Otto W. Bringer

„Adieu“

Nichts bleibt – und lieben wir es noch so sehr.

Imprint

Adieu
Otto W. Bringer

Published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-7418-1389-4

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Weiß ich wer ich bin?

Diese nicht unwichtige Frage, fällt mir ein, muss noch beantwortet werden, bevor ich dieses Buch schließe. Erst einmal bin ich Otto W. Bringer. Ältester Sohn des Karl Otto Bringer und seiner Frau Elisabeth geborene Kuhlenberg. Mit guten Genen gesegnet aus drei Generationen. Begabt Geige zu spielen, Akkordeon und Klavier. Dank Mama. Bildnerische Gestaltung dank Papa und seinem Großonkel Fritz Beinke. Der als bekannter Genremaler im neunzehnten Jahrhundert international Erfolg hatte. Romantik war In.

Charakterlich bin ich eher ein Ausreißer, verglichen mit den Vorfahren. Neugierig auf Unbekanntes, auch wenn es riskant ist. Falle ich auf die Schnauze, steh ich einfach wieder auf. Wenn´s sein muss, viele Male hintereinander. Ich bin optimistisch, ein bisschen draufgängerisch. Wenn mich der Stachel löckt. Im Gegensatz zu Papa und Großpapa, die sich eher zurückhielten. Könnte ja passieren, was sie noch nicht kannten.

Manchmal treibt es mich, ein anderer zu werden. Einer, der ewig jung ist. Lebendig in Kopf und Beinen. Von allen geliebt. Umarmt, geküsst und gestreichelt, weil er ist, wie er ist. Anders als die anderen. Kennen Sie den? Ich bin´s nicht. „Adieu“ Unbekannter.

„Adieu“ Beschreibung.

Jeder weiß, dass Abschied nehmen zum Leben gehört. Sich trennen müssen von dem, was wir lieben, gewohnt sind. Wir verdrängen den Gedanken daran, aber es hilft uns nicht. Leben heißt sich verändern. Kommen und gehen wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Wachsen und reifen und sterben. Sonst wäre es nicht lebendig, sondern tot.

In 38 Kurzgeschichten erzählt der Autor, wie er selbst und viele andere dieses ständige Abschiednehmen erlebten. Besser gesagt überlebten. Jedes Mal tieftraurig danach, gefasst oder reifer geworden in Einsicht und Charakter.

Er selbst als Sechsjähriger die Mutter verloren. Bis über beide Ohren verliebter Student. Als Mann mit fünf Frauen. Zweimal verheiratet. Beide Frauen tot. Vater von drei Töchtern. Als Autofahrer, Mieter und Besitzer von Haus und Hund. Andere müssen sich verabschieden, weil sie nicht mehr tanzen, nicht auf Berge klettern, keine Zahlen merken, die Welt nicht verbessern können. Nicht da bleiben, wo sie ihr ganzes Leben verbrachten.

Das schöne Mädchen Ruth.

Die erste Freundin verlor ich, bevor ich sie richtig besaß. Lernte sie im Schwimmbad an der Grünstraße kennen. Von Kennenlernen aber noch lange keine Rede. Sehen trifft es genauer. Und wollen. Sie war eine Schönheit, wie sie nur junge Mädchen besitzen. Ein bisschen ungelenk noch. Aber von einer natürlichen Anmut, die mich sofort faszinierte. Ich muss wissen, wie ihr Name ist. Will sie ansprechen können. Träumen von einer Eva oder Rosamunde. Ihr ein Gedicht schreiben. Straße und Hausnummer muss ich auch noch wissen. Ich folgte ihr auf Schritt und Tritt.

Nicht ganz einfach, unbemerkt zu bleiben. Einmal nach dem Schwimmbad trödelte sie mit ihren Freundinnen in Richtung Kö. Verlor sie aus dem Blick, als es spannend wurde. Die Freundinnen, hallo, verabschiedeten sich. Sie allein im Gedränge des sonnigen Samstagnachmittags untergetaucht. Da war sie wieder. Soll ich ihr das Gedicht mit der Post schicken? Quatsch. Geht nicht. Ohne Namen und Adresse kommt nichts an.

Außerdem könnte sie Ärger bekommen mit ihren Eltern. Sie mag vielleicht fünfzehn sein. Ich bin achtzehneinviertel. Sie noch nicht mündig. Ich theoretisch auch nicht. Aber erwachsen geworden als Soldat. Gerade aus englischer Gefangenschaft entlassen. Hungrig nach Schönheit und Liebe. Nach all dem Krachen, Morden, und der ständigen Angst, mein Leben zu verlieren, bevor ich es gelebt hatte. Also ins Schwimmbad. Einzige Chance, sie wiederzusehen. Samstagnachmittag wie beim ersten Mal.

