Horst Buchwald 

Griechenland – Merkels Alptraum 

Eine Chronologie des Scheiterns 

Buch 1 

Impressum

© Februar 2015
Horst Buchwald
Journalist
Wilhelmshavener Str. 57
10551 Berlin
Tel: 030 915 51 229
Mobil: 0151 432 605 91
Mail: hobuchwald@web.de
Published by: epubli GmbH, Berlin
ISBN: 978-3-7375-3255-6

Über den Autor

Horst Buchwald ist Wirtschaftsjournalist. Er hat veröffentlicht in: Wirtschaftswoche, Capital, Telebörse und Focus sowie verschiedenen Tageszeitungen wie Tagesspiegel, Berliner Zeitung und taz. Im vergangenen Jahr hat er das Ebook „Killt Spanien den Euro?“ veröffentlicht. Auf www.finanzkrisen-news.de bloggt er Beiträge zu den weltwirtschaftlichen Entwicklungen mit Schwerpunkt auf Europa. 

 

Über das Buch

Dieses Buch behandelt den Zeitraum von September 2008 bis Ende 2011. Wer nach den Ursachen des griechischen Verschuldungsdesasters sucht, findet sie hier. Zunächst hat die griechische Politikerkaste aus den Parteien Nea Demokratia und Pasok das Land an den Abgrund gewirtschaftet. Stichworte: Klientelismus, Korruption, Reformfeindlichkeit, Steuerflucht. Dann hat EU-Elite Griechenland den Euro beschert, obwohl das Land nicht wettbewerbsfähig war und wichtige Kriterien für den Euro-Beitritt nicht erfüllte. Entscheidend war jedoch das Jahrhundertgeschäft der Finanzindustrie mit griechischen Staatsanleihen. Erst dadurch stiegen die Schulden auf ein Niveau, daß eine Rückzahlung kaum noch möglich machte. Doch die EU-Elite – allen voran die Kanzlerin – lehnte eine Umschuldung ab. Stattdessen setzte sie auf Rettungspakete. Damit eröffnete sie der Finanzindustrie die Möglichkeit, ihre risikobehafteten Griechen-Bonds abzustoßen. Die Europäische Zentralbank war einer der Großeinkäufer. Hauptgläubiger sind jetzt die europäischen Steuerzahler. Nun glaubt man in den europäischen Regierungszentralen, das Feuer auf dem Olymp mit einem Austeritätskurs löschen zu können. Kann das gelingen? 

Inhaltsverzeichnis

Titelseite 

Impressum 

Über den Autor 

Über das Buch 

Zum Einstieg 

„Der deutsche Egoismus ist kriminell, er verlängert die Krise“ 

Wie es begann: Aufstand der Wohlbehüteten  

Kapitel 1: Die gefährliche Gier der Banken 

Aus der Maus wird ein Elefant  

„Wir rechnen mit weiteren Turbulenzen“ 

Die Banken und ihre Angst vor dem Untergang 

Die Schuldentragfähigkeit 

„Wenn es hart auf hart kommt …“ 

Griechen entdecken ökonomisches Zaubermittel 

Die Deutsche Bank bittet die Steuerzahler zur Kasse 

Die EU-Kommission verordnet Griechenland ein hartes Sparprogramm  

Wie die Spekulanten die Angst vor dem Dominoeffekt nutzten 

„Der Markt“ und die Verschuldungsorgie 

Merkel kritisiert die Spekulanten 

Jetzt droht ein Blitzbankrott 

Merkel will Spekulanten „das Handwerk legen“ 

Die Antwort der Banken: Wir zeigen, wo es langgeht  

Die EU-Elite kapituliert vor den Banken  

Die Amerikaner setzen Merkel das Messer auf die Brust  

Kapitel 2: Die Sozialisierung der Schulden beginnt 

Papandreou gibt auf 

Krasse Mißverhältnisse 

„Die europäische Schuldenkrise wird global“  

EU beschließt Multi-Milliarden-Stütze für den Euro 

Größtes Stoppschild oder unsolides Bollwerk? 

Europas Deppen  

Kapitel 3: Ackermanns Spiel mit der „Kernschmelze“ 

Der Coup von Merkel und Ackermann 

Merkel im Kreuzfeuer 

Verschwörung der Eurogegner? 

