aussage ihres Mannes leidet sie unter wahnhaften Schüben und versetzt sich dann in die Rolle tragischer Heldinnen, deren Texte sie als Theatersouf‌fleuse auswendig gelernt hat.

Ich war fassungslos: Die billig aufgemachte Illustrierte log wie gedruckt und verriet leider nicht, wer ihr niederträchtiger Informant war; ich tippe ja auf den Papagei. Für die siebenseitige Homestory mit den indiskreten Fotos hat mein Mann bestimmt nicht schlecht kassiert, er bezahlt wohl davon diese Schlampe, die kochen und sich in meiner Abwesenheit um die Kinder kümmern soll. Wenn ich demnächst heimkomme, werde ich alle beide vor die Tür setzen.

 

»Schwester Monika, Sie müssen wissen, dass ich zwar Margarete heiße, aber Gretchen genannt werde. Ich habe heute mein Kind im Brunnen ertränkt, darauf steht die Todesstrafe.«

Meine Mutter, die Hur’,

Die mich umgebracht hat,

Mein Vater, der Schelm,

der mich gessen hat!

Mein Schwesterlein klein

Hub auf die Bein’,

An einem kühlen Ort.

Da war ich ein schönes Waldvögelein;

Fliege fort, fliege fort.

Draußen ist es stürmisch. In meinem engen Kerker ist nur eine winzige Luke, ich kann nichts als grauen Himmel sehen.

Wer mit euch wanderte, mit euch schiffte!

Grüßet mir freundlich mein Heimatland!

Ich bin gefangen, ich bin in Banden,

Ach, ich hab’ keinen andern Gesandten!

»Nein, Schwester Monika, ich bin doch nicht blond! Ich bin kein Gretchen, ich bin Maria Stuart und werde heute noch hingerichtet.«