Fuhr jeden Samstag zum Schwimmen. Ließ sich auch einrichten, weil ich Wochenende nur bis zwölf Uhr arbeiten musste. Volontierte in einem Architekturbüro. Um später die Kunstakademie zu absolvieren. Der erste Samstag ergebnislos. Aushalten, hoffen, sagte ich mir. Wie im Bombenhagel.

Am dritten Samstag sah ich sie wieder. Von der Galerie aus gut zu identifizieren. Porzellanblass ihre Haut. Knappschwarzer Badeanzug, der Arme und Beine noch schlanker erscheinen ließ. Lange braunkohlendunkle Haare. Sprang ins aufspritzende Wasser. Hörte einen Schrei. Ihre Stimme? Sah sie zügig das Becken durchqueren. Ich lief die Treppe hinunter. Drängte mich durch das Getümmel vor den Kabinen, sprang hinein ins drangvolle Becken. Mittenmang, ohne Rücksicht auf irgendwen. Hoffte, die Richtung stimmt. Tauchte unter, wieder auf. Hinter ihr. Noch ein Zug, ein zweiter, umrundete sie, tauchte unter, wieder auf, prustete.

Sah in ein lachendes Gesicht. Das nasse Haar an Kopf und Nacken glatt anliegend. Schön wie eine Skulptur von Brâncusi. Sah, wie sich aus dem Oval eine kleine gebogene Nase abhob. Und weiter oben über dunklen Augen zwei kräftige Augenbrauen den Anfang einer hübschen Stirn definierten. „Hahallooo, aufgepasst!“ rief sie und lachte, als meinte sie es nicht ernst. Drehte sich zur Treppe. Wieder um und lachte. Sah gleichmäßige Zähne zwischen roten Lippen. Möchte sie küssen. Langsam mit den wilden Pferden, mahnte meine Oma, wenn ich etwas sofort haben wollte. Aber ich wollte. Stieg die Leiter hoch, suchte nach einem Wort. Rasch, bevor sie wieder verschwand.

Sie war stehen geblieben. Als wartete sie auf jemanden. Mich? Schüttelte ihr langes Haar, dass es flog rechts, links und wieder herunter. Jetzt sah ich, es war wirklich lang. Lang bis dahin, wo die Wirbelsäule endet. Busen, Taille und Po unter dem eng anliegenden, tropfnassen Tuch ihres schwarzen Badeanzuges zeigten Formen, dass mir fast schwindelig wurde. Was für ein Weib. So jung und schon so schön. Besser nicht dran denken, dachte ich. Und dachte es doch.

Eine samtene Stimme, wie ein Cello: „Gehen Sie jeden Samstag schwimmen?“ War sie mir doch zuvorgekommen. „Ja, es ist schön hier und mit drei Becken groß genug für Wasserratten, die nicht arbeiten müssen. Haben Sie auch Samstagnachmittag frei?“ „Ich gehe noch zur Schule, Untersekunda. Und Sie, was machen Sie?“ „Bereite mein Studium vor, will Architekt werden.“ „Schöner Beruf, möchte ich auch, wenn ich ein Mann wäre.“ „Da bin ich anderer Meinung. Darüber sollten wir ausführlich sprechen. Ich schlage vor, wir treffen uns in einer halben Stunde im „Café Bittner.“ Einverstanden?“ „Einverstanden.“ So, das hatte geklappt.

War gespannt, ob sie kommt. Rannte zum „Café Bittner“, wollte sie unter keinen Umständen verpassen, die Hundertmeterläuferin. Sportlich wie sie aussieht. Ich wartete vor der Tür. Wartete. Eine Viertelstunde verging. Wird wohl nichts, dachte ich enttäuscht. Da lief sie auf mich zu: „Entschuldigen Sie, ich musste meiner Mutter noch den Wäschekorb in die vierte Etage tragen.“

Donnerwetter, dachte ich, sagte laut: „Lieb von Ihnen. Wir haben´s leichter, nur acht Stufen bis in unsere Wohnung. Gehen wir?“ Wir gingen, vorbei an Theken, vor denen Frauen sich zu Massen stauten. Gestikulierten, schwadronierten, was möchtest Du? Mit Sahne oder lieber nicht? Kaffee oder Tee? Der Eiskaffee hier schmeckt köstlich. Der beste der Stadt.