Kapitel 4: Griechenland spart sich kaputt 

Griechenland bleibt weiterhin in der Schußlinie  

Griechenland spart sich kaputt und verschlampt Reformen 

Griechisches Defizit höher als gedacht 

Kapitel 5: 2010 war hart, 2011 wird härter 

2011 – Das Jahr der Umschuldung 

Großspurige Ankündigungen – alles nur Luft  

Drastischer Sparkurs bringt nichts 

Schuldenschnitt oder Umschuldung – wie geht es weiter? 

Griechenland schockiert mit Riesendefizit 

Riesenschock: Papandreou droht mit Austritt  

Wie groß wären die finanziellen Risiken für Deutschland? 

Schäuble für Laufzeitverlängerung 

Die Sozialisierung der Schulden beginnt 

Schäuble stößt in Europa auf Widerstand 

Alles läuft aus dem Ruder 

Top-Ökonomen nennen die Alternativen   

Kapitel 6: Verhärtete Fronten 

Europäischer Offenbarungseid 

Neuer griechischer Finanzminister: „Ich ziehe in den wahren Krieg“ 

Eurominister zögern Griechenhilfe hinaus  

Sehnsucht nach neuen Politikern 

Löst Griechenland eine globale Finanzkrise aus?    

Das zweite Hilfspaket: „Griechenland muss liefern“  

Ackermann und die Kernschmelz-Drohung 

Die Mogelpackung der Banken  

Hilfe der Banken wird zur Farce 

Merkel: „Die Lage ist extrem fragil“  

Herbstbilanz: Griechen glauben nicht an Erfolg des Spardiktats  

Es gibt keinen Spielraum 

Griechische Medien greifen Schäuble an  

Papandreou kämpft einsam gegen die Wut der Massen 

Was folgt auf die Pleite Griechenlands? Eine Bankenkrise 

Jetzt geht es um alles oder nichts 

Griechenland verfehlte erneut das Sparziel 

Mit Finanzhebel gegen Kernschmelze  

IWF will Rettungspaket für Griechenland nachbessern 

Kapitel 7: Nun droht noch eine Bankenkrise  

Staaten oder Banken retten – was ist billiger? 

„An der Wegscheide“ – oder wie (gut) arbeitet die Troika? 

Schäuble und Issing im Streitgespräch: Sollen die Griechen raus aus dem Euro?  

Troika verpasst Griechenland Gelbe Karten 

Neue Runde: Banken gegen Staaten 

Die Entgegnung der Banker 

Ackermann verhandelt über Griechen-Pleite 

Ausschreitungen in Athen 

Die Mittelschicht wird ausgelöscht  

Troika-Bericht setzt Banken unter Druck    

Banken torpedieren Gipfel-Einigung 

Kapitel 8: Papandreou stellt sich eine Falle 

Der Schock  

Papandreou verteidigt Referendumsplan 

Schäuble: Unterstützung für Griechenland  

Griechenland: Entlassungen in Armee und Marine  

Deutsche Banken vertagen Zustimmung zu Schuldenschnitt  

Merkel und Sarkozy bändigen die Griechen  

Welche Folgen hätte zum damaligen Zeitpunkt ein Austritt der Griechen aus der Eurozone gehabt?  

Papandreou wird gestürzt  

Vier schlechte Nachrichten zum Jahresausklang 

Zum Einstieg

Man hätte auf jene hören sollen, die schon frühzeitig der Meinung waren, daß es ein Fehler war, Griechenland in die Währungsunion aufzunehmen. Diese Mahner gab es auch in Deutschland. Doch man nahm sie nicht ernst. Ein gutes Beispiel dafür war die Bundestagsdebatte vom 23. April 1998. Die damalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth freute sich, weil „im Hinblick auf den Gegenstand unserer Debatte, heute ein so schöner Sonnentag ist“. Sie ist sich ganz sicher: „Heute ist ein guter und wichtiger Tag für Europa und für uns. Ich hoffe, wir kommen zu besten Ergebnissen.“ 

Was war da los? Zur Diskussion stand der „Beschluß der Bundesregierung zur Festlegung des Teilnehmerkreises an der dritten Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion“.

