Sandra Wittmann

Die unendliche Reise des kleinen Lichts

Diese Geschichte ist
meinem besten Freund gewidmet
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Sandra Wittmann

Die unendliche Reise des kleinen Lichts

Als das kleine Licht geboren wurde, war es umringt von Milliarden anderer Lichter. Große und kleine Lichter, die entweder in einem strahlenden Weiß, in einem zarten Rot oder in einem kräftigen Blau leuchteten. Sie waren sich alle sehr nah und teilten ihre Sorgen und Gedanken. Ja, sie kommunizierten miteinander, aber nicht mit Stimmen oder anderen Lauten, sondern durch Wärme. Ihr Zusammenhalt war stark. Es schien, als könne sie nichts trennen. An diesem Ort existierte alles, was das kleine Licht kannte und je benötigen würde: Immerpräsente Wärme und alle anderen Lichter, vereint. Es war ein Zustand des unendlichen Seins. Eine Stetigkeit ohne auffallende Bewegungen oder Veränderungen. Ein Momentum, entstanden aus der Summe des Einzelnen.

Eines unbestimmten Zeitpunktes veränderte sich etwas maßgeblich. Viele Lichter verließen ihren geliebten Ort und kehrten auch nicht wieder zurück. Ihr Zuhause verlor an Wärme, es wurde kälter.

Eine Weile rätselte das kleine Licht, wohin alle verschwunden waren. Da musste etwas jenseits ihrer Heimat liegen, das wert war, sie zu verlassen. Etwas Geheimnisvolles gar Unbekanntes, das nun alle erforschen wollten. Nur was? Es gab ja eigentlich nichts anderes als die immerwährende Wärme, also wohin hätten sie gehen können? Es war undenkbar für das kleine Licht. Welche Absonderlichkeit vermochte jenseits der Wärme und Lichter zu existieren? Die Suche nach einer Antwort war zumindest eine Erklärung, warum andere neugierig wurden und nacheinander auf die Reise gingen. Nur würden sie sehr bald erkennen, dass es „dort“ nichts gab und sie umkehren mussten. Bestimmt. Oder?

Je länger sich das kleine Licht über diese geheimnisvolle Reise Gedanken machte, desto weniger wollte es sie bestreiten. Es mochte die Wärme und die anderen Lichter. Die meisten waren sich sehr vertraut, sie waren Freunde. Warum sollte es das, was es am meisten mochte, verlassen? Doch die Wärme nahm kontinuierlich ab und weitere Freunde gingen fort. Das kleine Licht begann sich zu fragen, ob es nicht ebenso aufbrechen sollte. Was, wenn es die Aufgabe aller Lichter war – deren Bestimmung? Aber es hatte noch nie einen Zeitpunkt gegeben, an dem Lichter fortgegangen wären. Und wenn er jetzt gekommen war? Niemals.

Das kleine Licht wehrte sich, es drehte sich im Kreis so schnell es konnte. Es wollte diese verwirrenden Gedanken loswerden, aber anstatt wieder anzuhalten, begann es sich zu bewegen. Dabei erreichte es eine Geschwindigkeit, die es bislang nicht erahnt hatte. Es wäre beinahe mit anderen Lichtern kollidiert, doch es bewegte sich einfach immer weiter voran. So weit von seinem Zuhause weg wie es noch nie gewesen war. All die anderen Lichter wurden zu feinen Linien, die Wärme dehnte sich weiter aus bevor sie sich abrupt verdünnte und das kleine Licht plötzlich etwas Neues spürte: Das Fehlen von allgegenwärtiger Wärme. Die eisige Kälte. Und das war noch nicht alles. Mit Verlassen seiner Heimat lernte das kleine Licht, dass es nicht nur fühlen, sondern auch sehen konnte. Es sah Dunkelheit und sie schien so unendlich zu sein wie die Wärme, die es in seinem Zuhause gespürt hatte. Es war zutiefst erschüttert. War diese Dunkelheit schon immer da gewesen? Hatte sie niemand bemerkt? Das kleine Licht hatte seine Existenz nie hinterfragt, umso deutlicher spürte es nun seine Unwissenheit und wollte sich damit nicht mehr zufriedengeben. Neugier erwachte. Es dachte an Zuhause. Immerwährende Wärme und unendliches Licht. Es glaubte, alles zu kennen und in Wahrheit gab es noch viel mehr. Je weiter das kleine Licht in die unbekannte Dunkelheit vordrang, desto eher begriff es, wie überwältigend groß diese Schwärze war. Sie war überall, hüllte alles ein und machte keine Andeutungen auf ein Ende. Sie war so gigantisch, dass sich alle anderen Lichter in alle Richtungen zerstreuten und zu einem Schimmer verblassten. Es war sehr beängstigend. Das kleine Licht hätte umkehren können, doch die Neugier auf Fremdes trieb es an und ließ es hoffen, sowohl seine Artgenossen einholen zu können als auch Antworten zu finden.