Wir finden einen Fensterplatz. Einigten uns auf Fruchtbecher mit Sahne. Blicken hinaus auf die Kö. Den Autoverkehr. Sah einen Mercedes mit geöffnetem Verdeck. Meist aber buckelige Fords, Käfer mit geteiltem Rückfenster. Verbeulte DKWs. Opel. Einen Chevrolet, wahrscheinlich ein Besatzungsoffizier. Den Magirusbus, Kriegsveteran von Herfurtner, bei dem ich schaffnern will in den Semesterferien. Erinnerte eine Probefahrt mit der Kiste. Sie ratterte, brummte, knallte und puffte. Schrillte die Hupe, wenn sie andere überholte. In den rosaweichen Plüschwolken der ersten Etage des Cafés hörte man nichts. Die Welt draußen wie ausgeschaltet.

Nur das Gemurmel der Gäste wie ein Vorhang, hinter dem ich jetzt mein Solo vorbereitete. „Wie schmeckt Ihnen das Eis?“ „Gut.“ Sie sah mich an, als wollte sie herausfinden, was ich wirklich fragen wollte. Kam ihr zuvor: „Bevor wir über den Beruf des Architekten reden, sagen Sie mir bitte wie Sie heißen?“ „Ruth“ die kurze Antwort. „Ich bin der Otto, Otto Bringer.“ „Ruth André. Mein Onkel ist auch Architekt in Münster. Alle sagen, es ist nur ein Beruf für Männer. Frauen hätten keine Chancen, weil das Praktikum mit den rauen Kerlen am Bau zu gefährlich wäre für sie.“

„Das stimmt mit den Kerlen. Aber es gibt auch anständige unter ihnen. Über Frauen reden alle. Nicht immer respektvoll. Wette aber, ist eine Frau ihre Kollegin, nehmen sie ihr die schwerste Arbeit ab. Verwöhnen sie sie wie eine Geliebte.“ „Oh, das klingt schon besser. Aber mich hat das Theater gefesselt. Möchte Schauspielerin werden. Im Schultheater spielte ich zuletzt die Julia aus Shakespeares „Romeo und Julia“.“

Stellte mir Ruth auf dem Balkon vor. Unten ich, der Romeo. Zwei O schon im Namen. Hatte nur den Text nicht im Kopf. Schon zitierte sie: „ Willst du schon gehen, der Tag ist ja noch fern.“ Da erinnerte ich mich, wie es weiter ging: „Die Lerche war´s, die Tagverkünderin.“ Ruth lachte, so laut, dass sich alle Hälse bogen, zu sehen, wer so unverschämt ist, ihre Ruhe zu stören.

Ich ergriff ihre linke Hand, die rechte war noch mit Löffeln beschäftigt. Lachte mit ihr, schon leiser, mit Rücksicht auf die Leute. Bewunderte ihre dunklen Augen. „Ist das nicht toll, gleich beim ersten Treffen entdecken wir Gemeinsames. Auch wenn es nur ein Bühnentext war. Zum Glück hatte August Wilhelm Schlegel Shakespeares Original ins Deutsche übersetzt.“

„Oh, Sie wissen aber viel. Wenn ich mich richtig erinnere, steht es auch im Textbuch. Aber so klein Gedrucktes gehört nicht zur Rolle.“ Wir blieben beim Thema Theater. Es ergab sich, dass in Düsseldorf Gustav Gründgens Intendant wurde. Faust auf dem Spielplan. „Das sollten wir sehen, ich lade Sie ein.“ Will Quadflieg suchender Faust, Gründgens der große Verführer Mephisto, ein spannendes Duo.“ „Gerne Herr Otto, muss nur meinen Vater überzeugen, dass der Besuch Teil unseres Deutschunterrichts ist. Sicher kein Problem“ Ich glücklich, eine Gelegenheit gefunden zu haben, drei Stunden im Dunkeln neben ihr zu sitzen.

Zwei Wochen später im Schauspielhaus. Dritter Rang. Mein kleines Gehalt reichte nicht für´s Parkett. Bühnenloge schon gar nicht. Erinnerte mich an die Schulzeit. Als Mitwirkende in Bizets Oper „Carmen“ durften wir die letzten drei Akte von dort aus miterleben, wenn Sitze frei waren. Im ersten sangen wir die Gassenjungen: „Schnell herbei gestürmt wie´s Wetter, es kommen die Soldaten ja…hört der Trompeten Geschmetter tateratata.“ Es war eine aufregende Zeit. Zum ersten Mal Theaterluft geschnuppert. Und nie mehr vergessen.