Den Auftakt machte Finanzminister Theo Waigel. Er kam gleich zu Anfang auf den Punkt: „Seit dem 25. März 1998 liegen mit den Konvergenzberichten der Europäischen Kommission und des Europäischen Währungsinstituts die nach dem Vertrag vorgesehenen Entscheidungsgrundlagen auf dem Tisch. Am 27. März hat die Deutsche Bundesbank ihre Stellungnahme zur Konvergenzentwicklung veröffentlicht. Die Kommission empfiehlt dem Rat, zu bestätigen, daß elf Mitgliedstaaten die Voraussetzungen für die Einführung des Euro erfüllen. Die Ausnahmen sind Griechenland, Großbritannien, Schweden und Dänemark. Die drei letztgenannten Länder haben politisch entschieden, der Währungsunion zunächst noch nicht beizutreten.“

Und Griechenland? Klar, die Griechen erfüllten die Konvergenzkriterien nicht. Waigel schenkte auch dazu reinen Wein ein: „Die vorgelegten Konvergenzberichte bestätigen: In Europa hat sich eine breite Stabilitätskultur entwickelt. Der Preisanstieg ist auf einen historischen Tiefstand gesunken. Die durchschnittliche Inflationsrate in der Europäischen Union lag im letzten Jahr bei nur noch 1,6 Prozent. Zu Beginn der 80er Jahre waren es noch rund 13 Prozent.“ Nächster Punkt: Zahlreiche Experten hätten „im Vorfeld der Währungsunion dramatisch steigende Zinsen erwartet. Das Gegenteil ist der Fall: Wir haben die niedrigsten Zinsen seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Was an der Preisfront und im Zinsbereich erreicht wurde, ist eine großartige Erfolgsgeschichte deutscher Finanzpolitik.“

Dann ging er auf die Haushaltsdefizite ein. „Den Referenzwert für das öffentliche Haushaltsdefizit in Höhe von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hat 1997 mit Ausnahme von Griechenland kein Mitgliedstaat überschritten. Im EU-Durchschnitt fiel die Neuverschuldung von 6,12 Prozent 1993 über 4,2 Prozent 1996 auf 2,4 Prozent im letzten Jahr.“ Und wie stand es um die Schulden der Staaten? Waigel betonte, hier müsse er „Einschränkungen“ machen. „Der Referenzwert in Höhe von 60 Prozent des BIP wurde im letzten Jahr nur von Finnland, Frankreich, Großbritannien und Luxemburg unterschritten. In einigen anderen Ländern lag die Schuldenstandsquote zwischen 60 und 70 Prozent. In Deutschland war die Überschreitung mit 61,3 Prozent am geringsten“.

Fassen wir zusammen: Griechenland erfüllte mindestens zwei  Konvergenzkriterien nicht. Also hätte man das Land nicht aufnehmen dürfen. Hat das irgendein Bundestagsabgeordneter oder Minister in der Aussprache gefordert? Kein Wort davon. Ganz im Gegenteil. Das Problem Griechenland wurde einfach schöngeredet. Der damalige CDU-Shootingstar Friedrich Merz etwa führte aus: „Dieses Europa, diese Bundesrepublik Deutschland stehen in den nächsten Tagen vor einem Quantensprung ihrer Geschichte.“ Dieser Einschätzung wollte Bundeskanzler Kohl nicht nachstehen: „In der Politik gerät man häufig in die Versuchung, von säkularen Ereignissen, von Jahrhundertereignissen zu sprechen. Dies ist ein solches Ereignis.“

Selbstverständlich sind an Kohl die Einwände gegen die Aufnahme der Griechen nicht spurlos vorübergegangen. Er kannte also die Risiken. Doch ein Problem sah er im Falle einer Pleite des Landes nicht. Warum nicht? Ohne Griechenland zu nennen (aber welches andere Mitglied konnte sonst noch gemeint sein?) hob der Kanzler einen Punkt von „großer Bedeutung“ hervor: „Meine Damen und Herren, nach der vertraglichen Regelung gibt es keine Haftung der Gemeinschaft für Verbindlichkeiten der Mitgliedstaaten und keine zusätzlichen Finanztransfers.“

Was heißt das? Für Kohl war damit jegliches Risiko vom Tisch. Für den Fall, daß ein Eurozonen-Mitglied in die Pleite abrutscht, fließt kein Geld zur Unterstützung aus deutschen Kassen. Das Mitglied muß alleine sehen, wie es klarkommt. Der deutsche Steuerzahler kann ruhig schlafen. Heute wissen wir: Es kam alles anders. Wie das möglich war, lesen Sie auf den folgenden Seiten. 