Zum Glück waren die anderen Lichter nicht schwer aufzuspüren. Die Wärme seiner Freunde und Bekannten leiteten es, sie war deutlich zu spüren. Weit entfernt und doch erkennbar in der schier endlosen Finsternis schimmerten Milliarden von ihnen, alle voneinander getrennt. Es wollte zu ihnen und sie fragen, was sie bislang über die Dunkelheit in Erfahrung bringen konnten. Bei dem Vorsprung mancher Lichter war die Fülle an neuem Wissen bestimmt unvorstellbar groß. Die Vorfreude, mehr zu erfahren, ließ das kleine Licht nur umso heller strahlen! Leider wurde es schnell eines Besseren belehrt.

Die anderen Lichter hatten sich verändert. Viele von ihnen versammelten sich, bildeten Einheiten und gingen neue Verbindungen ein. Ihre Wärme stieg um ein Vielfaches an, wenn man sie passierte. Andere versteckten sich in dichten Nebeln aus Gasen in zahlreichen und unterschiedlichsten Farbtönen, die sich nun, wo das kleine Licht sie sehen konnte, ganz anders anfühlten. Mit allergrößter Mühe versuchte es diese Farben voneinander zu unterscheiden, aber es fehlte ihm an Begriffen für jene kalten und warmen Töne, die dem kleinen Licht plötzlich so unheimlich fremd waren. Seine gesamte Existenz lang verbrachte es zwischen Blau, Rot und Weiß, wobei Letzteres viel weniger eine Farbe als die vertrauensvollste Wärme war, die das kleine Licht je wahrgenommen hatte. In diesen Wolken und Nebeln vermischten sich alle Farben und ließen neue entstehen. Weiß verblasste, kühlte ab und schimmerte gelblich, ein Ton, den das kleine Licht nie selbst gespürt hatte. Blau vermischte sich mit Rot, Rot mit Gelb und Gelb mit Blau. Mit jeder neuen Farbe veränderte sich die Intensität der Wärme.

Das kleine Licht verfiel in Staunen, gefolgt von einer Kälte, die nichts mit der Finsternis zu tun hatte. Die Anderen riefen nach dem kleinen Licht, es solle sich ihnen anschließen. Aber niemand konnte ihm etwas über die Dunkelheit erzählen. Niemand wusste mehr darüber. Und so blieb dem kleinen Licht keine andere Wahl als weiterzureisen.

Doch jede neue Ansammlung von Lichtern brachte Zweifel mit sich. Sie schmiedeten neue Bündnisse, um der Dunkelheit zu trotzen, aber niemand versuchte, dieser auf den Grund zu gehen. Das kleine Licht traf sogar auf alte Freunde. Manche kreisten um ihre eigene Achse, manche rührten sich nicht von der Stelle und riefen immer wieder nach dem kleinen Licht. Es spürte ihre Schwingen und Rufe ganz klar und deutlich. Auch sie hatten sich verändert. Sie waren ein Teil dieser neuen Verbindungen und Einheiten. Stark und eins. Ähnlich ihrer Heimat. Wäre es nicht sicherer gewesen dort zu bleiben? Sie hätten sich die Kälte erspart, die die Dunkelheit mit sich brachte und mehr einer Bedrohung glich. Und sie war da – unverkennbar. Wärme war nur noch in der Nähe des verbundenen Lichtes zu spüren und die Abstände vergrößerten sich. Die einzige Wärme, die das kleine Licht unentwegt wahrnahm, war seine eigene. Winzig, verborgen, aber unheimlich kräftig. Solange es die eigene Wärme spürte, brauchte es sich nicht zu ängstigen. Ob das gutging? Das kleine Licht wusste es nicht. Einzelne Lichter waren zu verstreut und zu weit entfernt, um sie einzuholen. Womöglich waren sie von derselben Neugier getrieben oder aber auch verloren. Das kleine Licht sorgte sich ein wenig um sie, aber es wusste auch, dass es ihnen nicht helfen konnte. So blieb nur die Hoffnung, dass sie entweder ihr Ziel erreichten oder zu ihrem Ursprung zurückfanden. Ob dasselbe auch für das kleine Licht möglich war, stand irgendwo unsichtbar in der Dunkelheit festgeschrieben. Natürlich war die Versuchung groß, sich den anderen anzuschließen. Es wäre nicht mehr allein und mit seinen Freunden wieder vereint. Sicher. Sie alle hatten an die Unendlichkeit der immerwährenden Wärme geglaubt und festgestellt, dass sie sich irrten. Wenn sich hinter der Wärme die Finsternis verbarg, was würde hinter der Dunkelheit warten? Oder war die Finsternis die eigentliche Unendlichkeit, die das Licht eingehüllt und verborgen hielt? Der Fortbestand der Wärme war nicht mehr gewiss. Diese Reise entpuppte sich zu einem riskanten Unternehmen, das vorzeitig zu beenden das kleine Licht nicht bereit war. Denn auch das kleine Licht hatte sich gewandelt. So ängstlich und skeptisch es vor und zu Beginn seiner Reise gewesen war, die Entschlossenheit, weiterzureisen, war nun stärker als alles andere. Das kleine Licht wollte nicht anhalten und konnte auch nicht mehr zurück. Es gab zu viele Fragen, auf die es nun eine Antwort suchte. Und weil sonst niemand danach suchte, musste es das kleine Licht allein herausfinden. Die Unendlichkeit stand auf dem Spiel. Sollte sie ein Ende haben, musste es das kleine Licht wissen. Egal, wie weit es dafür reiste.