Hier wieder. Faust, Goethes wortmächtige Dichtung. Bin irritiert: zwei Seelen wohnen ach! in meiner Brust. Gretchen im Gefängnis: Heinrich mir graut´s vor dir.“ Und stirbt. Schrecklich.

Was sollte ich sagen? Blieb mir nur eines: „Da steh ich nun ich armer Thor und bin so klug als wie zuvor. Nahm Ruth beim Arm: „Wie wär´s meine Liebe?“ Riskierte ein indirektes Du. Sie reagierte sofort: „Was wäre? Wollen Sie mich nachhause begleiten? Es ist gleich Elf. Mein Papa steht bestimmt schon in der Tür. Den ganzen Abend hatte ich vergessen, dass Ruth gerade sechzehn war. Nach zehn Uhr werden Väter ungemütlich. „Vielleicht sollte ich Ihre Eltern einmal kennenlernen.“ „Zuerst müssen wir richtige Freunde werden.“ Das kluge Kind hat gesagt, was ein Erwachsener hätte sagen können. Der Herr Papa muss großen Einfluss auf sie haben und ihren kleineren Bruder.

Am folgenden Samstag erfuhr ich von ihr, er ist Jugendrichter. Aha, wunderte mich jetzt nicht mehr, dass er sein Töchterchen bewacht wie ein Polizeihund. Was also tun? Ihr schmeckte der Früchtebecher letzthin sehr gut. Also auf ins Café Bittner. Es war noch früher Nachmittag. Wir hatten zwei Stunden Zeit. Zeit, von uns zu erzählen. Könnte ganz langsam und peu à peu das Du einfließen lassen. So, als hätte ich mich versprochen. Jedenfalls war das meine Absicht. Da kam sie mir zuvor: „Wir kennen uns jetzt schon drei Wochen. Eigentlich könnten wir Du zueinander sagen.“ Oh, wie vornehm ausgedrückt. Ich hätte gesagt: duzen wir uns doch.

„Ich bin Otto“, hob meinen Becher in die Höhe, hole eine Erdbeere auf den Löffel und schob sie in Ruths schon geöffneten Mund. „Prost Ruth.“ „Prost Otto“. Kaum ausgesprochen spürte ich eine Kirsche zwischen meinen Lippen. Nun müssten wir uns küssen. Die Löffel noch in den Händen berührten sich unsere Lippen flüchtig. Schmeckte Erdbeere, nichts anderes. Irgendwann wird es anders schmecken. Wie wohl?

Drei Wochen gingen ins Land. Wir hatten uns so viel zu erzählen. Von unseren Plänen. Die Zukunft scheint rosenrot. Jetzt umarmten wir uns schon, wenn wir uns trafen. Küssten die Wangen. Einmal rutschten meine Lippen nach vorne, blieben dort kleben. Der Mundkuss schmeckte wunderbar. Und dauerte lange. Viermal länger als beim ersten Mal im Café Bittner. Wenn ich mich nicht verzähle.

Das Café besuchten wir nicht mehr. Fuhren mit der Straßenbahn nach Kaiserswerth am Rhein. Die „Fähre“ an seinem Ufer. Füße plantschen im Wasser, Eishörnchen in der einen, streicheln mit der anderen Hand. Sie ließ es geschehen. Schaute glücklich aus. Ihre dunklen Augen glänzten. In ihrer Stimme zitterte schon Lust. Dachte ich für mich und plante einen Überfall.

„Ich möchte Dich malen. Oder besser zeichnen. Die schönste Frau, die ich kenne. Das Atelier meines Freundes Karl Kluth kann ich benutzen. Wann passt es Dir? Nächste Woche?“ Hatte es jetzt eilig, sehr eilig. Vielleicht ist sie bereit, mir für eine Aktstudie zu sitzen, oder zu liegen. Meine Fantasie tobte bis an die Grenze des Erlaubten. Studienhalber, sagte ich mir. Wiederholte es dauernd. Studienhalber. Nichts Unanständiges. Um Gotteswillen nein. „Es ginge am Dienstagnachmittag, so gegen Vier?“