„Der deutsche Egoismus ist kriminell, er verlängert die Krise“

Es ist Mitte Juli 2011. In den Regierungszentralen der EU herrscht Säuernis. Seit Monaten streiten sich die Spitzenpolitiker über Griechenland. „Das Faß ohne Boden“ hing wie ein Mühlstein über dem bevorstehenden EU-Gipfel. Im Kreuzfeuer stand die Krisenstrategie der deutschen Kanzlerin. Auf den Punkt gebracht hieß sie: Rettungspakete plus Spardiktat. Sie funktionierte nicht, denn die ökonomische und soziale Lage der Griechen hatte sich trotz des Hilfspakets vom Frühjahr 2010 nicht verbessert, sondern extrem verschlechtert. Die Schulden des Staates waren gestiegen, die Arbeitslosigkeit erreichte einen Rekord nach dem anderen. Ein Generalstreik folgte dem nächsten. Von einer Schuldentragfähigkeit (dazu gleich mehr) war das Land weiter denn je entfernt. Griechenland drohte die ewige Pleite.

Der Wirtschaftsexperte und CDU-Politiker Klaus-Peter Willsch brachte das damals in einem Interview mit der „Wirtschaftswoche“ kurz und bündig auf den Punkt: „Griechenland hat 230 Milliarden Euro Bruttoinlandsprodukt, inzwischen 360, vielleicht 370 Milliarden Gesamtschuldenstand, Steuereinnahmen von 45 Milliarden und einen Zinsdienst von 25 Milliarden Euro. Das ist mathematisch unlösbar. Ich kenne niemanden außerhalb der Politik, der das anders sieht.“ (Wirtschaftswoche, 19.9.2011)

Es lag also nahe, daß einige Politiker und Ökonomen Alternativen ins Spiel brachten. In Stichworten waren das: Insolvenz mit anschließendem Euroaustritt, Umschuldung sowie Schuldenschnitt. Doch in der Berliner Regierungszentrale rührte sich nichts. Die Kanzlerin bestand auf der Fortsetzung ihres Spardiktats. Gleichzeitig erweckte sie den Eindruck, daß sie sich den bevorstehenden EU-Gipfel eigentlich schenken könnte. Warum? Weil der „große europäische Befreiungsschlag“ nicht gelingen werde. Was das sein sollte, blieb ihr Geheimnis. Vielleicht hatte sie das den anderen EU-Regierungschefs auf geheimen Kanälen mitgeteilt, ohne daß davon etwas an die Öffentlichkeit gelangte. Denn wer nun Proteste aus Madrid, Rom, Athen oder Lissabon erwartete, wurde enttäuscht. Es blieb mucksmäuschenstill. Die Mehrheit kuschte vor der „mächtigsten Frau der Welt“ (Forbes). Nur zwei wagten sich nach vorn – der französische Präsident Sarkozy und der frühere Kanzlerberater Horst Teltschik.  

Beginnen wir mit Sarkozy. Auf dem Tisch lag die Frage einer substantiellen Beteiligung privater Gläubiger (also Banken, Hedgefonds, Versicherungen, Pensionsfonds und Superreiche) an einer Umschuldung Griechenlands. Während Merkel diese Beteiligung einforderte, brachte Sarkozy die Idee einer Sondersteuer für den Finanzsektor ins Spiel und warb für eine Ausweitung des Rettungsfonds EFSF. Sarkozys Position wurde von der Europäischen Zentralbank und einer Mehrheit der Eurozonen-Staaten unterstützt, Merkel fand Zuspruch in den Niederlanden und Finnland. Weil die beiden Spitzenpolitiker sich nicht einigen konnten, wurden die Verhandlungen auf EU-Ebene im Vorfeld des Gipfels blockiert. Damit der Gipfel nicht noch in letzter Minute abgesagt werden mußte, reiste der französische Präsident extra nach Berlin und hoffte dabei auf eine Lösung im Vieraugen-Gespräch.  