Somit zog das kleine Licht weiter, der Dunkelheit trotzend und getrieben von unbändiger Neugier. Es studierte die Finsternis und ihre Eigenheiten. Manchmal war ihre Macht so gewaltig, dass sich ihr einzelne Lichter nicht mehr entziehen konnten. Sie wurden von ihr verschlungen und ehe sich das kleine Licht um die Lichter sorgen und sich vor dem Ende fürchten konnte, tauchten bald neue Lichter auf, die dem kleinen Licht zuzwinkten oder nach ihm riefen. Als ob sie nie fort gewesen wären. Das kleine Licht verstand immer weniger. Was hatte das alles zu bedeuten?

Die nächste Entdeckung sollte das Schicksal des kleinen Lichts für immer besiegeln. Auf seiner inzwischen weiten Reise war es stets anderen Lichtern begegnet. Lichterwolken, Lichterhaufen, Lichternebel. Zwar besaßen sie unterschiedliche Wärmen und Formen, trotzdem hatte es stets etwas Vertrauensvolles wiedererkannt. Selbst die Kälte war dem kleinen Licht nicht mehr fremd. Nach so vielen Entdeckungen wusste das kleine Licht, dass es noch unzählige mehr gab, die sich jeglicher Vorstellungskraft entzogen.

Die Begegnung mit einem „Etwas“ war eine davon. In der Dunkelheit stieß das kleine Licht auf irgendetwas ohne Wärme. Zunächst konnte das kleine Licht dieses „Etwas“ nicht beschreiben, wusste jedoch so viel, dass es nicht mit Dunkelheit zu vergleichen war. Denn anders als die Finsternis, besaß diese neue Entdeckung eine Form. Das kleine Licht näherte sich dem Objekt und bestaunte es eindringlich, bis es sich so nah heranwagte, dass sie sich berührten. Das kleine Licht erstarrte vor Entzückung. Diese Form war neu und mit absolut nichts zu vergleichen, das es bereits kannte. Zum ersten Mal konnte es etwas nicht durchdringen. Die neue Welt des kleinen Lichts bestand aus Wärme und Kälte, Licht und Dunkelheit. Anziehung und Abstoßung. Es war ein Fluss aus Energie, die immer in Bewegung war und sich frei und willkürlich Raum verschaffte. Diese fremde Form war solide, undurchdringlich. Mit Ecken, Kanten und Rundungen. Fest und unveränderlich. Und all das war noch nicht einmal das Faszinierendste! Diese feste Form bewegte sich auch ohne Wärme. Aber wie? Fast wirkte es so, als könne sie nicht selbst entscheiden, welchen Weg es einschlug. Als ob etwas anderes darüber entschied, wohin die Reise ging. Das kleine Licht hatte bereits eine Vermutung.

Da die feste Form keine eigene Wärme besaß, konnte das kleine Licht mit ihr auch nicht kommunizieren. Nichtsdestotrotz wollte es bei ihr bleiben, ihr Licht und Wärme spenden und sie weiter beobachten, um mehr über sie und ihr Ziel zu erfahren. Vielleicht kannte die feste Form den Weg und war in der Lage das kleine Licht bis zum Beginn dieser unbekannten Macht zu führen. Was, wenn sie das Ende der Unendlichkeit bedeutete? Das kleine Licht beschloss, die feste Form zu begleiten.