Kluth gab mir den Schlüssel und verschwand auf der Stelle. Im hohen Raum einer alten Schule nur eine Matratze und weiße Wände. Bildhauerwerkzeug. Also muss es eine Liegende sein. Ruth zog sich aus, bis sie nackt vor mir stand. Ging offenbar davon aus, dass ich ein Aktbild zeichnen wollte. „Was soll ich tun? Stehen oder liegen?“ Ich konnte mich nicht konzentrieren. Wollte sie anfassen, streicheln, küssen überall die helle Haut. „Lege Dich mal auf die Seite. Stütze Deinen Kopf in die Hand. Den anderen Arm lege auf Deine Hüfte. So, ja, so ist es gut. Jetzt still halten.“

Der Zeichenblock in meiner Hand zitterte. Der Rötelstift in der Rechten fuhr aufgeregt über das weiße Blatt. Konturen suchend. Stellen, die dunkel werden sollten. In der Tiefe des Leibes. Ach meine Süße. Ging zu ihr, verschob den Arm auf der Hüfte ein wenig nach vorne. Dachte, es ist besser so. Meine Hand rutschte versehentlich ins haarige Dreieck ihrer Scham. Fühlte Feuchtes. War es unbewusster Trieb im Manne? In meiner Hose Revolution. Jetzt. Jetzt. Doch nicht. So konnte ich nicht weiter zeichnen. Kritzelte drei Blätter mit Kopf, Brustbild und einer halbfertigen Liegenden. Es blieben rötliche Spuren uneingestandener Leidenschaft auf unschuldig weißem Zeichenkarton. „Wir sollten jetzt Schluss machen. Für heute reicht es.“ „Lass mich sehen.“ Ich reichte ihr den Block. Sie betrachtete das unfertige Werk flüchtig, gab mir den Block zurück. „Beim nächsten Mal bist Du besser drauf.“

Wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Befriedigt, jetzt zu wissen, wie Frauen aussehen. Rasch aber wieder nüchtern. Mein Gott, ist sie normal. So herrlich normal. Mit Ruth werde ich die Zukunft erobern. Aber erst mal ihren Vater.

Hatte mir von zwei Gehältern eine neue Cordhose gekauft. Eine sandfarbene. Weißes Hemd mit langem Arm. Es war Sommer und warm. Der Öffner an der Haustür summte, wie Öffner summen. Hörte keinen Unterschied zwischen Merkurstraße und Spichernstraße. Drückte die schwere Türe nach innen. Vorkriegstreppenhaus. Dämmerig. Terrazzoboden. Hölzern Stufen und Geländer, das sich vom dicken Pfosten neben den Briefkästen aufwärts wendelte. Bis in die vierte Etage. Die erste kein Problem. Die zweite auch noch nicht. Ab dem dritten Treppenabsatz klopfte mein Herz. Was ist er wohl für ein Typ? Keine Ahnung. Blieb stehen. Wie begrüße ich ihn? Suchte passende Worte, einen möglichst guten Eindruck zu machen.

„Guten Tag Herr André.“ Soll ich es französisch aussprechen? Ahndrée? Oder besser nicht? Weiß ja nicht, ob er ein Deutschnationaler ist. Der Krieg ist noch nicht lange vorbei. Und Nazis immer noch unter uns. Inzwischen war ich auf dem Absatz zur vierten Etage angekommen. Blieb stehen. Atmete tief durch. Die letzten Stufen fielen mir schwer wie noch nie. Noch eine Vierteldrehung und ich sah die geöffnete Wohnungstür. Im Gegenlicht eines offenen Fensters eine dunkle Gestalt. Hose und längsgestreiftes Hemd. Es ist Punkt Vier.

Dann sah ich sein Gesicht. Adlernase, stechende Augen, Brauen darüber schwarz wie Schuhbürsten. Mein erster Eindruck: Zerberus, Höllenhund. Zweiter Eindruck: eine freundliche Stimme sagt: „Hallo, Herr Bringer.“ Reichte mir die Hand, drückte sie fest. Blickte mich an: „Ihre Augen sagen mir, Sie sind ein guter Mensch.“ So begrüßt zu werden hatte ich nicht erwartet. Überrascht und sprachlos.