Doch unmittelbar vor dem deutsch-französischen Treffen berichtete ein französisches Enthüllungsblatt von Äußerungen Sarkozys, die wohl einmalig sind. Laut „Le Canard Enchaîné“sagte er zur deutschen Haltung in der Schuldenkrise: „Die Griechen tun, was sie können, und sie haben schon eine Menge erreicht. Die einzigen, die es an Solidarität fehlen lassen, sind die Deutschen.“ Im kleinen Kreis wurde der französische Präsident noch deutlicher: „Der deutsche Egoismus ist kriminell, er verlängert die Krise.“

Sarkozy wurde unterstützt von EU-Kommissionspräsident Barroso – der forderte, Deutschland solle nicht länger eine Lösung verhindern. Die Staats- und Regierungschefs hätten versichert, alles Notwendige zu tun, um die Stabilität des Euro zu erhalten. Jetzt müsse man diese Versprechen auch einlösen. Er bezeichnete die Lage als „sehr, sehr ernst“. Ohne eine überzeugende Antwort der Gipfelteilnehmer werde es negative Folgen für ganz Europa und darüber hinaus geben.

Der nächste Schuß gegen Merkel kam von Horst Teltschik. Er war früher außenpolitischer Berater von Kanzler Helmut Kohl. Im Interview mit dem „Tagesspiegel“ fällte er ein vernichtendes Urteil über die Europapolitik der Kanzlerin: „Sie entwickelt keine Vorstellung von der Zukunft Europas, obwohl das gerade jetzt notwendig wäre. Auf die systemische Krise muss Europa eine systemische Antwort finden“, forderte er. Es sei offensichtlich, „dass wir eine gemeinsame europäische Haushalts-, Schulden- und Finanzpolitik brauchen.“  

Diese Kritik Teltschiks erhielt noch mehr Gewicht, als bekannt wurde, daß er in letzter Zeit mehrfach Altkanzler Kohl besucht hatte. In den Medien hieß es nun, seine Aussagen seien denen Kohls nicht unähnlich. Laut einem „Spiegel“-Bericht hielt der Altkanzler die Politik der Kanzlerin für „sehr gefährlich“. Kohl habe gesagt: „Die macht mir mein Europa kaputt.“ Doch Kohl dementierte den Bericht. Gegenüber der „Bild“-Zeitung behauptete er, die ihm zugeschriebenen Äußerungen seien frei erfunden. Zugleich zog er in der „Bild“ gegen Merkel zu Felde. „Ich bin – wie viele – besorgt über die Entwicklung in Europa und des Euro“, sagte der Altkanzler. Es sei dringend notwendig, dass die vermeintliche Eurokrise nicht als Strukturkrise des Euro an sich verstanden werde, sondern als das, was sie sei: „das Ergebnis hausgemachter Fehler und Herausforderungen für beide Seiten – Europa und die Nationalstaaten.“ 

Spätestens damals wurde deutlich: Griechenland wird Merkels Alptraum!

Buch 1 behandelt den Zeitraum von September 2008 bis Ende 2011

Wie es begann: Aufstand der Wohlbehüteten

Am 6. September 2008 ging Alexandros Andreas Grigoropoulos auf eine Party, die sein Freund Niko im Athener Stadtteil Exarcheias veranstaltete – und wurde erschossen. Über den Tathergang gab es unterschiedliche Versionen. Die einen behaupteten, er hätte mit Freunden gegen die Regierung und die Perspektivlosigkeit seiner Generation demonstriert und dabei erwischte ihn eine Kugel. Andere meinten, ihn in einer Gruppe von Freunden gesehen zu haben, die von der Polizei kontrolliert wurde. Bei dieser Aktion fiel der tödliche Schuß.

Wer war der Todesschütze? Es handelte sich um einen siebenunddreißigjährigen Beamten, der  zunächst behauptete, in Notwehr Warnschüsse abgegeben zu haben. Schließlich kam heraus, daß er wegen seiner Brutalität berüchtigt war. Seine Kollegen hatten ihm den Spitznamen „Rambo“ gegeben. Als er schließlich verhört wurde, sagte er aus, er habe drei Warnschüsse abgefeuert, wovon einer den Jugendlichen als Querschläger getroffen habe. Die Staatsanwaltschaft glaubte dieser Version nicht und warf ihm Totschlag vor. Kurz danach legte der Pflichtverteidiger des Polizisten sein Mandat nieder. Begründung: Einen „solchen Mandanten“ könne er aus Gewissensgründen nicht verteidigen.

Wer war Alexandros? Der 15-jährige kam aus einer wohlhabenden Familie in Athen. Seine Mutter führte ein Juweliergeschäft, der Vater war Filialleiter einer Bank. Die Eltern lebten getrennt. Der Jugendliche wohnte bei seiner Mutter, hatte zu seinem Vater jedoch ein gutes Verhältnis. Seit einem Jahr besuchte er eine Privatschule. In seiner Freizeit fuhr er Skateboard und spielte Fußball. Ein spezielles politisches Engagement konnte nicht festgestellt werden.