Mutter André hatte den Kaffeetisch gedeckt. Ruth half ihr. Es wurde ein anregender Nachmittag. Ich erfuhr einiges aus dem Gerichtssaal. Andrés von meiner Arbeit am Zeichenbrett. Und den Plänen fürs Studium an der Kunstakademie. Ruth erlebte mich im Kreise ihrer Familie. Angenommen wie ein Schwiegersohn. Sie empfahlen mir einen Schneider in der Nachbarschaft. Mit guten Beziehungen zur Kleiderkammer der englischen Besatzer. Drei Wochen später besaß ich einen schicken Mantel aus Harrys-Tweed. Alle beneideten mich. Bietzger wollte ihn mir abkaufen. Ruth durfte ab da abends auch später als Zehn nachhause kommen. Taschengeld erhöht.

Mein einundzwanzigter Geburtstag in bester Erinnerung. Bei mir zuhause Funkstille. Geburtstage wurden nicht gefeiert, nur katholische Namenstage. Ich hatte mich mit Ruth verabredet. Treffpunkt Haltestelle der Linie 11 nach Kaiserswerth. Es war Mittwoch vor Ostern. Keine zehn Grad. Das „Café Schuster“ der richtige Ort, mit Ruth allein meine Volljährigkeit zu feiern. Gemütliche Séparées. Bequeme Sessel. Geheizt, angenehm warm. Und weit genug weg von Spichern- und Merkurstraße.

Ruth, inzwischen schon achtzehn und kurz vor dem Abitur, überraschte mich. Zog ihren Mantel aus, warf ihn auf den Sessel. Und stand wie die leibhaftige Verführung vor mir. Stolz: „Alles selbst geschneidert.“ Weitschwingender, mintfarbener Minirock. Die Beine, oh diese Beine kenne ich. Eng anliegend das schulterfreie Mieder aus dunkelblauem Samt. Goldenes Kettchen am schlanken Hals. Glitzert. Mintfarben die Schleife im hoch gekämmten Haar. Lächelte wie blauer Engel Marlene.

Sie holte einen großen blauen Umschlag aus ihrer Umhängetasche. „Mein lieber, lieber Otto, ganz, ganz herzlichen Glückwunsch. Das hier ist mein Geschenk für Dich. Ich weiß, Du liebst Gedichte.“ Sogleich überfiel mich das schlechte Gewissen, lange kein Gedicht mehr geschrieben. Das letzte und einzige für Ruth nach unserem ersten Kuss im „Café Bittner.“

Im Umschlag eher Heft als Buch, größer als ein Briefbogen. Sechzehn Seiten auf handgeschöpftem Büttenkarton. Einfarbig schwarz gedruckt in gotischen Lettern. Mit ornamentreichen blauen oder roten Initialen. Wenn ich mich nicht irrte, war es Frakturschrift. Schöne alte Holzschnitt-Technik. Ich sah sofort, es sind Gedichte. Liebesgedichte der berühmtesten Minnesänger des frühen Mittelalters. Blätterte vorsichtig. Da, zwischen zwei Blättern eine getrocknete Rose. Auf der linken Seite die farbige Miniatur des unbekanntesten aller Dichter, Werner von Tegernsee.

Betrachtete das wunderschöne Bild, tastete die Rose, blickte Ruth in die Augen. Las das Gedicht auf der rechten Seite. Leise, so für mich hin. Es grub sich in mein Gedächtnis für alle Zeit. Das schöne Mädchen Ruth vor Augen, das mich anschaute, unentwegt, lächelnd.

„Dû bist mîn, ich bin dîn – des solt dû gewis sîn – dû bist beslozzen in mînem herzen – verlorn ist das sluzzelin –dû moust ouch immêr dar inne sîn“

Mit blauer Tinte darunter geschrieben: Ruth. Fällt mir um den Hals. Küsst mich lange und innig wie noch nie: „Ich liebe Dich.“

Wir sahen uns einige Wochen nicht. Mein Architekt hatte ein großes Projekt zu verwirklichen, ich musste helfen. Zeichnen, rechnen, Baustelle kontrollieren. Ruth bereitete sich aufs Abi vor. Telefonieren ging nicht. André hatten kein Telefon. In den ersten Jahren nach dem Krieg erhielten nur Firmen und Handwerker für den Wiederaufbau einen Anschluss. Und Bauern, die mit Speckseiten um sich warfen.

Der einzige Standhafte war mein Vater. Als Telegrafen-Sekretär verantwortlich für Anschlüsse. Er blieb es, bis nach zwei Jahren alle Leitungen wieder verlegt waren. Und jeder ein Telefon bekam, der es wollte. Mutters Quengelei konnte ihn nicht erweichen. Vielleicht hatte er auch Angst vor Strafe, hätte man ihn erwischt. Wegen Bestechlichkeit.