Dennoch löste sein Tod in ganz Griechenland Massenproteste aus. Immer häufiger wurde dabei Gewalt eingesetzt. Ladenzeilen wurden zertrümmert, verbrannte Autowracks säumten die Straßen, Häuserfronten wurden verunstaltet. Welche Erklärung gibt es für den Ausbruch dieser Gewalt?

In der linksliberalen italienischen Tageszeitung „La Stampa“ vom 9. Dezember 2008 wurde der griechische Schriftsteller Vassilis Vassilikos dazu befragt. Er betonte, schon lange bevor die Finanzkrise Griechenland erfaßte, war der Staat sozial, ökonomisch und politisch zutiefst zerrissen und galt als einer der korruptesten Staaten in Europa. Der Schriftsteller beschrieb das so: Vor der Finanzkrise „kommt noch der Immobilienskandal, in den das Kloster Vatopedi auf dem Berg Athos verwickelt ist. Und die gefälschten Prozesse, mit Richtern, die ihre Entscheidungen entsprechend den politischen Spielen ändern. Und der versuchte Selbstmord des dreisten Generaldirektors des Kultusministeriums, der die EU-Subventionen verwaltet und die Grundstücke in der Nähe der archäologischen Stätten zu Schleuderpreisen verscherbelt hat. Dann das Rentengesetz und der Beschluss der Regierung, 28 Milliarden Euro an Hilfsgeldern für die Banken bereitzustellen und nicht für die Menschen, die Probleme haben, sich Lebensmittel zu kaufen.“

Eine ebenso bedeutende Rolle spielte auch die rasch zunehmende Prekarisierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Hochschulausbildung. Deren Eltern mußten sich zur Finanzierung des Studiums in der Regel hoch verschulden und dann erleben, daß ihre Söhne und Töchter trotz eines Universitätsabschlusses vergeblich einen angemessenen Job suchten. Ein Beispiel: Wer in Griechenland ein Medizinstudium abschloß, mußte sich bis zur Facharztausbildung auf eine Wartezeit von bis zu sieben Jahren einstellen. Nicht wenige fertige Medizinstudenten schlossen in dieser Zeit ein zweites Hochschulstudium ab zum Zeitvertreib, denn die Berufschancen verbesserten sie damit nicht. Ganze Jahrgänge medizinischer Fakultäten sind inzwischen in andere EU-Staaten oder nach Übersee ausgewandert. Wer im Land blieb, endete nicht selten in einem Fast-Food-Restaurant statt im Krankenhaus. In Griechenland spricht man von der „700-Euro-Generation“. Ein Massenphänomen. Und selbst wer einen Job ergatterte, mußte oft mit einem Einkommen vorlieb nehmen, das nur knapp über der Armutsgrenze lag. 

Schon vor der Krise war die Jugendarbeitslosigkeit unverhältnismäßig hoch. Nach den Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bezogen 2008 durchschnittlich 1,35 Millionen Menschen zwischen 18 und 29 Jahren Arbeitslosengeld II. Dabei schaffte nur jeder Dritte von ihnen den Absprung von der staatlichen Alimentierung – und auch das häufig nur vorübergehend. Fazit: Viele junge Erwachsene waren schon zu Beginn ihrer „Karriere“ auf staatliche Transfers angewiesen. Dies erklärt, warum die Schulen und höheren Bildungsanstalten schon seit Mitte der 90er Jahre immer wieder Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen waren. Die jeweiligen Regierungen reagierten darauf mit Diffamierungen und polizeilicher Repression.   

Die Selbstbedienungsmentalität der griechischen Oberschicht geriet zunehmend in die Kritik. Zu den wenigen öffentlich gewordenen Skandalen gehörte der Fall „Siemens Hellas“: Mit bis zu 100 Millionen Euro sollen seit den 90er Jahren die griechischen Regierungsparteien sowohl die PASOK als auch die Nea Dimokratia geschmiert worden sein. Doch nicht wenige Parteimitglieder waren und sind nicht nur korrupt, sondern auch unfähig. Wie sehr, das zeigten die Waldbrände.  

2007 vernichteten Waldbrände innerhalb einer Woche 184.000 Hektar Land – eine Fläche doppelt so groß wie Berlin. Mindestens 64 Menschen kamen in den Flammen ums Leben. Bei den Gegenmaßnahmen versagten die örtlichen Behörden, aber auch die Regierung in Athen. Sie glaubten, es sich ganz einfach machen zu können, indem sie behaupteten, starke Winde seien die Ursache. Doch die Griechen und auch die meisten Medien ließen sich nicht verulken. Sie machten die Regierungen der vergangenen zehn Jahre verantwortlich. „Der Staat des (Umwelt-) Verbrechens“, titelte die linksliberale Athener Zeitung „Eleftherotypia“. Der Vorwurf lautete: Athen habe in den vergangenen Jahren 97 Milliarden Euro für Rüstung ausgegeben, für den Kauf von Löschflugzeugen standen jedoch nur 300 Millionen Euro zur Verfügung. Schlimmer noch: 3000 Planstellen für Feuerwehrleute blieben unbesetzt und die Kommunikation zwischen Forstbehörde und Feuerwehr war wegen veralteter Technik fortlaufend gestört.   

Auch wenn es mangels intensiver Ermittlungen keine Schuldigen gab hartnäckig hielt sich die These, Bodenspekulanten hätten die Brände gelegt, um Bauland zu gewinnen. Und was geschah, nachdem die Waldbrände gelöscht waren? Die Experten forderten von der Regierung, sie sollte ein Bebauungsverbot für Flächen erlassen, die durch Waldbrände frei geworden waren. Doch nichts geschah.  

Kein Politiker fühlte sich schuldig oder gestand Fehler ein. Im Gegenteil: „Wir waren auf die Feuergefahr gut vorbereitet“, lobte sich der damalige Innenminister Prokopis Pavlopoulosin in einem Zeitungsinterview. Dabei waren er und der Minister für öffentliche Ordnung Vyron Polydoras die Hauptverantwortlichen für das gescheiterte Krisenmanagement. Konsequenzen kamen für sie nicht infrage. Und weil sie begriffen, daß allein die Windstory bei der Bevölkerung nicht ankam, palaverten sie von einer Bedrohung durch Terroristen. Und wen wundert’s : Wenig später wurde diese Version auch von dem damaligen Regierungschef Konstantinos Karamanlis sowie vom Oberhaupt der griechisch-orthodoxen Kirche, Erzbischof Christodoulos, verbreitet.   

Um das Vertrauen beim Wahlvolk wiederzugewinnen, versprach Karamanlis, er werde mit Geldern der EU und mit zahllosen Krediten die zerstörten Dörfer und die Infrastruktur des Landes wieder aufbauen. Doch auch das wurde von der Bevölkerung nicht ernst genommen. Man erinnerte sich, daß 2007 in Attika rund 5000 ha Wald abbrannten gerade mal 218 ha wurden aufgeforstet. Diese Arbeit wurde nicht von den staatlichen Forstbehörden realisiert, sondern von Bürgerinitiativen und Kommunen.  

Die Zeitung „Kathimerini“ sah in den Bränden ein Indiz für den Bankrott des griechischen Entwicklungsmodells. Für jede Regierung, die seit 1974 am Ruder war, galt der Umweltschutz als Hindernis und wurde ignoriert. Als ein Beispiel, das in allen griechischen Medien auftauchte, kann der Fluss Asopos genannt werden, der wenige Kilometer nördlich der Hauptstadt Athen fließt. Noch heute verseuchen die hier angesiedelten Industrien den Fluss mit Schwermetallen, die so stark vergiftet sind, dass das Grundwasser in der ganzen Region nicht getrunken werden kann.

Die Brände haben aber auch die Krankheiten des politischen Systems offenbart. Seit 1974 wechseln sich zwei grosse Parteien, die „grüne“ Panhellenische Sozialistische Bewegung (Pasok) und die „blaue“ Nea Dimokratia (ND), an der Macht ab. Beide stützen sich auf ein Klientelsystem. Das bedeutet: Bei jedem Regierungswechsel werden im Staatsapparat von den Schlüsselposten bis zu den unteren Funktionen die Funktionäre ausgewechselt.

Fazit: Griechenland am Vorabend der Finanz- und Verschuldungskrise war also bereits zahlreichen  Krisensymptomen angefressen.

Kapitel 1: Die gefährliche Gier der Banken

Aus der Maus wird ein Elefant